2 Wie man seinen Mann verlässt (ohne ihn zu verletzen)
Manchmal, wenn man etwas wirklich Reelles, Wahres sieht oder erlebt, möchte man sofort aufhören, noch irgendwo so zu tun als ob. Man fühlt sich plötzlich wie ein Idiot, wie ein Scharlatan. Man möchte den Kontakt zu allem abbrechen, was unecht ist, ganz gleich, ob es sich um etwas Harmloses handelt oder um die ernsteren Dinge des Lebens – zum Beispiel um die eigene Ehe. Bei mir war es Letzteres.
Wenn man andere Leute darum beneidet, dass ihre Ehe in die Brüche geht, weiß man, dass man selbst Eheprobleme hat. Genau das hatte ich in den letzten Monaten empfunden, ich befand mich in diesem seltsamen Zustand, in dem man etwas weiß und es gleichzeitig nicht weiß. Als meine Ehe am Ende war, wurde mir klar, dass ich schon die ganze Zeit gemerkt hatte, dass etwas nicht stimmte. Solange ich drinsteckte, hatte ich natürlich auch glückliche Augenblicke und war im Großen und Ganzen zuversichtlich. Natürlich können aus einer positiven Einstellung viele gute Dinge erwachsen, aber pures Wunschdenken eignet sich nicht als Basis für eine Beziehung. Und das Ereignis in der verlassenen Siedlung – die Simon-Conway-Erfahrung, wie ich es gerne nannte – öffnete mir die Augen. Es war eine der realsten Erfahrungen meines bisherigen Lebens, und sie führte dazu, dass ich nicht mehr bereit war zu heucheln, ich wollte nicht mehr so tun als ob, ich wollte selbst eine reale Person sein, ich wollte, dass alles in meinem Leben echt und ehrlich war.
Meine Schwester Brenda glaubte, es wäre auf eine Art posttraumatische Belastungsstörung zurückzuführen, dass ich meine Ehe beendete, und sie riet mir inständig, mit jemandem darüber zu reden, worauf ich ihr erklärte, dass ich das bereits tat, dass der innere Dialog schon vor einiger Zeit begonnen hatte. So war es im Grunde ja auch, Simon Conway hatte die Erkenntnis nur beschleunigt. Das war natürlich nicht, was Brenda hören wollte, denn sie meinte selbstverständlich ein Gespräch mit einem ausgebildeten Psychologen und kein alkoholisiertes Schwätzchen bei einer Flasche Wein in ihrer Küche, mitten in der Nacht, mitten in der Woche.
Mein Mann – Barry – hatte verständnisvoll und unterstützend reagiert, als ich in der Nacht nach Hause kam, und auch er hielt meine plötzliche Entscheidung für eine Nachwirkung des Revolverschusses, aber als ich meine Sachen packte und unser gemeinsames Heim verließ, wurde auch ihm klar, dass ich es ernst meinte, und auf einmal fing er an, mir die gemeinsten Beschimpfungen an den Kopf zu werfen. Ich machte ihm keinen Vorwurf – obwohl ich wirklich nicht dick bin und auch nie dick war, und ich hatte bislang auch nicht gewusst, dass ich seine Mutter viel lieber mochte, als er offenbar glaubte. Ich verstand, dass Freunde und Familie verwirrt waren und mir anfangs einfach nicht glauben konnten. Es hatte viel damit zu tun, dass ich immer für mich behalten hatte, wie unglücklich ich war. Aber vor allem lag es an meinem Timing.
In der Nacht der Simon-Conway-Erfahrung – nachdem ich begriffen hatte, dass der markerschütternde Schrei aus meinem eigenen Mund gekommen war, nachdem ich die Polizei alarmiert hatte und die Zeugenaussagen für den Polizeibericht aufgenommen worden waren, nachdem ich einen Pappbecher milchigen Tee aus dem Supermarkt um die Ecke getrunken hatte – war ich nach Hause gefahren und hatte vier Dinge erledigt. Erstens ging ich unter die Dusche, um mir die Szene von der Haut zu waschen, zweitens blätterte ich ein bisschen in meinem abgenutzten Exemplar von »Wie man seinen Mann verlässt (ohne ihn zu verletzen)«, drittens weckte ich Barry mit einem Kaffee und einer Scheibe Toast, sagte ihm, dass unsere Ehe vorbei sei und erklärte ihm viertens – auf Nachfrage –, dass ich gerade miterlebt hätte, wie ein Mann sich eine Kugel in den Kopf gejagt hatte. Rückblickend fiel mir auf, dass Barry mehr und detailliertere Fragen zu der Sache mit dem Schuss stellte als zum Ende unserer Ehe.
