9 Dreißig einfache Methoden, das Leben zu genießen
Bevor ich mich Adam widmen konnte, musste ich erst einmal meine sämtlichen Termine für die nächsten zwei Wochen absagen und ohne Gemmas logistische Hilfe meine Arbeit an meine beiden Kollegen Peter und Paul delegieren, die nicht mehr mit mir sprachen, weil sie wie gesagt Gemmas Entlassung unfair fanden. Ich setzte mich an Gemmas Schreibtisch und legte los. Oscar abzusagen dauerte am längsten, denn ich erwischte ihn ausgerechnet in dem Augenblick, als er gerade den dritten Bus hatte wegfahren lassen, ohne einzusteigen. Ich musste ihn am Telefon durch die ganze Prozedur begleiten – einsteigen, hinsetzen, Atemübungen durchführen – und ihm dann zur Ablenkung eine Geschichte erzählen. Zum Schluss gab ich ihm noch meine Handynummer, weil er so verzweifelt war, dass er mich die nächsten zwei Wochen nicht im Büro würde erreichen können. Doch als ich mich verabschiedete, war Oscar extrem gutgelaunt, weil er offensichtlich das Gefühl hatte, wenn er es geschafft hatte, drei Stationen im Bus sitzen zu bleiben, könnte er es mit der ganzen Welt aufnehmen. Er würde sicher auch noch seine nächste Aufgabe erfolgreich erfüllen – nämlich nach Hause zu gehen –, und das mit beschwingtem Schritt. Kaum hatte ich aufgelegt, hörte ich Adam aus meinem Büro rufen.
Als ich hinkam, war er dabei, die Titel der Ratgeber in meinem Bücherregal zu studieren. »›Zweiundvierzig Tipps, positiv zu denken, wenn alles schiefgeht‹, ›Fünfunddreißig Wege zum positiven Denken‹«, las er vor und schnaubte verächtlich. »Wirklich faszinierend, diese Zahlen. Warum sind die Angaben so spezifisch? Warum zweiundvierzig und nicht vierzig? Warum rundet man die positiven Gedanken nicht einfach zum nächsten glatten Zehner auf oder ab?«
Langsam ging er das Bord durch.
»›Fünf Arten, Liebe zu zeigen.‹ ›Fünf Möglichkeiten, das Energielevel aufrechtzuerhalten.‹ ›Zehn Arten, mit deiner Energie zu haushalten.‹« Er lachte. »Okay, ich glaube, jetzt weiß ich, wie du das machst – du ordnest die Bücher nach der Anzahl der Tipps, richtig? Du denkst dir wahrscheinlich: ›Heute bin ich in der Stimmung für die lange Energie-Methode.‹ Oder: ›Heute bin ich so müde, da nehme ich lieber die Abkürzung.‹ Bestimmt bevorzugst du im Allgemeinen die fünf Möglichkeiten für den Energiehaushalt, denn es wäre im Grunde doch kontraproduktiv, wenn man stattdessen zehn Dinge tun muss, oder? Glaubst du, der Mensch, der über die fünf Methoden geschrieben hat, hat mehr Energie als der mit den zehn? Oder weniger? Weil der mit den zehn mehr Methoden hat, aber ein kürzeres Buch darüber geschrieben hat – also war die Arbeit vielleicht weniger anstrengend. Am besten, die beiden treffen sich mal. Vielleicht könnte einer von ihnen ja ein Buch schreiben mit dem Titel ›Wie man Leuten beim Schreiben eines Selbsthilfebuchs mit Rat und Tat zur Seite steht.‹ Sechs Tipps, zwölf Tipps, neununddreißig Tipps, sechsundsechzig Tipps – ja, wir haben einen Gewinner!« Er hielt ein Buch hoch. »›Sechsundsechzig Möglichkeiten, wie man Geldsorgen regelt.‹ Sechsundsechzig? Ich kenne nur eine – man geht arbeiten«, sagte er zu dem Buch und sah sich dann weiter im Regal um.
