Das Größte aber ist die Liebe
Am nächsten Morgen waren alle Beteiligten mehr als verkatert, selbst diejenigen, die zuletzt auf Kaffee umgestiegen waren. Gina tat zudem alles weh. Sie hatte sich bei ihrem Sturz etliche blaue Flecke zugezogen, insgesamt aber noch Glück gehabt. Terrys Handgelenk war dagegen wirklich gebrochen. Immerhin wurde Raimund Clarsen nun längerfristig aus dem Verkehr gezogen. Nach den diversen Anzeigen wegen tatsächlicher und versuchter Körperverletzung hatte Wegeborn ihn erst mal in Haft behalten. Sybilles schnell bestellte Anwältin bemühte sich um eine einstweilige Verfügung, die ihm verbot, sich seiner Noch-Ehefrau auf mehr als dreihundert Meter zu nähern.
Berit und Gina trafen inzwischen lustlos Vorbereitungen für die Erscheinung am nächsten Tag und vor allem den Besuch der Murphy Family. Sophie war völlig mit den Nerven fertig. Seit Freitag fastete sie – was die unverbesserliche Claudia gleich der Bild-Zeitung erzählte und natürlich als Einstimmung auf den spirituellen Event deutete.
»Irgendwie müssen wir doch erklären, dass du wie ein Gespenst aussiehst«, erklärte sie ihrer Freundin. »Mensch, Sophie, du bist nicht dick! Du kriegst nur dunkle Ringe unter den Augen, wenn du drei Tage lang nicht isst und nicht schläfst!«
»Ob ich ihn um ein Autogramm in meinem Fanbuch bitten darf? Oder wäre das wohl zu aufdringlich?« Hektisch zupfte Sophie an ihrem Haar herum und durchsuchte Ginas und Berits Büro nach einem Spiegel. »Soll ich mir einen Zopf flechten oder die Haare offen tragen? Meine Mutter sagt, es sieht hübsch aus, wenn ich sie mit Kämmen aus dem Gesicht stecke. Aber ich weiß nicht … Dann sieht er womöglich den Pickel … In der Bravo war gerade so eine Flechtfrisur. Aber das krieg ich nicht hin. Ob ich zum Friseur …«
»Ihr geht auf keinen Fall einen Tag vor der Erscheinung zum Friseur!«, sprach Gina ein Machtwort. »Eitelkeit gehört zu den Todsünden! Im Übrigen sieht dein Haar bildschön aus, Sophie. Das mit den Kämmchen ist eine gute Idee. Oder du trennst rechts und links eine Strähne ab, führst sie nach hinten und flechtest sie, dann hast du einen auf dem offenen Haar aufliegenden Zopf, und deine Gesichtszüge kommen besser zur Geltung. Und was das Autogramm angeht: Warte, bis er dich um eins bittet! Du bist hier der Star, Sophie. Und so musst du dich auch verhalten. Stell dir vor, du bist Marcia Haydee.«
»Dann wär ich doch viel zu alt für ihn … Glaubst du, er findet mich zu jung?«
Frau Clarsen kam gegen Mittag kurz ins Büro, ebenso Ruben, um Aspirin zu schnorren. Er hatte am Morgen lustlos recherchiert und war dabei auf Merlots Homepage im Internet gestoßen. Spätestens jetzt war ihm klar, wie es zu den diversen paranormalen Vorfällen in Grauenfels gekommen war. Aber ein Beweis war das natürlich nicht. Es konnte ebenso ein seltsamer Zufall sein, dass eine der Grauenfelser Medienreferentinnen ausgerechnet mit einem berufsmäßigen Zauberer liiert war.
»Ich möchte der Madonna am liebsten eine Spende machen, dafür, dass sie mich gestern beschützt hat«, erklärte Sybille. »Mein Vater meinte, wir könnten vielleicht den Schuppen für die Votivgaben auf Firmenkosten etwas ausbauen. Oder soll ich lieber Blumen oder Kerzen …?«
»Am besten finanzieren Sie einen der Karatekurse im Mädchenclub«, schlug Ruben todernst vor. »Damit die nächste Generation keine Wunder mehr braucht, um mit Typen wie Ihrem fertig zu werden.«
Berit lachte.
Aber Sybille fand das eine überlegenswerte Idee. »Braucht eigentlich jemand Kopfschmerztabletten?«, fragte sie fürsorglich. »Ich hab eben auf dem Weg was besorgt. Und Chips für morgen. Frau Landruh vergisst es doch sonst wieder, und sie braucht bestimmt welche. Schließlich kommen morgen diese Sänger. Ich werde auf jeden Fall auch am Erscheinungsplatz sein. Wer weiß, vielleicht passiert wieder ein Wunder.«
»Sie sind auf jeden Fall ein Engel!«, rief Berit und riss die erste Chipstüte auf, während Ruben die Tabletten an sich nahm. »Im Anschluss an Alkoholmissbrauch benötigt der Organismus viele Mineralien«, dozierte sie. »Und da geht nichts über so richtig salzige Kartoffelchips.«
Als sie die erste Hand voll Chips im Mund verschwinden ließ, erschien Gina. Bis jetzt hatte sie im Nebenraum telefoniert.
»Jemand eine Idee, was man unter feministischer Theologie versteht?«, fragte sie und griff ebenfalls in die Tüte. »Ich hatte eben eine Frau an der Strippe, die dazu in Grauenfels eine Tagung veranstalten will. Wir wären doch jetzt das Zentrum feministischer Theologie, hat sie mir gesagt. Und sie wollten es um einen Erscheinungstermin herum veranstalten, damit die Jungfrau sich vielleicht auch zu ein paar Fragen äußern kann …«
Ruben verdrehte die Augen.
