13

Sophie Winter hatte sich lange nicht mehr so lebendig gefühlt. Sie hatte geputzt und aufgeräumt und eingekauft, kurz vor der Mittagspause, da traf man niemanden in Jürgen’s Lädchen.

Dennoch hatte der Keller Überwindung gekostet. Das Treppenlicht funktionierte nicht, und irgend etwas lief raschelnd davon, als sie die ausgetretenen Stufen hinunterging. Unten brannte zwar das Licht, aber nur schwach; die vorigen Bewohner hatten an der Glühbirne gespart. Den Rest der Gemütlichkeit hatte Fliegenschiß beigesteuert.

Es roch modrig, nach feuchten Wänden und toten Mäusen. Sie griff sich zwei verschimmelte Stühle mit geflochtenen Sitzflächen, die längst durchgebrochen waren, und brachte sie nach oben. Warum das niemand verfeuert hatte? Ein alter Wäschekorb folgte, desgleichen ein großer Topf, die Emaille abgesprungen, in dem wahrscheinlich früher eingekocht worden war. Sie stapelte alles vorne am Gartentor, eigentlich hätte sie die Sperrmüllabfuhr vorher anrufen müssen, aber vielleicht gewährte man ihr ja gnädigerweise schon bald einen Termin.

Als sie wieder unten im Keller stand, spürte sie ihre Lust erlahmen. Regale, voll mit Einmachgläsern, einige davon mit Inhalt. Zwei Kartoffelmieten, hoffentlich ohne Kartoffeln. Sie wußte zu gut, wie es sich anfühlte, wenn man in verrottete Kartoffeln griff. Schleimig und glitschig waren noch harmlose Begriffe für die haptische Katastrophe, an die sich ihre Finger erinnerten.

Sie räumte eine defekte Stehlampe und einen demolierten weißen Plastikgartenstuhl an den Treppenaufgang. In die hinterste Ecke des Kellers traute sie sich nicht. Irgend etwas lag da, Teppiche, Decken, Säcke. Naß wahrscheinlich. Der ganze Keller war naß, es mußte hineingeregnet haben.

Sophie schleppte Lampe und Plastikstuhl nach oben und ging ein letztes Mal nach unten, um zuzusperren. Die Tür klemmte. Sie zog, sie ruckelte. Dann ging sie wieder hinein in den Raum, um die Tür von innen zuzudrücken. Das Hindernis entpuppte sich als ein Holzsplitter, der sich unter die Tür geklemmt hatte. Als sie sich bückte, um ihn zu entfernen, sah sie es – und in diesem Moment war alles wieder da.

Es stand hinter der Tür, das Ding, das die Erinnerung Welle um Welle hochsteigen ließ. Ein runder Vogelkäfig, vielleicht eineinhalb Meter hoch. Einst weiß lackiert, jetzt grau und schäbig. Als sie ihn zuletzt gesehen hatte, im Summer of Love, im August 1968, hing er an einem Haken vor dem Fenster und bewegte sich mit jeder kleinen Brise, die hereinwehte. Das Behältnis meiner Seele, hatte Sascha ihn genannt.

Kiwitt, kiwitt, wat vör’n schöön Vagel bün ik …

Sophie stand im Keller, fühlte sich hilflos und hätte fast geweint. Aber sie wollte nicht weinen. Der Käfig jedenfalls gehörte nicht auf den Sperrmüll. Sie wischte mit der Hand Mörtel und Spinnweben vom Gitter und bugsierte ihn die Treppe hoch. Er gehörte auch nicht in den Keller. Er gehörte in den ersten Stock.

Sie ließ den Vogelkäfig auf dem Treppenabsatz stehen, zögerte. Dann öffnete sie die Tür zu ihrem Schlafzimmer. Das große Zimmer mit dem kleinen Balkon, der auf den rückwärtigen Garten hinausging, war damals wie selbstverständlich Charles’ Raum gewesen, keiner von ihnen hatte angezweifelt, daß dem Mann das größte Schlafzimmer zukam. Er hatte in tagelanger Arbeit die Wände schwarz gestrichen und ein großes rotes Poster von Che Guevara über sein Bett gehängt. Manchmal saß er im Schneidersitz auf der Decke aus samtigen Kaninchenfellen und rauchte einen Joint. Wie ein alter Indianer. Und aus den Lautsprechern seiner für damalige Verhältnisse gigantischen Stereoanlage dröhnte In-A-Gadda-Da-Vida von Iron Butterfly. Stundenlang.