Wie er sich seither benahm, überraschte mich, und gleichzeitig war ich geschockt, dass es mich überraschte, denn ich hatte geglaubt, in solchen Dingen recht belesen zu sein. Schon vor dieser großen Lebensprüfung hatte ich mich gründlich darüber informiert, wie wir beide uns fühlen würden, falls ich je beschloss, die Ehe zu beenden. Ich hatte alles Mögliche darüber gelesen, nur um für den Fall der Fälle vorbereitet zu sein und um sicherzugehen, dass ich dann die richtige Entscheidung traf. Mehrere meiner Freunde hatten sich getrennt, und ich hatte viele lange Nächte damit verbracht, beiden Seiten aufmerksam zuzuhören. Aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass mein Mann so reagieren würde, dass er einen kompletten Persönlichkeitswandel durchmachen und dermaßen kalt, gemein, bitter und bösartig werden würde. Die Wohnung, die wir uns zusammen gekauft hatten, war jetzt seine, und er ließ mich keinen Fuß mehr hineinsetzen, unser Auto war nur noch seines, er wollte es um keinen Preis mit mir teilen, und überhaupt setzte er alles daran, möglichst viel von dem, was uns beiden gehört hatte, für sich zu behalten. Selbst Dinge, auf die er eigentlich gar keinen Wert legte – Originalton Barry. Wenn wir Kinder gehabt hätten, hätte er garantiert auch sie für sich beansprucht und dafür gesorgt, dass ich sie nie mehr zu Gesicht bekam. Zuerst ging es ihm vor allem um die Kaffeemaschine und die Espressotassen, dann geriet er wegen des Toasters regelrecht in Rage, und auch der Wasserkocher war plötzlich sein Ein und Alles. Ich ließ seine Ausraster in der Küche, im Wohnzimmer und im Schlafzimmer über mich ergehen, und er folgte mir sogar zur Toilette, um mich auch noch anzuschreien, während ich auf dem Klo saß. Ich bemühte mich, so geduldig und verständnisvoll wie möglich zu reagieren, und da ich schon immer eine gute Zuhörerin war, ließ ich ihn einfach ausreden. Aber ich konnte ihm die Sache selbst nicht sonderlich gut erklären und wunderte mich, dass er das immer wieder von mir verlangte. Eigentlich war ich sicher, dass er im Grunde seines Herzens das Gleiche empfand wie ich, aber so verletzt war, dass er all die Momente schlicht vergaß, in denen wir uns beide eingesperrt und gefangen gefühlt hatten – in einem Arrangement, das von Anfang an nicht richtig gewesen war. Aber Barry war wütend, und Wut macht oft taub und blind für die Realität – jedenfalls war es bei ihm so. Also beschloss ich abzuwarten, bis seine Wutanfälle verebbten, und hoffte, dass wir eines Tages ehrlich über alles sprechen könnten.
Ich wusste genau, dass ich aus den richtigen Gründen so handelte, aber ich konnte den Schmerz nur schwer ertragen, den ich im Herzen fühlte, weil ich ihm so weh getan hatte. Und nun lastete all das auf meinen Schultern, ganz zu schweigen von der traumatischen Erfahrung, dass ich es nicht geschafft hatte, einen Mann daran zu hindern, sich in den Kopf zu schießen. Seit Monaten konnte ich nicht richtig schlafen, und jetzt klappte es seit Wochen überhaupt nicht mehr.