Auch der Sonntagmorgen bescherte Berit und Gina Kopfschmerzen. Diesmal allerdings weniger alkohol- als pubertätsbedingt. Sophie brauchte Assistenz bei der Lösung der Kleiderfrage und erschien schon morgens um acht mit einem Schwung unterschiedlicher Outfits im inoffiziellen Hauptquartier im Laden von Igor Barhaupt. Gina und Berit hatten sich hier mit dem Bürgermeister getroffen, um letzte Organisationsfragen ohne Mitwisser zu regeln. Stattdessen durften sie sich jetzt Sophies Modenschau stellen. Das Mädchen begann die Vorstellung mit einem weißen, taillierten Kleid, das ein bisschen aussah wie das Tanzkleid Natalie Woods in West Side Story.
»Es sieht natürlich entzückend aus«, kommentierte Berit, »aber du willst doch wohl nicht gleich heiraten?«
»Du siehst darin aus wie eine Nonne.« Claudias Urteil war deutlich härter. »Zieh dich ein bisschen frecher an. Dieses türkisfarbene Top, das wir neulich zusammen gekauft haben …«
»Aber das ist bauchfrei! Und ich bin fett!«
»Du bist nicht fett!«
»Untersteh dich, der Jungfrau in einem bauchfreien T-Shirt gegenüberzutreten!« Gina schüttelte den Kopf.
»Hast du nicht eine hübsche weiße Bluse?«, fragte Igor Barhaupt.
Claudia schlug die Augen gen Himmel.
»Weiße Blusen sind voll out! Und ein Ausschnitt, Sophie, du brauchst ein Kleid mit großem Ausschnitt. Jungs mögen das. Es muss aussehen, als hättest du Busen …« Claudia betrachtete prüfend die Oberweite ihrer Freundin.
»Oh Gott, da habe ich auch zugenommen! Ich muss irgendwas Weites anziehen, damit man’s nicht sieht!« Sophie schaute unglücklich auf ihren minimalen Brustansatz, den ihr zweiter Versuch, ein hellblaues, eng anliegendes Top mit halblangen Ärmeln, kombiniert mit einem weiten, dunkelblauen Rock, aufs Vorteilhafteste betonte.
Berit versuchte diplomatisch zu sein. »Du brauchst sowieso eine Jacke, es ist verdammt kalt draußen, und womöglich regnet’s noch.« Das schöne Wetter der letzten Tage war der üblichen Bewölkung des Grauenfelser Sommers gewichen. »Am besten ziehst du einfach Jeans an.«
»Hosen?«, fragte Sophie entsetzt. »Aber dann sieht man meine fetten Oberschenkel!«
Gegen zehn Uhr gab es dann wirklich einen Schauer, und gegen elf – Sophie hatte ihre diversen Sommerkleidchen gerade wieder verstaut und wollte sich eben auf den Weg machen, die Alternativkollektion für Regentage zu holen – erschien die Murphy Family.
Gina, Berit und die Mädchen erfuhren das per Handy von Igor Barhaupt, der die Band am Steinbruch in Empfang genommen hatte. Er klang reichlich alarmiert.
»Frau Martens hat sie gleich mit Beschlag belegt, sie quatscht den Vater auf Englisch voll. Ich versteh da zwar nicht viel von, aber Sie sollten doch so schnell wie möglich mit den Mädchen kommen, bevor die zu viel kriegen und wieder abfahren. Können wir nicht irgendwo ein Mittagessen arrangieren?«
»So kurzfristig?« Berit seufzte. »Ich frag bei Lohmeiers an, ob sich da was machen lässt. Oder die neue Pizzeria? Im Falken essen die ganzen Bustouristen, das geht nicht. Am besten wäre irgendein Lokal, das wir für uns hätten. Mensch, konnten die das nicht ankündigen? Sie sind drei Stunden zu früh!«
Gina nahm ihr den Hörer ab. »Igor, ich kann nichts versprechen, aber ich hab eine Idee. Die Leute von Mary’s Corner – das irische Pub, Sie wissen schon – sind mir was schuldig, und die haben doch heute Eröffnung. Wollten sie ganz groß nach der Erscheinung aufziehen. Vielleicht krieg ich sie dazu, dass sie zwei Stunden früher aufmachen. Sind doch Landsleute von den Murphys. Vielleicht freuen sie sich sogar.«
Der Besitzer von Mary’s Corner freute sich nicht nur, sondern geriet regelrecht in Ekstase, als Gina ihm die Murphy Family avisierte. Bereitwillig öffnete er nicht nur seinen Laden, sondern stellte auch das eigentlich für die Eröffnungsfeier bestimmte kalte Buffet für die Folk-Sänger zur Verfügung.
»Oh, Mann, das ist ein Wunder! Die Murphy Family kommt zu meiner Eröffnung! – Davon werde ich noch meinen Kindern und Kindeskindern erzählen. Für die anderen Gäste bestell ich dann nachher einfach Pizza.«
Sophie nahm die Sache nicht so leicht. In der Kleiderfrage so plötzlich auf die Auswahl zwischen Jeans und Parka und Jeans und Pulli reduziert zu werden ließ sie fast in Tränen ausbrechen. Schließlich lieh ihr Berit einen hocheleganten Baumwollstrick-Pullover von Jil Sander. Zu Sophies engen Jeans sah das hinreißend aus.
