VIER

Ich war wieder auf dem Feld und drückte mein Gesicht in die Erde. Ich war gerade von Fletchers Laster geflohen. Er kam durch die Bäume, dünne Äste knackten unter seinem Gewicht, sein Atem ging schwer und klang verschleimt. Die Wildblumen unter mir waren zerdrückt. Ihre zarten Blüten verströmten einen Übelkeit erregenden Duft, als ich auf meine Hände starrte, die von den Pollen orange verfärbt waren. Da entdeckte er mich. Er hob die Waffe. Ich versuchte zu rennen, davonzulaufen, aber es war zu spät. Er drückte ab, der Knall hallte über das Feld.

Ich schreckte im Bett auf. Auf meiner Haut lag eine dünne Schweißschicht. Ich brauchte einen Moment, bis mir klar wurde, dass ich in Califia war, in Maeves Haus, in dem winzigen Zimmer mit der Blümchentapete. Ich hatte unten etwas gehört – eine zufallende Tür. Ich blickte um mich. Die Kerze war erloschen. Durch den Sprung in der Scheibe zog kalte Luft herein. Ich rieb mir die Augen und wartete, dass sie sich an die Dunkelheit gewöhnten.

Irgendjemand war unten im Flur. Heddy hob den massigen Kopf und lauschte ebenso aufmerksam wie ich. »Beruhig dich«, hörte ich Maeve sagen. Sie war im Wohnzimmer oder vielleicht in der Küche und sprach mit demjenigen, der gerade hereingekommen war. »Sie ist oben.«

Heddy gab ein leises Knurren von sich und neben mir wurde Arden wach. »Was ist denn?«, fragte sie und setzte sich mit steifem Rücken auf. Sie sah sich im Zimmer um. »Wer ist da unten?«

Ich legte den Finger an die Lippen, um sie zum Schweigen zu bringen, dann deutete ich auf die Tür. Sie stand einen Spalt weit auf. Ich kroch darauf zu und winkte ihr, mir zu folgen. Die Stimmen klangen jetzt leiser, doch ich konnte noch immer Maeves eindringliches Flüstern und die eiligen, angespannten Antworten einer anderen Frau hören.

Der Flur war dunkel. Dem wackeligen Holzgeländer der Treppe fehlten einige Streben. Arden sperrte Heddy ins Zimmer und wir krochen auf allen vieren zur Treppe. Auf dem Bauch liegend spähten wir nach unten. Im Wohnzimmer schimmerte ein unheimliches Licht. »Er weiß, dass sie hier ist – er hat sie ja hergebracht. Und jetzt kreuzt dieses neue Mädchen auf«, sagte Isis, ihre leise raue Stimme verriet sie. »Wer sucht sonst noch nach ihr? So sind wir in der Vergangenheit nicht vorgegangen, wir können nicht einfach …«

»Und seit wann jagen wir Frauen in die Wildnis hinaus?« Ich erkannte Quinns türkisfarbenes T-Shirt. Sie lehnte mit dem Rücken zu uns gegen den Türrahmen und gestikulierte beim Sprechen mit den Händen.

Isis wurde lauter. »Das hier ist etwas anderes. Die Frauen reden – und alle haben Angst. Wir betteln den König doch geradezu an, sie hier aufzuspüren. Vielleicht ist es heute noch mal gut gegangen, aber es ist doch nur noch eine Frage der Zeit.«

Ich drehte den Kopf zu Arden und legte meine Wange auf den kalten Boden. Die meisten Frauen waren seit meiner Ankunft freundlich zu mir gewesen, aber da war immer die Angst unter der Oberfläche, dass ich das Gleichgewicht in Califia durcheinanderbringen könnte. Dass all die Jahre, in denen sie ihre Stadt aufgebaut hatten, die alten Ladenfronten und Häuser ausgeräumt und wieder bewohnbar gemacht hatten, all die Jahre, in denen sie sich hinter einer Tarnung aus Efeu und Moos verborgen und die Tage im Dunkeln verbracht hatten, sobald eine Bewegung in der Stadt registriert wurde –, dass all das in Sekundenschnelle vorbei wäre, falls mich der König aufspürte.

»Sie ist auch keine größere Bedrohung als wir anderen«, sagte Quinn. »Wir sind alle Eigentum des Königs. Als ich hergekommen bin, gab es keine Diskussion, mich hinauszuwerfen, weil die Soldaten vielleicht Califia stürmen würden. Als Greta vor dieser Bande gerettet wurde, scherte sich keiner um die Überfälle, die das zur Folge hätte haben können. Diese Männer hätten uns alle töten können.«

»Ich bitte dich«, zischte Isis. »Du weißt genau, dass das etwas anderes ist.« Ich beugte mich weiter vor, aber ich konnte sie immer noch nicht durch die Türöffnung sehen. »Sie suchen mittlerweile seit Monaten nach ihr. Ihr habt die Warnmeldungen über Funk gehört. Es macht nicht den Eindruck, als würden sie die Suche in absehbarer Zeit einstellen.«

Bei ihren Worten richteten sich die feinen Härchen auf meinen Armen auf. Isis hatte die letzten zwei Jahre auf einem Hausboot gelebt. Sie war eine der Gründermütter und hatte nach der Pestepidemie in San Francisco in einem verlassenen Lagerhaus überlebt, bevor sie sich auf den Weg über die Brücke gemacht hatte. Ich hatte in ihrer Küche gesessen, an ihrem Tisch gegessen, mit ihr über den alten Schmuck gesprochen, den eine der Frauen gefunden hatte, oder über ihre Freundin, die Haare schneiden lernte. Jetzt fühlte ich mich dumm, weil ich ihr vertraut hatte.

