Ein bisschen Magie

Was um Himmels willen hast du dir dabei gedacht, den Text selbstständig abzuändern?«, donnerte Berit Claudia an. Nach einem langen Tag im Wäldchen, der Koordination der Erscheinung und immer wieder Unterhaltungen mit diversen Pressevertretern war ihre Geduld weitgehend erschöpft. Claudia, deren Alleingang Berit seit Stunden wurmte, bekam den Frust nun zu spüren.

»Na, so schrecklich war es ja wohl nicht«, verteidigte sie sich. »In Marpingen hat sie immer Rosenkränze gesegnet. Da dachte ich, sie könnte hier auch ein paar Leute glücklich machen. Die sind da doch ganz wild drauf.«

»Du sollst nicht denken, du sollst deinen Text sprechen! Du hättest Sophie durcheinander bringen können. Und du weißt, dass Bernie immer gleich darauf reagiert, wenn seine Schwester irritiert ist. Dabei fällt jeder falsche Blick auf. Du warst nebenbei großartig, Sophie. Und du natürlich auch, Claudia, abgesehen von dem Fauxpas. Bei uns werden keine Rosenkränze gesegnet, das ist doch hier kein Servicecenter!«

»Warum eigentlich nicht?«, fragte Gina. »Ich meine, nicht, dass ich dich kritisieren will, Berit, aber deine Texte werden langsam öde. Der ganze Sermon wiederholt sich, auf die Dauer muss uns da was Besseres einfallen.«

Berit seufzte. »Ich weiß«, gab sie zu. »Aber ich hab euch schon mal erklärt, warum es nicht prickelnder werden darf. Lass uns erst mal diese Kirchenkommission abwarten. Hab ich euch schon gesagt, dass da Freitag ein paar Leute kommen? Und Donnerstag erscheint die Psychotante für das Gutachten über euren Geisteszustand. Hoffentlich überlegen sich eure Eltern das nicht noch mit der Genehmigung. Wenn sich dann herausstellt, dass es sowieso nichts wird mit der kirchlichen Anerkennung, kann ich das Ganze ja noch mal überdenken. Und bis jetzt läuft es doch prima, so wie’s ist. Wenn der Andrang abflaut, können wir MM immer noch sensationellere Enthüllungen machen lassen.«

Claudia kaute nachdenklich an ihrer Unterlippe. »Wenn sich am Text schon nichts ändern lässt – vielleicht kann man ja stattdessen dramaturgisch was draufsetzen«, schlug sie vor. »Ich meine – die ganze Show ist im Prinzip ziemlich einfallslos, wir machen nichts, wir hängen nur rum und sagen unseren Text her.«

»Was willst du denn stattdessen machen? Singen und tanzen?«, fragte Sophie. »Die anderen sind doch auch nur in Trance verfallen.«

»Das war aber achtzehnhundertund!«, wandte Gina ein. »Vor Erfindung des Fernsehens mit zwanzig Kanälen und Fernbedienung. Heute wollen die Leute Action, sonst zappen sie weiter. Da hat Claudia schon Recht. Was wir auf jeden Fall machen können, ist eine Prozession. Das lässt sich leicht organisieren und sieht nett aus, mit Kerzen und so. Ihr beide vorweg. Oder noch besser Bernie vorweg. Kann er eine Kerze halten?«

Sophie nickte. »Er liebt Laternenumzüge! Aber wir müssen aufpassen, dass er nicht die Lieder verwechselt. Er wollte heute schon lieber ›Wenn sich die Igel küssen …‹ singen als das ›Ave Maria‹.«

»Wozu mir dein Handy einfällt, Claudia!«, bemerkte Berit streng. »Das ›Ave‹ als Klingelzeichen ist natürlich unannehmbar! Das sieht ja aus, als nähmest du das Ganze nicht ernst! Also stell das Ding gefälligst um.«

Gina nestelte ihr eigenes Mobiltelefon aus der Tasche. »Also ich find den Gag klasse! Kannst du mir meins gerade auch darauf programmieren?«

Am nächsten Morgen bezogen die frisch gebackenen Medienreferentinnen endlich ihr offizielles Büro im Grauenfelser Bürgermeisteramt. Zu ihrer Überraschung war es hell und mit Kiefernholzmöbeln zweckmäßig eingerichtet, sogar Blumen hatte jemand auf den Tisch gestellt.

»Das war unser guter Geist, Frau Clarsen!«, erklärte Igor Barhaupt. »Kommen Sie mal, Sybille, ich möchte Ihnen unsere neuen Mitarbeiterinnen vorstellen.«

Frau Clarsen, eine feingliederige junge Frau mit langem hellblondem Haar, das sie zum braven Knoten am Hinterkopf gebändigt hatte, trat aus dem Nebenzimmer zu ihnen.

