Die Sache mit der Nase
Hier, Ruben, ist das nichts für dich?« Herbert Klein, leitender Redakteur des Wochenmagazins Lupe, warf seinem Mitarbeiter Ruben Lennart einen Zeitungsausschnitt auf den Schreibtisch.
»Marienerscheinung in Grauenfels – Witz oder Wunder?« Ruben überflog die Schlagzeile.
»Wieso für mich?«, erkundigte er sich unwillig. »Ist für Seligsprechungen nicht der Papst zuständig?«
»Der betreibt das zu inflationär«, gab Klein zurück. »Aber im Ernst, das Ganze läuft in Thüringen, da willst du doch sowieso hin. Und seit deiner Artikelserie über UFO-Sichtungen bist du hier der Experte für himmlische Phänomene.«
Ruben zog die Stirn kraus und hob eine seiner buschigen Augenbrauen wie weiland Mister Spock. »Ich sammele heute noch Drohbriefe von beleidigten Ufologen. Kann ich gut drauf verzichten. Und meine neue Serie handelt vom Lebensgefühl in den neuen Bundesländern, wie du dich erinnerst. Wenn ich was über Mariengläubigkeit machen will, geh ich nach Lourdes. Die haben auch besseres Wetter.« Ruben warf einen Blick durchs Fenster in den Hamburger Nieselregen und legte das Blatt unwillig beiseite.
»Warum in die Ferne schweifen?«, bemerkte sein Kollege Hans Werther vom Schreibtisch nebenan. »Nix Südfrankreich oder Ex-Jugoslawien, Spesenabrechnungen aus Thüringen! Die Madonna erscheint heute kostensparend gleich vor der Haustür. Und wenn das nichts über das Lebensgefühl in den neuen Bundesländern aussagt, wenn sich da plötzlich der Himmel öffnet, dann weiß ich auch nicht.«
»Ich kann’s mir ja mal anschauen.« Ruben seufzte und griff erneut nach dem Zeitungsausschnitt. Zu seiner Überraschung erwies er sich als recht kurzweilig abgefasst:
Wenn es nach dem Tatenbecker Pfarrer Runold Herberger und seinem Bischof Ferdinand Hinz ginge, dann erschiene die Jungfrau Maria nur braven katholischen Mädchen – am besten weit weg in abgelegenen Bergregionen, wo Kinder noch Schafe hüten, statt im Internet zu surfen. Stattdessen vermeldet man die neueste Marienerscheinung jedoch aus der Kleinstadt Grauenfels, im hintersten Thüringen auch nicht gerade zentral gelegen, aber doch immerhin mit Internetanschluss und garantiert Schaf-frei – die LPG, vormals einer der größten Arbeitgeber der Region, wurde kurz nach der Wende geschlossen. Betroffen sind die Lehrertochter Claudia M. und ihre Klassenkameradin Sophie B., die mit ihrer berühmten Vorgängerin aus Fátima lediglich den Vornamen gemeinsam hat. Das ganz und gar weltlich gesinnte Mädchen träumt von einer Ballettkarriere, schwärmt für die Murphy Family und sammelt Teddybären. Auch Sophies Bruder, Bernhard B., ein niedliches Kind mit Strubbelhaaren und unwiderstehlichem Sprachfehler, will die »Dame« gesehen haben, gibt ihre Verlautbarungen allerdings nur unvollständig wieder. Dafür sorgt er für eine possierliche Note – schon jetzt wird der »Kleine Engel« mit Geschenken und Briefen von Anhängern überschwemmt.
Nach Auskunft der Kinder ereilte die Erscheinung sie erstmals bei einer Schnitzeljagd – passenderweise organisiert von der evangelischen Jugendseelsorge. Dabei offenbarte die »Dame« nichts wesentlich Neues – die Schilderungen der drei Seherkinder glichen denen ihrer Vorgänger fast aufs Haar. Das ist umso erstaunlicher, da keines der drei Kinder katholisch erzogen wurde – Claudias Eltern gehören der evangelischen Konfession an, Sophie erhielt überhaupt keine religiöse Unterweisung.