»Manche Leute können aber nicht arbeiten.«
»Na klar. Und Stress ist das neue Rückenleiden.«
»Du bist auch nicht bei der Arbeit. Überhaupt – es würde mich mal interessieren, was die Leute in deiner Firma glauben, wo du abgeblieben bist.«
Aber er ignorierte mich. »Ist das so eine Art Selbstmedikation? Du sagst dir beispielsweise, ich brauche genau sechs Methoden, um abzunehmen. Oder: Diese Woche brauche ich einundzwanzig. Oder: Heute wäre ›Neun Methoden zum korrekten Treppensteigen‹ genau das Richtige für mich.«
»Das Buch gibt es nicht.«
»Könnte es aber. Vielleicht solltest du es schreiben. Ich würde jedenfalls gern erfahren, wie man auf neun verschiedene Arten die Treppe raufgeht, denn anscheinend geht es diesen Leuten hier in den seltensten Fällen um naheliegende Dinge.«
Natürlich hatte ich den Ehrgeiz, ein Buch zu schreiben, aber das wollte ich Adam nicht auf die Nase binden, schon gar nicht, wenn er so über Selbsthilfe dachte. Ich hatte jedoch das Gefühl, dass ich bald mit dem Schreiben loslegen würde. Erst letzte Woche hatte ich daran gedacht, »Wie man erfolgreich ein Buch schreibt« aus dem Kistenstapel zu kramen, der in der Souterrainwohnung auf mich wartete und mein ganzes Leben enthielt. Barry war zwar nie sonderlich unterstützend gewesen, hatte es mir aber auch nie auszureden versucht – nicht dass mich das daran gehindert hätte, zu tun, was ich wollte. Ich gestehe offen, dass ich seinen Mangel an Unterstützung gern als Entschuldigung benutzte, weil ich selbst Angst davor hatte. Aber jetzt war alles anders, und ich hatte mir geschworen, es mit dem Schreiben zu versuchen. Mir gingen so viele Themen im Kopf herum, aber mein Arbeitstitel lautete: »Wie man seinen Traumjob findet.« Bisher hatte ich dreizehn lieferbare Titel zu dem Thema gefunden, hatte vier davon gelesen, aber trotzdem das Gefühl, dass ich noch etwas Neues beizutragen hatte. Die Bücher, die ich gelesen hatte, schienen sich alle darauf zu konzentrieren, wie man möglichst schnell reich werden konnte, während ich fand, dass das Endziel das persönliche Glück sein sollte. Brenda meinte, persönliches Glück würde sich schlecht verkaufen, und ich sollte auf jeden Fall das Thema Büro-Sex einflechten, entweder im ganzen Buch oder geballt in einem Kapitel – wieder mal ein unendlich nicht-hilfreicher Tipp von einem Mitglied meiner Familie.
Adam war unterdessen immer noch dabei, sich über meine Selbsthilfe-Kollektion zu mokieren.
»Gibt es vielleicht irgendwo einen geheimen Safe mit einem speziellen Bücherpaket für mich – ›Hundert Methoden, wie ich mir nicht das Leben nehme‹?«
Offensichtlich war er fest davon überzeugt, dass er superwitzig war, und ließ sich stolz in den Sessel plumpsen, der zufällig meiner war. Da er so lange gebraucht hatte, sich überhaupt zu setzen, akzeptierte ich es und nahm auf dem Sessel Platz, der eigentlich für meine Klienten vorgesehen war. An diese Perspektive war ich überhaupt nicht gewöhnt und fühlte mich sofort verwirrt.
»Eigentlich ist das gar kein so schlechter Vorschlag«, sagte ich. »Ich werde dir zwar keine hundert Möglichkeiten anbieten, wie du dich nicht umbringst, aber wir werden einen Krisenplan zusammenstellen.«
»Einen was?«
Ich zog ein Buch aus dem Regal hinter mir – ›Wie gehe ich mit Selbstmordgedanken um‹ – und blätterte zur entsprechenden Seite. In den schlaflosen Nächten nach meiner Simon-Conway-Erfahrung hatte ich den Ratgeber von vorn bis hinten durchgelesen. »Ein Krisenplan ist im Wesentlichen eine Liste mit Anweisungen, die du befolgen sollst, wenn du Selbstmordgedanken hast, was ja, wie du selbst zugegeben hast, bei dir sehr oft der Fall ist. Du hast schon einmal versucht, diese Gedanken in die Tat umzusetzen, womöglich kommt das noch mal vor.«
»Na ja, ich hab dir gesagt, dass ich es tun werde, wenn sich nichts ändert.«
»Aber bis zu deinem Geburtstag gehörst du mir«, gab ich streng zurück. »Wir haben eine Abmachung, und in den nächsten zwölf Tagen werde ich mir alle Mühe geben, meinen Teil davon einzuhalten. Und du musst dich um deinen kümmern. Nämlich am Leben zu bleiben. Das ist deine Aufgabe. Den Anweisungen folgen und am Leben bleiben. Womöglich lernst du dabei sogar das eine oder andere über dich selbst. Und so kann ich dir helfen, Maria zurückzuerobern.«
»Na schön.«
»Okay. Zu dem Plan kommen wir gleich, es wird eine Weile dauern, ihn aufzuschreiben, aber zuerst möchte ich mich ein bisschen mit dir unterhalten. Ich würde gern besser verstehen, wo du dich momentan in deinem Leben befindest, wie du dich fühlst.«
Ich schwieg und ließ ihm Zeit für die Antwort. Er sah erst nach links und dann nach rechts, als suche er die versteckte Kamera.
»Ich fühle mich … selbstmordgefährdet.«
Ich wusste, dass er das sarkastisch meinte, lachte aber nicht.