Es war so ewig lange her, so unvorstellbar fern, der Tag, an dem sie sich kennenlernten. Und es war so nah und so lebendig. Sie hatte im dunklen und verräucherten Club Voltaire auf einem Hocker an der Bar gesessen, in einem derart kurzen Rock, daß ihr heute noch kalt wurde beim Gedanken daran. Sie hatte ein Bier getrunken, das nicht schmeckte, und eine Roth-Händle geraucht, obwohl sie Zigaretten nicht mochte und Rauch nicht vertrug, nur weil der schlaksige Junge mit den kurzen dunklen Locken ihr eine angeboten hatte. Sie wußte nicht mehr, wie er hieß, nur daß er ihr aufgefallen war während eines Teach-in im Hörsaal VI, weil er eine dicke schwarze Brille trug, so eine Art Ernst-Bloch- oder Georg-Lukács-Gestell, und alles besser wußte als die da vorne auf dem Podium. Das hatte sie nun davon. Er redete auf einen kleinen dicken Blonden ein, in der einen Hand ein Glas, mit der anderen zerteilte er eine imaginäre Salami, wenn er ein wichtiges Argument unterstreichen wollte. Wahrscheinlich ging es um das Akkumulationsgesetz des Kapitals und wieso der Kapitalismus sich überlebt hatte und daß man auf der Seite der Arbeiterklasse kämpfen müsse.

Sie hatte nicht zugehört, aber sich furchtbar kleinbürgerlich gefühlt, niemand trug mehr Minirock, jedenfalls nicht die Genossinnen; die waren alle jünger als sie, hatten enge Jeans an, darüber kniehohe Stiefel und eine Lederjacke. Und wenn sie ehrlich war, interessierte sie sich nicht für die theoretische Herleitung der Notwendigkeit der Revolution, obwohl sie ein Marxismus-Tutorium belegt hatte, weil das alle taten. Doch immer wenn der Knabe mit den lockigen Haaren eine weitere Salami mit ein paar Handkantenschlägen hingerichtet hatte und sie anguckte, hatte sie genickt und »genau« gesagt und am Bier genippt und den Rock über den Oberschenkeln gerade gestrichen.

Nach Hause war sie mit einem anderen.

Mit einem, der plötzlich neben ihr gestanden und gelächelt und »Was für ein abstrakter Scheiß« gesagt hatte. Und daß man konkret werden müsse. Daß die Revolution im Hier und Jetzt zu leben sei. Und man nicht auf den neuen Menschen warten könne.

Charles, in einem geblümten Hemd und mit langen weichen dunkelblonden Haaren. Einen Monat später zogen sie zusammen, in einen heruntergekommenen Altbau in der Rotlintstraße. Fünf Zimmer, zwei Balkons. Die Heizung wurde nie warm, und der Wasserboiler fiel immer dann aus, wenn sie unter der Dusche stand und sich gerade das Haar einshampooniert hatte. Aber es war ein Traum gewesen. Zuerst.

Sophie zog die Tür wieder hinter sich zu. Der Raum nebenan war damals ihr Zimmer gewesen. Sie hatte lange nicht mehr hineingesehen. Was sie sah, war trostlos. Es roch unbewohnt. Da waren Flecken auf dem grauen Parkett. Unter dem Fenster hatte sich das Holz hochgewölbt. Feucht, schon seit Jahren. Wahrscheinlich Schimmel in den Wänden. Damals war das Zimmer licht und luftig gewesen und hatte nach Zimt und Sandelholz geduftet. Sie hatte nicht viel aus Frankfurt mitgebracht, als sie einzogen. Eine Kommode, deren Schubladen immer offenstanden. Und ein Bett, ein Traum von einem Bett. Mit weißen Laken und weißen Bettbezügen. Auf der Kommode ein silbernes Teekännchen, in dem Räucherstäbchen steckten. Und als Gardine ein alter Bettüberwurf aus Filethäkelei.

Sophie ging zum Fenster. Im Geäst der Lärche, die den Blick auf den Garten verstellte, hockte ein winzig kleines Vogelnest aus Gras und Zweigen und Plastikfetzen. Es rührte sie fast zu Tränen. Damals waren die Bäume noch klein gewesen, und keiner von ihnen hatte sich vorstellen können, wie groß sie einmal werden würden. Charles hatte eine Birke gepflanzt, sie hatte eine Rotbuche gewählt, und Sascha … Die Rose, die sie sich gewünscht hatte, gab es nicht mehr. Es war das erste, wonach sie bei ihrem Einzug gesucht hatte. Aber der Wacholder stand noch immer.

Ihre Schritte hallten in dem leeren Raum. Wer hatte nach ihr hier gewohnt? Es hatte wechselnde Mieter gegeben, das wußte sie, aber nie war jemand lange geblieben. Was hatten sie gespürt? Die Liebe? Den Haß? Die Trauer?

Die Tür zum dritten Zimmer öffnete sie nur zögernd. Einmal kurz hatte sie in den Raum gesehen, als der Makler sie durchs Haus führte bei der ersten Besichtigung. Seither mied sie das Zimmer, sie ging stets schneller, wenn sie an ihm vorbeimußte, es war kindisch, aber sie konnte nicht anders. Der Raum war leer bis auf ein Bettgestell. Mit ein paar Schritten war sie beim Fenster, das schwarz war von Spinnweben, und versuchte es zu öffnen. Zugerostet. Ihr Blick ging nach oben. Und da, da war er noch, der Haken, an dem der Vogelkäfig gehangen hatte. Sie lief zurück in den Flur, nahm den Käfig und hängte ihn an seinen Platz. In diesem Augenblick wußte sie, was sie zu tun hatte.

