ZWEIUNDVIERZIG

Als ich in meine Suite zurückkam, wartete der König auf mich. Er starrte auf das Brautkleid, das auf dem Bett ausgebreitet lag, und hielt einen Stapel Papiere umklammert.

»Du hast gesagt, du würdest ihn freilassen. Du hast mir Bilder gezeigt, mich in seine Zelle mitgenommen«, sagte ich, unfähig, meine Wut zurückzuhalten. »Du hast mich angelogen.«

Der König ging durch den Raum. »Ich brauche mich nicht zu rechtfertigen, schon gar nicht vor dir. Du verstehst dieses Land nicht. Du wusstest, dass Leute einen Tunnel nach draußen graben, und hast es mir verschwiegen.« Er drehte sich um und zeigte mit dem Finger auf mein Gesicht. »Hast du eine Vorstellung, in welche Gefahr du die Bürger damit gebracht hättest? Durch einen offenen Zugang in die Wildnis?«

»Die Soldaten haben sie erschossen«, sagte ich mit zitternder Stimme.

Der König zerknüllte die Papiere in seiner Hand. »Diese Männer haben seit Monaten Dissidenten organisiert und Pläne geschmiedet, Waffen und wer weiß was sonst noch in die Stadt zu bringen. Man musste sie aufhalten.«

»Töten«, fuhr ich ihn an, die Tränen brannten mir in den Augen. »›Töten‹ wolltest du sagen – nicht ›aufhalten‹. Nenn es ruhig beim Namen.«

»Rede nicht so mit mir.« Das Blut schoss ihm ins Gesicht. »Ich habe genug. Ich kam heute Morgen früh hierher, um dir das zu bringen«, sagte er und schleuderte mir ein Bündel Papier entgegen. Die Blätter landeten auf dem Boden. »Ich kam, um dir zu sagen, wie stolz ich auf dich bin und auf die Frau, die du werden wirst.« Er ließ ein leises trauriges Lachen hören.

Doch ich hörte kaum hin, im Blitzdurchlauf ging ich noch einmal die Ereignisse des Morgens durch. Er hatte befohlen, Harper und Caleb zu erschießen. Doch wer hatte ihm von dem Tunnel unter der Mauer hindurch erzählt? Wie hatte es Stark vor mir dorthin geschafft? Die Fragen bewegten sich in einer Endlosschleife durch meinen Kopf. Caleb ist tot, wiederholte ich mir immer wieder, doch nichts konnte es real für mich machen.

»Unten wartet fast eine halbe Million Menschen«, fuhr er fort, »sie warten darauf, dass die Prinzessin mit ihrem Vater die Straße hinunterfährt, damit sie ihr alles Gute wünschen können, bevor sie heiratet. Ich werde sie nicht warten lassen.« Er ging auf die Tür zu und drückte heftig auf die Tastatur. »Beatrice! Helfen Sie der Prinzessin beim Anziehen!«, brüllte er, bevor er den Gang hinunter verschwand.

Die Tür knallte hinter ihm zu. Ich atmete tief aus, der Raum schien größer zu werden, nachdem er gegangen war. Ich sah auf meine Hände, die nun brannten, meine Handgelenke waren von den Fesseln gerötet. Ich sah immer noch Caleb, sein Gesicht, bevor er zu Boden stürzte, wie sein Arm unter ihm eingeklemmt wurde. Ich schloss die Augen. Es war zu viel. Ich wusste, dass er es nicht überlebt haben konnte, doch die Vorstellung, dass er tot war, dass er nie wieder mit den Händen meinen Kopf umfassen würde, mich nie wieder anlächeln, mich nie wieder aufziehen würde, wenn ich mich zu wichtig nahm …

Ich hörte Beatrice hereinkommen, doch ich konnte nicht aufhören, die wund geschürfte Haut an meinen Gelenken zu betrachten, den einzigen Beweis, dass die letzten Stunden tatsächlich stattgefunden hatten. Als ich aufsah, stand sie da und starrte auf einen Fleck auf dem Teppich.