»Nur damit du Bescheid weißt – selbstmordgefährdet ist kein Gefühl. Das ist ein Zustand. Frustration ist ein Gefühl. Eifersucht ist ein Gefühl. Aber selbstmordgefährdet zu sein, ist kein Gefühl. Du kannst Selbstmordgedanken haben, aber ein Gedanke ist einfach nur ein Gedanke, mehr nicht, und Gedanken ändern sich andauernd, weil wir sie selbst erschaffen. Wenn du erst mal den Unterschied zwischen deinen Selbstmordgedanken und deinen Gefühlen verstehst, dann fängst du an, deine Emotionen besser zu verstehen. Du kannst deine Selbstmordgedanken von deinen Gefühlen trennen. Du denkst nicht mehr: ›Ich will mich umbringen‹, sondern ›Heute bin ich wütend, weil meine Schwester das Land verlassen hat und ich deswegen die Firmenleitung übernehmen muss‹, und dann beschäftigst du dich mit deiner Wut. ›Heute fühle ich mich überfordert, weil der Job so viel Verantwortung mit sich bringt‹ – dann setzt du dich mit deinem Gefühl der Überforderung auseinander. Ich kann dir helfen zu lernen, deinen Selbstmordgedanken auf den Grund zu gehen, sie in Frage zu stellen und die Kontrolle über sie zu gewinnen. Also, Adam, wie fühlst du dich?«
Er rutschte unbehaglich in seinem Sessel herum, richtete seinen Blick dann aber aus dem Fenster, entspannte sich ein wenig und dachte über meine Frage nach.
»Ich bin … sauer«, sagte er nach einer Weile.
»Gut. Warum?«
»Weil meine Freundin mit meinem besten Freund vögelt.«
Das war nicht ganz die Antwort, die ich mir gewünscht hätte, aber ich nickte ihm aufmunternd zu.
»Ich fühle mich … wie ein Vollidiot, weil ich nichts davon wusste.«
Er beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel. Anscheinend begann er sich tatsächlich auf die Sache einzulassen. Er rieb sich das Gesicht und setzte sich aufrecht hin. »Aber ich habe das Gefühl, dass ich weiß, warum sie das gemacht hat. Was sie dir heute Morgen gesagt hat, darüber, dass ich manchmal so abwesend bin, das stimmt. Ich hab das Wesentliche aus den Augen verloren, ich hab mich von dem ganzen anderen Zeug, das passiert ist, ablenken lassen, und das hat dann die Oberhand gewonnen. Mir ging es überhaupt nicht gut damit. Aber jetzt kann ich Maria sagen, dass ich mich verändert habe, und dann überlegt sie es sich hoffentlich anders.«
»Wann willst du ihr sagen, dass du dich verändert hast?«
»Ich weiß nicht – heute?«
»Dann hast du dich also über Nacht verändert. Die ganzen Gefühle – dass du dich von der Arbeit überfordert fühlst, dass du sauer bist auf deine Schwester, weil sie dich im Stich gelassen hat, dass du verbittert und wütend bist, weil du einen Job aufgeben sollst, den du magst, nur um deiner Familienpflicht nachzukommen, dass du enttäuscht bist von deinem Leben, davon, wer du als Mensch geworden bist, dass du durcheinander bist, weil dein Vater todkrank ist, dass du das Gefühl hast, du willst nicht mehr leben … all das ist einfach … verschwunden?«
Er starrte auf den Boden, und sein Kiefer spannte sich an, während er nachdachte.
»Nein, aber das wird sich ändern. Du hilfst mir dabei. Das hast du versprochen.«
»Meine Hilfe fängt hier an, in diesem Zimmer. Die Dinge werden sich nicht ändern, bis du dich änderst. Also rede mit mir.«
Wir redeten zwei Stunden lang und erstellten einen ausführlichen Krisenplan für ihn. Als ich den Eindruck hatte, dass Adam erschöpft war, und mein Kopf von all der Verantwortung, die er auf seinen Schultern fühlte, anfing zu dröhnen, beschloss ich, eine Pause einzulegen. Nun kannte ich die Probleme, und es war Zeit, sie in die richtige Perspektive zu rücken und ihm ein wenig praktische Lebensfreude zu zeigen. Aber dieser Teil machte mich ziemlich nervös. Ich war völlig unsicher, was ich mit Adam unternehmen sollte. Schließlich war ich zurzeit selbst nicht gerade in Partylaune.
»Was jetzt?«, fragte Adam. Er sah wirklich sehr müde aus.
»Äh, Moment mal.« Ich verließ mein Büro. Inzwischen waren Peter und Paul eingetrudelt, weigerten sich aber, mir auch nur ins Gesicht zu sehen. Doch das war mir momentan egal, ich hatte andere Dinge im Kopf. Ich holte das Buch, das ich vorhin in Amelias Buchhandlung gekauft hatte, »Dreißig einfache Methoden, das Leben zu genießen«, das Buch, von dem Amelia gedacht hatte, ich würde es für mich selbst kaufen. Als ich es in die Hand nahm, erinnerte ich mich an ihre Bemerkung: Na endlich, Christine. Wirkte ich so trostlos? Ich hatte mich bemüht, meine Probleme für mich zu behalten, ich hatte mit niemandem darüber gesprochen, wie unglücklich ich war, und geglaubt, dass ich es ganz gut geschafft hätte, meinen Zustand zu überspielen. Ich blätterte durch die ersten Seiten des Ratgebers.
