SIEBENUNDDREISSIG

Regen strömte in schmalen, sich windenden Rinnsalen über die Scheiben des Jeeps. Beatrice saß neben mir, ihre Hand lag auf meiner, vor uns erstreckte sich die dunkle Wildnis. Ich nahm alles in mir auf: die mit Efeu überwucherten Häuser, die Straße voller Schlaglöcher, die sich kilometerweit durch die Landschaft schlängelte und auf der hin und wieder orangefarbene Baustellenkegel standen. Auf dem Seitenstreifen waren verlassene Autos abgestellt, deren Tankdeckel offen standen, weil Flüchtende versucht hatten, Benzin abzusaugen. Alles fühlte sich vertraut an, mehr nach einem Zuhause als alles andere – selbst als der Palast, meine Suite, die Schule.

»Ich habe das alles fast zehn Jahre lang nicht gesehen«, sagte Beatrice. »Es ist schlimmer, als ich es in Erinnerung hatte.«

Auf dem Vordersitz saßen zwei Soldatinnen. Die Fahrerin, ein junges blondes Mädchen mit einem ovalen Muttermal auf der Wange, suchte den Horizont nach Anzeichen herumstreifender Banden ab. »Ich finde es wunderbar«, sagte ich atemlos und starrte auf die lila Wildblumen, die aus den Rissen eines ehemaligen Parkplatzes sprossen. In der Ferne ragte eine große Fabrik auf, HOME DEPOT stand in verblasster Farbe auf der Seite.

Obwohl wir seit Stunden unterwegs waren, verging die Zeit wie im Flug. Bäume wanden sich umeinander und dem Himmel entgegen. Blumen rankten sich um Fahrradreifen, das Regenwasser sammelte sich in Schlaglöchern und bildete flache, trübe Pfützen. Der zweite Jeep fuhr direkt hinter uns, rumpelte über die gleichen Erhebungen im Asphalt, bremste, wenn wir bremsten, und gab uns Rückendeckung.

Wir würden wieder durch die Wälder ziehen. Die verlassenen Hütten und Läden würden Caleb und mir Schutz bieten auf unserem Weg gen Osten – fort von der Stadt, den Schulen und den Lagern. Der Plan nahm Gestalt an. Am Morgen meiner Hochzeit, wenn ich im Zickzack durch die verstopften Straßen der Stadt laufen und in der Menge abtauchen würde, übernähmen die Dissidenten mithilfe ihrer Kontaktperson im Gefängnis Calebs Befreiung.

Danach würden wir durch den Tunnel gehen, die Stadt verlassen und abwarten. Wir würden an der Ostgrenze des Landes leben, die nicht so oft von Soldaten aufgesucht wurde. Wir würden mit dem Pfad in Kontakt bleiben, bis die Dissidenten die Mobilmachung organisiert hatten, bis die nächsten Schritte geplant waren. Zum ersten Mal seit Wochen hatte ich das Gefühl, dass mein Leben ein Ziel und ich alles im Griff hatte. Die Zukunft war nicht nur eine Abfolge von Abendessen und Cocktails und öffentlichen Ansprachen, von Lügen, die mit einem starren aufgesetzten Lächeln vorgetragen wurden.

»Da vorn ist es«, sagte die Soldatin auf dem Beifahrersitz und deutete auf die hohe Steinmauer. Sie war kleiner als die andere Soldatin, ihr Maschinengewehr lag quer auf ihren muskulösen Beinen. Der König ließ uns von seiner Frauentruppe begleiten, weil er wusste, dass Schulleiterin Burns niemals Männer auf das Schulgelände lassen würde.

Beatrice drückte meine Hand. »Vor der Epidemie waren das Jugendstrafanstalten.« Sie deutete auf die scharfkantigen Drahtrollen auf der Mauer. »Darin befanden sich Zellen für straffällig gewordene Kinder.«

Der Regen prasselte auf den Wagen. Als wir die Mauer erreichten, tauschten die Soldatinnen Unterlagen mit den Wächterinnen vor dem Tor aus, deren Uniformen vollkommen durchnässt waren. Nach einigen Minuten durften wir passieren. Der Jeep fuhr vor dem Steingebäude vor, in dem ich zwölf Jahre lang meine Mahlzeiten zu mir genommen hatte.