Dies jedoch sei unerheblich. »Informationen über frühere Marienerscheinungen sind jedermann zugänglich«, urteilt Weihbischof Ferdinand Hinz. »Unzweifelhaft weisen diese Mädchen irgendwelche psychischen Störungen auf, die zu Halluzinationen führen – oder sie treiben gar ihren Spott mit unbedarften Gläubigen. Bis jetzt ist an eine Anerkennung oder auch nur Prüfung der Phänomene in keiner Weise gedacht.«
Sollten sich die Ereignisse in Grauenfels allerdings weiterhin derart überschlagen wie in den letzten Wochen, wird der Kirchenmann um eine nähere Beschäftigung damit nicht herumkommen. Schon bei der zweiten Erscheinung – die »Dame« stellt sich pünktlich an jedem zweiten Wochenende ein, um zum Beten und In-sich-gehen aufzufordern – kam es angeblich zu einer ersten Wunderheilung. Bei der dritten legten die Kinder eine Quelle frei, aus der es inzwischen munter sprudelt. Um das angeblich wundertätige Wasser abzuzapfen, stehen Gläubige auch an Wochentagen bis zu zwei Stunden Schlange.
»Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass dieses Wasser irgendwelche heilenden Eigenschaften hat«, erklärt Doktor Klaus Dieter Hoffmann, ansässiger Arzt in Grauenfels.
»Die bisherigen Heilungen lassen sich durchweg auch auf natürliche Art erklären.«
Keine natürliche Erklärung liefert Hoffmann allerdings für die Erscheinungen der Mädchen. »Claudia und Sophie sind sicher nicht geistesgestört, sondern intelligente, sehr sympathische Kinder. Bernie ist ein wenig zurückgeblieben, neigte bislang allerdings ebenfalls nicht zu Absenzen. Epilepsie oder andere, den Geisteszustand beeinflussende Krankheiten würde ich bislang nicht vermuten, ebenso wenig wie Drogensucht. Aber natürlich stehen ausführliche Untersuchungen noch aus.«
Nach Angaben aus dem Bürgermeisteramt, wo man dem plötzlichen Andrang auf Grauenfels eher verblüfft als negativ gegenübersteht, liegen für die entsprechenden Tests sowohl die Zustimmung der Mädchen als auch die Einwilligung ihrer Eltern vor.
»Vielleicht hört das dann endlich auf …«, hofft Claudias Vater.
Die nächste Erscheinung der »Dame« ist für den 20. April angekündigt.
»Also, erstens fahre ich erst am Zweiundzwanzigsten in die neuen Länder. Und zweitens ist am Zwanzigsten der Jahrestag von Hitlers Geburtstag«, brummte Ruben. »Da bin ich eher Glatzen und sonstigem braunen Pack auf der Spur und nicht himmlischen Jungfrauen.« Schon der Gedanke an Glatzen ließ ihn durch sein etwas schütteres braunes Haar fahren. Ruben war ständig besorgt, die letzten Fusseln könnten ihm auch noch ausgehen.
»War ja nur so ’ne Idee«, meinte Klein. »Behalt’s einfach im Auge, vielleicht legt Mylady den Termin ja noch um. Oder du wirfst einfach so einen Blick auf das Theater, wenn du in der Gegend bist. Ein Interview mit der Jungfrau dürfte sowieso nicht drin sein.«
Ruben Lennart hatte die Angelegenheit fast schon vergessen, als er am Abend von der Redaktion nach Hause schlenderte. Wie immer kam er an einem Reisebüro vorbei und warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Plakate mit Palmenstränden und Last-Minute-Angeboten im Fenster.