1. Genieße dein Essen, iss es nicht einfach nur. Schmecke es, nimm seine ganze Vielfalt wahr.
Essen? Allen Ernstes? Aber was sollte ich sonst mit Adam machen? Schnell stopfte ich das Buch in meine Tasche. »Komm, wir gehen.«
»Wohin denn?«
»Essen«, verkündete ich munter. Ich war nicht sicher, ob Gemma zurückkommen würde, aber für den unwahrscheinlichen Fall legte ich »Wie man seine finanziellen Probleme mit den Menschen bespricht, die von einem abhängig sind« auf den Schreibtisch und hoffte, sie würde es verstehen.
Die Anlaufstelle für den ersten Punkt auf unserer Liste war das Bay Restaurant in Clontarf, von dem man einen herrlichen Blick über die Dublin Bay hatte.
»Essen soll also Spaß machen?«, fragte Adam und stützte den Kopf auf die Hand, als wäre er zu schwer für seinen Nacken. »Ich dachte, es wäre einfach nur eine Notwendigkeit.«
Während er lustlos durch die Speisekarte blätterte, blickte ich mich in dem gut besuchten Lokal um. Laute Gespräche, farbenfroh und appetitlich arrangierte Gerichte. Der Raum war erfüllt von Düften, die wahrscheinlich den meisten Menschen das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen, mir aber lediglich Magengrummeln verursachten.
»Ja, natürlich«, log ich. Wenn ich ehrlich war, wollte ich höchstens einen grünen Salat essen und es dabei bewenden lassen, aber ich musste ja mit gutem Beispiel vorangehen. »Ich nehme die geschmorte Lammhüfte mit Wurzelgemüse, Harissa-Hummus und Kräuter-Quinoa, bitte«, bestellte ich mit einem gezwungenen Lächeln bei der Kellnerin und hatte jetzt schon Angst davor, das alles essen zu müssen.
»Ich hätte gern einen schwarzen Kaffee«, sagte Adam und klappte die Speisekarte zu.
»Nein, nein, kommt nicht in Frage!«, rief ich, drohte ihm mit dem Finger, schlug die Speisekarte wieder auf und reichte sie ihm zurück. »Essen. Spaß. Genießen.«
Adam sah richtig verloren aus, während sein müder Blick über die Speisekarte huschte.
»Was können Sie denn besonders empfehlen?«, fragte ich die Kellnerin.
»Ich finde das gebratene marinierte Lachsfilet auf mediterraner Ratatouille mit cremigem Kartoffelpüree sehr lecker.«
Adam sah aus, als drehe sich ihm der Magen um.
»Super, das mag er bestimmt, danke.«
»Keine Vorspeise?«, fragte die Kellnerin.
»Nein, danke«, antworteten wir wie aus einem Mund.
»Seit wann hast du eigentlich keinen Appetit mehr?«, fragte ich, als die junge Frau wieder gegangen war.
»Ich weiß nicht genau, seit ein paar Monaten. Und du?«
»Ich habe doch Appetit.«
Er zog zweifelnd die Augenbrauen hoch.
»Jemand, der Depressionen hat, sollte auf Alkohol und Koffein lieber verzichten«, sagte ich, um die Oberhand zu behalten und dafür zu sorgen, dass Adam im Scheinwerferlicht blieb.
»Und was hast du heute gefrühstückt?«
Ich erinnerte mich an den schwarzen Kaffee im Hotel. »Ja, schon – aber ich habe ja auch keine Depressionen.«
Er schnaubte nur.
»Du bist der mit den Depressionen. Schließlich hast du versucht, dich umzubringen. Ich bin bloß … ein bisschen durcheinander.«
»Ein bisschen durcheinander.« Er musterte mich. »Das ist die Untertreibung des Jahres. Nicht mal I-ah aus Pu der Bär könnte dir das Wasser reichen.«
Ganz gegen meinen Willen musste ich lachen. »Ich meine doch nur, wir sollten auf deine Ernährung achten, denn das wird dir auch helfen. Das hat mehr mit Depression zu tun, als man denkt. Fit bist du ja ansonsten, ich meine, du machst bestimmt viel Sport.« Ich spürte, dass ich rot wurde. »Aber ich habe dich noch nie was essen sehen – keine Ahnung, woher du die Energie nimmst.«
»Soll ich es dir auf fünf oder lieber auf zehn verschiedene Arten erklären?«
»Nur eine bitte.«
»Das kommt vom Strippen, weißt du. Wenn ich auf der Bühne mit den anderen Jungs tanze.«
Ich lachte wieder. »Ich glaube, du bringst da was durcheinander – Strippen ist nicht das Gleiche wie Modeln.«
»Tja, ich weiß nicht, was in deinem Kopf vor sich geht«, grinste er.
Die Kellnerin unterbrach uns und stellte zwei riesige Teller vor uns auf den Tisch. Wir betrachteten sie voller Grauen.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte die Kellnerin, der die Reaktion nicht verborgen geblieben war. »Habe ich die Bestellung nicht richtig aufgenommen?«
»Doch, natürlich. Das sieht … köstlich aus. Danke.« Ich ergriff Messer und Gabel, zögerte aber, weil ich nicht recht wusste, wo ich anfangen sollte.
»Wann bist du denn das letzte Mal essen gegangen, Christine, wenn du glaubst, das macht so viel Spaß?«, wollte Adam wissen, während er nachdenklich seinen Teller betrachtete.