»Damit darfst du jetzt aber nicht in Ohnmacht fallen!«, warnte Berit. »Wenn der mit dem Waldboden in Berührung kommt, gibt’s gleich Flecken.«
Ein paar Minuten später parkte dann tatsächlich der Tour-Bus der Murphy Family im Halteverbot vor Mary’s Corner. Die Jungen und Mädchen der Band hatten sich offensichtlich weniger Gedanken um ihr Outfit gemacht als Sophie, die mit glühenden Wangen neben Claudia stand und die Sänger erwartete. Die Murphys purzelten in buntem Zigeunerlook aus dem Bus. Anscheinend hatte jeder morgens einfach das angezogen, was gerade herumlag. Gina zählte fünf Mädchen zwischen dreizehn und zwanzig und vier Jungen, zwei davon noch vor dem Stimmbruch. Sophie stellte sie als Brian und Teddy vor. Ian war mit zweiundzwanzig der Älteste der Gruppe, der sechzehnjährige Marvin galt als Zuschauerliebling. Berit und Gina erschloss sich das nicht so ganz. Der stämmige Knabe hatte für ihre Verhältnisse etwas zu weichliche Züge, und sie fanden es auch gewöhnungsbedürftig, dass sein rotblondes Haar bis zur Hüfte reichte, teilweise eingeflochten war und seit mindestens zehn Tagen nicht gekämmt schien. Auf Mädchen zwischen zwölf und fünfzehn, offensichtlich die Hauptzielgruppe der Band, wirkte er jedoch unwiderstehlich. Sophie schmachtete ihn an, und auch andere Grauenfelser Jugendliche hatten sich schon vor dem Pub versammelt. Wie sie von der Sache erfahren hatten, war Berit und Gina rätselhaft.
Jetzt intonierten sie jedenfalls lauthals die Namen ihrer Stars und kreischten, während Marvin ihnen freundlich zuwinkte. Der Pub-Besitzer machte ein Foto nach dem anderen.
»Die benehmen sich, als käme der Messias persönlich«, meinte Igor Barhaupt kopfschüttelnd und floh ins Pub. »Kann mir einer sagen, was an den Typen so dran ist?«
»Fragen Sie Sophie.« Berit grinste und biss in ein Lachsbrötchen. »Die schaut, als hätte sich ihr eben der Himmel aufgetan. Und wie’s aussieht, scheint dieser Marvin sie zu mögen. Zu gönnen wär’s ihr ja. Außerhalb ihrer Tanzerei hat sie schließlich kaum Kontakte, und in Ballettschulen wimmelt es bekanntlich nicht gerade vor potentiellen Sexualpartnern.«
Sophie stand neben Marvin Murphy und wirkte glücklich bis zur Verklärung. Die Aufregung hatte leichte Röte auf ihre blassen Wangen gezaubert, ihre großen Augen leuchteten, und ihr dunkles Haar, nach dem raschen Fußmarsch vom Bürgermeisteramt bis zum Pub ein wenig regenfeucht und verwirrt, umrahmte betörend ihr Schneewittchengesicht. Marvin Murphy behandelte sie wie ein perfekter Gentleman. Die Murphys mochten zwar wie Hippies aussehen, schienen aber gut erzogen und sehr diszipliniert. Sophie wirkte wie in einem glücklichen Traum, als Marvin sie mit Cola und Snacks versorgte und ihr zwischendurch lange, intensive Blicke aus seelenvollen, langbewimperten Augen schenkte. Der Junge hatte einen bezaubernden englisch-irischen Akzent, den er zweifellos kultivierte, und befragte sie aufmerksam nach ihren Tanzstunden, ihren Zukunftsplänen und natürlich der Marienerscheinung.
»Es muss amazing sein … eine ganz, ganz große Auszeichnung! Du musst dich fühlen so … auserwählt!«
Sophie errötete. »Ach, das ist doch gar nichts … Du hast bestimmt ein viel spannenderes Leben, mit der Band und so …«
»Na ja …« Über Marvins Gesicht fiel ein Schatten. »Es ist natürlich ganz … great! All die, äh, Mädchen …«
»Du hast sicher eine Freundin in jeder Stadt«, meinte Sophie. Es sollte kokett klingen, hörte sich aber eher mutlos an.
Marvin schüttelte den Kopf. »Nein. Die Platz an meine Seite ist noch frei«, sagte er förmlich.
»Aber die Zeitungen …« Sophie wusste vor Schüchternheit nicht, wo sie hinsehen sollte.
»Die Zeitungen schreiben viel. Werden auch über uns schreiben, pass auf!« Marvin lachte, hob Sophies Kinn mit der Geste eines routinierten Verführers an und blickte ihr in die Augen. »Willst du, dass sie über uns schreiben?«
Spontan nahm er Sophie an die Hand und posierte mit ihr für die Kamera des begeisterten Barbetreibers. »Meine süße Freundin Sophie.«
Sophie schien einer Ohnmacht nahe, als er sie auf die Wange küsste.
Nur Gina fiel der etwas nervöse Blick auf, den Marvin gleich darauf mit seinem Vater wechselte. Ob der dem Jungen verboten hatte, so hemmungslos zu flirten? Tatsächlich schien eher das Gegenteil der Fall zu sein. Mike Murphy nickte seinem Sohn zwar sehr dezent, aber klar anerkennend zu.
Sophie bemerkte davon natürlich nichts. Mit anbetendem Gesichtsausdruck lauschte sie den Erzählungen von den großen Kompositionen, die Marvin plante, und seinen ersten Erfolgen: »Eine Lied von mir, wir schon singen – heißt For the One I love …«
»Echt einfallsreich«, meinte Claudia später ironisch. Sophie war jedoch hin und weg.
