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Sophie Winter schrak auf. Sie wußte nicht, wo sie war. Doch es gab da etwas, was sie tun mußte. Dringend. Sie hatte keine Zeit, sie mußte handeln, es hing so viel davon ab. Das Buch auf ihrem Schoß rutschte herunter und fiel auf den Boden.

Aber was?

Für einen winzigen Moment kam ihr das Kaminzimmer fremd vor, das Sofa, auf dem sie saß. Der Couchtisch, auf dem ein Glas stand, in dem ein Löffel steckte. Und der Sessel, auf dem sich eine Katze räkelte, gähnte, auf den Rücken wälzte. Sie stand auf und streichelte dem Tier abwesend den Bauch.

Sie war zu Hause. Es war alles in Ordnung.

Sie hatte sich mit einem Buch aufs Sofa im Kaminzimmer zurückgezogen, weil es so kalt und ungemütlich geworden war draußen. Das war das letzte, an das sie sich erinnerte.

Doch plötzlich wußte sie wieder, was sie nicht verpassen durfte. Die Lesung. Sophie Winter blickte hoch zur Wanduhr, eine Pendeluhr, ein Regulator von Erwin Sattler, ein Schmuckstück, das sie sich geleistet hatte, als sie zu begreifen begann, daß das Buch sich gut verkaufte. Es war schon 18 Uhr. Sie mußte sich waschen, schminken, etwas anziehen. Sie mußte nach … Wohin mußte sie fahren?

Es steht im Kalender, immer mit der Ruhe, redete sie sich zu. Aber wo war der Kalender?

Die Katze gab einen kleinen Protestlaut von sich, als Sophie sich von ihr löste und hinüber zum Schreibtisch ging. Der Kalender war nicht da, wo er sein sollte. Dafür fand sie das Ladegerät fürs Mobiltelefon, das sie gestern gesucht hatte. Als sie ihren alten Filofax endlich in der Hand hielt – er lag unter der Zeitung von gestern, da liegt er gut, dachte sie –, war es bereits Viertel nach sechs.

Und da stand es, direkt neben dem Lesezeichen. Unter dem Datum vom 2. April. Lesung in einer Buchhandlung in Oberursel. Wo das lag, wußte sie ausnahmsweise. Fahrzeit etwa eine Stunde, die Veranstaltung begann um 20 Uhr, sie hatte nicht mehr viel Zeit zum Umziehen und Schminken.

Aber es dauerte nicht länger als üblich, bis sie mit sich zufrieden war. »Gesunde Haut, kräftiges Haar«, hörte sie ihre Mutter sagen. »Das macht die gute genetische Grundausstattung.« Und die verdankst du mir, hieß das. Alles verdankst du mir. In diesem Glauben war Sophie aufgewachsen. Was die gute Haut betraf, so konnte sie damit leben. Es machte das unvermeidliche Altern etwas erträglicher.

Ein trockenes Knäckebrot, auf die Schnelle, in der Küche im Stehen, bevor sie ging. Nach kurzem Nachdenken ließ sie die Packung auf dem Tisch liegen, neben dem Camembert und den Tomaten. Man wußte ja nie.

Auf dem Weg zum Auto überfiel sie wieder die Furcht, etwas Wichtiges, etwas Wesentliches vergessen zu haben. Sie blieb stehen. Versuchte sich zu konzentrieren. Aber da war nichts, gar nichts, nur ein leeres Hirn, in dem sich langsam Panik ausbreitete.

Das Buch. Der Gedanke kam wie eine Erlösung. Sie hatte ihr Buch vergessen. Das Buch mit der Strichfassung, man konnte auf einer Lesung schließlich nicht das ganze Buch vorlesen, also mußte sie kürzen, raffen, beschleunigen. Ohne die Strichfassung keine Lesung.

Sophie lief zurück, etwas unsicher auf den schwarzen Samtpumps mit den hohen Absätzen, die sie in einem Anfall von Übermut angezogen hatte, schloß die Haustür auf, trat in den Flur und wußte quälende Sekunden lang nicht, was sie hier wollte. In der Küche ein Geräusch, im Flur ein Geruch, ein Schatten huschte vorüber. Eine Ratte? Sie schüttelte das Gefühl ab, nicht allein zu sein, und ging ins Kaminzimmer. Auf dem Schreibtisch lag das Buch nicht, auch nicht auf dem Sofatisch. Nicht neben dem Sofa, nicht im Bücherregal.