Sobald wir auf dem Gelände waren, legte sich die Aufregung der Reise. Ich starrte über den See auf das fensterlose Gebäude, den Ort, wo Pip, Ruby und Arden gefangen gehalten wurden. Das Essen rumorte in meinem Magen. Ich sah zu dem Gebüsch neben der Mensa, zu den Büschen mit dem flachen Graben darunter. Genau an dieser Stelle hatte ich Arden an dem Abend entdeckt, als sie geflohen war. Als sie mir die Wahrheit über die Absolventinnen enthüllt hatte.

Meine Vergangenheit umgab mich – die Schule, der Rasen, der See, alles erinnerte mich an mein früheres Leben. Durch den Regen konnte ich das Bibliotheksfenster im dritten Stock erkennen, wo Pip und ich gelesen hatten. Manchmal hatten wir unsere Lektüre allerdings unterbrochen, um die Spatzen draußen zu beobachten. Der Apfelbaum auf der anderen Seite des Geländes stand auch immer noch da. Unter ihm hatten wir im Sommer den Schatten genossen. An der Stelle, wo wir immer Hufeisen geworfen hatten, ragte nach wie vor die Metallspeiche aus der Erde. Einmal war ich darüber gestolpert und hatte mir das Schienbein aufgerissen.

»Ich habe das Gefühl, dass …«, setzte Beatrice an und spähte durch die Scheiben voller Regentropfen. Die Soldatinnen stiegen aus, um mit den Schulwächterinnen zu reden. »… dass vielleicht … Man kann ja nie wissen, oder?« Sie musste es nicht weiter ausführen. Sie hatte sich an diesem Morgen in Halbsätzen bei mir erkundigt, mich gefragt, ob ihre Tochter möglicherweise auf dieser Schule war. Es war möglich, aber unwahrscheinlich. Ich bezweifelte, dass der König ihr erlaubt hätte herzukommen, wenn ihre Tochter an dieser Schule wäre, und ich konnte mich auch an kein Mädchen namens Sarah erinnern. Das hatte ich Beatrice zwar gesagt, doch jetzt konnte ich sehen, dass sie an nichts anderes mehr gedacht hatte, als sie all die Kilometer aus dem Fenster starrte und nervös eine Haarsträhne um die Finger wickelte.

»Es kann ja immer sein«, sagte ich und drückte ihre Hand. »Man soll die Hoffnung nicht aufgeben.«

Ich sah aus dem Seitenfenster durch die Regenwand zu der Gestalt, die auf uns zukam. Sie hielt einen großen schwarzen Schirm über sich, der graue Regenmantel reichte ihr bis über die Knie. Selbst aus sieben Metern Entfernung erkannte ich sie, ihre langsamen schwerfälligen Schritte, ihr kantiges Kinn, das Haar, das immer zu einem straffen Knoten zurückgebunden war.

Schulleiterin Burns.

Sie ging auf die Seite des Jeeps zu und starrte mich durch den Regen an. Eine Soldatin öffnete die Tür und half mir den hohen Tritt hinunter. »Prinzessin Genevieve«, sagte die Schulleiterin, ihre Stimme klang leise und überlegt und zögerlich bei meinem neuen Titel. »Wie wunderbar, dass Ihr uns mit Eurer Anwesenheit beehrt.« Sie nahm einen zweiten Schirm und spannte langsam die Stoffkuppel auf.

»Ich grüße Sie, Schulleiterin«, sagte ich, während die Soldatin hinter mir Beatrice heraushalf. »Es ist wunderbar, hier zu sein.« Ich hielt das Kinn hoch, straffte die Schultern und gab mir Mühe, das Grauen zu überspielen, das ich fühlte. Wie schrecklich, dass sie selbst jetzt, wo ich nicht mehr unter ihrer Aufsicht stand, immer noch diese Wirkung auf mich hatte.

Beatrice nahm den Schirm und hielt ihn über uns. Dass sie neben mir stand, war ein Trost für mich. »Dies ist Beatrice«, sagte ich, als wir auf die Mensa zugingen. »Sie bleibt über Nacht mit mir hier.«

»Ja, das hat man mir mitgeteilt«, sagte Schulleiterin Burns und sah starr geradeaus. »Man hat im ersten Stock ein Zimmer für Sie beide geräumt, außerdem noch eines für Ihre bewaffneten Begleiterinnen. Es ist nichts Besonderes, nur dieselben Betten, in denen Ihr damals geschlafen habt. Ich hoffe, Ihr empfindet sie jetzt nicht als völlige Zumutung.« Jedes Wort war von Bösartigkeit gefärbt. Ich konnte nichts darauf erwidern.