»Und du hast wirklich nicht an jemand Bestimmten gedacht, als du es geschrieben hast?«, fragte sie. Der Song war ihr natürlich bekannt. Sophies CD-Regal enthielt alle Alben der Murphy Family.
Über Marvins Gesicht zog ein Ausdruck von Trauer.
»Doch«, gestand er dann. »Aber von jemand, der ich nicht kann haben … Verstehst du?«
Sophie nickte eifrig und griff nun ihrerseits schüchtern tröstend nach seiner Hand. »Nur zu gut. Genau das Gefühl hatte ich immer bei dem Lied – es drückt ganz genau aus, wie sehr man sich nach jemandem sehnen kann …«
Marvins Finger schlössen sich um Sophies. »Ich wusste, dass du das verstehen würdest. Du bist so ein … sensible girl. Und … tell me … the virgin … also, äh, die Madonna … die spricht wirklich mit euch? Die antwortet richtig, ehrlich, auf die Fragen, die ihr stellt?«
Sophie biss sich auf die Lippen. »Sie ist nicht gerade als Lügnerin bekannt«, meinte sie dann vorsichtig.
Marvin holte tief Luft. »Ich bin sehr, sehr gespannt auf sie … Auf was sie wird sagen … du bist sicher, dass sie wird kommen?«
»Ganz sicher«, erklärte Sophie.
*
Die Nachricht von der Ankunft der Murphy Family hatte sich verbreitet wie ein Lauffeuer. Insofern formierten sich an diesem Sonntag zwei Prozessionen in Grauenfels: Die eine bestand aus den üblichen Pilgern, die andere aus Jugendlichen aus Grauenfels und Tatenbeck, die sich schnellstens versammelt hatten, um die Murphys zu sehen.
»Marvin, Marvin!«, intonierten sie, als die Gruppe aus dem Pub trat.
Und wieder beobachtete Gina einen Blickwechsel zwischen Marvin und seinem Pa. Mike Murphy wirkte ungeduldig. Marvin wandte sich daraufhin erneut Sophie zu.
»Du mich führen, jetzt …« Der Junge griff nach ihrer Hand, und Sophie zog ihn, dunkelrot vor Verlegenheit, aber auch vor Glück, den Kopf gesenkt und das Gesicht hinter der Haarflut verborgen, durch die Reihen ihrer Mitschüler. Die Presse war natürlich auch da, und die Murphys posierten mit Sophie und Claudia. Dann taten sie ihren Fans den Gefallen und gingen zu Fuß vom Pub bis zum Prozessionsweg. Hier bat der Vater der jungen Sänger allerdings um Nachsicht. Die Familie wollte sich jetzt ihrer Andacht widmen. Natürlich könnten sich die Fans der Prozession anschließen. Sie möchten die Murphys aber bitte nicht mehr ansprechen.
Claudia und Sophie griffen sich Kerzen, um die Prozession wie gehabt anzuführen, Claudias Mutter versuchte, die Pilger ein bisschen auf Abstand zu ihnen zu halten, um die Konzentration der Seherinnen nicht zu stören. Die Murphys blieben trotzdem eng hinter den beiden. Wie üblich begannen die Pilger gleich nach dem Aufbruch zu singen – aber diesmal mischte sich der reine Knabensopran von Brian und Teddy Murphy in das verballhornte »Ave Maria«. Die anderen Murphys fielen ein. Für Gina und Berit klang ihr improvisierter Chor zwar kaum melodischer als das sonstige Gesinge, aber die Fans im hinteren Prozessionsbereich kreischten vor Begeisterung.
»Unsere Sophie schwebt ja wirklich auf Wolken«, raunte Berit Gina zu. »Und ganz ohne Merlots Zutun!«
Die beiden hatten sich der Gruppe weit hinten angeschlossen. Sie mussten die Erscheinungen nicht mehr steuern, die Mädchen wussten, was sie zu tun hatten.
Gina zuckte die Achseln. »Die Liebe lässt die Menschen erfahrungsgemäß abheben, meist aber nur kurzfristig. Und bei dieser Sache gefällt mir irgendwas nicht. Das geht zu glatt. Für einen Sechzehnjährigen ist dieser Marvin zu routiniert, wahrscheinlich baggert er jede so hemmungslos an. Wenn er Sophie jetzt Hoffnungen macht und sie dann vergisst, wird sie sich die Augen ausheulen.« Gina spähte nach den Murphys aus, die immer noch sangen. Inzwischen intonierten sie »Amazing Grace«. Ein paar Toningenieure ihres Managements schnitten alles mit. Eine Pilgergruppe im Rentenalter setzte allerdings mit »Oh, Maria hilf« dagegen. Die Kombination klang zum Davonlaufen.
»Hast du den Mädchen denn jetzt wenigstens nette Texte geschrieben? Die Murphys hatten doch irgendwelche Sonderwünsche, nicht? Über was wollten die noch mit MM sprechen?«
*
»Also, im Prinzip hat sie nichts dagegen …«, verkündete Claudia von einem etwas erhöhten Platz an der Quelle aus. Der Frauengebetskreis hatte das Podium für Andachten angelegt, und die Seherinnen nutzten es, um das dankbare Publikum über die Verlautbarungen der Jungfrau zu informieren. Die Erscheinung war wie üblich glatt verlaufen. Die Mädchen hatten ihre Texte programmgemäß abgespult, Sophie diesmal mit einem so entrückten Ausdruck, dass das Kameraklicken manchmal trotz Fotografierverbot die leisen Stimmen der Seherinnen übertönte. Die Bild-Zeitung brachte am nächsten Tag ein wunderschönes Foto des Mädchens in seiner scheinbar religiösen Versunkenheit – aber auch das Bild der strahlenden Sophie im Pub neben Marvin.