»Oscar«, sagte ich zu dem Klienten, der mir in dem Sessel vor meinem Schreibtisch gegenübersaß. »Der Busfahrer will Sie ganz bestimmt nicht umbringen.«
»O doch. Er hasst mich, aber das können Sie nicht wissen, weil Sie nicht gesehen haben, wie er mich anschaut.«
»Und wie kommen Sie auf die Idee, dass der Busfahrer solche Gefühle gegen Sie hegt?«
Oscar zuckte die Achseln. »Sobald der Bus anhält, macht er die Tür auf und starrt mich böse an.«
»Sagt er irgendwas zu Ihnen?«
»Nicht, wenn ich einsteige. Aber wenn ich draußen bleibe, dann brummt er irgendwas vor sich hin.«
»Manchmal steigen Sie also nicht ein?«
Er rollte die Augen und blickte auf seine Hände. »Manchmal ist mein Sitz nicht frei.«
»Ihr Sitz? Das ist neu. Was für ein Sitz denn?«
Er seufzte, weil ich ihm auf die Schliche gekommen war und er beichten musste. »Wissen Sie, alle Leute im Bus starren mich an, okay? Ich bin der Einzige, der an der Haltestelle einsteigt, und alle glotzen. Und weil sie alle glotzen, setze ich mich auf den Platz gleich hinter dem Fahrer. Sie wissen schon, auf den, wo man seitlich sitzt, zum Fenster. Der Fenstersitz, ein bisschen abseits vom Rest des Busses.«
»Da fühlen Sie sich sicher.«
»Ja, der Platz ist perfekt, da könnte ich den ganzen Weg in die Stadt sitzen bleiben. Aber manchmal sitzt da eben dieses Mädchen, ein behindertes Mädchen, sie hört Musik auf ihrem iPod und singt Lieder von den Steps mit, so laut, dass der ganze Bus mithören kann. Wenn sie da ist, kann ich nicht einsteigen, und das nicht nur, weil behinderte Menschen mich nervös machen, sondern weil es mein Sitz ist, verstehen Sie? Und bevor der Bus hält, kann ich auch nicht sehen, ob sie da ist. Deshalb muss ich erst checken, ob der Platz frei ist, und wenn das Mädchen da sitzt, steige ich wieder aus. Und der Busfahrer hasst mich.«
»Wie lange geht das schon so?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht ein paar Wochen.«
»Oscar, Sie wissen, was das bedeutet. Wir müssen noch mal anfangen.«
»O Mann.« Er vergrub das Gesicht in den Händen und sank in sich zusammen. »Aber ich war doch schon halb in der Stadt.«
»Achten Sie darauf, dass Sie Ihre wirkliche Angst nicht auf eine andere Befürchtung projizieren. Wir sollten das am besten gleich anpacken. Morgen steigen Sie in den Bus, setzen sich auf irgendeinen freien Platz und bleiben da bis zur nächsten Haltestelle sitzen. Dann können Sie aussteigen und zu Fuß nach Hause gehen. Am nächsten Tag steigen Sie ein, setzen sich irgendwohin, bleiben bis zur übernächsten Haltestelle sitzen und gehen dann heim. Am Tag darauf bleiben Sie drei Stationen lang sitzen, und dann vier – verstehen Sie? Sie müssen das Problem schrittweise angehen, und irgendwann sind Sie dann am Ziel.«
Ich war nicht sicher, ob ich ihn oder mich überzeugen wollte.
Langsam hob Oscar den Kopf. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen.
»Sie schaffen das«, sagte ich freundlich.
»Bei Ihnen klingt das so einfach.«
»Aber für Sie ist es nicht einfach, das verstehe ich. Machen Sie Ihre Atemübungen. Nach einer Weile ist es nicht mehr so schwierig. Dann können Sie den ganzen Weg zur Stadt im Bus bleiben, und die Angst verwandelt sich in Freude. Ihre schlimmsten Momente werden bald Ihre glücklichsten sein, denn Sie überwinden große Herausforderungen.«
Er sah mich unsicher an.
»Vertrauen Sie mir.«
»Das tu ich ja, aber ich bin nicht mutig.«
»Mutig ist nicht, wer keine Angst hat, sondern wer seine Angst überwindet.«
»Steht das in einem Ihrer Bücher?«, fragte er und deutete mit einer Kopfbewegung auf die dicht mit Ratgebern aller Art bepackten Bücherregale in meinem Büro.
»Nelson Mandela«, lächelte ich.
»Schade, dass Sie als Jobvermittlerin arbeiten, Sie wären bestimmt eine gute Psychologin«, sagte Oscar und hievte sich aus dem Sessel.
