DREI
An diesem Abend nahm ich Arden mit in Maeves Haus. Das schmale zweistöckige Gebäude war mit sechs weiteren verbunden, die ganze Reihe schmiegte sich an den Abhang. Da sich Unterkünfte einfacher verbergen ließen, wenn sie verteilt lagen, war von den sechs Häusern nur ihres bewohnt. Die Wände waren an vielen Stellen ausgebessert, der Boden ein Mosaik aus unterschiedlichen Fliesen. Arden und ich waren in einem kleinen Schlafzimmer im ersten Stock, im Laternenlicht schimmerte unsere Haut rosig. Maeve schlief nebenan, neben ihr Lilac.
Arden zog ihr langes schwarzes Hemd aus, stellte sich im Unterhemd vor die Kommode und presste ein feuchtes Handtuch auf ihr Gesicht und ihren Hals. »Als ich hier ankam und du warst nicht da, habe ich schon das Schlimmste befürchtet«, sagte ich gegen das Etagenbett gelehnt, in dem ich schlief. Die Blümchentapete des Zimmers löste sich an mehreren Stellen, einige Bahnen waren mit Reißzwecken festgesteckt. »Ich dachte, die Soldaten hätten dich gefunden. Du würdest irgendwo festgehalten, gefoltert oder …« Ich hielt inne, ich wollte nicht weiterreden.
Arden bearbeitete ihre Haut mit dem Handtuch und rieb die Schmutzflecken von den Armen. Im Licht der Laterne konnte ich jeden ihrer Wirbel erkennen, sie ähnelten unter ihrer Haut kleinen Kieseln. Ich erinnerte mich an den Tag, als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, damals, als wir uns hinter dem Schuppen versteckt hatten. Ihre Wangen waren voll gewesen, ihre Augen wachsam. Nun war sie so mager, dass ihre Schulterblätter herausstanden. Ihre Kopfhaut war voller frischer Schorfstellen.
»Sie haben mich nie gekriegt«, sagte sie, ohne sich umzudrehen. Sie betrachtete sich in dem zersprungenen Spiegel, der ihr Spiegelbild in zwei Teile schnitt. »An dem Tag, als ich dich bei Marjories und Otis’ Haus verließ, verfolgten mich die Soldaten durch den Wald. Als ich den Stadtrand erreichte, hatte ich sie abgehängt, doch ich konnte mich nirgendwo verstecken. Ich fand diese Metallklappe auf der Straße, einen Gulli, und stieg hinunter. Ich folgte einfach den Tunneln, watete durch den Abwasserschlamm und wartete darauf, dass sie mich dort aufspüren würden. Aber sie fanden mich nicht.«
Der Riesenhund lag mit dem Kinn auf dem Boden zu ihren Füßen. Ich ließ ihn nicht aus den Augen, denn ich hatte noch die Warnungen aus der Schule im Kopf, dass Menschen von Rudeln wilder streunender Hunde zerfleischt worden waren. »Wo hast du ihn gefunden?«, fragte ich und deutete mit einem Kopfnicken auf das Tier, dessen Kopf fast so groß war wie meiner.
»Sie hat mich gefunden«, lachte Arden und legte das Handtuch weg. »Ich habe ein Eichhörnchen gebraten. Vermutlich hat sie ihr Rudel verloren und hatte Hunger. Ich gab ihr also etwas zu fressen. Da fing sie an, mir hinterherzulaufen.« Sie kniete sich auf den Boden und umfasste den Kopf des Hundes. »Du darfst Heddy nicht nach ihrem Aussehen beurteilen – sie ist wirklich lieb. Stimmt’s, altes Mädchen?«
Als Arden lächelnd zu mir hochsah, bemerkte ich eine dicke rote Wunde von ihrem Schlüsselbein zu ihrer rechten Brust hinunter. An manchen Stellen blutete sie noch leicht. Schon der Anblick ließ mich zusammenzucken. »Du bist ja verletzt«, sagte ich und stand auf, um mir die Wunde genauer anzusehen. »Was ist passiert? Wer hat dir das angetan?« Ich fasste sie an der Schulter und drehte sie ins Licht.
Arden schlug meine Hand weg. Sie fischte das Handtuch aus dem Waschbecken und legte es auf ihren Hals. »Ich will nicht darüber reden. Jetzt bin ich hier und es fehlt mir weder ein Arm noch ein Auge. Belassen wir es dabei.«
»Nein, das tun wir nicht«, erwiderte ich, doch Arden kletterte schon in das untere Bett. Sie warf sich neben Lilacs alte Puppen. Die meisten waren nackt, ihre Haare nach jahrelanger Vernachlässigung verfilzt. »Arden«, sagte ich noch einmal bittend. »Was ist passiert?« Die Hündin folgte mir zur Leiter und fiepte, als sie unentschlossen vor dem Bett stehen blieb.
Arden seufzte. »Das willst du nicht wissen.« Sie presste das feuchte Handtuch auf ihren Oberkörper und wollte mich loswerden, doch ich rührte mich nicht.