»Sie meinte, jede Liebe sei grundsätzlich gutzuheißen. Der Himmel sieht die Seelen der Menschen, egal welchen Geschlechts. Was sich in Liebe verbindet, das ist gesegnet.«
»Aber Liebe bedeutet auch Ehrlichkeit und die Bereitschaft, zueinander zu stehen«, sagte Sophie mit süßer Stimme ihren Text auf. »Es soll nichts Heimliches sein in eurer Liebe, wie nichts Böses darin ist.«
»Man soll sich also outen?«, rief eine vierschrötige Frau aus der Menge. »Bring es auf den Punkt, Kind!«
»So hat sie das nicht gesagt«, meinte Sophie. »Aber ich denk schon. Das wird sie wohl gemeint haben.«
»Und ansonsten freut sie sich über die vielen Menschen, die gekommen sind, um uns zu begleiten, die vielen Fragen, die an sie herangetragen werden, und die Frömmigkeit und Liebe, die dieser große Pilgerkreis ihr entgegenbringt.« Claudia schloss die Verkündung ab. »Wir alle sind gesegnet, sie behält uns alle in ihrem Herzen, und sie kennt den Namen eines jeden, der aufrichtig betet und aufrichtig liebt.«
Die Diskussion in der Pilgermenge brach schon los, während die Mädchen noch von der Plattform herunterstiegen und zu einer stillen Andacht an der Quelle niederknieten.
»Sie verlangt, dass alle sich outen! Und eigentlich hat sie sich doch auch für die Homosexuellen-Ehe ausgesprochen, oder?«
»Dafür ausgesprochen? Sie hat sie gefordert! Das gibt uns endlich eine Handhabe …«
»Erstklassiger Text«, raunte Doktor Hoffmann Berit zu, als er mit seiner Tasche an ihr vorbeieilte. »Geb ich bei Gelegenheit einen drauf aus! Ich lach mich tot, wenn Pfarrer Herberger uns eines Tages trauen muss! Aber jetzt hab ich’s eilig, am Erscheinungsplatz gibt’s eine Heilung.«
Die Mädchen blieben wie immer noch etwas an der Quelle, angeblich in Anbetung versunken. Die Murphys knieten dort ebenfalls nieder, aber so richtig ruhig war es nicht in der Gruppe. Marvin und seine Geschwister tuschelten miteinander in ihrer Muttersprache, rutschten nervös hin und her – von Andacht konnte keine Rede sein. Als Sophie und Claudia schließlich aufstanden, verabschiedeten sich die Stars schnell.
»Ich dich danke vieltausendmal!«, sagte Marvin ernst zu Sophie. »Du mir hast gebracht Licht in meine Leben. Darf ich dir noch mal küssen?«
Sophie streckte ihm ihr jetzt wieder blasses hübsches Gesicht entgegen und errötete erneut, als seine Lippen ihre Wange streiften.
»Es war so schön mit dir«, meinte sie schließlich mutig. »Sehen wir uns wieder?«
Marvin schaute irritiert. »Bestimmt. Sicher. Wenn wir geben eine Konzert, und du bist in die Stadt. Einfach Bescheid sagen, dann du kriegst Karten, ja …«
»Ich bin demnächst in Berlin zu einer Talkshow …«
Die Murphys lebten in einem denkmalgeschützten Haus in Schöneberg.
»Das ist schön«, meinte Marvin, allerdings ohne große Begeisterung. »Wenn wir werden da sein, du kommst in Konzert, ja?«
Sophie nickte verklärt.
Schließlich verabschiedete sich Marvin mit zwei Küsschen von Sophie, allerdings auch von Claudia. Die anderen Bandmitglieder umarmten die Mädchen ebenfalls.
»Er hat mich geküsst …«, flüsterte Sophie, als der Tour-Bus vom Steinbruch rollte. »Drei Mal. Und er will mich wiedersehen …«
*
»Warum wollten sie bloß das mit der Homosexualität wissen?«, fragte sich Gina. Im Laufe des Nachmittags war der Erscheinungsrummel abgeflaut, die Touristenbusse abgefahren, und die Crew konnte aufatmen. Igor Barhaupt, fast trunken vor Erleichterung und glücklich über die neuen Besucherrekorde, die Grauenfels heute verzeichnen konnte, lud alle zu einem Eis und einem Sekt in seinem Wintergarten ein.
»Da können wir richtig feiern! – Bei Lohmeiers sitzen mir jetzt noch zu viele Pilger. Die Mädchen hätten keine ruhige Minute.«
Ganz offen konnten die Verschwörer auch im Hause Barhaupt nicht reden, denn Frau Martens hatte sich angeschlossen. Aufgeregt erzählte sie von der spirituellen Kraft, die Vater Murphy aus seinem festen Glauben an die Jungfrau und das Talent seiner Kinder schöpfte. »Es war ein ganz besonderes Erlebnis, die innere Stärke dieses Menschen zu teilen und an seiner Andacht teilzuhaben.«
Berit zuckte bei den Worten angewidert zusammen. »Wenn ich mich recht erinnere, hatte er vor ein paar Jahren noch das Jugendamt am Hals, weil er seine Kinder nicht zur Schule schickte, sondern auf der Straße betteln ließ …«, gab sie zu bedenken. Die Lupe und andere Zeitschriften hatten mehrmals kritisch über die Ausbeutermethoden des Familienoberhauptes berichtet. Bei der Gelegenheit fiel Berit ein, dass sie Ruben seit der Erscheinung nicht mehr gesehen hatte. Er war an der Quelle gewesen, danach aber plötzlich verschwunden. Hoffentlich nicht wieder ein Ruf nach Borunji oder an irgendein anderes exotisches Ziel!