Sie öffnete die Tür des Gebäudes und bedeutete uns hineinzugehen. Bis auf das leise Brummen der Generatoren war es still auf dem Gang. Als wir unsere Mäntel in den Schrank hängten, trat ich fest auf, um das Wasser von meinen Füßen zu schütteln. »Die Mädchen erwarten Euch im Großen Speisesaal«, fuhr die Schulleiterin fort. »Ihr könnt Euch vorstellen, wie verwirrt sie waren, als Ihr in der Nacht vor der Abschlussfeier verschwandet. Erst Arden, dann Ihr. Es warf eine Menge Fragen auf, vor allem bei den Jüngeren.«

»Ich verstehe.«

»Euer Vater hat sich bezüglich Eures Besuches an mich gewendet. Soweit ich informiert bin, werdet Ihr heute Abend über den Wert Eurer Ausbildung und Eure königlichen Pflichten im Neuen Amerika sprechen. Und den jungen Frauen versichern, welches Geschenk es für sie bedeutet, hier sein zu dürfen.«

»Das ist richtig«, sagte ich, meine Wangen fingen an zu glühen. »Sind alle Mädchen der Schule heute Abend hier?« Ich warf Beatrice einen Seitenblick zu.

»Ja«, sagte die Schulleiterin und drehte sich um. »Sollen wir dann anfangen? Es ist nur noch eine Stunde, bis das Licht gelöscht wird.«

Wir liefen denselben gefliesten Gang hinunter, durch den ich schon Hunderte Male zuvor gelaufen war, Arm in Arm mit Pip und Ruby, wenn wir zum Frühstück, Mittagessen und Abendessen gegangen waren. Eines Nachts, als wir dort entlanggeschlichen waren, um Extraportionen Pudding aus der Küche zu stibitzen, hatte Ruby aufgeschrien und geschworen, dass ihr eine Ratte über die Füße gesprungen war. Wir hatten den ganzen Weg zu unserem Schlafzimmer im Dauerlauf zurückgelegt und uns erst beruhigt, als wir uns in meinem Klappbett aneinanderkuschelten und die Decke über den Kopf zogen.

Beatrice rang die Hände. Ich legte ihr die Hand auf den Rücken, damit sie ruhiger würde, aber es half nichts. Ich konnte jeden kurzen hastigen Atemzug durch ihren Pullover fühlen. Schließlich kamen wir in die Große Halle, einen riesigen Raum mit am Boden festgeschraubten Metalltischen. Mehr als hundert Mädchen saßen dort, alle waren älter als zwölf. Die jüngsten waren wahrscheinlich von ihren Eltern hierhergeschickt worden, die jetzt in der Stadt lebten – Eltern wie Beatrice, die glaubten, ihre Töchter hätten so ein besseres Leben. Die ältesten waren Waisen wie ich.

Als sie mich sahen, setzten sie sich gerade auf ihre Stühle, ihr Geflüster wich völliger Stille. »Ihr kennt alle Prinzessin Genevieve«, sagte die Schulleiterin, ihrer Stimme fehlte jegliche Begeisterung. »Bitte steht auf und erweist ihr die Ehre.«

Die Mädchen erhoben sich und machten alle gleichzeitig einen Knicks. Sie trugen dieselben Kittel, die ich jeden Tag während meiner Zeit dort getragen hatte, auf der Vorderseite prangte unvorteilhaft das Wappen des Neuen Amerika. »Guten Abend, Eure Königliche Hoheit«, begrüßten sie mich einstimmig. Ich erkannte eine schwarzhaarige Elftklässlerin in der ersten Reihe. Sie hatte in der Nacht vor der Abschlussfeier in der Band mitgespielt, die Musik hatte über dem See in der Luft geschwebt.

