18.
A
m frühen Nachmittag kehrte Thomas nach Mainz zu-. rück. Er fühlte sich immer noch betrunken und wäre zweimal beinahe vom Pferd gefallen. Die frische Luft nützte nicht viel, und vom Auf und Ab im Sattel war das Drehen im Kopf eher schlimmer geworden.
Er gab das Pferd bei der Stadtwache ab. Sprach er anders als sonst? Seine Zunge fühlte sich schwer und träge an. Er arbeitete sich durch den tiefen Boden zum Gerichtsgebäude und bemühte sich um aufrechte Haltung.
Thomas hatte sein Arbeitszimmer noch nicht erreicht, als einer der Schöffen auf ihn zueilte. Man habe die Leiche des Baumeisters gefunden. Kinder hätten sie beim Spielen in einem Wäldchen nicht weit von der Stephanskirche entdeckt. Er sei erstochen worden. Thomas ließ sich die Stelle genau beschreiben.
»Ist leicht zu finden«, sagte der Schöffe. »Und sicher hört Ihr schon von Weitem die Schaulustigen.« Es hatte sich also bereits herumgesprochen.
»Wann haben die Kinder die Leiche gefunden?«, fragte Thomas.
»Vor etwa zwei Stunden. Jemand hatte den Körper vergraben und die Stelle mit Blättern bedeckt.«
Thomas brach sofort auf, ohne vorher in sein Zimmer zu gehen. Die Stephanskirche lag auf einem niedrigen Hügel; von dort fand er den Weg zu der vom Schöffen erwähnten Baumgruppe, nahe beim südwestlichen Teil der Stadtmauer. Schon von weitem schlug ihm aufgeregtes Stimmengewirr entgegen.
Er kämpfte sich durch eine Menschentraube und sah gerade noch, wie man die Leiche des Baumeisters, die in ein Tuch gewickelt war, in einen Brettersarg legte. Busch beaufsichtigte die Aktion.
»Wo wart Ihr?«, fragte Busch, als Thomas zu ihm kam. »Ich habe nach Euch schicken lassen.«
»Habt Ihr die Leiche untersucht?«, fragte Thomas.
»Er ist erstochen worden.«
»Gibt es eine Tatwaffe?«
»Nein. Er hat mehrere Stiche in die Brust bekommen und einen in den Hals. Es muss ein Blutbad gewesen sein. Kein schöner Anblick!«
Vier Männer hoben die Holzkiste an.
»Wo bringen sie ihn hin?«, fragte Thomas.
»Erst mal zum Schreiner. Dann werden wir mit seiner Frau reden, ob sie ihn zu Hause aufbahren und Totenwache halten will.«
»Gibt es irgendwelche Spuren, die uns weiterhelfen?«
»Absolut nichts.«
Thomas schaute sich um. Der Boden war von der Menschenmenge zerwühlt. Er kam zu spät, um Spuren zu sichern. Eigenartigerweise nahm er Buschs Verhalten gelassen und ruhig auf. Es mochte an diesem Gefühl von Trunkenheit liegen …
»Wo sind die Kinder, die ihn gefunden haben?«
Busch deutete mit dem Finger auf sie. »Die drei da drüben.«
Thomas ging zu ihnen und stellte ihnen einige Fragen. Viel kam nicht dabei heraus. Den drei Jungen war beim Räuberspielen das aufgewühlte Laub aufgefallen. Als sie darunter lockeres, frisches Erdreich entdeckten, wuchs ihre Neugierde, und sie begannen zu graben. Statt des erhofften Schatzes fanden sie den Baumeister.
»Habt ihr in der Nähe etwas gefunden? Irgendeinen Gegenstand?«, fragte Thomas.
»Nein.«
Etwa vierzig bis fünfzig Leute standen herum und wollten nichts verpassen. Davon würden sie noch ihren Enkeln erzählen können. Plötzlich sah er Katharina in der Menge. Sie hielt sich abseits, und er ging zu ihr.
»Es gibt Neuigkeiten«, sagte er. »Ich muss mit dir allein reden.«
Sie gingen zum Gericht. Auf dem Weg dorthin redeten sie kein Wort. Sie betraten das Gebäude und sein Zimmer.
Katharina setzte sich auf einen Stuhl. »Was für Neuigkeiten?«, fragte sie.
»Ich habe heute eine alte Frau besucht. Ich weiß nicht, ob du sie kennst. Sie weiß viel über Kräuter.« Sein Kopf schwirrte noch immer.
