ZWEIUNDDREISSIG

»Nun schau dich an, Charles Harris!«, rief Mrs Wentworth und stieß Charles scherzhaft gegen die Brust. »Du siehst besser aus denn je. Das müssen wohl die Auswirkungen der Liiieeebe sein«, sagte sie gedehnt und schwenkte die Hüften. Man hatte mir erzählt, dass Amelda Wentworth eine bekannte Witwe in der Stadt war, eine der ersten Gründerinnen, die dem König sowohl Zugriff auf das Vermögen als auch auf die Spedition ihres verstorbenen Mannes gewährt hatte. Sie war für Charles wie eine Tante gewesen und hatte seit seiner Jugend, als er neu in der Stadt gewesen war, auf ihn aufgepasst.

»Und Ihr, Eure Königliche Hoheit«, fügte sie mit einem Hofknicks hinzu, »wie aufregend muss das für Euch sein. Den einen Tag lebt Ihr in einer der Schulen und am nächsten seid Ihr hier, innerhalb der Stadtmauern. Prinzessin Genevieve.« Sie stand neben uns und drehte sich ständig, um sich auf der dicht gedrängten Party umzusehen.

Wir waren im Penthouse von Gregor Sparks, einem der Männer, die nach der Epidemie ihr Vermögen gespendet hatten. Das dreistöckige Apartment auf dem Dach des Cosmopolitan-Gebäudes hatte einen Wasserfall in der Mitte des Zimmers und restaurierte Matisse-Gemälde an den Wänden. Es war eine der zahllosen Verlobungspartys, dieses Mal gab es dünne, mit Käse bestrichene Cracker und ein ganzes Spanferkel, das auf einer Silberplatte angerichtet war. Es war größer als die, die wir bei Schulzeremonien gehabt hatten, seine Keulen spreizten sich breit, als ein Arbeiter in das zarte Fleisch schnitt.

»Es war ein Traum«, sagte ich mit eingefrorenem Lächeln, während ich ihre mit Haarspray steif gesprühten Locken und die angetrockneten Lippenstiftreste in ihren Mundwinkeln wahrnahm.

Einige Gäste lehnten sich auf Gregors langer s-förmiger Couch zurück, ihr fröhliches Geplapper erfüllte den Raum. Die Frauen trugen allesamt Abendkleider und Seidenschals, während die Männer in gestärkten Hemden, Krawatten und zugeknöpften Westen erschienen waren. Es war eine andere Welt als die jenseits der Mauer, und bei Gelegenheiten wie dieser, eingehüllt von den Gerüchen von Glühwein und Braten, fühlte sich die Wildnis weit weg an, wie ein anderer Planet in einer weit entfernten Galaxie.

»Kotelett?«, fragte ein Kellner und hielt mir ein Silbertablett unter die Nase.

Ich nahm ein Stück des rosa Fleisches am Knochen und führte es zum Mund, der scharfe Geruch von Knoblauch kribbelte in der Nase. Als ich das Kotelett so zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, kam mir eine Erinnerung hoch: Pip und ich, wie wir uns im Gebüsch über einen grauen Hügel beugten, den wir gefunden hatten. Ein Hügel aus Pelz, der Schwanz verdeckte den Rest des Körpers. Pip war darauf zugekrochen, entschlossen, ihn aufzuheben und herauszufinden, ob er krank oder tot war. Als sie sich heruntergebückt und in den Fuß gekniffen hatte und schließlich daran zog, hatte sich das verweste Fleisch abgelöst. Wir hatten geschrien und waren aus dem Gebüsch gerannt, sie hatte ihn diese eine Sekunde gehalten – den dünnen, blutigen Knochen.

Galle stieg in meiner Kehle auf. Ich konnte noch immer Pips Schrei hören. Ich legte das Fleisch auf den Teller zurück und wandte mich ab.

»Was hast du denn?«, fragte Charles, seine Hand lag noch immer auf meinem Rücken.

»Mir ist übel«, sagte ich und wich ihm aus. Ich presste eine Serviette auf meine Stirn und meine Lippen und versuchte, mich zu beruhigen. Ich hatte letzte Nacht von ihr geträumt. Pip in einem der Metallbetten, Ruby neben ihr, daneben Arden. Ein anderes Mädchen war aufgetaucht, ein jüngeres, ihre Züge waren im Dunstschleier des Traums verschwommen. Wann kommst du zurück?, hatte Pip gefragt, ihr Bauch wölbte sich fast einen halben Meter vor, ihre Brüste waren geschwollen und das rote Haar klebte ihr an der Stirn. Du hast uns vergessen.