»Wir haben uns gestern schon kurz kennen gelernt«, meinte Gina freundlich. »Frau Clarsen war so nett, die Einsatzpläne zu tippen – und fünfmal zu ändern. Vielen Dank noch mal. Aber was haben Sie denn mit Ihrem Gesicht gemacht?«

Hinter Frau Clarsens großem, in schmeichelnden Braun- und Goldtönen gehaltenem Brillengestell hatte man es zunächst gar nicht gesehen, aber bei näherer Betrachtung fiel das fast zugeschwollene, rot unterlaufene rechte Auge auf.

»Ach nichts, ich bin gegen eine Tür gelaufen«, meinte Frau Clarsen errötend. »Ich bin manchmal schrecklich ungeschickt, wissen Sie. Was ist das denn, haben Sie ein Haustier?« Frau Clarsens Blick fiel auf Ginas liebevoll gestaltete Glücksdrachenecke. »Ich bringe manchmal meine Katze mit, wenn mein Mann – aber falls Sie einen Hund haben –?«

»Nein, nein, das ist nur Feng-Shui«, beruhigte Berit sie. »Eine kleine Marotte meiner Kollegin. Da sitzt – na, so in den Einzelheiten brauchen wir das eigentlich gar nicht auszuführen. Aber er beißt jedenfalls nicht.«

Die Katze erwies sich als dreifarbiges, ziemlich kleines Tier, dessen Hauptbeschäftigung im Schlafen bestand. Der Glücksdrache hatte offenbar nichts dagegen, dass sie sich dazu schnell seine Ecke auserkor. Ansonsten legte sie ihre ganze Energie in die Terrorisierung des armen Rex. Der geifernde Riesenköter des Bürgermeisters hatte nichts zu lachen, wenn Mauna ihre lebhaften fünf Minuten zeigte. Skrupellos schlug sie ihre Krallen in die Lefzen des geduldigen Schäferhundes, der sich daraufhin gefrustet unter den Schreibtisch seines Herrn zurückzog.

»Wenn ihr Frauchen bloß auch mal so wehrhaft wäre«, raunte Gina Berit zu und wusch ein paar Spuren von Rex’ Liebesbezeugungen von ihrem Rock. »Wenn du mich fragst, ist die nicht gegen eine Tür gelaufen, sondern gegen eine Faust, und die Katze muss mit, weil Herrchen einen Kater hat.«

»Du hast zu viel Fantasie«, bemerkte Berit und wechselte das Thema. »Ich habe mir das mit der Dramaturgie übrigens noch mal durch den Kopf gehen lassen. Im Grunde hat Claudia Recht, wir brauchen mehr Action auf dem Erscheinungsplatz.«

Gina nickte. »Sag ich doch. Also was machen wir? Lassen wir die Jungfrau Kondome verteilen?«

Berit kicherte. »Damit hätten wir auf jeden Fall Schlagzeilen. Was mich daran erinnert, dass ich den Typen von der Lupe noch anrufen muss. Aber im Ernst, woher sollte der Segen denn kommen? Wir müssten sie aus dem Nichts erscheinen lassen.«

»Wenn’s weiter nichts ist – das macht Copperfield mit links«, bemerkte Gina.

Berit nickte. »Womit wir beim Thema wären. Es ist nicht eilig, aber auf die Dauer brauchen wir einen Zauberer. Kennst du zufällig einen?«

»Es ist nur ein Angebot. Wenn du Tanzstunde hast, musst du natürlich nicht mit«, Gina wedelte im Flur des Bürgermeisteramts mit einer Hand voll Freikarten vor Sophies Nase herum. »Circo Magico – Erleben Sie ein paar verzauberte Stunden«.

Igor Barhaupt hatte ihr die Karten gerade im Vorübergehen in die Hand gedrückt. »Hier, die gastieren ab morgen auf dem alten LPG-Gelände. Falls Sie Lust haben – vielleicht kriegen Sie ja ein paar Anregungen.«

»Bernie geht bestimmt gern mit«, meinte Sophie entschuldigend. Sie war vorbeigekommen, um sich ein paar Zeitungsausschnitte abzuholen. Diesmal hatten praktisch sämtliche Zeitungen in Thüringen über die Erscheinungen berichtet, und auch im restlichen Bundesgebiet stieß das »Wunder von Grauenfels« auf immer mehr Interesse. »Ich kann den Unterricht wirklich nicht ausfallen lassen. Habt ihr Claudia schon gefragt? Die hat wahrscheinlich Lust. Aber passt bloß auf, das letzte Mal, als ich mit ihr im Zirkus war, haben sie jemanden gesucht, der sich freiwillig zersägen lässt, und sie hat sich sofort vorgedrängt.«