Dann griff Gina jedoch die Frage der Murphys an die Jungfrau auf. »Im Ernst, ist von denen einer schwul?«
»Gucken Sie mich nicht so an, man kann’s einem nicht an der Nase ansehen«, meinte Pastor Jaeger. »Gerade nicht den Typen im Showgeschäft, die sind doch gewöhnt, es geheim zu halten.«
»Also ich glaube, es ist Ian«, mutmaßte Claudia und nahm sich ein zweites Eis. »Du auch noch was, Sophie? Sophie! Aufwachen. Du musst es essen, bevor es sich in Matsch verwandelt …«
Sophie rührte nur abwesend in ihrem Eis herum und sagte allenfalls gelegentlich Dinge wie: »Er hat gesagt, dass die Komposition von Ballettmusik ihn auch reizen würde …«, oder: »Er liebt Tschaikowsky.«
»Ian ist schon zweiundzwanzig und noch nicht verheiratet. Von einer Freundin hat man auch noch nie was gehört.« Claudia sprach, als würde sie laut denken.
Die Erwachsenen lachten.
»Ich bin schon vierunddreißig und auch nicht verheiratet«, grinste Merlot. »Muss ich da an meiner sexuellen Orientierung zweifeln?« Er zwinkerte Gina zu.
»Und was die Freundin angeht – das kann vom Management so gedreht sein«, erklärte Berit sachlich. »Die meisten Boygroup-Mitglieder müssen sich sogar vertraglich verpflichten, zumindest am Anfang alle Beziehungen geheim zu halten. Die leben doch von den Hoffnungen der Fans. Und die Mädels hängen sich kaum das Poster von jemandem an die Schlafzimmerwand, der gerade mit einer anderen das Bett teilt.«
»Aber Marvin macht die Mädchen doch ganz offen an, ohne dass sein Daddy ihm eins draufgibt«, meinte Claudia mit einem Seitenblick auf die ganz in ihre Verliebtheit versunkene Sophie.
»Das ist es ja«, murmelte Gina, »was mich so nervös macht.«
*
Am nächsten Tag waren die Klatschspalten der Zeitungen voll vom Besuch der Murphys in Grauenfels. Sophie war so oft abgebildet, dass sie sich vor Scham kaum in die Schule traute. Claudia versicherte ihr allerdings, die anderen Mädchen würden garantiert eher neidisch als spöttisch reagieren. Sophie sah auf sämtlichen Fotos fast überirdisch hübsch aus.
Auch die Stellungnahme der Jungfrau zur Homosexualität machte Schlagzeilen. Der Bischof war wieder mal dem Schlaganfall nahe und kündete drastische Schritte gegen Grauenfels an. Genauere Angaben machte er aber wohlweislich nicht.
Berit ließ die Sache denn auch kalt. Ihre Texte waren juristisch narrensicher, wenn die Mädchen sich daran hielten, konnte nichts passieren. »Ihr müsst bloß immer darauf achten, nur von der ›Dame‹ zu sprechen, auf keinen Fall von der Madonna oder sonst was. Offiziell betreiben wir keine himmlische Amtsanmaßung. Anonyme Erscheinungen können hierzulande sagen, was sie wollen.«
Sophie wirkte immer noch leicht weggetreten. Inzwischen klammerte sie sich auch an ihr Handy. »Er könnte mich eigentlich mal anrufen …« Am Nachmittag verschwand sie dann in Richtung Ballettschule. Dort würde man sie hoffentlich auf den Boden der Tatsachen zurückholen.
Gina dagegen wirkte weiterhin beunruhigt. »Die Murphys geben in einer Stunde eine Pressekonferenz«, verkündete sie schließlich gegen Abend nach ihrem dritten Ausflug auf die Fanseite der Murphys im Internet. »Ich wünschte, ich könnte da hingehen. Wo ist eigentlich dein Ruben? Der muss doch wissen, wen man anrufen kann, um rauszukriegen, was da läuft!«
Berit zuckte die Schultern. »Seit gestern verschollen. Der Typ verschwindet fast so oft wie Merls Drachen. Aber schalt doch einfach das Radio ein! Irgendeinen von den aktuellen Sendern, die Murphy-Musik spielen. Die informieren die Fans garantiert sofort.«
»Wo ist denn hier das nächste Radio? …« Gina öffnete eine Chipstüte. »Ich kann mich schlecht ins Auto setzen, ich hab noch massenhaft Arbeit.«
Über ihre Beschäftigung mit Grauenfels’ neuem Hotelprospekt vergaß sie denn auch kurzfristig die Murphys und ihre Presseverlautbarungen. Bis Ruben ohne anzuklopfen ins Zimmer stürzte.
»Habt ihr es schon gehört? Wo ist eure kleine Seherin? Es wäre besser, sie erführe es von euch, bevor sich die Meute auf sie stürzt und sie kalt erwischt!«
»Wovon redest du?«, fragte Berit und hob ihm erwartungsvoll den Kopf entgegen. Der erhoffte Begrüßungskuss blieb jedoch aus.