»Möchtest du etwas trinken?«, fragte Charles. »Ein Wasser vielleicht?« Er gab dem Kellner in der Ecke ein Zeichen.

»Ich brauche nur Platz«, sagte ich und ließ ihn stehen. »Gib mir eine Minute.« Ich hielt einen Finger hoch. Dann verließ ich den überfüllten Raum und blieb erst am Ende des Gangs stehen, hinter der Küche, wo ich mich mit dem Rücken gegen die Wand lehnte.

Ich wartete, bis mein Atem wieder langsamer ging. Ich hatte es Beatrice versprochen. Ich hatte ihr versprochen, dass ich ihr helfen würde, ihre Tochter zu finden, und trotzdem hatte ich in den Tagen darauf dumm neben Charles gestanden, als er den Zoo im alten MGM Grand eröffnete. Ich hatte Partys besucht und Galas und einen Brunch für die Gattinnen der Elite ausgerichtet.

»Geht es Euch gut, Prinzessin?«, fragte Mrs Lemoyne, als sie auf dem Weg zur Toilette vorbeikam. »Ihr seht krank aus.« Sie war eine unscheinbare, harte Frau, die ständig jemanden wegen irgendeines vermeintlichen Fehltritts zurechtwies.

Ich tupfte mir mit meiner Serviette die Stirn ab. »Ja, Grace, danke. Ich brauchte nur ein bisschen Luft.«

»Dann stellt Euch doch ans Fenster«, drängte sie. »Dort drüben.« Sie führte mich in das offizielle Speisezimmer, wo ein Diener über einen Tisch gebeugt stand und die Vorbereitungen für das Servieren des Abendtees traf. Ein anderer kniete neben einem Porzellanschrank und nahm Tassen und Untertassen von einem Brett. Zum Glück stand das Fenster offen, die kühle Nachtluft bauschte die Gardinen auf.

Ich trat ins Zimmer, vom Ende des Gangs waren noch immer die Geräusche der Party zu hören. »Ich hoffe, ich störe Sie nicht«, sagte ich, als ich an dem Mann vorbeiging, der am Tisch stand. »Ich bleibe nur eine Minute.«

Ein Moment verging. Er gab keine Antwort. Ich drehte mich um und er starrte mich an. Er trug seine Brille nicht. Sein Haar war gekämmt und sein Körper steif, die Schultern nach hinten gedrückt, er sah völlig anders aus als das letzte Mal, als ich ihn gesehen hatte. Ich hielt mir die Hand vor den Mund, um seinen Namen nicht laut auszusprechen.

Curtis balancierte das Tablett in der Hand. Ich warf einen Blick auf den Diener, der nur ein paar Meter weiter auf dem Boden kniete und leise vor sich hinsummte, während er die Tassen auf ein Silbertablett stellte. Einer der Köche kam den Gang mit einer leeren Platte herunter. Mrs Lemoyne kehrte von der Damentoilette zurück und lächelte mir im Vorübergehen zu.

Ich schaute in Curtis’ steingraue Augen und versuchte herauszufinden, was sich hinter seinem Schweigen verbarg. Ich hätte ihn gern gefragt, ob sie mehr über Calebs Freilassung gehört hatten. Ich hätte gern gewusst, wie weit sie mit den Tunneln waren, ob die Arbeiten am ersten abgeschlossen waren, ob die Pläne gestimmt hatten. Wenn sie mich im Palast erreichen konnten, hatte ich noch eine Chance – ich konnte fliehen.

Doch er sah mich nur kalt und unbeteiligt an. »Tee, Prinzessin?«, fragte er und hielt mir das Tablett entgegen. Meine Finger zitterten, als ich mir eine Tasse herunternahm. Er hielt die Kanne schräg und schenkte das kochend heiße Wasser ein, zwischen uns schwebte eine Dampfwolke.

Sekunden später war er verschwunden und lief den langen Flur wieder hinunter, das Porzellan klirrte auf dem Silbertablett. Er drehte sich kein einziges Mal um. Ich stand dort mit dem heißen Tee in der Hand, bis ich den König aus dem Nachbarzimmer rufen hörte.

»Genevieve!« Seine Stimme klang fröhlich und leicht. »Komm jetzt. Es ist Zeit für einen feierlichen Toast.«