Berit verdrehte die Augen. »Und, haben sie sie genommen?«

»Nein, natürlich nicht. Ich nehme an, die hatten ein Mädchen im Publikum, das den Trick kannte. Claudia war jedenfalls total enttäuscht.«

»Wir passen auf, dass niemand sie halbiert«, meinte Gina fröhlich. »Was ist mit Ihnen, Frau Clarsen?«

Frau Clarsen, die mit einer Kaffeekanne durch den Flur lief, errötete erfreut. »Das ist sehr nett von Ihnen. Wenn ich darf, nehme ich drei, für Mittwochnachmittag, da kann mein Mann sich auch freinehmen. Wir haben schon so lange nichts mehr als Familie unternommen, mein Mann, mein Sohn und ich. Da wäre so ein Zirkusbesuch …« Frau Clarsens blaues Auge war inzwischen abgeschwollen. Vergnügt ging sie in ihr Büro.

»Manchmal habe ich wirklich das Gefühl, als ob der Himmel mit uns wäre«, meinte Berit nachdenklich, als sie und Gina schließlich wieder an ihren Schreibtischen saßen. »Kaum denken wir über einen Zauberer nach, da fällt ein Zirkus im Dorf ein. Kommt dir das nicht auch komisch vor?«

»Glück hat auf die Dauer nur der Tüchtige«, sagte Gina grinsend, um dann vielsagend auf die Glücksdrachenecke zu blicken. »Oder hängt’s vielleicht doch mit gewissen unsichtbaren Reptilien zusammen? Wir sollten ihm schon gelegentlich etwas Hundefutter kaufen!«

*

Der Zirkus war ziemlich klein, und die Ansammlung bunter Wohnwagen und das altmodische Zelt mit Türmchen und Volants verbreiteten tatsächlich eine nostalgisch-magische Atmosphäre. Zwischen Kasse und Zelt gab es Stände mit Zuckerwatte und Paradiesäpfeln, Clowns liefen herum und neckten die Kinder, ein Jongleur und ein Zauberer zeigten ihr Können.

»Vom Hocker reißt mich das bis jetzt aber nicht«, meinte Berit, als der Zauberer dem faszinierten Bernie ein Ei aus dem Ohr zog und es dann in der Hand verschwinden ließ. »Das sind doch simpelste Taschenspielertricks.«

»Er hat ja auch noch nicht richtig angefangen«, beruhigte Gina sie. »Aber ich finde, er macht einen sympathischen Eindruck. Darauf kommt’s ja auch an, wir müssen ihm vertrauen können, wenn wir ihn in die MM-Geschichte einweihen.«

Die Vorstellung des Circo Magico glich insgesamt eher gutem, altmodischem Varieté als dem Menschen-Tiere-Sensationen-Konzept moderner zirzensischer Unternehmen. Die Leistungen der Artisten waren durchweg solide, die Kostüme ausgefallen, und die Lightshow war hinreißend. Die Vorstellung machte Spaß und bot ungewöhnliche Attraktionen – so etwa eine Dressurnummer mit drolligen Zwergziegen statt edler Hengste und einer Seiltänzerin, die zusammen mit einem Faultier auftrat. Das Tier machte dabei eigentlich nichts, außer am Seil zu hängen und ein paar Blätter zu verzehren, und eben das schien die Tänzerin wahnsinnig zu machen. Ihre Versuche, ihren behaarten Partner zu irgendwelchen Aktivitäten anzuregen, riss die Zuschauer zu Lachstürmen hin. Ins atemlose Staunen verfielen bei der Show des Circo Magico aber nur die Kinder. Den Erwachsenen hatte sie wenig Neues zu bieten – bis zum Auftritt des Zauberers eben.

Der Zirkusdirektor kündigte ihn als »Merlot der Magier« an, wozu Berit und Gina gleich die gleichnamige Weinrebe einfiel. Die Show wirkte dann auch streckenweise so, als habe der Zauberer eben diesem Getränk zu gut zugesprochen. Merlots Auftritt war eine einzige Parodie auf berühmte Vorbilder: Er ließ ein weißes Tigerbaby verschwinden und als Hauskatze wiederkommen, wobei er das Desaster in einer hinreißenden Pantomime als Siegfried und Roy kommentierte. In Ermangelung eines echten Eisenbahnwaggons zauberte er eine ganze Spielzeugeisenbahnanlage weg und proklamierte als ultimativen Trick die Verwandlung einer Barbiepuppe in eine junge Frau des Typs Claudia Schiffer – und zurück.