»Es war Clara, oder?«, sagte ich langsam. »Was hat sie ihnen gesagt? Wie viel wissen sie?«

Doch Beatrice schwieg. Als sie aufsah, waren ihre Augen verquollen. Sie wiegte den Oberkörper vor und zurück und formte lautlos die Worte »Es tut mir so leid«. Schließlich sagte sie es laut. »Ich musste es tun.«

Etwas an ihrem Gesichtsausdruck jagte mir Angst ein. Ihre Lippen waren verzerrt und bebten. »Du musstest was tun?«

»Er drohte, sie umzubringen«, sagte sie und nahm meine Hände. »Er kam früh hoch, kurz nachdem du gegangen warst. Du warst nicht da. Sie hatten Calebs leere Zelle entdeckt. Er drohte mir damit, sie umzubringen, falls ich ihm nicht verriet, wo du warst. Ich habe ihm von dem Tunnel erzählt.«

Ich machte mich los, meine Hände zitterten.

»Es tut mir so leid, Eve.« Sie streckte die Hand nach mir aus und wollte mein Gesicht streicheln. »Ich musste es tun, ich wollte nicht …«

»Nicht«, sagte ich. »Geh bitte.« Sie kam noch einmal auf mich zu, legte mir die Hand auf den Arm, doch ich wich zurück. Es war nicht ihre Schuld. Das wusste ich. Aber ich wollte sie nicht auch noch trösten, diese Frau, die teilhatte an Calebs Tod. Ich wandte mich zum Fenster, lauschte ihrem unterdrückten Schluchzen, bis es irgendwann verstummte. Endlich hörte ich, wie die Tür geschlossen wurde. Als ich sicher sein konnte, dass sie weg war, drehte ich mich um und betrachtete die zerknüllten Unterlagen auf dem Boden.

Ich nahm das erste Blatt hoch, die vertraute Handschrift beruhigte mich. Es war dasselbe vergilbte Papier, das ich seit der Schule mit mir herumgetragen hatte. Der alte Brief, den ich tausend Mal gelesen hatte, steckte nun in einem Rucksack, der neben der Route 80 vor einem Möbelhaus lag. Ich würde ihn nie wiedersehen.

Die Ecken des Blatts waren ausgefranst. Hochzeitstag stand in krakeligen Buchstaben darüber. Ich setzte mich aufs Bett, presste das Blatt zwischen den Fingern und versuchte, den tiefen Knick zu glätten, den der König beim Zerknüllen hinterlassen hatte.

 

Meine allerliebste Tochter,

 

ich werde nie wissen, ob und wann du dies hier lesen wirst, wo du sein wirst und wie alt. In den letzten Tagen habe ich es mir oft vorgestellt. Die Welt ist wieder, wie sie einmal war. Manchmal öffnet sich die Kirchentür auf eine belebte Straße und man tritt mit seinem neuen Mann ins Freie. Jemand hilft einem in ein wartendes Auto. Zu anderen Zeiten ist man es nur selbst und er und ein paar Freunde. Ich kann die Gläser sehen, die auf dich erhoben werden. Einmal stellte ich mir vor, dass es gar keine Hochzeit gibt – keine Zeremonie, kein pompöses weißes Kleid, keine der traditionellen Gesten –, nur du und er, die eines Nachts beieinanderliegen und beschließen, dass es eure Hochzeit ist. Dass ihr von da an für immer zusammenbleiben werdet.

Wie immer die Umstände sind, wo immer du bist, ich weiß, dass du glücklich bist. Ich hoffe, dass es ein großes, grenzenloses Glück ist, das jeden Winkel deines Lebens ausfüllt. Du sollst wissen, dass ich jetzt bei dir bin, so wie ich es immer war.

 

Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich.

Mom

 

Ich faltete den Brief in meinem Schoß. Ich rührte mich nicht. Ich saß dort mit verquollenem gerötetem Gesicht auf dem Bett, bis ich die Stimme des Königs hörte, es war, als würde er mich aus einem Traum aufschrecken. »Genevieve«, sagte er mit strenger Stimme. »Es ist Zeit.«