»Von der Pressekonferenz dieser Murphys. Sonnyboy Marvin hat sich eben geoutet. Der Knabe ist rundheraus schwul!«
*
»Und so bekenne ich mich zu meiner Liebe, wie die Regenbogenkönigin von Grauenfels gefordert hat! Jonas Hartlaub ist der Mann, für den ich For the One I love geschrieben habe. Komm rauf zu mir, Jonny, keine Heimlichkeiten mehr – meine Familie und ich haben beschlossen, von jetzt an zu meiner Veranlagung zu stehen! Oh, ihr alle nicht werdet glauben, wie glücklich ich bin, wie erleichtert durch den Segen der Jungfrau … Und ich mich entschuldige bei alle Mädchen, denen ich nicht geben konnte, was sie sich vielleicht von mir wünschten.«
»Und wie der auf einmal Deutsch kann!« Berit und Gina lauschten fassungslos Marvins Presseerklärung. Gleich nachdem Ruben die Sache durch seine Redaktion erfahren hatte, übertrug auch das Radio die sensationelle Verlautbarung. »Sophie wird sich die Augen ausheulen.«
»Und wenn ihr nicht gleich was tut, macht sie das vor der gesamten Presse«, meinte Ruben und zündete sich hektisch eine Zigarette an. »Die ersten Reporter stehen in einer halben Stunde bei ihr auf der Matte, da könnt ihr sicher sein. Gestern noch diese Schmusebilder, auf denen ihr die Verliebtheit aus den Augen strahlt, und heute das Outing. Die wollen ihre Reaktion in Großaufnahme. Also tut was!«
»Was denn? Und wo ist sie jetzt überhaupt? Noch in der Ballettschule oder zu Hause? Wir könnten nach Tatenbeck fahren und sie abholen«, überlegte Gina.
»Ruft erst mal bei ihr zu Hause an«, riet Ruben. »Dann erspart ihr euch den Weg. Und informiert auch die andere – Claudia. Sophie wird eine Freundin brauchen – eine Eingeweihte. Wenn die jetzt irgendeiner geschickt fragt, lässt sie euch die ganze Erscheinung platzen!«
Berit hatte sich das Telefon schon gegriffen.
»Sie ist zu Hause«, sagte sie, als sie den Hörer nach kurzem Gespräch auflegte. »Und sie weiß es schon. Claudia ist bei ihr, und wir sollen auch kommen. Frau Becker war eisig. Sieht aus, als machte sie uns dafür verantwortlich.«
Als Berit und Gina ankamen, hatten sich tatsächlich schon die ersten Reporter vor Beckers’ schlichtem Reihenhaus postiert. Sie überfielen die beiden mit Fragen, erhielten aber selbstverständlich keine Antworten. Sophies Mutter öffnete mit bleichem Gesicht und zusammengekniffenen Lippen.
»Sophie ist oben. Gehen Sie einfach rauf …« Frau Becker schien sich zunächst abwenden zu wollen, überlegte es sich dann aber anders. »Ist es das eigentlich wert? Haben Sie das eingeplant, als sie die Mädchen für Ihr dreckiges Spiel benutzt haben?«
»Frau Becker, so was kann jedem Mädchen passieren«, versuchte Gina sie zu beruhigen. »Gerade im Ballettbereich, da ist doch jeder zweite Tänzer homosexuell. Sophie hätte sich genauso gut in der Ballettschule in den Falschen verlieben können.«
»Dann hätte ihre Geschichte aber nicht in jeder Zeitung gestanden«, sagte Frau Becker hart. »Und neben dem Kummer hätte sie nicht auch noch diese blutdürstige Meute am Hals gehabt! Außerdem wäre sie nicht so jung gewesen. Sie ist dreizehn, Frau Landruh! Sie ist ein Kind!«
Sophie schluchzte mit jener weltumfassenden Verzweiflung, die eigentlich nur ein Teenager beim Verrat seiner allerersten Liebe empfinden kann. »Ich mache nicht mehr mit!« Sie weinte, als sie Gina und Berit sah. »Wenn MM nicht gesagt hätte, es ist okay, wäre das alles nicht passiert.«
»Nein. Dann hätte er weiterhin Mädchen das Herz gebrochen, indem er sie als Alibi benutzt hätte«, meinte Gina nüchtern. »Ich hatte gestern schon so einen Verdacht. Da wurden zu viele Blicke zwischen Vater und Sohn gewechselt. Papa Murphy achtete genau darauf, dass Sohnemann immer ein Mädchen an der Hand hatte, wenn ein Reporter in der Nähe war.«
»Er war so nett …«
»Das sind Betrüger immer«, sagte Gina herzlos. »Wir können jetzt natürlich massenhaft Entschuldigungen für ihn finden. Er brauchte ein heterosexuelles Image fürs Showgeschäft, sein Vater hat ihn unter Druck gesetzt, bei Katholiken gilt es als Sünde – aber letztlich hat er dich benutzt.«
»Was soll ich denn jetzt machen?«, fragte Sophie verzweifelt. »Ich kann doch nie wieder aus dem Haus gehen. Die Reporter wollen, dass ich was dazu sage. Und ich kann nicht … Oh, ich wünschte, das wäre nie passiert. Wenn die Murphys nicht gekommen wären, wenn ich das mit MM nicht … dann könnte ich jetzt wenigstens noch von ihm träumen …«
»Und die Reporter stünden jetzt vor der Tür eines anderen Mädchens«, meinte Berit. »Irgendwann hätte der Typ sich auf jeden Fall geoutet. Es tut mir wirklich Leid für dich, Sophie, aber im Grunde ist es so für alle besser. Ich glaube dem Jungen sogar seine Erleichterung. Für ihn ist das ein Wunder …«
»Ich hab genug von diesen Scheißwundern!« Sophie heulte jetzt laut auf, und ihre Tränen begannen ungehemmt zu fließen.