»Ich tu das für uns beide. Wenn Sie es schaffen, mehr als vier Haltestellen im Bus zu sitzen, dann erweitert das Ihre Jobchancen enorm.« Ich versuchte, mir meine Anspannung nicht anmerken zu lassen. Oscar war ein hochqualifizierter, hochintelligenter Mann, für den ich jederzeit einen guten Job finden konnte – ich hatte ihn schon dreimal vermittelt –, aber seine Mobilitätsprobleme schränkten ihn beträchtlich ein, da er nicht regelmäßig bei der Arbeit erscheinen konnte. Nun versuchte ich, ihm gezielt bei der Überwindung seiner Phobie zu helfen, und da er nicht selbst fahren lernen wollte – und ich nicht nebenbei auch noch Fahrlehrerin werden konnte –, hatte er sich bereit erklärt, es mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu versuchen. Etwas ungeduldig blickte ich auf die Uhr über seiner Schulter. »Okay, vereinbaren Sie mit Gemma einen Termin für nächste Woche, und ich freue mich darauf zu hören, wie Sie zurechtkommen.«
Als die Tür sich hinter ihm schloss, hörte ich auf zu lächeln und suchte mein Bücherregal nach einem meiner Selbsthilfebücher ab. Es kam häufig vor, dass meine Klienten sich über meine Sammlung wunderten, und ich war auch ziemlich sicher, dass ich mit meiner Leidenschaft den kleinen Buchladen meiner Freundin Amelia vor der Pleite bewahrte. Die Bücher waren meine Bibeln, meine Berater, wenn ich nicht mehr weiterwusste oder Tipps für die Probleme meiner Klienten brauchte. Seit einem Jahrzehnt träumte ich davon, selbst einen Ratgeber zu schreiben, aber ich war nie weiter gekommen, als mich, aufgeregt und bereit, meine Gedanken zu formulieren, an meinen Schreibtisch zu setzen und den Computer anzuschalten. Aber dann starrte ich nur auf den weißen Bildschirm und den blinkenden Cursor, und die Leere vor meinen Augen entsprach der Leere in meinem Kopf.
Meine Schwester Brenda sagte immer, ich sei mehr an der Idee des Bücherschreibens interessiert als daran, es tatsächlich zu tun, denn wenn ich wirklich schreiben wollte, dann würde ich schreiben, jeden Tag, allein, für mich, ob nun ein Buch daraus würde oder nicht. Sie meinte, Schriftsteller fühlten sich immer zum Schreiben getrieben, ob sie nun eine Idee hatten oder nicht, ob sie einen Computer besaßen oder nicht, ob sie Stift und Papier hatten oder nicht. Ihr Schreibdrang würde nicht davon gesteuert, ob sie einen bestimmten Kugelschreiber von einer bestimmten Marke zur Verfügung hätten oder ob auch genug Zucker in ihrem Milchkaffee sei – Dinge, die bei mir den kreativen Prozess behinderten, wann immer ich mich zum Schreiben niederließ. Brenda gab des Öfteren irgendwelche mehr oder weniger bescheidenen Erkenntnisse zum Besten, aber ich musste zugeben, dass ihre Beobachtungen in meinem Fall möglicherweise zutrafen. Ich wollte schreiben, ich wusste nur nicht, ob ich es konnte, und hatte Angst, dass ich, wenn ich tatsächlich damit anfing, feststellen würde, dass ich es eben nicht konnte. Monatelang schlief ich mit »Wie man erfolgreich ein Buch schreibt« auf dem Nachttisch, schlug es aber kein einziges Mal auf, weil ich fürchtete, wenn ich nicht in der Lage wäre, die Tipps zu befolgen, würde das bedeuten, dass ich es niemals schaffen würde, und am Ende versteckte ich den Ratgeber in der Schublade. Ich räumte diesen Traum sozusagen weg, bis irgendwann der richtige Zeitpunkt kommen würde.
Schließlich fand ich im Bücherregal das Buch, das ich suchte. »Sechs Tipps, wie man Angestellten taktvoll kündigt (mit zahlreichen Illustrationen)«.
Ich weiß nicht, ob die Bilder hilfreich waren, aber ich hatte jedenfalls schon versucht, den besorgten Gesichtsausdruck des Arbeitgebers vor dem Badezimmerspiegel nachzuahmen. Ich studierte die Notizen, die ich auf einem Klebezettel innen aufs Deckblatt geklebt hatte, unsicher, ob ich dazu überhaupt imstande war. Meine Firma Jobagentur Rose war seit vier Jahren im Geschäft, ein kleines Unternehmen mit vier Leuten, und unsere Sekretärin Gemma sorgte dafür, dass alles funktionierte. Zwar sträubte ich mich innerlich dagegen, ihr zu kündigen, aber der finanzielle Druck wurde immer größer. So war ich ganz in meine Notizen vertieft, als es an der Tür klopfte und Gemma hereinbrauste.
»Gemma!«, krächzte ich und wollte das Buch schuldbewusst und möglichst unauffällig wieder ins Regal zurückschieben. Aber das war so vollgestopft, dass mir das Buch, statt brav ins Fach zu rutschen, aus der Hand glitt und zu Boden fiel, direkt vor Gemmas Füße.