Konzentrier dich, dachte sie. Du hast es noch gehabt, kürzlich, in Gießen. Du bist nach Hause gefahren, viel zu langsam, warst ein Verkehrshindernis. Bist hier angekommen, hast das Buch …

Im Auto gelassen. Sie mußte es im Auto gelassen haben.

Es war kurz vor sieben.

Wieder schloß sie die Haustür, drehte den Schlüssel zweimal um und lief zum Auto. Das Buch lag auf dem Rücksitz. Sie atmete aus und tätschelte das glatte, kühle Autoblech. Sie liebte das Auto, eine echte Antiquität, außer der Sattler ein weiterer Luxus, den sie sich geleistet hatte von den Honoraren und Tantiemen. Geldsorgen hatte sie weiß Gott nicht mehr. Ihre Sorgen waren gänzlich anderer Natur. »Immateriell« war das richtige Wort.

Sie ließ den Wagen an, der Motor summte wie ein Bienenschwarm. Die Straße hinuntergleiten bis zur Hauptstraße, Ullas stets schlechtgelauntem Ehemann Peter zuwinken und den beiden Männern, die sie im Winter mit Holz beliefert hatten, Vater und Sohn, die Namen hatte sie vergessen, aber in diesem Fall machte das nichts, sie hatte genug Holz, und irgendwann würde es ja auch wieder Sommer werden.

Auf der Landstraße kam ihr im Abendlicht ein einsamer Radfahrer entgegen, ein schlanker Mann mit kurzem weißem Haar, er kam ihr vertraut vor. Grüßen, vorsichtshalber. Auf die B 49. Und dann die Abkürzung nehmen zur Autobahn, durchs Wäldchen. Ein leichter grüner Flaum bedeckte die Äste der Buchen. Das Verdeck knatterte. Kühle Luft strömte durch das halb heruntergekurbelte Fenster. Sie schaltete das Licht ein, begann sich zu entspannen und auf den Abend zu freuen.

Kurz vor der Kurve zog der Wagen plötzlich nach rechts. Es knatterte, ein Geräusch, das klang, als ob ein Hubschrauber über ihr in der Luft stand. Das Geräusch wurde lauter. Die Bäume kamen näher. Sie bremste, aber nichts geschah. Sie bremste mit aller Kraft, aber es dauerte unendlich lange, bis der Wagen zum Stehen kam. Sophie blieb sitzen, hörte ihr Herz klopfen und wartete, bis ihr Atem ruhiger wurde. Dann öffnete sie die Tür. Ihr schöner roter Luxusschlitten hing im Straßengraben, ein paar Zentimeter von einer borkigen Eiche entfernt.

Sie stieg aus und ging um das Auto herum. Von der Straße aus sah man nichts. Die Weißwandreifen glänzten über den rotlackierten Radkappen. Aber dort, wo der Wagen im Straßengraben hing, hatte sich das Gummi von der Felge abgelöst. Der Vorderreifen sah gar nicht gut aus.

Sophie lehnte sich an den Kotflügel und hätte fast gelacht. Sie sah sich auf den Knien liegen, den Wagenheber ansetzen, die Radmuttern lösen, den Ersatzreifen aufziehen. Der eigentliche Witz war, daß sie keinen Ersatzreifen dabeihatte. Der Mann, der ihr sein bestes Stück unter Tränen verkauft hatte, wollte den Ersatzreifen nachliefern, hatte bei jedem Anruf beteuert, daß er gleich morgen, nein: sofort! alles Nötige veranlassen würde. Irgendwann hatte sie aufgegeben nachzufragen. Irgendwann hatte sie die Sache mit dem fehlenden Ersatzreifen vergessen.

Und dann kam die Absurdität der Szene bei ihr an. Ein rotes Nuttenauto und eine nicht mehr ganz jugendliche Erfolgsautorin mit den zum Auto passenden Highheels mitten im Wald – so etwas mußte man erst einmal erfinden. Hoffentlich kam niemand vorbei. Ihr Ruf wäre endgültig ruiniert.

Aber die Zeit wurde knapp. Sie brauchte einen Abschleppdienst. Ein Ersatzauto. Jemand, der sie zur Lesung fuhr. Schnell.