Gina bemerkte erleichtert, dass sich langsam Wut in ihre Verzweiflung mischte. Sie setzte sich neben das Mädchen und nahm es in den Arm. Sophie wimmerte. »Ich möchte ein ganz normales Leben und einen ganz normalen Freund …«
»Ach, auf einmal?« Das war Claudia. Das blonde Mädchen baute sich fast drohend vor seiner Freundin auf. »Gestern wolltest du noch nach Paris. Gestern wolltest du noch tanzen. Und jetzt hockst du da wie eine Heulsuse. Mensch, guck dich doch an, du willst Primaballerina sein? Glaubst du, Marcia Haydee würde so rumheulen oder die Makarowa oder Nijinsky, oder wie sie alle heißen?«
»Was soll ich denn machen?« Sophie schluchzte. »Die Mädchen in der Tanzschule waren so gemein, sie haben mich aus der Stunde geholt und mir die Pressekonferenz im Radio vorgespielt. Denen hat das Spaß gemacht …«
»Die sind doch bloß neidisch. Du tanzt besser als die alle zusammen. Du wirst eines Tages nach Paris gehen, nicht die. Die kommen aus Tatenbeck nicht raus. Mit ihrem Normaloleben und ihren Normalofreunden.«
Sophie schniefte.
»Wie hast du denn reagiert, als die Mädchen dir die Sendung vorspielten?«, fragte nun Berit vorsichtig. In Gedanken arbeitete sie schon an einer Verteidigungsstrategie.
»Gar nicht«, klagte Sophie. »Ich hab zuerst auch gar nichts gefühlt, es war nur alles leer. Und kalt war mir, nur kalt, und dann bin ich zurück in die Stunde gegangen und hab weitergetanzt. Und als ich rauskam, war Claudia da und hat auf mich gewartet.«
Berit und Gina warfen Claudia anerkennende Blicke zu. Für ihr Alter hatte sie sehr erwachsen reagiert.
»Die Reporter haben sie auch noch nicht zu Gesicht gekriegt, die kamen erst an, als wir schon im Haus waren«, erklärte Claudia. »Und jetzt sag ich dir mal, was du machen kannst, Sophie! Du wäschst dir jetzt das Gesicht, und dann gehst du da raus, wir gehen Eis essen zu Lohmeiers, und du wirst lachen. Und wenn die Reporter dich was fragen, dann sagst du –«
»Ich kann aber nicht …«, wimmerte Sophie und versteckte sich hinter einem frischen Taschentuch.
»Dann eben nicht!«, rief Claudia, stand auf und wanderte effektvoll im Zimmer herum. »Dann vergiss Paris und such dir einen ganz normalen Freund. Kalle Schimmelpfennig oder Marco Schalk zum Beispiel. Die fahren beide auf dich ab, brauchst du nur mal mit den Wimpern zu klimpern. Geh irgendwann raus, heul den Reportern was vor, erzähl ihnen von MM – dann hast du auch eine wunderschöne Rache an deinem Marvin, denn dann fällt ja seine Entschuldigung weg, und er muss sich wieder mit der Sache mit der Todsünde rumschlagen. Und du kriegst ein cooles normales Leben mit geilen Aufstiegschancen in Grauenfels/Tatenbeck. Was hältst du von Sekretärin in der Tierverwertungsfabrik?«
Sophie schniefte ein letztes Mal, aber dann wischte sie sich energisch das Gesicht ab. »Also gut. Was muss ich machen?«, fragte sie.
Eine halbe Stunde später traten zwei kichernde Mädchen aus dem Haus der Beckers und schienen über den Auftrieb an Reportern fast verwundert zu sein. Sophie hatte ihr leuchtendes Haar zu zwei frechen Zöpfen mit verschiedenfarbigen Schleifen geflochten und trug ein türkisfarbenes, bauchfreies T-Shirt.
»Marvin? Klar, natürlich wusste ich von seinem, hm, Problem. Er war ganz süß, er hat mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt, dass er For the One I love für seinen Freund geschrieben hat. Der ist Tontechniker oder so was … Ich verliebt? …« Sophie wurde rot und wusste so rasch nicht weiter.
»Sophie ist ein bisschen scharf auf Ian«, behauptete Claudia schnell. Das war nicht abgesprochen, und Sophie errötete vor Schreck noch tiefer.
»Claudia!«
»Ich sage ihr immer, er ist zu alt für sie, aber …«
Die Mädchen alberten mit den Reportern, die Kameras der Fotografen klickten. Gina und Berit beobachteten das Ganze vom Fenster in Sophies Zimmer aus. Frau Becker stand neben ihnen. Als die Reporter die Mädchen schließlich gehen ließen, wandte sie sich zu den beiden um.
»Sie hat mir erzählt, was Sie ihr versprochen haben«, sagte sie leise. »Und ich sehe jetzt, dass es ihr wichtiger ist als alles andere. Aber –« Sophies Mutter hob die Stimme. »Wenn Sie Ihr Versprechen nicht halten – wenn Sie sie nicht nach Paris bringen, dann kratze ich Ihnen persönlich die Augen aus!«