»Sehr praktisch auf Reisen!«

Claudia kicherte.

Der Zauberer war schlank und muskulös wie ein Tänzer. Er war noch recht jung oder wirkte zumindest so: Sein langes Gesicht unter einer Fülle goldbraunen Haars zeigte ständig einen leicht erstaunten Ausdruck, seine Nase war ein bisschen spitz, und seine Augen waren braun mit helleren, goldfarbenen Sprenkeln. Jetzt lachte er Gina zu und ließ einen Papierblumenstrauß vor ihrer Nase erscheinen.

»Für Sie, schöne Frau!«

Gina lachte. »Schöne Frauen verdienen echte Blumen!«, neckte sie ihn.

Merlot legte seine Stirn in imponierende Falten, schien nachzudenken und griff dann mit einer fließenden Bewegung eine echte, rote Rose aus der Luft.

»Die Rose der Rose!«, sagte er mit einer Verbeugung.

Gina war baff.

»Wie hat er das jetzt geschafft?«, fragte sie die ebenso verblüffte Berit. »Also langsam bin ich gespannt auf die Show!«

Natürlich beherrschte Merlot auch Seiltricks wie die des großen Houdini, außerdem zersägte er das Faultier, das die Zuschauer bereits in der Seiltanznummer beklatscht hatten. Doch weder Seiltanz noch Zersägen schienen das Tier zu beeindrucken.

Die Zuschauer reagierten mit Begeisterungsstürmen, als das gemütliche Vieh sich mit neuen Blättern versorgte, indem es sie hinter dem Ohr des Meisters hervorzog.

»Das Ziel der Dressur ist, dass er eines Tages alles allein macht und ich in Ruhe am Seil hängen kann …«, kommentierte Merlot.

»Also, wie fandet ihr ihn?«, fragte Gina, als die vier schließlich den Zirkus verließen.

»Genial«, urteilte Claudia und kramte nach ihrem Handy, das Anrufe neuerdings mit den ersten Tönen von Like a virgin meldete. Berit versuchte, das mit Fassung zu tragen. »SMS von Sophie, sie holt Bernie im Büro ab. Kann ich ihr gleich erzählen, wie geil der Typ war! Wollt ihr den für die MM-Sache engagieren?«

»Jedenfalls war er originell«, meinte Berit vorsichtig. »Und scheint fachlich auch was zu können – mir ein völliges Rätsel, wo der Tiger und die Frau hin sind! Mal abgesehen von dem zerlegten Affen.«

»Faultiere sind keine Affen!«, berichtigte Claudia sie.

»Was auch immer sie sind, das war schon gut! Ich denke, wir merken uns den Typen vor, oder, Gina?«

Gina nickte. »Aber jetzt steigen erst mal die Persönlichkeitstests. Seid ihr aufgeregt, Claudia?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Nö, nicht wirklich. Meine Mutter hatte auch mal so eine Testphase, da hat sie so ziemlich stündlich einen IQ-Test mit mir gemacht. Zum Schluss war ich richtig gut. Und sonst … wir werden der Psychotante schon das Richtige erzählen.«

»Ihr dürft vor allem nicht lügen«, meinte Berit. »Das merkt sie, es gibt Tricks, das rauszufinden. Gebt euch einfach, wie ihr seid: ganz normale, geistig gesunde und glaubwürdige Mädchen …«

»… denen nur zufällig die Madonna erscheint. Ist gebongt.« Claudia lachte, zog dann allerdings die Stirn kraus. »Aber da wir gerade über meine Mutter sprechen: Die ist neuerdings erstaunlich ruhig, ich fürchte, sie brütet was aus.«

»Was soll sie denn ausbrüten?«, fragte Gina sorglos.

»Weiß ich nicht. Aber es ist komisch. Sie sagt gar nichts mehr, wenn ich zum Beten in den Steinbruch gehe …« Claudia nahm ihre Rolle sehr ernst und ließ sich zum Entzücken der Pilger fast täglich an der Quelle sehen. Die Versunkenheit in ihr Gebetbuch wirkte auch äußerst echt – dahinter verbarg sich allerdings meist ein Schulbuch. Claudias Englischkenntnisse verbesserten sich sprunghaft.