»Das ist lange her, aber nur, weil wir auf die Hochzeit gespart haben. Mmm, das schmeckt gut. Und bei dir?« Nicht einfach nur essen, sondern auch schmecken! »Ich weiß gar nicht, was das ist – vielleicht Ingwer? Echt lecker. Und Zitrone ist auch dran, glaube ich. Jedenfalls sind wir nach der Hochzeit gleich auf Hochzeitsreise gefahren, und danach hatten wir kein Geld mehr und sind zu Hause geblieben oder haben höchstens ab und zu mal ein Take-away geholt. Aber das war okay, unsere Freunde haben das auch so gemacht.«
»Da hattet ihr alle sicher viel Spaß«, meinte Adam sarkastisch. »Wie lange warst du überhaupt verheiratet?«
»Iss«, entgegnete ich. »Ist es lecker? Ist das Püree schön cremig?«
»Ja, das Püree ist cremig.« Er tat so, als würde er mitspielen. »Und die Karotten sind sehr karottig.«
»Neun Monate«, beantwortete ich seine Frage, ohne auf seine Bemerkung einzugehen.
»Du hast deinen Mann nach gerade mal neun Monaten verlassen? Da war ich ja mit manchen Freundinnen länger zusammen, die ich gehasst habe. Anscheinend hast du dich nicht besonders angestrengt.«
»O doch, ich habe mich angestrengt, und wie.« Ich senkte die Augen und spielte mit meinem Essen.
»Iss! Ist dein Lamm schön lammig?«, fragte er. »Wann hast du denn gemerkt, dass irgendwas nicht stimmt?« Er nahm eine Gabel Lachs, kaute langsam und schluckte den Bissen dann mühsam hinunter, als wäre er eine riesige Pille.
Ich dachte nach. Sollte ich ihm die Wahrheit gestehen oder das Gleiche sagen wie allen anderen?
»Keine Geheimnisse, denk dran«, fügte er hinzu.
»Ich hatte schon eine ganze Weile meine Zweifel, aber ganz sicher gewusst habe ich es, als wir am Hochzeitstag zum Altar gegangen sind.«
Adam hörte auf zu essen und sah mich verdutzt an.
»Iss weiter«, sagte ich. »Ich habe Rotz und Wasser geheult, als ich Barry entgegengegangen bin. Darüber reden unsere Gäste noch heute – sie fanden es wunderschön und anrührend. Aber meine Schwestern wussten Bescheid. Das waren keine Freudentränen.«
»Warum hast du dann überhaupt geheiratet?«
»Das war reine Panik. Ich wollte es abblasen, aber ich hatte nicht den Mut dazu. Und ich wollte Barry nicht weh tun. Ich war überzeugt, dass es keinen Ausweg gibt, und hatte das Gefühl, in der Falle zu sitzen, aber weil ich selbst schuld daran war, habe ich mich gezwungen, die Sache durchzuziehen.«
»Du hast ihn also geheiratet, um seine Gefühle nicht zu verletzen?«
»Ja, und deshalb konnte ich auch nicht aus dem gleichen Grund mit ihm verheiratet bleiben.«
Adam überlegte und nickte schließlich. »Das leuchtet ein.«
»Wenn ich mir damals einen Moment Zeit genommen hätte, um nachzudenken, richtig nachzudenken, dann wäre mir bestimmt auch eine andere Möglichkeit eingefallen. Eine bessere Möglichkeit.«
»Wie wenn man auf der Brücke steht.«
»Ja, genau.« Ich schob das Essen auf meinem Teller herum. »Ich habe ihn geliebt, weißt du. Aber ich habe eine Theorie über die Liebe, so groß sie auch sein mag – manchmal hält sie einfach nicht ewig.«
Adam schwieg. Wir aßen beide ein paar Bissen. Dann legte er das Besteck weg.
»Ich kapituliere«, sagte er und hob die Hände. »Ich kann nicht mehr essen. Darf ich jetzt bitte aufhören?«
»Na klar.« Erleichtert legte ich auch Messer und Gabel zur Seite. »Mein Gott, bin ich voll«, stöhnte ich, legte die Hände auf meinen Blähbauch und fiel einen Moment aus meiner Rolle. »Wenn man sich vorstellt, dass manche Leute so was dreimal am Tag machen …«
Wir sahen uns an und lachten.
»Was tun wir als Nächstes?«, fragte Adam.
»Äh.« Ich schaute in meine Tasche, tat so, als würde ich ein Taschentuch suchen, schlug aber stattdessen verstohlen mein Buch auf.
2. Geh im Park spazieren. Aber lauf nicht nur, sondern nimm die Umgebung wahr, die ganze Schönheit des Lebens um dich herum.
»Wir machen einen Spaziergang«, sagte ich, als wäre mir das in diesem Moment eingefallen.
