12.
F
riedrich Metz ging nicht nach Hause, denn er wollte einige Schritte laufen, mochte es regnen, so viel es wollte; er fühlte sich unruhig. Er verließ das Haus des Richters und folgte dem Verlauf der Stadtmauer, die parallel zum Rhein verlief.
Er merkte nicht, dass er verfolgt wurde.
Mainz hatte zu seiner Blütezeit fast zwanzigtausend Einwohner gezählt. Die Pest, die in mehreren Schüben die Stadt heimsuchte, und die Fehden zwischen Patriziat und Zünften hatten die Bevölkerung dezimiert. Gegenwärtig mochten sechstausend Menschen innerhalb der Stadtmauern leben. Im Zentrum drängten sich die Häuser dicht an dicht, aber an den Rändern, dort wo Friedrich Metz gerade entlanglief, gab es freie Flächen; Häuser standen teilweise sogar leer und verfielen. Metz wollte seine Gedanken ordnen, aber es gelang ihm nicht.
Er fühlte sich schuldig, trotz des Gesprächs. Schuldgefühle kannte er, seit er ein Kind war. Seine Mutter hatte seine Vorstellung von richtig und falsch, gerecht und ungerecht geprägt. Völlig in seine Gedanken und Erinnerungen vertieft, lief der Baumeister durch die Gegend, ohne darauf zu achten, wohin er ging.
Über körperliche Liebe war im Elternhaus nicht gesprochen worden. Der Körper galt nur als Werkzeug der Sünde. Metz hatte gehofft, als Erwachsener weniger unter der Last des Gewissens zu leiden, aber das Gegenteil war der Fall.
Diese und ähnliche Gedanken schwirrten ihm im Kopf herum, während er durch den Schlamm stapfte. Er hatte die Zeit mit Klara nie wirklich genießen können, seine Freude war immer getrübt gewesen von der inneren Stimme, die ihm sagte, sein Handeln sei schlecht, und er werde dafür bestraft – irgendwann. Er war so ins Grübeln versunken, dass er die Tropfen nicht spürte, die ihm ins Gesicht schlugen.
Die Stadtmauer endete mit einer Art Einbuchtung am Rhein. Metz ging aber nicht zurück Richtung Dom, in dessen Nähe sein Haus lag. Er hatte das Bedürfnis, allein zu sein. Er blieb bei der Stadtmauer, die sich vom Rhein weg und einen Hügel hinaufzog. Von hier war es nicht weit zur Stephanskirche. In dieser Gegend gab es nur wenige Häuser. Er blieb einen Moment stehen, holte tief Luft und schloss die Augen. Er legte sogar den Kopf zurück, damit ihm der Regen ins Gesicht fiel. Vielleicht hoffte er, aus einem bösen Traum zu erwachen.
Zuerst hörte er nur ein Knacken und maß ihm keine Bedeutung bei. Ein streunender Hund, der einen Ast umgeknickt hatte, oder eine Katze? Er schaute flüchtig in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, sah aber nur einen Haselnussstrauch.
Metz setzte seinen Weg fort. Der nächste Befestigungsturm lag weiter oben auf dem Hügel und war noch nicht zu sehen, weil zum Regen feiner Nebel hinzugekommen war, der nach zwanzig oder dreißig Schritten alles verschluckte. War heute Vollmond? Jedenfalls war das Mondlicht so stark, dass Metz die Nebelschwaden dicht über den Boden ziehen sah. Vom umgebenden Dunkel hoben sie sich durch einen eigenartigen grauen Glanz ab. Er folgte einem Pfad, der über ein freies Stück Land führte; linker Hand die Befestigungsanlage; rechts, nur schemenhaft zu sehen, ein paar vereinzelte, baufällige Hütten. Die Menschen, die hier wohnten, waren arm.
Ein weiteres Knacken registrierte Metz zwar, warf aber nicht einmal einen Blick zurück. Er machte sich Gedanken darüber, wie es nun weitergehen sollte. Klara war tot! Er selbst zählte zum Kreis der Verdächtigen. Würde die Sache öffentlich werden und seinen Ruf ruinieren? Seine Ehe lag ohnehin in Scherben. Die Stimmung zwischen seiner Frau und ihm wurde mit jedem Tag kälter, worunter auch die Kinder litten.
Konnte das Geräusch von einem Tier stammen? Wie ein gelegentliches Scharren klang es, als würden die nassen Blätter, die der Herbst von den Bäumen geweht hatte und die überall herumlagen, aufgewirbelt. Er blieb stehen, aber in dem Moment verstummte das Geräusch. Erst als er weiterging, war es wieder zu hören, hinter ihm. Es beunruhigte ihn nicht. Er war stark und seine Arme muskulös. Er hatte viel erlebt, und er konnte sich wehren. Nur sein Gewissen machte ihm zu schaffen.
Er ging weiter. Ein Knirschen! Ein Stein, der über Fels rollte! Schritte! Folgte ihm jemand? Unsinn. Er dachte wieder an Klara. Sie war tot, aber er beschäftigte sich nur mit sich selbst. So ist der Mensch, dachte er, ihn beschäftigt immer nur, was ihn unmittelbar betrifft.