»Erzähl es mir.«
Sie drehte sich zu mir, im Schimmer der Laterne sahen ihre Augen glasig aus. »Ich habe mich verlaufen«, sagte sie mit leiser Stimme. »Deshalb habe ich so lange gebraucht, um hierherzukommen. Ich habe Sedona in nördlicher Richtung verlassen und dann fand ich Heddy. Wir waren ungefähr eine Woche zusammen, da wurde es so heiß, dass ich tagsüber kaum weiterlaufen konnte. Heddy rannte ständig ins Gebüsch, um der Sonne zu entkommen. Schließlich beschloss ich, dass wir die Hitzewelle einfach aussitzen und uns einen Platz zum Ausruhen suchen würden.« Sie rieb das feuchte Tuch über ihre aufgerissenen Lippen, um die abgestorbene Haut abzurubbeln. »Wir brachten unsere Sachen in diese unterirdische Garage. Mit jeder Rampe, die wir hinunterliefen, wurde es kühler, angenehmer, aber auch dunkler. Ich wollte gerade eine Autotür öffnen, da hörte ich die Stimme eines Mannes. Er brüllte, doch nichts von dem, was er sagte, ergab irgendeinen Sinn.«
Ich legte mich neben sie und rollte mich in Embryohaltung zusammen. Ihr Mund verzog sich zu einem schwachen Lächeln und sie starrte zur oberen Matratze hinauf, deren Sprungfedern gegen den Stoff drückten. »Es war zwar dunkel, aber ich konnte ihn riechen. Es war ekelhaft. Er packte mich und warf mich auf die Kühlerhaube des Wagens. Er würgte mich und ich spürte die Klinge an meinem Hals. Und bevor ich überhaupt nachdenken konnte, lag er auf dem Boden und Heddy war auf ihm. Sie hörte erst auf, als er keinen Laut mehr von sich gab.« Ich sah auf den dreckverkrusteten Kopf der Hündin. An ihrem Hals waren haarlose Stellen, wo die Haut pockennarbig und schorfig war. »Eine solche Stille habe ich noch nie gehört.«
»Ich hasse mich dafür, dass ich nicht da war«, sagte ich. »Es tut mir so leid, Arden.«
Arden nahm das Handtuch von ihrem Hals. »Bis wir draußen im Licht waren, fiel mir überhaupt nicht auf, dass er mich erwischt hatte. Heddy und ich waren voller Blut.« Die Hündin sprang aufs Bett und legte sich an unsere Füße, die Matratze gab unter ihrem Gewicht nach. Sie legte ihr Kinn neben Ardens Fuß. »Ohne sie wäre ich tot.«
Arden fuhr sich über den Kopf. Trotz des schwarzen weichen Flaums, der nachwuchs, konnte ich ihre Kopfhaut sehen. »Das ist der Grund, warum ich das gemacht habe. Ich dachte, es wäre sicherer, als Mann unterwegs zu sein. Danach haben mich nur ein paar Streuner entdeckt und sie haben mich in Ruhe gelassen. Ein einzelner Mann in der Wildnis zieht nicht so viel Aufmerksamkeit auf sich wie eine Frau.«
»Ich hoffe, du hast recht«, sagte ich, meine Gedanken drifteten wieder zu Caleb. Mein Blick blieb am Fenster hängen. Maeves Haus befand sich am Ende der Straße, die zum Wasser hinunterführte. Ich konnte nur das Spiegelbild des Mondes auf der Oberfläche der Bay erkennen. »Caleb hat mich gefunden, nachdem du weg warst. Er hat mich aufgespürt und wir kamen gemeinsam hierher.«
»Er durfte nicht bleiben, oder?«, fragte Arden. Sie zog eine Häkeldecke über sich, ihre Finger bohrten sich durch die farbenfrohen Wolldreiecke. »Sie hielten es für zu gefährlich?«
»Sein Bein war verletzt. Er konnte kaum laufen«, sagte ich. Ich umklammerte mit den Händen ein Stück Decke, ich wollte nicht an diesen Moment am Ende der Brücke zurückdenken.
Arden rutschte an die Wand. Sie schob die Zehen unter Heddy, die noch immer zusammengerollt am Fußende lag, ihr lauter Atem war im ganzen Zimmer zu hören. »Er findet bestimmt zurück zur Höhle«, versuchte sie, mich zu trösten. »Er lebt seit Jahren in der Wildnis. Er wird schon klarkommen.«
Ich zog vorsichtig die Decke über mich, um die Hündin nicht aufzuschrecken. »Ja, ich weiß«, sagte ich leise und drückte meine Wange gegen das muffige Kissen. Doch die Gedanken kamen wieder. Ich stellte mir Caleb in einem verlassenen Haus vor, mit schlimm entzündetem Bein.
Arden schloss die Augen. Ihr Gesicht entspannte sich, ihre Züge wurden weicher. Sie schlief problemlos ein, mit jeder Minute umklammerte sie die Decke ein bisschen weniger. Ich rückte näher an sie heran und schmiegte den Kopf an ihre Schulter. So lag ich eine Weile und lauschte ihren Atemzügen; jeder eine leise Erinnerung daran, dass ich nicht länger allein war.