FÜNFZEHN
Das Lied war zu Ende. Ich starrte noch immer auf sein Gesicht, auf seine hohen Wangenknochen, den Mund, den ich früher so viele Male geküsst hatte. Ich musste mich zwingen, den Blick abzuwenden. Caleb lebte, er war hier, wir würden zusammen sein. Die Gedanken stürmten alle gleichzeitig auf mich ein.
Doch dann starrte ich auf die Hand des Königs, die auf meiner lag. Dass Stark nur zwei Plätze weiter saß, versetzte meinen Magen in Aufruhr. Die Soldaten waren hinter Caleb her. Alle wollten ihn tot sehen.
Der König erhob sich und griff nach meinem Arm. Ich ließ es zu, meine Beine zitterten unsicher, als wir uns zum Palast umwandten. Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, dass er mich wieder hineinführte, in die höchsten Stockwerke, weit über die Stadt. Fort von Caleb.
Ich tat es, ohne nachzudenken. »Warte – ich möchte die Menge grüßen.«
Der König blieb neben dem Springbrunnen stehen und betrachtete mein Gesicht, als hätten sich meine Züge verändert. Hoffentlich hatte er nicht die Verzweiflung in meinen Augen gesehen und dass mein Blick zu der Stelle zurückgezogen wurde, an der Caleb stand, dessen Gesicht nun eine Mütze verdeckte. »Das ist eine schöne Idee.« Er führte meine Hand an den Mund und küsste sie, es war eine Geste, die mich erstarren ließ. Dann bedeutete er dem Lieutenant und dem Bildungsminister vorauszugehen.
Soldaten umringten uns. Als wir die Treppen hinunterstiegen, ließ ich den Blick über die Menge schweifen. Caleb war da, nur ein paar Meter entfernt, von Zeit zu Zeit erhaschte er einen Blick auf mich, während er sich nach vorn drängte, näher an die Absperrung heran, um mir die Hand zu geben.
Die Palmen boten keinen Schutz vor der Hitze. Ich sah zurück. Der Lieutenant war im Palast verschwunden, das Meer kleiner Kinder hatte ihn verschluckt. Ihre Lehrer hatten sie mit der Aussicht auf ein Eis zu den Läden im Palast gelockt.
»Prinzessin Genevieve!«, rief eine Frau mit schiefer Brille und kippte beinahe über die Absperrung. »Willkommen in der Stadt aus Sand!« Sie war um die dreißig und trug ein verblichenes Blümchenkleid. Ihre Haut war von der Mittagssonne feucht und gerötet.
Ich streckte die Hand aus und nahm ihre Hand in meine. »Ich freue mich, hier zu sein«, sagte ich, mit einem Mal fühlten sich die Worte wahr an. Der König stand neben mir und tätschelte einem zwölfjährigen Jungen den Kopf. Er war eine Armlänge von mir entfernt, von Zeit zu Zeit lächelte er, manchmal legte er den Arm um meine Taille. Als Caleb plötzlich aus der Menge auftauchte, die ich noch immer nach ihm absuchte, und sich sein Hut auf mich zubewegte, spannte sich mein ganzer Körper an. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen.«
Caleb war jetzt nur noch zwei Meter entfernt, die Kluft zwischen uns wurde mit jeder Minute kleiner. Ein Mann bat mich, einen Papierfetzen für ihn zu signieren; ein anderer wollte wissen, wie mir die Stadt aus Sand gefiele, ob ich schon auf dem Eiffelturm gewesen sei, dessen Miniaturausgabe ja auf der anderen Straßenseite stand. Ich antwortete in Halbsätzen und fragte mich, ob der König wohl wusste, wie Caleb aussah. Es war noch nicht zu spät. Ich konnte mich immer noch umdrehen, bevor er näher kam.
Aber ich drehte mich nicht um. Stattdessen sah ich durch die Menschenmenge zu ihm, betrachtete das markante Kinn, das ich früher mit den Händen umfasst hatte und das nun glatt rasiert war. Seine Haut hatte nicht mehr das tiefe Rotbraun, das sie in der Wildnis gehabt hatte. Er wirkte dünner, aber gesund, auf seinen Lippen lag ein schwaches Lächeln. Ein Soldat schritt vor der Absperrung auf und ab. Er ließ den Schlagstock gegen die Metallstäbe poltern, was ein schreckliches Klong-klong-klong-klong erzeugte. Ich folgte seinem Blick und betrachtete die Szene durch seine Augen. Bemerkte er den jungen Mann mit der dunklen Mütze? Er hatte jedoch nur Augen für eine Frau in einem engen weißen Kleid, deren Brüste aus dem Ausschnitt quollen.
Caleb arbeitete sich weiter nach vorn, während ich an der Reihe entlangging und eine Hand nach der anderen schüttelte. Ich küsste ein Baby auf den Kopf, roch das Puder auf seiner Haut und freute mich über seine weichen Haare, die meinen Hals streiften. Ich streckte die Hand nach einer Frau aus, die weiter hinten in der Menge stand, und fühlte Calebs Blick auf mir, als er näher kam. Ihre Hand fühlte sich weich an, als ich sie drückte, im grellen Mittagslicht sah man die blassen Sommersprossen auf ihrer bleichen Haut. Der König stand noch immer neben mir. Seine Stimme klang klar, als er einem Mann für dessen Unterstützung dankte.
Ich nahm die Hand einer älteren Frau und entfernte mich von meinem Vater. Caleb war direkt hinter ihrer Schulter, nicht mal einen halben Meter entfernt. »Ich freue mich, Euch zu sehen, Prinzessin«, sagte er und streckte mir die Hand entgegen.
»Oh, vielen Dank«, sagte ich mit einem leichten Kopfnicken. Wir blieben für einen Augenblick so stehen. Ich wollte meine Finger durch seine schieben, ihn an mich ziehen, so nah, dass sein Kinn auf meiner Schulter lag, sein Gesicht sich an meinen Hals schmiegte. Ich wollte seine Arme um mich spüren, unsere Körper aneinanderpressen, damit wir wieder eins waren.
Doch der Soldat drehte sich wieder zur Menge. Er wandte sich von der Frau im weißen Kleid ab, lief um mich herum und brüllte einen Mann an, der auf einem Mülleimer stand, um eine bessere Sicht zu haben. Der König trat von der Metallabsperrung zurück und gab mir ein Zeichen, dass wir in den Palast zurückgehen würden. Ein blonder Junge streckte mir über Calebs Arm hinweg die Hand entgegen und wollte mich unbedingt begrüßen.
Caleb überließ mich ihnen.
Ich stand da, die Stimmen von Fremden im Ohr, meine Hand war noch immer warm von seiner Berührung. Ich brauchte eine Sekunde, bis ich das winzige Papierstückchen bemerkte, das zwischen meinen Fingern steckte, es war so oft zusammengefaltet, dass es kleiner war als eine Münze. Ich legte die Hand auf den Oberkörper und schob es in den Ausschnitt.
»Willkommen, Prinzessin«, sagte der Junge, als er meine Hand ergriff. »Wir freuen uns sehr, dass Ihr hier seid.«
Während Caleb sich abwandte und die Mütze ins Gesicht zog, blieb ich dort stehen, erstarrt unter dem Blick meines Vaters. So plötzlich wie er aufgetaucht war, war Caleb verschwunden.