»… Sie hat sogar den Tests zugestimmt – und sie informiert sich über Marienerscheinungen! Hoffentlich guckt diese kirchliche Prüfungskommission nicht in unseren Computer. Das wäre eine Katastrophe, meine Mom hat alles runtergeladen, was das Internet hergab. Die kann die Prophezeiungen von Fátima bald auswendig herbeten.«

»Du meinst – sie verwandelt sich in so eine Art ›Eislaufmutti‹ in Sachen ›Wunder‹?«, fragte Berit entsetzt.

»Ausgeschlossen war’s nicht. Sie kann sich in Sachen total reinsteigern. Wenn sie was macht, dann richtig. Als sie den Tick mit den IQ-Tests hatte, sollte ich unbedingt als jüngstes Mitglied in den Mensa-Club.«

»Warum coacht sie dann nicht auch deine Schauspielerei?«, erkundigte sich Gina.

Claudia verdrehte die Augen. »Na, erstens, weil das meine Idee war und nicht ihre. Das kann sie nicht gut haben, sie möchte immer selbst bestimmen, was ich mache. Und dann hat sie auch mal eine Biografie von Elizabeth Taylor gelesen – und da wurde die Mutter wohl als ziemliches Monster dargestellt. Das hat ihr zu denken gegeben. Außerdem erzähl ich ihr immer nur die Hälfte. Bei Grease glaubte sie, ich wäre die zweite Besetzung, die nur zufällig an die Hauptrolle geraten ist. Und dafür, meinte sie, hätte ich es wirklich ›ganz nett‹ gemacht.«

»Dann hat sie aber nicht den Schatten einer Ahnung von Schauspielerei!«, meinte Berit.

Claudia zuckte die Schultern. »Hat sie auch nicht. Aber ihr solltet sie mal reden hören! Auf jeden Fall benimmt sie sich komisch. Wir müssen sie dringend von der Kirchenkommission fern halten.«

*

Am nächsten Tag war nicht nur der Psycho-Test für die Seherkinder geplant, sondern auch Berits Termin mit Ruben Lennart von der Lupe. Der Reporter befand sich seit Dienstag auf einer Rundreise durch die neuen Länder. Er würde am späten Nachmittag kommen und in Grauenfels übernachten. Gina fiel auf, dass Berit sorgfältig geschminkt und mit unternehmungslustig gebauschtem Pony ins Büro kam.

»Willst du dem Zeitungsschreiber imponieren?«, fragte sie grinsend.

Berit schenkte ihr einen gekonnten Diana-Blick. »Nur einen guten Eindruck machen«, beteuerte sie. »Außerdem hatte ich schon ewig kein interessantes Date mehr. Grauenfels ist ziemlich singlefeindlich. Oder siehst du das anders?«

Gina konnte ihr da nur zustimmen. Beide Frauen hatten sich vorerst in Grauenfels etabliert – Gina in der Mini-Pension von Lohmeiers, Berit in einem Kleinst-Apartment, das Barhaupts Nachbarn mal für eine Tochter ausgebaut hatten. Die war inzwischen nach Australien ausgewandert, und die Eltern konnten die Mieteinnahmen gut brauchen. Eigentlich hatten beide Frauen vorgehabt, möglichst oft zwischen Berlin und Grauenfels zu pendeln, aber das erwies sich in diesem Stadium der Erscheinungsorganisation als illusorisch. Zumindest wochentags und meist auch noch an den Wochenenden saßen sie in Grauenfels fest – und Nachtleben hatte der Ort nun wirklich kaum zu bieten.

»Dann ran an den rasenden Reporter«, sagte Gina lachend. »Aber verquassel dich nicht in Sachen Jungfrau, wenn ihr euch näher kommt!«

Berit schüttelte lächelnd den Kopf. »Gina, das Wort ›Empfängnis‹ kommt in meinem sexuellen Vokabular nur im Zusammenhang mit ›Verhütung‹ vor – und das Jungfrauenproblem hat sich auch schon vor zehn Jahren erledigt!«

Die Psychologin sollte ihren Test mit den Mädchen im Büro von BeGin durchführen. Deshalb räumte Berit das Büro sorgfältig auf. Schließlich durfte es keine möglichen Indizien für die mangelnde geistige Gesundheit der Büro-Besitzerinnen geben – auch der Glücksdrache wurde gnadenlos und ohne zu fragen in Frau Clarsens Büro verbannt und mit Katzenspielzeug friedlich gestimmt.