»Klara erzählte mir von ihr. Ich kenne sie nicht persönlich.«
»Sie war Klaras engste Vertraute, und sie brachte mich auf eine neue Spur. Es geht um den Begriff ›Schwarze Kunst‹, den wir in Klaras Totentanz fanden, neben dem Bild eines Schreibers an seinem Pult. Mit ›Schwarzer Kunst‹ ist keine Hexerei gemeint, sondern eine neue Erfindung. Es geht dabei um die Kunst, Bücher mit Hilfe einer Presse zu vervielfältigen.«
»Du redest von Gutenberg?«
»Du hast also von ihm gehört?«
»Jeder in Mainz kennt ihn. Er stammt aus einer alten Patrizierfamilie. Ich weiß, dass er an einer Erfindung arbeitet und dass sie etwas mit Büchern zu tun haben soll.«
»Warum hast du mir das nicht früher erzählt?«
»Es gibt viele Leute, die ihn nicht ernst nehmen, er hat einen eher zweifelhaften Ruf. Und woher hätte ich wissen sollen, dass ein Zusammenhang mit dem Mord besteht? Es ist das erste Mal, dass ich den Begriff ›Schwarze Kunst‹ in Verbindung mit Gutenberg höre.«
»Erzähl mir von ihm.«
»Ich kenne ihn kaum persönlich. Er war lange in Straßburg.«
»Was hat er dort gemacht?«
»Das weiß ich nicht.«
»Und dann kam er von Straßburg zurück nach Mainz?«
»Vor ein paar Jahren. Seitdem arbeitet er an seiner Erfindung.«
»Was sagt man über ihn?«
»Verschiedenes. Zum Teil natürlich Unsinniges. Aber es gibt auch ein paar verlässliche Informationen. Er hat einen hohen Kredit aufgenommen bei einem Mann namens Fust; wohl mehr als tausend Gulden.«
Die Höhe des Kredits überraschte Thomas; das war ein Vermögen.
»Mein Vater«, fuhr Katharina fort, »hat erzählt, dass es um eine neue Methode geht, Bücher herzustellen. Worin aber die Methode besteht, weiß keiner so recht. Einige Pfaffen sind alarmiert, weil sie ihre Privilegien in Gefahr sehen.«
»Wie verhält sich der Kurfürst? Es muss ihm doch zu Ohren gekommen sein.«
»Abwartend. Vielleicht erhofft er sich Vorteile.«
»Was ist Gutenberg für ein Mensch?«
»Von der äußeren Erscheinung her eher unauffällig; mittelgroß, robust, er trägt einen Bart. Man sagt ihm nach, dass er sehr energisch ist – und auch streitbar.«
»Hat er Mitarbeiter?«
»Bestimmt mehr als zehn.«
»Wo ist seine Werkstatt?«
»Er bewohnt einen ehemaligen Patrizierhof, die Wohngebäude und die Werkstatt bilden einen zusammengehörigen Komplex. In die Werkstatt lässt er aber niemanden rein. Jedenfalls hat man mir das gesagt.«
»Was denken die Leute über ihn?«
»Die meisten halten ihn für einen Sonderling. Wenige können sich vorstellen, dass er mit seinen Ideen Erfolg haben wird.«
»Hatte Klara mit ihm zu tun?«
»Sie hat nie von ihm gesprochen. Mit keiner Silbe. Jedenfalls nicht mir gegenüber.«
»Hatte sie Kontakt zu seinen Mitarbeitern?«
»Ich habe Pläne gefunden«, sagte Katharina unvermittelt.
»Und das sagst du wie nebenbei!« Er konnte die Erregung in seiner Stimme kaum unterdrücken. »Was für Pläne?«
»Zeichnungen. Sie haben mit der Erfindung zu tun. – Klara kannte offenbar das Geheimnis, das Gutenberg so sorgfältig hütet.«
»Zeichnungen!?« Fast war er ein wenig wütend. Spielte sie mit ihm? Er sprang von seinem Stuhl auf, weil ihn Nervosität packte. »Ich muss sie sofort sehen!«
»Heute geht das nicht mehr«, sagte sie. »Ich bringe sie dir morgen vorbei, bevor der Unterricht anfängt.«
»Das ist zu spät.«
Sie schaute ihn ganz eigenartig an. Er hatte sich im Ton vergriffen. Schließlich konnte er froh sein, dass sie die Sachen entdeckt hatte und ihm davon erzählte. »Es würde mir wirklich helfen, wenn ich sie heute schon sehen könnte.«
»Die Pläne sind bei mir im Zimmer«, sagte Katharina. »Ich muss jetzt nach Hause, weil wir Besuch bekommen, und mein Vater erwartet, dass ich mich um unsere Gäste kümmere. – Morgen früh also.«
Thomas bemühte sich, seine Verärgerung nicht zu zeigen. Sie wusste schließlich nichts vom Ultimatum des Bischofs, und er zögerte, ihr davon zu erzählen. »Kennst du die Männer, die für Gutenberg arbeiten?«, fragte er, um das Thema zu wechseln.
»Soweit ich weiß, stammt nur einer aus Mainz«, erwiderte sie. »Die anderen hat er von außerhalb geholt.«
»Ist Gutenberg verheiratet?«
»Nein, aber man sagt ihm das eine oder andere Verhältnis nach.«
»Seine Eltern, sagtest du, stammen aus Mainz?«
»Sie waren Patrizier. Sie mussten, wie fast alle adligen Familien, vor einigen Jahrzehnten aus der Stadt fliehen. Es gab Streit zwischen den Patriziern und den Zünften. Das alte Lied. Streitpunkt war, soweit ich weiß, die Besetzung eines Bürgermeisterpostens. Später kamen viele dieser Familien zurück. Seine Eltern leben nicht mehr, und er selbst dürfte über fünfzig sein.«
»Ich werde zu ihm gehen und mit ihm reden«, sagte Thomas.
»Und ich versuche, so viel wie möglich über seine Mitarbeiter herauszubekommen.«