Wir waren beide bereit, das Essen, das wir uns reingezwungen hatten, wieder abzuarbeiten, also machten wir uns trotz der Kälte auf den Weg in den St. Anne’s Park, den zweitgrößten städtischen Park in Dublin. Dick eingepackt wanderten wir im ummauerten Garten herum, schlenderten durch die Red Stables, in denen am Wochenende ein Lebensmittelmarkt abgehalten wurde, besichtigten den Herkules-Tempel am Ententeich, an dem ich Adam allerdings schnell vorbeizog, falls er plötzlich den Drang verspürte hineinzuspringen. Leider war der Rosengarten um diese Jahreszeit eine Enttäuschung und nicht der richtige Ort, um sich hinzusetzen und auszuruhen. Wir blickten auf die farblosen zurückgeschnittenen Zweige, während der Wind uns ins Gesicht peitschte und sich die Kälte der Bank durch Jacken und Hosen direkt zu unseren Hinterteilen vorarbeitete. Aber ich nutzte jede Gelegenheit und jede Ausrede, um Adams Gedanken zu erforschen.
»Hast du eigentlich oft Blumen für Maria gekauft?«
»Ja, aber nicht am Valentinstag. Ich darf am Valentinstag keine Blumen kaufen, das ist streng verboten. Viel zu klischeehaft.«
»Was bekommt sie dann?«
»Letztes Jahr hab ich ihr eine Grapefruit geschenkt. Im Jahr davor einen Frosch.«
»Moment, auf die Grapefruit kommen wir später zurück. Aber ein Frosch?!«
»Na, du weißt schon, damit sie ihn küssen und ihren Märchenprinzen bekommen kann.«
»Argh. Das ist ja zum Heulen.«
»Willst du an meinem Selbstbewusstsein arbeiten oder mich endgültig fertigmachen?«
»Sorry. Bestimmt fand sie den Frosch wunderbar.«
»Ja, tatsächlich. Wir haben unseren Hulk beide sehr gemocht. Bis er durchs Balkonfenster entwischt ist.« Er lächelte, als wäre ihm etwas Lustiges eingefallen.
»Was ist?«
»Ach, das ist blöd. Viel zu persönlich.«
Aber das geheimnisvolle Lächeln interessierte mich brennend, es offenbarte eine Seite, die ich bisher noch nicht an ihm gesehen hatte. Eine sanftere Seite. Seine romantische Ader.
»Ach komm, das musst du mir verraten. Keine Geheimnisse, erinnerst du dich?«
»Es ist nichts. Keine große Sache. Wir hatten nur diesen Witz über eine bestimmte Pflanze.«
»Was denn für eine?«
»Eine Seerose. Maria mochte dieses Gemälde, das von Monet.« Er schwieg.
»Das war bestimmt nicht die ganze Geschichte.«
»Na ja, irgendwann hab ich beschlossen, ihr eine zu schenken, obwohl sie ja Blumen am Valentinstag verboten hatte. Ich dachte einfach, eine Seerose könnte doch die Ausnahme sein. Ich war im Park, hab sie gesehen und an Maria gedacht. Also bin ich in den See gewatet, um eine für sie zu pflücken.«
»In Klamotten?«
»Ja«, lachte er. »Der Teich war tiefer, als ich gedacht hatte. Das Wasser ging mir bis zum Bauch, aber ich musste weitergehen. Die Parkwächter haben mich praktisch rausgejagt.«
»Ich glaube, man darf keine Seerosen klauen.«
»Na ja, genau das war ja der Witz, das hab ich nämlich auch nicht. Ich dachte, es geht um die Blätter, und hab ein großes Seerosenblatt für sie gepflückt.« Wieder fing er an zu lachen. »Und ich hab mich die ganze Zeit schon gewundert, was an denen so besonders sein soll.«
Jetzt musste ich auch lachen. »Du Idiot. Welcher Mensch kommt denn auf so eine Idee?«
»Wenn du mich fragst, ist das ein ziemlich naheliegender Fehler. Aber Maria hat mein Geschenk gefallen. Sie hat es in die Wohnung gelegt und ein Foto von uns draufgestellt. Und Kerzen.«
»Das ist ja süß.« Ich lächelte. »Dann seid ihr also zwei Romantiker.«
»Wenn du so was romantisch nennen willst.« Er tat es mit einem Achselzucken ab. »Wir hatten viel Spaß. Haben viel Spaß«, korrigierte er sich sofort.
Seltsamerweise wurde ich plötzlich traurig. Solche Geschichten gab es bei Barry und mir nicht, sosehr ich mir auch das Hirn zermarterte. Nicht weil ich es Adam unbedingt erzählen wollte, nur für mich selbst, weil ich mich an ein bisschen Spaß erinnern wollte. Aber es fiel mir nichts ein. Solche Dinge waren weder Barry noch mir je eingefallen. Aber ich bekam allmählich wenigstens ein Gefühl für Adams und Marias Beziehung. Spontan und lustig. Individuell.
Irgendwann verirrten wir uns im Gewirr der Wege, und ich bemühte mich, auf alles Mögliche hinzuweisen und Adam das Leben um uns herum fühlbar und sichtbar zu machen. Da ich nichts mit Namen kannte, musste ich stehen bleiben, die Schilder entziffern und Adam bitten, die lateinischen Namen zu lesen, und wir lachten, wenn er sich verhaspelte.