»Ich werfe sie nicht hinaus«, sagte Quinn. »Sag ihr das, Maeve. Sag ihr, dass wir das nicht tun werden.«

Ich konnte hören, wie Maeve auf und ab ging, der Boden unter ihren Füßen knarrte. Selbst in meinen dunkelsten Momenten, wenn ich darüber nachgrübelte, was Caleb zugestoßen sein könnte, wenn ich mich fragte, wie es Pip gehen mochte, oder Ruby, oder wenn ich über das Schicksal meiner anderen Freundinnen nachdachte, wäre mir nicht im Traum eingefallen, dass ich aus Califia verjagt werden könnte und dass man mich allein in die Wildnis zurückschicken würde.

Nach einer langen Pause atmete Maeve schließlich aus. »Wir werfen niemanden raus«, erklärte sie. Arden drückte meine Finger so fest, dass es wehtat. Im Dämmerlicht sah ihr Gesicht noch schmaler aus, ihre Wangen waren eingefallen und grau. »Außerdem wäre es dumm, wenn wir die Situation nicht zu unseren Gunsten nutzen würden. Wenn der König sie hier entdeckt, entdeckt er uns alle. Wir brauchen sie als Trumpfkarte bei den Verhandlungen.«

Mir schnürte es die Brust zu. »Wenn das dein Grund ist, sie hierbleiben zu lassen, von mir aus«, versuchte es Quinn noch einmal. »Doch er wird sie hier nicht aufspüren. Sie ist kein größeres Risiko als jede andere.«

»Ich hoffe, du behältst recht«, sagte Maeve. »Doch falls er sie findet, werden wir ihretwegen nicht zu Märtyrerinnen werden. Du bringst sie in den Bunker und bleibst dort, bis wir so weit sind, sie an die Soldaten auszuliefern. Es könnte unsere Chance sein, unsere Unabhängigkeit gegenüber dem Regime durchzusetzen.«

Mir wurde schlecht, wenn ich daran dachte, wie ich Maeve nach meiner Ankunft endlos gedankt hatte – wenn sie einen Teller Essen vor mich gestellt hatte, wenn sie Kleider für mich im Laden fand, wenn sie Regenwasser wärmte, damit ich baden konnte. Das versteht sich doch von selbst, hatte sie gesagt und abgewinkt. Wir freuen uns, dass du hier bist.

Es wurden noch einige geflüsterte Worte ausgetauscht, bevor Maeve das Wohnzimmer verließ, Isis und Quinn folgten ihr auf dem Fuß. Arden und ich krochen zurück und hielten uns im Dunkeln. »Sie werden sie hier nicht finden – sie haben keinerlei Anlass«, wiederholte Quinn ein letztes Mal.

»Es ist fast vier«, sagte Maeve und hielt die Hand hoch. »Es ist alles gesagt worden. Warum geht ihr zwei nicht nach Hause und schlaft ein bisschen?« Sie öffnete vorsichtig die Tür und teilte den dicken Efeuvorhang, der die Haustür verdeckte. Als sie davongingen, konnte ich hören, wie Isis von neuem zu diskutieren begann.

Maeve schloss ab und stieg die Treppe hinauf. Ich war wie erschlagen. Arden und ich huschten wie Mäuse an der Wand entlang, wir mussten so schnell wie möglich in unser Zimmer zurück. Als Maeve die oberste Stufe erreichte, plumpsten wir gerade ins Bett. Ich zog die Decke über uns, legte den Kopf aufs Kissen, schloss die Augen und tat, als schliefe ich.

Die Tür ging auf. Der Schein einer Laterne wärmte unsere Gesichter. Sie weiß, dass du gelauscht hast, dachte ich, meine Gedanken galoppierten vor mir her. Sie weiß Bescheid und jetzt wird sie dich in diesen Bunker sperren, bis sie dich an den König ausliefert.

Doch das Licht bewegte sich nicht. Sie rührte sich nicht. Ich fühlte bloß die schwere Hündin auf meinen Füßen, die den Kopf hob, vielleicht blinzelte sie Maeve genauso freundlich an wie mich.

»Was schaust du so?«, brummte Maeve schließlich. Dann schloss sie die Tür hinter sich, ging den Flur hinunter und überließ uns der Dunkelheit.