Gina wanderte währenddessen hoch zum Erscheinungsort. Die Sportlichere von BeGin hatte sich eine tägliche Inspektionstour entlang der wichtigsten Pilgerwege zur Gewohnheit gemacht. Damit vermied sie schon im Vorfeld Peinlichkeiten wie den Auftritt der UFO-Jünger am letzten Erscheinungstag. Sie behielt ihre teils jugendlichen Helfer unter Kontrolle und hatte ein scharfes Auge auf neue Verkaufs- und Infostände. Grauenfels brauchte die Lizenzgebühren – Ginas neuester Lieblingsspruch lautete »Schwarz missioniert wird nicht!« –, aber auf eine gewisse Qualitätskontrolle wurde doch Wert gelegt. Gina stoppte sowohl einen Schmuckhändler, der kleine Madonnen als Ohrgehänge anbot, als auch einen geschäftstüchtigen Esoterikhändler. Der Mann hatte einen Schwung Drahtpyramiden, die sich offensichtlich als Ladenhüter entpuppt hatten, kurzerhand mit einer Marienstatue aufgepeppt. Außerdem versuchte er, Das Wunder von Fátima im Package mit einer Broschüre zu indischen Liebestechniken zu verkaufen.

An diesem Donnerstag war relativ wenig los an der Wunderquelle. Es war ein nieselig-kalter Apriltag, der nur den allerhärtesten Kern der Gläubigen nach Grauenfels trieb.

»Auf die Dauer muss hier wirklich eine Kapelle hin«, dachte Gina und schlenderte von der Quelle zum Erscheinungsort hinüber. Hier hatte Barhaupt inzwischen Bänke aufstellen lassen – wobei das Grauenfels nicht mal etwas gekostet hatte. Ein in Tatenbeck frisch gegründeter Marienverein, argwöhnisch beäugt von Pfarrer Herberger, sorgte für die Bestuhlung.

Heute hockte allerdings nur eine einzige Frau in sich zusammengesunken in einer der Sitzreihen. Sie hatte einen Schal über ihr Haar gezogen, der auch ihr Gesicht verdeckte. Trotzdem kam Gina die Gestalt bekannt vor. Als sie etwas genauer hinsah, erkannte sie Frau Clarsen.

»Was machen Sie denn hier?«, fragte sie überrascht.

Frau Clarsen sah erschrocken auf. Anscheinend hatte Gina sie wirklich aus einer Andacht gerissen – oder jedenfalls aus der Versunkenheit in tiefste Verzweiflung.

»Beten«, nuschelte sie.

Wie Gina entsetzt bemerkte, wäre ihr eine normale Artikulation zurzeit nicht möglich gewesen. Frau Clarsens Lippe war aufgeschlagen und blutig, ihre linke Gesichtshälfte blaurot angeschwollen.

»Frau Clarsen, das war doch nicht wieder eine Tür!«, rief Gina erschrocken und setzte sich spontan neben die junge Frau, die ihr Gesicht jetzt noch tiefer in ihrem Schal vergrub.

»Nein, das war – ich bin eine Treppe – ach verflucht, ich bin die Lügen so leid, die mir ohnehin keiner glaubt. Und jetzt habe ich auch noch geflucht im Angesicht der Jungfrau. Ich bin wirklich zu nichts nütze.« Frau Clarsen schluchzte haltlos.

Gina legte den Arm um sie. »Ich seh hier weit und breit keine Jungfrau«, sagte sie sanft, »nur ganz erwachsene Frauen, die über so was reden können. Während ›die Tür‹ und ›die Treppe‹ doch eher männlich waren, oder?«

Frau Clarsen nickte. »Mein Mann. Er ist eigentlich nicht schlecht, aber wenn er was getrunken hat … Und er ist so reizbar, nichts kann ich ihm recht machen. Und der Junge, mein Michi … Gestern war er so aufgedreht nach dem Zirkusbesuch und wollte nicht ins Bett. Da hat ihn Raimund … ich bin natürlich dazwischengegangen, und Michi konnte dann auch weglaufen. Aber irgendwann – irgendwann schlägt er mich tot, und was wird dann aus dem Kleinen?«

»Frau Clarsen – Sybille, nicht? –, das können Sie nicht zulassen! Sie müssen den Kerl verlassen. Und anzeigen! Gibt es hier nicht ein Frauenhaus, wo Sie mit Ihrem Jungen hinkönnen?« Gina streichelte den Rücken der immer noch schluchzenden Frau.

»Doch. In Vierenhausen. Aber das geht nicht, da kann ich nicht hin. Wenn ich das mache, dann dreht die ganze Familie durch. Raimund soll doch den Betrieb übernehmen, die Reparaturwerkstatt von meinem Vater, die läuft ganz gut. Und die zwei verstehen sich auch erstklassig. Mein Vater …«

»Ihr Vater billigt das?«, fragte Gina ungläubig und wies auf Sybilles Gesicht.