»Das klingt, als wäre es ein Dinosaurier«, meinte ich.
»Es klingt wie eine Krankheit«, sagte er und stopfte die Hände in die Manteltaschen. »Entschuldigung, Herr Doktor, ich glaube, ich habe einen Anflug von Prunus avium.«
»Was ist das denn in Wirklichkeit?«, fragte ich.
»Anscheinend der Kirschbaum«, las er weiter. »Stell dir mal vor, du hättest so einen Namen.«
»Wie heißt du eigentlich mit Nachnamen? Den kenne ich überhaupt noch nicht.«
Sofort verloren seine Augen etwas von ihrem neu gefundenen Glanz, und mir war klar, dass ich einen Nerv getroffen hatte. »Basil«, antwortete er.
»Ah. Wie die Schokolade«, meinte ich in dem Versuch, ihn bei Laune zu halten.
»Genau. Und wie Basilikum.«
»Ja, aber die Schokolade! Süß wie Basil’s«, zitierte ich den Slogan der Firma, einer beliebten irischen Süßwarenfabrik mit fast 200-jähriger Tradition. Der Name Basil’s zauberte normalerweise ein Lächeln auf Kinderund Erwachsenengesichter, allerdings nicht auf Adams. Als ich seinen Gesichtsausdruck sah, sagte ich: »Sorry, das kriegst du wahrscheinlich schon dein ganzes Leben zu hören.«
»Stimmt. Wie kommt man hier wieder raus?«, fragte Adam und schien meine Gesellschaft auf einmal gründlich sattzuhaben.
In diesem Moment klingelte mein Handy.
»Amelia«, las ich vor.
»Ah, ja, der Antrag, der nie stattfand«, sagte Adam mit monotoner Stimme.
Er entfernte sich ein Stück, damit ich ungestört reden konnte.
»Hallo, Amelia«, begrüßte ich meine Freundin aufgeregt.
Am anderen Ende hörte ich nur ein Schniefen.
»Amelia, was ist los?«
»Du hattest recht«, schluchzte sie.
»Was? Womit hatte ich recht?« Meine Stimme klang unnatürlich laut.
Adam unterbrach seine Suche nach dem Weg aus dem Park und starrte mich fragend an. Wahrscheinlich konnte er an meinem Gesicht ablesen, was passiert war, und ich wusste genau, was er dachte: »So viel dann mal zum Thema positives Denken.«
Der Wind peitschte mir gnadenlos ins Gesicht, als ich die Promenade von Clontarf hinunterrannte. Die vielen vereisten Stellen machten sie zu einer Art Hindernisparcours, und ich musste ständig auf meine Füße achtgeben, landete aber wohlbehalten in Amelias Buchladen. Adam folgte ein ganzes Stück hinter mir, ich hatte ihm den Schlüssel zu meiner Wohnung gegeben. Ich versuchte, mir nicht allzu viele Gedanken darüber zu machen, dass er allein am Meer entlangging – er hatte strikte Anweisungen, seinen Krisenplan noch mal durchzugehen. Denn ich musste zu meiner Freundin.
Mit rotgeweinten Augen kauerte Amelia in einem Sessel in der hintersten Ecke der Buchhandlung. Auf der anderen Seite des Ladens saß eine Frau im Dracula-Kostüm, mit weißem Gesicht und blutverschmiertem Mund und las einer Gruppe verschreckter Dreibis Fünfjähriger eine Geschichte vor.
»Langsam gingen sie die dunkle Treppe hinunter in den Keller. Nur ein paar Fackeln, die in Wandhaltern brannten, spendeten etwas Licht. Dann plötzlich standen sie vor ihnen, die Särge«, rezitierte sie mit gespenstischer Stimme.
Eins der Kinder begann zu weinen und rannte zu seiner Mutter, die ihre Sachen packte, der Gruselfrau einen wütenden Blick zuwarf und den Buchladen verließ.
»Amelia, bist du sicher, dass diese Frau als Geschichtenerzählerin geeignet ist?«
Amelia, die sich in einem Schockzustand befand und vor lauter Tränen vermutlich nicht viel weiter sehen konnte als bis zu ihrer eigenen Nasenspitze, blickte verwirrt auf. »Elaine? Ja, sie ist in Ordnung, ich hab sie gerade angeheuert. Komm, lass uns reden.«
Wir gingen hinauf in die Wohnung, in der Amelia mit ihrer Mutter Magda lebte.
»Ich möchte nicht, dass meine Mum etwas mitkriegt«, sagte Amelia leise und schloss die Küchentür. »Sie war total überzeugt, dass Fred mir einen Antrag macht. Ich weiß nicht, wie ich es ihr sagen soll.« Sie begann wieder zu weinen.