Es dauerte eine Weile, bis sie ihr Mobiltelefon in der Handtasche aufgestöbert hatte. Erst der ADAC. Dann Regine. Regine mußte die Veranstalter anrufen, sagen, daß sie auf dem Weg sei, aber später käme, daß man warten möge.

Sie klappte das kleine silberne Handy auf, wollte sich zum ADAC durchtasten, vertippte sich. Rief erneut das Menü auf, tippte diesmal richtig und hielt sich das Telefon ans Ohr. Und dann rutschte es ihr aus der Hand. Es kam mit einem trockenen Schmatzen auf dem Asphalt auf und zerplatzte. Sophie stand in der Dämmerung unter den dunklen Bäumen und wußte minutenlang nicht, was sie tun sollte. Endlich ging sie auf die Knie und tastete nach den Einzelteilen. Ein Kleinwagen kurvte heran, blendete auf, schlitterte an ihr vorbei, hupend. Dann grölte jemand irgend etwas, es klang nicht freundlich. Sie hatte das Auto nicht kommen gehört.

Als sie die Teile aufgesammelt hatte und mit zitternden Händen versuchte, sie zusammenzufügen, fehlte der Akku. Wieder ging sie in die Knie, tastete den Boden mit der Hand ab, faßte in eine spitze Buchecker vom Vorjahr und in mulchiges Laub. Nichts. Der Adrenalinschock trieb ihren Puls hoch.

Du mußt. Pünktlich bei der Lesung sein. Beim ADAC anrufen. Die Stelle, an der das Auto stand, halb auf der Fahrbahn, absichern. Pünktlich bei der Lesung sein. Regine anrufen. Den ADAC alarmieren. Pünktlich bei der Lesung sein. Du mußt.

Am liebsten hätte sie geweint. Reiß dich zusammen, dachte sie. Tränen ruinieren das Make-up. Und wie sähe das aus, wenn doch noch jemand käme?

Sie zog das Warndreieck aus der Schutzhülle und ging auf unsicheren Beinen zurück. Vor der Kurve stellte sie das nicht sehr stabil wirkende Plastikschild auf und hoffte, daß niemand in ihr Auto fuhr, bevor sie Hilfe holen konnte. Ihr Traumauto, zerquetscht und zerschrammt. Das war die schlimmste Vorstellung. Dann machte sie sich zu Fuß auf den Weg nach Hause.

Es war dunkel geworden. Eine weiße Eule schwebte auf Armeslänge über sie hinweg, als sie aus dem Wäldchen trat. Auf den Wiesen stand das Wiesenschaumkraut wie ausgeflockte Milch auf dem Kaffee. Niemand fuhr an ihr vorbei, weder in die eine noch in die andere Richtung.

Und plötzlich erinnerte sie sich an die Nacht vor vierzig Jahren. Sie war allein in Frankfurt unterwegs gewesen, auf irgendeinem Fest, das sie noch vor Mitternacht verließ, die Leute waren verklemmte Spießer und langweilten sie. Sie lief nach Hause, in langen schwarzen Wildlederstiefeln mit Plateausohlen, von einem Ende der Stadt zum anderen, das ging in Frankfurt, es war ja, räumlich gesehen, keine große Stadt. Irgendwann hatte sie sich von den belebteren Straßen entfernt und war auf einer Ausfallstraße gelandet, rechts und links Kasernen, in denen amerikanische Soldaten untergebracht waren.

Die Amerikaner. Seit wie vielen Jahren waren sie schon abgezogen, die amerikanischen Besatzer? Früher gehörten sie dazu, die GIs, Frauen, Männer, Schwarze, Weiße in ihren lässigen khakifarbenen Uniformen und den Schnürstiefeln, sie bestimmten das Stadtbild, man hatte sich an sie gewöhnt.

Als sie Schritte hinter sich hörte, ging sie schneller. Aber sie wurde nicht mißtrauisch, als es plötzlich still war in ihrem Rücken. Und dann hatte er sie gepackt und hinter die Hecke eines Vorgartens gezerrt.

Gewalt macht seltsame Dinge. Ihr Körper reagierte instinktiv – sie empfand keinen Schmerz, obwohl er sie geschlagen hatte, mit dem Handrücken ins Gesicht, aber ihr Puls raste. Alles auf Flucht. Da ist ein Messer, sagte er und hielt etwas Kühles an ihren Hals. Keinen Laut. Und keine Bewegung. Sonst.