»Na ja, nicht direkt, aber er meint, Streit gäb’s in jeder Ehe und wir müssten uns eben beide ein bisschen zusammennehmen. Aber ich nehme mich schon zusammen. Ich versuche wirklich alles, um – um lieb zu sein.« Sybille versuchte, die Tränen zu unterdrücken. »Ich komme auch gleich zur Arbeit. Ich brauchte nur gerade ein bisschen – ich dachte, ich fände hier ein bisschen Ruhe.«

Gina schluckte und reichte Frau Clarsen ein Taschentuch. »Sybille, ›lieb sein‹ gehört nicht zu Ihren Pflichten. Sie sind doch kein Zirkuspony! Und ruhig sein müssen Sie auch nicht. Im Gegenteil: Sie müssen schreien! Von selbst ändert sich so was nicht. Es wird höchstens schlimmer. Wenn Sie jetzt schon befürchten, Ihr Mann könnte Sie umbringen …«,

»Das war übertrieben …«, murmelte Sybille.

Gina verdrehte die Augen. »Sieht aber nicht so aus. Wenn der Schlag gegen die Lippe die Schläfe getroffen hätte – ich weiß ja nicht. Und Sie sind mit Sicherheit gefallen. Beim nächsten Mal könnten Sie mit dem Hinterkopf auf einer Tischkante landen.«

Sybille weinte wieder. »Aber mein Vater hat uns das Haus schon überschrieben. Und in der Werkstatt ist Raimund auch Teilhaber. Das kann ich nicht kaputtmachen.«

»Aber der Kerl kann Sie kaputtmachen?«, regte sich Gina auf. »Da würde ich lieber auf den ganzen Klumpatsch verzichten und mit meinem Kind irgendwo anders neu anfangen. Überlegen Sie sich das! Und bei der Sache mit dem Haus und der Werkstatt ist vielleicht auch noch was zu machen. Sie brauchen einen Anwalt!«

Frau Clarsen schüttelte den Kopf. »Ich brauche ein Wunder«, flüsterte sie. »Haben Sie zufällig so was wie einen Rosenkranz? Und wissen Sie, wie man ihn betet?«

Gina war einigermaßen aufgewühlt und völlig durchnässt, als sie zurück ins Büro kam. Sie trocknete ihr Haar mit einem Händehandtuch und suchte nach einem Haargummi. Dabei erzählte sie Berit von Frau Clarsen.

»Die Frau muss mal raus«, urteilte Berit. »Verreisen oder so. Damit sie ein bisschen Abstand kriegt. Mit ihrer reizenden Familie um sich rum, die ihr an allem die Schuld gibt, wird das nie was. Können wir da nicht irgendwas arrangieren? Dienstreise nach Fátima oder so, bisschen Wallfahrt, viel Meer?«

»Barhaupt wird dich für verrückt erklären. Aber mir fällt was anderes ein. Hast du noch die Telefonnummer von Chrissie, die das mit den Gewinnspielen für OLAF organisiert?«

OLAF war eine große Werbe- und Eventagentur, die sich unter anderem auf die Durchführung von Preisausschreiben spezialisiert hatte. Ihre Mitarbeiter sorgten dafür, dass rechtliche Bestimmungen eingehalten wurden, suchten nach den günstigsten Angeboten für attraktive Preise und Kombination verschiedener Werbekampagnen.

So stellten zum Beispiel Reiseanbieter oder andere Firmen Gewinne für die Preisausschreiben in Frauenzeitschriften zur Verfügung. Im Gegenzug berichtete die Zeitschrift im redaktionellen Teil über die Angebote der Firmen. Zuletzt übernahm die Agentur die gesamte Durchführung des Gewinnspiels, vom Öffnen der Post bis zur Verlosung der Preise.

Christine Hollander, eine alte Bekannte von BeGin, leitete die entsprechende Abteilung.

Als Gina anrief, meldete sich sofort ihre lebhafte, helle Stimme und begann gleich wie ein Wasserfall Auskunft zu geben.