Ich bedeutete ihnen, sich zu setzen. »Guten Abend«, sagte ich, meine Stimme hallte durch den Raum. Als ich die Menge absuchte, erkannte ich die Gesichter einiger Schülerinnen, die in Klassen unter mir gewesen waren. Seema, ein dunkeläugiges Mädchen mit glatter mandelfarbener Haut, winkte mir schüchtern zu. Sie hatte Lehrerin Fran in der Bibliothek geholfen und die abgegriffenen Kunstgeschichtebände ausgegeben, die ich liebte. Sie hatte sich immer für die fehlenden Ausgaben entschuldigt.

»Danke, dass ihr mich eingeladen habt, hierher zurückzukommen. Ich erkenne viele von euch aus meiner Zeit hier wieder. So viele Jahre lang war dieser Ort mein Zuhause. Ich habe mich sicher hier gefühlt und geliebt.« Schulleiterin Burns verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete mich von der Seite des Raums. Beatrice stand neben ihr und zupfte an ihrem Pullover herum, während sie die Menge absuchte, jedes Mädchen und jedes Gesicht musterte. »Ich weiß, dass mein Weggang aus der Schule euch alle verwirrt hat. Und nun habt ihr die Neuigkeit aus der Stadt erfahren – mein Vater ist der König und ich bin die Prinzessin des Neuen Amerika.«

An dieser Stelle jubelten die Mädchen. Ich stand da und versuchte zu lächeln, doch mein Gesicht war erstarrt, mein Magen angespannt und verkrampft. Mein Abendessen drohte hochzukommen. »Ich wollte persönlich mit euch reden und euch versichern, dass ihr keine größere Fürsprecherin in der Stadt aus Sand haben könntet. Ich will alles in meiner Macht Stehende tun, um für eure Bedürfnisse einzutreten.« Es war ehrlich. Es war vage genug, um Interpretationen zuzulassen. Ich konnte sie nicht anlügen, ihre aufgeregten Gesichter erinnerten mich an mein eigenes vor so vielen Jahren.

»Ich hatte so viel Zeit für meine Ausbildung. Ich habe mich als Künstlerin, Pianistin, Leserin, Schriftstellerin ausprobiert. Nutzt die Zeit hier für euch.« Im Hintergrund schnellte eine Hand in die Höhe, dann noch eine, danach eine dritte, bis schließlich ein Viertel der Mädchen die Hand hochhielt und darauf wartete, dass ich sie aufrief. »Jetzt habt ihr wahrscheinlich viele Fragen«, sagte ich. Es ist bloß eine Frage der Zeit, redete ich mir zu und sah ihnen in die Gesichter. Die Tunnel würden fertiggestellt werden, der Rest der Waffen würde eingeschmuggelt werden. Die Dissidenten würden sich bald organisieren. Wir brauchten bloß zu warten.

Ich rief ein kleines Mädchen mit langem schwarzen Zopf auf, das hinten saß. »Welche Pflichten hast du als Prinzessin?«, fragte sie.

Ich hätte ihnen gern erzählt, dass man mich in dem Moment, in dem ich den Palast betreten hatte, entmündigt hatte, dass mich der König nur noch sprechen ließ, wenn es der Unterstützung des Regimes diente. »Ich habe viele Menschen in der Stadt besucht, um ihnen die Vision zu erklären, die der König vom Neuen Amerika hat.«

»Wer sind deine Freundinnen?«, fragte ein anderes Mädchen.

Ich drehte mich zu Beatrice, die neben Schulleiterin Burns stand. Sie biss sich auf den Finger, während sie den Blick über die erste Reihe von Mädchen schweifen ließ und in jedem Gesicht nach Sarah suchte.

Ich konnte nicht sprechen, hörte kaum die Frage des Mädchens, Hast du mich gehört, Prinzessin? Als Beatrice das Ende der Reihe erreichte, zitterten ihre Hände, ihr Gesicht verzerrte sich in stummem Schmerz. Dann begann sie zu weinen, die Tränen kamen so schnell, dass sie sie nicht aufhalten konnte. Stattdessen machte sie kehrt und rannte, sich die Augen mit dem Ärmel wischend, nach draußen.

Ich dachte nicht nach. Ich lief einfach auf den Gang, an den zwei Soldaten vorbei, die links und rechts neben der Tür standen. »Beatrice?«, rief ich und rannte den gefliesten Gang hinunter. »Beatrice?« Doch das einzige Geräusch war meine eigene Stimme, die im Gang widerhallte und ihren Namen fragend wiederholte.