 

mein Schwester der Marlenichen

sucht alle meine Benichen

 

Der Dachboden. »Man muß das Haus gründlich entrümpeln«, hatte der Makler gesagt. »Die meisten Mieter haben irgend etwas zurückgelassen, auch der Keller ist voll mit Gerümpel. Lassen Sie jemanden kommen, der Ihnen hilft, ich kenne da eine Initiative junger Arbeitsloser.«

Aber Sophie hatte den Kopf geschüttelt. Die Vorstellung, daß es noch immer da war … daß sie noch immer hier war … das war ihr wichtiger als Ordnung. Sie zog die Tür zu Saschas Zimmer hinter sich zu, lehnte sich einen Moment lang dagegen und horchte auf die Geräusche des Hauses. Das Haus atmete ein und atmete aus. Es knisterte. Etwas bewegte sich über ihr. Etwas schabte am Holz. Die Katze?

Aber die weiße Katze strich um ihre Beine. Sophie bückte sich und nahm das Tier auf, das sich diesmal nicht wehrte. »Du erinnerst dich, oder?« flüsterte sie der Katze ins Ohr. Dann ließ sie die Weiße herunterspringen und öffnete die Tür zum Dachboden. Die Tür ließ sich leicht öffnen, obwohl sie seit diesem einen Mal nie wieder oben gewesen war, sie knarrte noch nicht einmal. Die Treppe war steil und schmal. Oben roch es nach Staub und Verwesung. Sie wagte einen Blick in den grauen Zinkzuber, der in der Ecke stand. Er war fast voll, und obenauf schwamm ein graues, schlieriges Gebilde mit einem langen Schwanz. Es schüttelte sie ungewollt. Dahinter stand der kleine Tisch aus Saschas Zimmer, an dem sie geschrieben hatte, in ein Tagebuch, ein schwarzes Moleskine, sie erinnerte sich gut.

Der Sessel. Der Spiegel. Der Kleiderschrank. Es war alles da.

Auch der große Seekoffer. Doch der stand offen. Jemand hatte die Kleider und Tücher, den Schmuck und die Schuhe herausgeholt und nachlässig wieder hineingelegt. Sophie kniete sich neben den Koffer. Da war das Kleid, das Sascha am liebsten getragen hatte. Sie griff mit klammen Händen in den fadenscheinigen Stoff. Die Farbe ein bläuliches Rot, eigentlich eine kalte Farbe, aber an Sascha hatte es aufregend ausgesehen. Da! Das Armband, das sie ihr geschenkt hatte. Der Hut. Bücher. Sie hob ein zerlesenes Exemplar von Tolkiens Herr der Ringe hoch, das sich körnig anfühlte vor Staub, und legte es zurück in den Koffer.

Lange kniete sie so. Lange. Und als sie aufstand, schmerzten ihre Knie. Als erstes brachte sie den Tisch nach unten, dann den Sessel. Der Schrank würde warten müssen, das bewältigte sie nicht allein. Sie stellte jedes einzelne Möbelstück wieder an den Platz, an dem es damals gestanden hatte. Über das Bettgestell legte sie die indische Decke aus dem Koffer, die rote mit den kleinen Spiegeln.

Den Koffer holte sie als letztes.

Es war draußen dunkel geworden, als sie wieder hinunterging. In der Küche machte sie Abendbrot für zwei, einen Salat aus hartgekochten Eiern und Tomaten. Es war ein seltsames Gefühl, am Küchentisch einem zweiten Gedeck gegenüberzusitzen.

Nach dem Essen goß sie sich ein Glas Riesling ein, der einzige Wein aus Jürgen’s Lädchen, den man trinken konnte, und ging wieder hoch in Saschas Zimmer. Auf dem Tisch stand der Plattenspieler, den sie im Koffer gefunden hatte. Sie ließ die Schallplatte aus der Hülle gleiten und legte sie auf den Plattenteller. Der Sound war wie mürber Samt und man hörte die Kratzer, aber was machte das schon.

 

If the truth is found

To be lies

And all of the joy

Within you dies

 

Als sie aufwachte, lag sie auf Saschas Bett und hielt das Glas Wein in der Hand, noch fast voll. Sie hatte keinen Tropfen verschüttet.

In der Nacht träumte sie von dem großen Bett in Charles’ Zimmer und von der weißen Katze. Von Sascha, die sich an sie schmiegte. Ihr warmer Körper an ihrem Rücken. Ihre Atemzüge ein sanfter Hauch an ihren Schulterblättern, Ihre Hand, klein, zart, wie ein Vogel im Nest.

Sie wachte auf vom Schlagen einer Tür, ein kalter Lufthauch strich über ihre bloße Schulter, sie zog die Decke hoch bis unters Kinn und wünschte sich zurück in den Traum. Dann schlief sie wieder ein.