Gemma kicherte und bückte sich, um es aufzuheben. Als sie den Titel sah, wurde sie ganz rot. Fragend schaute sie mich an, erst überrascht, dann entsetzt, verwirrt und tief verletzt. Ich machte den Mund auf und zu, aber kein Wort kam heraus, während ich mich krampfhaft zu erinnern versuchte, in welcher Reihenfolge ich meine Botschaft übermitteln sollte, welche Wortwahl und welchen Gesichtsausdruck der Ratgeber empfahl. Ich rief mir die Tipps Klarheit, Empathie, nicht zu viel Gefühl vor Augen … War Offenheit eigentlich angeraten oder eher das Gegenteil? Aber ich war zu langsam, und bevor ich zu einem Entschluss gekommen war, wusste Gemma schon Bescheid.
»Na, endlich hat mal eins deiner blöden Bücher funktioniert«, sagte Gemma, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Dann schmiss sie mir den Ratgeber hin, drehte sich um, schnappte sich ihre Tasche und stürmte aus dem Büro.
Sosehr ich mich auch schämte, konnte ich nichts dagegen machen, dass ich mich gekränkt fühlte, weil sie solche Betonung auf das Wort »endlich« gelegt hatte. Ich lebte nach diesen Büchern. Sie funktionierten wirklich.
»Detective Maguire«, bellte die barsche Stimme ins Telefon.
»Detective Maguire, hier spricht Christine Rose.« Ich steckte einen Finger in mein freies Ohr, um das Telefon auszublenden, das man durch die Wand klingeln hörte. Gemma war immer noch nicht zurückgekommen, und ich hatte es nicht geschafft, gemeinsam mit dem ganzen Team einen Plan auszuarbeiten, wie wir ihre Arbeit unter uns aufteilen konnten, denn meine Kollegen Peter und Paul weigerten sich strikt, die Aufgaben von jemandem zu übernehmen, der so unfair entlassen worden war. Sosehr ich auch beteuerte, dass es ein Irrtum gewesen sei, hatte ich jetzt alle gegen mich. »Ich wollte ihr nicht kündigen. Jedenfalls nicht heute«, war wahrscheinlich keine gute Verteidigungsstrategie.
Der Vormittag verlief kurz gesagt katastrophal, und obwohl offensichtlich war, dass ich Gemma behalten musste – was sie mir durch ihr Fernbleiben wohl auch deutlich machen wollte –, hatte mein Konto etwas dagegen. Ich musste noch die halbe Hypothek für die Eigentumswohnung bezahlen, die Barry und mir gemeinsam gehörte, und ab diesem Monat außerdem noch sechshundert Euro extra abzweigen, um die Miete für das Ein-Zimmer-Apartment aufzubringen, in dem ich wohnte, bis wir alles geregelt hatten. Angesichts der Tatsache, dass wir eine Wohnung verkaufen mussten, die keiner wollte, zu einem Preis, von dem wir beide nicht wirklich überleben konnten, ging ich davon aus, dass ich längere Zeit an meine Ersparnisse gehen musste. Sicher, verzweifelte Umstände erforderten verzweifelte Maßnahmen, aber Barry hatte jetzt auch noch meiner Schmucksammlung den Krieg erklärt und alles, was er mir jemals geschenkt hatte, an sich genommen. Mit dieser Botschaft hatte meine Mailbox mich heute Morgen geweckt.
»Ja?«, lautete Detective Maguires Antwort, alles andere als begeistert, von mir zu hören, obwohl ich überrascht war, dass er sich immerhin noch an meinen Namen erinnerte.
»Ich versuche seit zwei Wochen, Sie zu erreichen, und habe Ihnen jede Menge Nachrichten hinterlassen.«
»Die hab ich auch bekommen, sie haben ja meine ganze Mailbox verstopft. Nur keine Panik. Sie haben nichts zu befürchten.«
Ich staunte – es war mir überhaupt nicht in den Sinn gekommen, dass ich Ärger bekommen könnte. »Deshalb hab ich Sie nicht angerufen.«
»Ach nein?« Er heuchelte Überraschung. »Sie haben mir immer noch nicht erklärt, was Sie um elf Uhr nachts in diesem verlassenen Wohnblock zu suchen hatten.«
Schweigend ließ ich mir seine Bemerkung durch den Kopf gehen. Fast jeder, den ich kannte, hatte mich dasselbe gefragt, und selbst diejenigen, die nicht gefragt hatten, hätten es offensichtlich gern getan, aber ich hatte niemandem eine Antwort gegeben. Ich musste schnell das Thema wechseln, ehe Maguire mich wieder darauf festnageln konnte.