Seltsam, was man denkt in einem solchen Moment. Sie dachte an Vietnam und an all das, was ein Soldat können muß, um sein Handwerk zu betreiben, und hatte dennoch keine Angst. Als er sie küssen wollte, wußte sie, daß er kein geübter Vergewaltiger war. Vielleicht einfach nur ein einsamer Kerl?

Aber sie sagte nicht auch noch auf Wiedersehen, als sie aufstand. Das nicht, dachte Sophie und hätte fast gelächelt.

Sie hatte Stimmen gehört auf der Straße, er würde nichts riskieren wollen, es war ungefährlich, einfach aufzustehen und zu gehen. Als sie endlich auf dem Bürgersteig stand, trafen sie amüsierte Blicke, die beiden Männer, allem Anschein nach ebenfalls Amerikaner, konnten sich offenbar nur einen Grund vorstellen, warum sie, aus einem Gebüsch kommend, die Jeans hochziehen mußte. Die nicht auch noch, dachte sie und stellte sich an die Straße, um ein Auto anzuhalten. Denn jetzt spürte sie den Schmerz. Sie war bei dem Überfall umgeknickt, hatte sich den Knöchel verstaucht, und der begann anzuschwellen.

Das hat man von hohen Absätzen, dachte Sophie und verfluchte die Risikofreude, mit der sie auch heute wieder in den Schuhschrank gegriffen hatte.

Damals hielt lange niemand an. Der kleine Deuxchevaux, der es schließlich tat, war eigentlich schon voll, sie paßte nur mit Müh und Not noch hinein. Studenten auf dem Weg zu einem Fest. Nur Sascha hatte sie zu verdanken, daß der Fahrer sie nach Hause brachte und nicht mit auf das Fest schleppte. Sascha machte ihr Platz, als sie sich ins Auto quetschte. Sascha begriff, was passiert war. Sascha kam am nächsten Tag mit einer Flasche Sekt. Sascha zog eine Woche später ein.

Sophie hatte schmerzende Füße und eine Blase am rechten kleinen Zeh, als sie in der Siedlung ankam. Der Auenweg lag im Dunkeln, obwohl es noch früh am Abend war, in den Häusern ringsum kein Licht. Die Nachbarn ließen immer um die gleiche Zeit mit einem häßlichen Ratschen die Rolläden herunter, egal, wie hell es noch war, eine Sitte, die sie nicht nachvollziehen konnte und die wohl etwas mit Fernsehgewohnheiten zu tun hatte. Sie öffnete das Gartentor, tastete sich den Weg entlang zur Haustür und steckte den Schlüssel ins Schloß. Er bewegte sich nicht. Er paßte nicht. Sie hatte den falschen Schlüssel mitgenommen.

Unmöglich. Sie hatte nur einen Schlüsselbund.

Es war das falsche Haus. Sie blickte sich um, während sich Angst in ihre Kehle brannte. Sah erst gar nichts, weil ihr plötzlich Tränen in den Augen standen. Spürte endlich die weichen gelben Blüten unter ihren Fingern und roch den Duft der Forsythie, die neben der Haustür blühte. Hörte Glas splittern unter ihren Füßen. Das Glas des zerbrochenen Fensters.

Sie war nicht verrückt. Es war ihr Haus und es war ihr Schlüsselbund und es gab für alles eine rationale Erklärung. Sie bewegte die Klinke. Die Tür war offen. Deshalb gab es auch nichts aufzuschließen, wo hatte sie nur ihren Kopf? Sie wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Alles war in Ordnung. Nichts war geschehen. Sie ging hinein.

Im Flur roch es seltsam. Das Treppenlicht funktionierte nicht. Sie horchte auf ein Geräusch. War jemand da? Mensch, Tier, Gespenst? Vorsichtig tastete sie sich an der angelehnten Küchentür vorbei durch den Flur, ins Kaminzimmer. Das Telefon. Erst Regine, dann der ADAC. Oder umgekehrt. Ob sie wohl warteten, in Oberursel, in der Buchhandlung?

Sie nahm den Hörer und drückte die Nummer, unter der sie Regines Anschluß gespeichert hatte. Hielt ihn ans Ohr und wartete. Wartete, wählte wieder und wartete und wartete und wählte, bis sie begriff, was sie längst ahnte. Das Telefon war tot.

Im Flur klappte die Haustür. Kam jemand? Sie hielt die Luft an.

Oder war jemand gegangen?