»Was wir zurzeit an laufenden Preisausschreiben haben? Also wart mal, eine Küchenfirma: Da kannst du ’ne Luxusküche für zehntausend Mark gewinnen! Und drei oder vier Sachen mit Autos – bis zur Spitzenklasse … Nicht? … Eine Reise? Lass mal sehen: Kreuzfahrt auf dem Nil – das ist ’ne Kaufhauskette. Verbunden mit ’ner Meinungsumfrage über die Läden … Rundreise durch Japan von einem Bettenhaus in München. Nobel, nobel – wahrscheinlich hoffen sie auf Rückenschmerzen im Anschluss an zwei Wochen Futon … Dann können sie den Typen wieder ein Bett verkaufen … Aber hier, Frau im Glück – schlichtes Kreuzworträtsel, vom Schwierigkeitsgrad etwa so: Ohne Flei kein Prei – Ergänzen Sie diesen Satz! Zwei Wochen Fünf-Sterne-Hotel in Jamaika. Oh Mann, da hätt ich auch Lust drauf! Wozu willst du das eigentlich wissen?«

Gina erklärte ihr die Lage in vorsichtigen Worten.

»Legal ist das aber nicht«, bemerkte Chrissie.

Gina seufzte. »Hat auch keiner behauptet. Aber mal so ganz grundsätzlich: War das möglich? Oder nehmt ihr das ernst mit Gewinner-Ermittlung ›unter notarieller Aufsicht‹?« Gina öffnete gedankenverloren eine Packung Kartoffelchips.

»Ach Gott, unser Notar … Der kommt schon mal vorbei. Aber weißt du, wir wickeln zehn, zwanzig Gewinnspiele in der Woche ab. Da ist der nicht jedes Mal dabei, wenn wir ziehen. Ich tu die Briefe auch nicht immer in ’ne Trommel oder so, nur wenn der Kunde da Fotos wünscht oder selber ziehen will. Meistens nehm ich einfach drei Karten von dem Stapel, guck drauf, ob’s richtig gelöst ist, und das war’s dann. Du wirst im Übrigen nicht glauben, wie viele Fehler selbst noch bei der Ergänzung von Sätzen wie ›Mehr Grips durch FinoChips‹ gemacht werden!«

»Sei vorsichtig, in Sachen Glauben bin ich neuerdings eine Art Sachverständige.« Gina lachte. »Also sag schon: Kannst du was machen? Es wäre ein gutes Werk. Eine Art ›Wunder‹. Du hast dann auch was gut bei mir!«

»Einen doppelt gesegneten Rosenkranz?« Chrissie kicherte. »Wir sind alle umgefallen, als wir von eurem neuen Job da unten in Dunkeldeutschland gehört haben. Du musst mir irgendwann erzählen, was dahinter steckt.«

Eine Stunde später fand Sybille Clarsen ein Exemplar der Zeitschrift Frau im Glück auf ihrem Schreibtisch. Gina hatte das Kreuzworträtsel bereits halb gelöst. Zum Lösungswort fehlte nur noch ein Buchstabe.

»Jetzt koche ich uns erst mal einen Kaffee«, erklärte Gina.

»Nein, nein, nicht gleich den Computer anwerfen. Entspannen Sie sich! Ach, gucken Sie doch mal, ob Sie das Kreuzworträtsel gelöst bekommen.«

Sybille Clarsen rutschte unsicher auf ihrem Bürostuhl herum, während Gina Kaffee kochte. Untätigkeit lag ihr nicht. Schließlich griff sie nach der Zeitschrift.

»Ungebunden? – Frei!«, konstatierte Sybille und trug ihre Lösung erfreut in die Kästchen. »Gebogen? – Fünf Buchstaben. Hm. Krumm! Und Hauptstadt der Vereinigten Staaten? Das ist New York, nicht? Nein, das passt nicht, mit W. Wash… Washington! Ist fertig, Frau Landruh. Das Lösungswort heißt ›Wunderkind‹. Wollen Sie es ausfüllen und abschicken?« Sybille griff eifrig nach einer Schere, um den Coupon auszuschneiden.

»Nein, lassen Sie mal, ich darf nicht«, log Gina. »Weil ich doch Medienreferentin bin. Wenn man gewerblich mit solchen Sachen wie Werbung und Journalismus zu tun hat, darf man da nicht mitmachen.«

»So?«, fragte Sybille jetzt fast lebhaft. »Das ist ja mal schade. Es gibt sagenhafte Preise. Eine Reise – und eine Einbauküche! Das wär’s doch. Meine alte Küche …«

Gina verdrehte die Augen.

»Warum schicken Sie es nicht ein, Frau Clarsen?«, gab Berit Hilfestellung. »Für Sekretärinnen gilt das nicht. Und wer weiß, vielleicht haben Sie ja mal Glück.«

»Tja, wenn ich darf …« Sybille griff nach einer Postkarte und Kleber.

Gina stellte ihr den Kaffee auf den Tisch und machte zu Berit das Sieg-Zeichen. Sybille Clarsen war auf dem besten Weg zu ihrem Wunder.