»Ich hab angerufen, weil ich mich nach Simon Conway erkundigen wollte, nach der Beerdigung zum Beispiel. In der Zeitung konnte ich darüber nichts finden. Aber das ist zwei Wochen her, also hab ich sie wohl verpasst.« Ich gab mir Mühe, nicht stinksauer zu klingen. Ich wollte Informationen, denn Simon hatte ein enormes Loch in meinem Leben und endlose Fragen in meinem Kopf hinterlassen. Ich musste wissen, was nach diesem Tag passiert und was gesagt worden war. Ich wollte Einzelheiten über Simons Familie erfahren, damit ich sie besuchen und ihnen all die schönen Dinge erzählen konnte, die er über sie gesagt hatte, wie sehr er sie liebte und dass das, was er getan hatte, absolut nichts mit ihnen zu tun hatte. Ich wollte ihnen in die Augen schauen und ihnen sagen, dass ich alles in meiner Macht Stehende getan hatte. Ging es mir darum, ihren Schmerz zu lindern oder eher meine Schuldgefühle? War etwas daran auszusetzen, dass ich beides wollte? Aber diese Fragen wollte ich Maguire nicht stellen, und ich wusste, dass er mir sowieso keine Antwort geben würde. Doch ich konnte dieses Erlebnis einfach nicht hinter mir lassen, ich wollte, ich brauchte mehr.
»Zwei Dinge – erstens sollten Sie sich nicht so in das Schicksal eines Opfers verwickeln lassen. Ich bin schon lange bei diesem Spiel dabei und …«
»Spiel? Ich habe zugesehen, wie ein Mann sich direkt vor meinen Augen in den Kopf geschossen hat. Für mich ist das kein Spiel.« Meine Stimme versagte, und ich nahm es als Hinweis, den Mund zu halten.
Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. Ich schauderte innerlich und hielt mir die Hand vors Gesicht. Ich hatte es vermasselt. Aber dann riss ich mich zusammen und räusperte mich. »Hallo?«
Ich erwartete eine schlagfertige Erwiderung, irgendetwas Zynisches. Aber nichts dergleichen. Maguires Stimme klang ganz sanft, und anscheinend war er woanders hingegangen, denn es war ganz still geworden, so dass ich erst dachte, dass mir alle zuhörten.
»Wissen Sie, wir haben Leute hier, mit denen Sie nach so einem Erlebnis reden können«, sagte er ungewöhnlich freundlich. »Das hab ich Ihnen schon in der Nacht damals gesagt und Ihnen eine Karte gegeben. Haben Sie die noch?«
»Ich muss mit niemandem reden«, erwiderte ich ärgerlich.
»Na schön.« Jetzt war er wieder barsch wie immer. »Schauen Sie, wie ich Ihnen vorhin sagen wollte, als Sie mich unterbrochen haben – es gibt keine Informationen über die Beerdigung, weil es nämlich keine Beerdigung gegeben hat. Ich weiß nicht, woher Sie Ihre Informationen haben, aber offensichtlich hat man Ihnen Quatsch erzählt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Na, man hat Sie angeschwindelt. Ihnen Lügen aufgetischt.«
»Nein, ich meinte – was heißt, es hat keine Beerdigung gegeben?«
Er klang tierisch genervt, weil er etwas erklären musste, was für ihn doch sonnenklar war. »Er ist nicht gestorben. Noch nicht jedenfalls. Simon Conway liegt im Krankenhaus. Ich kann rauskriegen, in welchem, und dort Bescheid sagen, dass Sie ihn besuchen können. Aber er liegt im Koma und wird sicher nicht viel reden.«
Mir blieb die Spucke weg, ich war sprachlos.
Eine Weile herrschte Schweigen.
»Ist sonst noch was?« Anscheinend war Maguire jetzt wieder unterwegs, denn ich hörte eine Tür zuknallen, dann war er wieder in dem Raum mit den lauten Stimmen.
Es fiel mir schwer, auch nur einen einzigen Gedanken zu formulieren, während ich langsam in meinen Sessel zurücksank.
Und manchmal, wenn man Zeuge eines Wunders wird, glaubt man, dass alles möglich ist.