»Was ist denn passiert?«
»Er hat gesagt, man hat ihm einen Job in Berlin angeboten, und er möchte unbedingt hinziehen, weil das eine Riesenchance für ihn ist. Er hat mich gefragt, ob ich nicht mitkommen will, dabei weiß er doch, dass das nicht geht. Ich kann hier nicht weg. Und was würde aus dem Laden?«
Es war der falsche Zeitpunkt, sie daran zu erinnern, dass sie seit einem Jahrzehnt wesentlich mehr Geld in den Laden steckte, als er abwarf. Was die großen Buchläden mit ihren Kaffeetheken anging, die Online-Stores und das Thema E-Books, musste ich Amelia manchmal daran hindern, ausfällig zu werden und auf Leute loszugehen, die auf ihrem E-Reader lasen. Sie hatte alles Mögliche versucht, hatte Märchenstunden für Kinder, Autorenlesungen und abendliche Buchclub-Treffen organisiert, aber es sah immer mehr danach aus, als kämpfe sie auf verlorenem Posten. Sie wollte die Erinnerung an ihren Vater aufrechterhalten, dessen ganzer Stolz und Freude der Laden gewesen war. Für Amelia war es anders – sie liebte ihren Vater, nicht das Geschäft. Schon mehrmals hatte ich ihr das klarzumachen versucht, aber sie hatte immer abgeblockt.
»Gibt es denn die Option, dass du deine Mutter nach Berlin mitnimmst?«
Amelia schüttelte den Kopf. »Mum hasst es zu reisen, du weißt ja, wie sie ist, sie will Irland nicht verlassen. Und sie könnte auch niemals in Berlin leben!« Sie sah mich an, entsetzt, dass ich so etwas überhaupt erwähnte, und ich konnte Freds Frust verstehen. Amelia war nicht bereit, länger als eine Sekunde über seinen Vorschlag nachzudenken.
»Ach komm. Das heißt doch nicht, dass es vorbei ist. Fernbeziehungen funktionieren. Du hast es durchgestanden, als er damals sechs Monate in Berlin war, schon vergessen? Es war hart, aber ihr habt es geschafft.«
»Ja, weißt du, das ist es doch.« Sie wischte sich die Augen. »Er hat nämlich eine andere kennengelernt, als er dort war. Ich hab dir das damals nicht erzählt, weil ich dachte, das Problem wäre gelöst. Fred hat mir gesagt, die Sache mit dieser Frau wäre vorbei. Aber er weiß ja, dass ich hier nie weggehen würde. Er weiß, dass ich das nicht mache. Das Restaurant, der Champagner, das war alles bloß eine lächerliche Farce, die mich dazu bringen sollte, unsere Beziehung zu beenden, damit er es nicht tun muss. Er hat genau gewusst, dass ich nein sage, aber wenigstens ist er jetzt nicht der Böse. Wenn er den Kontakt zu dieser Frau nicht schon längst wieder aufgenommen hat, dann plant er es zumindest.«
»Das weißt du aber nicht mit Sicherheit.«
»Ist es dir noch nie passiert, dass du etwas nicht weißt und es gleichzeitig trotzdem weißt?«
Damit traf sie bei mir genau ins Schwarze, denn ich konnte genau nachvollziehen, was sie meinte. Ich hatte es ja genauso formuliert, was meine Gefühle hinsichtlich meiner Ehe mit Barry anging.
»O Gott«, sagte Amelia erschöpft und ließ den Kopf auf die zusammengelegten Arme sinken. »Was für ein Tag.«
»Wem sagst du das«, flüsterte ich.
»Wie spät ist es eigentlich?« Sie schaute zu der Wanduhr hinauf. »Komisch, normalerweise hätte Mum längst nach ihrem Abendessen rufen müssen. Ich schaue lieber schnell mal nach ihr.« Sie rieb sich die Augen. »Sieht man, dass ich geweint habe?«
Amelias Augen waren ungefähr so rot wie ihre wilden roten Locken.
»Du siehst völlig normal aus«, log ich. Amelias Mutter würde sowieso gleich Bescheid wissen.
Als Amelia die Küche verließ, checkte ich mein Handy, ob Adam mir vielleicht eine Nachricht geschickt hatte. Natürlich hoffte ich, dass er wohlbehalten in der Wohnung angekommen und dass mit ihm alles in Ordnung war, aber das Apartment war ja nahezu leer, es gab keine Ablenkung, keinen Fernseher, keine Bücher. Das war nicht gut. Ich wählte seine Nummer.
»Christine! Ruf einen Krankenwagen, schnell!«, schrie Amelia in diesem Moment aus dem Nebenzimmer, und an ihrem Ton erkannte ich, dass ich keine Fragen stellen durfte. So schnell ich konnte, löschte ich Adams Nummer und wählte den Notruf.
Amelia hatte Magda, ihre Mutter, auf dem Boden neben dem Bett vorgefunden, und der Notarzt konnte nur noch ihren Tod feststellen – sie hatte einen massiven Schlaganfall erlitten. Da Amelia sonst keine Familie hatte und jetzt ganz allein dastand, blieb ich zur Unterstützung bei ihr und half ihr bei allem, was bei einem solch tragischen Ereignis geregelt werden musste.
Es war schon nach zehn, als ich endlich die Gelegenheit fand, auf mein Handy zu schauen. Ich hatte sechs verpasste Anrufe und eine Nachricht von der Clontarf Garda Station auf der Mailbox: Ich sollte dringend dort anrufen. Es ging um einen gewissen Adam Basil.