Doch, jemand folgte ihm! Die Schritte waren näher gekommen, er hörte sie deutlicher, lauter als zuvor. Er blieb erneut stehen. Sofort war es still! Dann ging er weiter, und wieder setzten die Schritte ein. Wie ein Spiel.
Metz überlegte, ob er kehrtmachen und auf das Geräusch zugehen sollte. Er ging stattdessen langsam weiter und warf gelegentlich kurze Blicke zurück. Er beschloss, abzuwarten und – falls man ihn angriff – kurzen Prozess zu machen. Er war kein Schläger, hatte Prügeleien immer gemieden. Aber wenn man ihn angriff, dann konnte er sich wehren! Vor dem Baumeister lag ein kleines Wäldchen, wenige Bäume nur, die sich selbst angepflanzt und das Gelände einer ehemaligen Ziegelei überwuchert hatten. Die Ziegelei, deren Dach eingefallen und deren Wände zur Hälfte abgetragen waren, konnte er wegen des Nebels nicht sehen. War es gefährlich, den Weg zwischen den Bäumen fortzusetzen?
Ach was, dachte er. Da wird irgendwo ein Ast herumliegen, und dann gnade Gott jedem, der etwas im Schilde führt. Er setzte seinen Weg fort. Hier war der Boden, auch der Weg, dick mit Blättern bedeckt. Er ging zwischen den nackten Baumstämmen hindurch, die er nur undeutlich sah. Wenn er ganz nah an den Bäumen vorbeiging, wirkten sie wie schwarze Säulen. Trotzdem kam er nicht vom Weg ab, den er gut kannte. Eigenartig nur, dass die Schritte hinter ihm nicht mehr zu hören waren. Hatte sein Verfolger den Mut verloren? Besser für ihn! Der Regen prasselte leise auf das Laub. Ein Geräusch, das er unter anderen Umständen immer gemocht hatte.
Trotzdem hatte er ein komisches Gefühl. Nein! Der Unbekannte hatte nicht aufgegeben! Er war irgendwo dort, vor ihm, hinter ihm … Auch wenn er keinen Laut von sich gab, auch wenn er nicht zu sehen war. Da war irgendwo ein Augenpaar, das die Dunkelheit durchdrang, das mehr sah als er.
Er brauchte etwas, womit er sich wehren konnte. Und zwar schnell. Metz blieb stehen und fuhr mit den Händen durch das Laub. Es war zum Verrücktwerden! Und mit einem Mal vernahm er ein Keuchen. Es kam aus nächster Nähe. Es kam auf ihn zu!
Dann sah er eine Gestalt, die ihm riesig vorkam – aber das mochte täuschen und mit seinem Schrecken zusammenhängen. Sie schien mehr ein Ungeheuer zu sein als ein Mensch! Völlig lautlos musste es sich angeschlichen haben. Metz war so überrascht, dass er, als er sich aufrichten wollte, auf dem glatten Laub ausrutschte und auf den Rücken fiel. Sein Blick aber blieb auf den Angreifer geheftet. Er sah ihn deutlicher als zuvor. Er erkannte einen in die Höhe gereckten Arm. Es ist vorbei, fuhr es ihm durch den Kopf. Er spürte Panik, und das löste seine Erstarrung. Er rollte sich zur Seite und verlor die Orientierung. Ein stechender Schmerz an den Rippen brachte ihn wieder zur Besinnung. Er begriff, dass er gegen einen Baumstamm geschlagen war. Über ihm wirres Geäst, schwarze Adern vor tiefdunklem Grau. Wo war der andere? Metz richtete sich hastig auf und rannte blindlings los. Er schlug in vollem Lauf gegen einen Baum. Plötzlich sah er gelbe und grüne Blitze. Er hatte Angst zu fallen, hielt sich aber auf den Beinen. Er fasste mit seiner Hand an die Stirn, und Blut rann über seine Finger. Ihm blieb keine Zeit, sich darüber Sorgen zu machen. Er stolperte weiter, etwas vorsichtiger. Und nun hörte er wieder das Keuchen. Nur nicht so nah wie vorhin. Sein Knie schlug gegen etwas Hartes, und ein stechender Schmerz schoss ihm ins Bein. Er fiel vornüber, fing sich aber mit den Händen, die sich ins weiche Erdreich gruben, ab, rappelte sich auf und rannte weiter. Das Keuchen wurde lauter, es kam näher.
Irgendein Gestrüpp riss ihm an den Knöcheln die Haut auf. Vielleicht Brombeeren? Ruckartig hatte sich sein rechter Fuß in diesem unsichtbaren Zeug verhakt und verfangen. Er stürzte zu Boden, und diesmal ging es zu schnell, als dass er den Sturz hätte abfangen können. Er schlug mit dem Gesicht in die Dornen. Er drehte den Kopf zur Seite und sah erneut den Unbekannten als mächtigen Schatten auf sich zukommen.