35.
M
aria trug den schweren Wäschekorb zum rückwärtigen Teil des Hofes. Dort gab es in dem breiten Gebäude, das das Grundstück zur hinteren Gasse abschloss, einen Raum für die Wäsche. Thomas hatte Maria von weitem beobachtet und war ihr gefolgt. Er wollte mit ihr unter vier Augen reden. Sie hatte die Tür halb offen gelassen.
Er betrat den Raum, der im Halbdunkel lag. Wäscheleinen liefen im Zickzack von einem Ende zum anderen, und sie warf gerade ein Leinentuch auf eine der Schnüre. Trotz der Kälte schwitzte sie und war so in ihre Arbeit vertieft, dass sie zusammenfuhr, als er sie grüßte. Sie hielt sich die Hand gegen die Brust, und Thomas entschuldigte sich. »Wollte nur fragen, ob’s was Neues gibt?«
»Ich habe einiges rausgekriegt«, sagte sie und strich das Tuch glatt. »Ich war vorhin auf dem Markt. Ich musste nicht lange warten. Lisa und Beate erledigen die Einkäufe immer zu zweit. Schließlich versorgen sie eine große Familie.«
»Was haben sie erzählt?«
»Zunächst gar nichts. Ich wollte nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen.«
»Du hast mit ihnen übers Wetter geplaudert?«
»So ungefähr. Wir haben über unsere Herrschaften gelästert. Ein ergiebiges Thema. Dann habe ich sachte das Gespräch auf Hermann gelenkt.«
»Sehr geschickt!«
»Ein fließender Übergang, wie das so geht, wenn man über Leute herzieht. Die beiden mögen den Hermann nämlich nicht!«
»Warum?«
»Sie sagen, er sei ein Stoffel. Womit sie nicht ganz Unrecht haben. Wenn man ihn länger kennt und er sozusagen zur Familie gehört, ist er allerdings ein ganz netter Kerl.«
»Was haben sie also berichtet?«
»Dass er laut schnarcht.«
»Interessant. Was noch?«
»Sie finden Puppe furchtbar schüchtern.«
»Sie nennen ihn Puppe?«
»Jeder nennt ihn so. Wenn er nicht dabei ist – versteht sich. Sie haben das Gefühl, dass er ihnen aus dem Weg geht. Sie sagen, er lebt zurückgezogen, arbeitet von früh bis spät. Wenn er in seine Kammer kommt, legt er sich gleich ins Bett und schnarcht.«
»Hat er nie sein Glück bei ihnen versucht? Sie wohnen immerhin Tür an Tür!«
»Schwer zu sagen. Sein Gesicht ist oft völlig unbeweglich. Der kann in eine Frau verliebt sein, und sie bekommt es nicht mit. Das glaube ich!«
»War er in dich mal verliebt?«
»Gut möglich! Lisa und Beate machen sich schon lange über ihn lustig – aber ein bisschen Angst vor ihm haben sie auch. Soweit nichts Besonderes. Aber jetzt kommt’s!« Sie schwieg.
»Was kommt?«
»In letzter Zeit war er anders. Er schlich sich manchmal nachts aus dem Haus und kam erst gegen Morgen zurück. Manchmal kam er auch gar nicht, sondern erst am Abend des nächsten Tages. Wenn ihn jemand im Haus darauf ansprach, hat er es geleugnet.«
Sie unterbrach ihre Arbeit nicht, während sie sprach. Sie beugte sich zum Wäschekorb hinunter, griff etwas Rötliches heraus, das sich beim Ausschütteln als Hemd erwies, stellte sich auf die Zehenspitzen und warf es über die Leine, die an dieser Stelle zu hoch für sie war.
»Jetzt ganz langsam«, sagte Thomas, der spürte, wie seine Unruhe wuchs. »Das will ich genau wissen! Wann begann das? Wann fiel es ihnen zum ersten Mal auf?«
Maria drehte den Kopf zur Seite und lächelte Thomas zu. »Dieselbe Frage habe ich auch gestellt. Sie können sich aber nicht daran erinnern. Aber das Wichtigste kommt erst noch …«
Sie legte eine weitere Kunstpause ein. Thomas wartete, auch wenn es ihm schwer fiel.
»Ich habe sie nämlich über die letzten Tage ausgefragt«, setzte Maria ihren Bericht fort. »Und daran erinnern sie sich ganz gut.«
»Auch an die beiden Nächte, in denen die Morde geschahen?«
»Ja.«
»Was haben die Mädchen beobachtet?«
»Nichts. Und auch nichts gehört. Er war nämlich in beiden Nächten nicht zu Hause.«
Nahe der Wand hing die Leine am höchsten. Maria nahm einen weißen Bettbezug und warf ihn in die Luft; er flatterte auf wie ein Vogel, der in die Höhe schießt und seine Flügel spreizt; dann fiel er in sich zusammen, die Leine fing ihn auf, und Maria zog an den Enden, bis sie mit dem Ergebnis zufrieden war.
»Sind sich die beiden sicher?«
»Es war nicht leicht, das aus ihnen rauszubekommen«, sagte Maria. »Sie haben nämlich zu viel Angst vor ihm, um ihn offen zu verdächtigen. Obwohl sie sonst nicht zimperlich sind, das könnt Ihr mir glauben.«
»Der Reihe nach«, sagte Thomas. »Zunächst die Nacht, als Klara Roth starb …«
»Er war erst in seiner Kammer, verschwand dann und kam bis zum Morgen nicht zurück.«
»War er am nächsten Morgen auf der Arbeit?«
»Ja, das weiß ich bestimmt. Er hat noch nie gefehlt. Er ist nie krank, und er kommt auch nie zu spät. Das wäre jedem aufgefallen! Er ist die Zuverlässigkeit in Person.«
»Erinnern sich die beiden noch, wann er das Haus verlassen hat?«
»Lisa ist davon wach geworden. Die Kammern sind hellhörig. Sie war aber zu verschlafen, um genauer sagen zu können, wann es war.«
»Und dann kam er erst am darauf folgenden Abend wieder in seine Kammer?«
»So ist es. Das kam aber schon manchmal vor, und als ihn sein Vermieter einmal darauf ansprach, sagte er, es gäbe so viel Arbeit, dass er gelegentlich in der Werkstatt übernachte.«
»Und als der Baumeister starb?«
»Hat er die Kammer verlassen und ist erst kurz vor Morgengrauen zurückgekehrt.«
»Jetzt werden wir uns den guten Hermann noch mal vorknöpfen!«
»Aber lasst mich aus dem Spiel!«