Auch das Gespräch mit Klein fiel ihm wieder ein. Lourdes, Fátima und Medjugorge hörten sich angesichts des aktuellen Nieselwetters gar nicht mal so schlecht an. Klang eigentlich alles so, als könnte man den Besuch mit einem Badeurlaub verbinden. Ruben überflog die Sonderangebote – und blieb unversehens an der Erwähnung des Ortes Grauenfels hängen.
»Tages-Busreise zur Marienerscheinung in Grauenfels, Thüringen, komfortabler Reisebus mit Toilette und Klimaanlage, Mittagessen im Dorfgasthof inklusive, Abfahrtszeit 6 Uhr morgens, DM 150,00.«
Rubens Interesse war geweckt. Mit wehmütigem Blick auf den Palmenstrand betrat er den Laden.
»Einmal Grauenfels hin und zurück«, orderte er. Mit dem braunen Pack sollte sich Hans Werther erst mal allein herumschlagen.
*
Es war kalt und regnerisch, als sich die Pilger in aller Herrgottsfrühe auf dem Busparkplatz des Reisebüros trafen. Zu Rubens Überraschung waren es viele, der große Reisebus durfte annähernd ausgebucht sein. Das Durchschnittsalter der Reisenden lag dabei sicher jenseits der sechzig. Einige Ehepaare belebten die Szene, ansonsten reisten zahlreiche Damen ohne männliche Begleitung. Ruben als einziger allein reisender Mann wurde interessiert bis misstrauisch beäugt. An jüngeren Reisenden gab es zwei Nonnen, deren genaues Alter jedoch nicht zu bestimmen war, und zwei Frauen, die aufgeregt tuschelten. Ruben nahm sich vor, die beiden auf der Reise ausgiebig zu befragen, und suchte sich einen Sitzplatz in ihrer Nähe. Bei seiner Sitznachbarin, einer älteren Dame, brauchte es jedenfalls keine komplizierten Interviewtechniken, um das Eis zu brechen. Noch bevor sie die Autobahn erreichten, hatte sie ihm ihre halbe Lebensgeschichte erzählt und war dann zur Schilderung ihrer diversen Erlebnisse auf den Spuren der Heiligen Muttergottes übergegangen.
»Ich war schon überall, wissen Sie! In Lourdes und Fátima, Medjugorge und letztlich in Marpingen, natürlich. Und das war auch sehr schön, ich weiß gar nicht, warum der Bischof das so gar nicht anerkennen will. Die drei Seherinnen … sehr, sehr sympathisch, auch wenn das mit den Kindern … es ist schon in gewisser Weise erhebender, wenn sich die Jungfrau diesen unschuldigen Geschöpfen offenbart, finden Sie nicht?«
»Und warum unternehmen Sie diese Reisen?«, erkundigte sich Ruben. »Entschuldigen Sie, wenn ich indiskret bin, aber Sie sehen sehr gesund aus. Also nehme ich an, Sie suchen nicht in erster Linie Heilung von einer Krankheit …«
»Ach Gott, was heißt gesund …« Die Frau seufzte. »Man hat schon hier und da seine Zipperlein, ich bin ja auch nicht mehr die Jüngste. Aber ich will nicht klagen. Was man auf diesen Pilgerreisen so an Leid zu sehen kriegt. In Lourdes zum Beispiel habe ich das Zimmer mit einer Dame geteilt, die …«
Nach einer Stunde angeregter Unterhaltung mit der erfahrenen Marientouristin hatte Ruben den Eindruck gewonnen, sie beziehe ihren Lustgewinn hauptsächlich aus der Beobachtung der Krankheitsgeschichten anderer Leute. Echten Heilungen hatte sie dabei leider noch nicht beigewohnt.
»Aber besser wird es fast immer! Sogar mein Rheuma! Nach zwei Wochen in Lourdes war es wie weggeblasen.«
Ruben bezweifelte das nicht. Nach einem Sommer in Hamburg dürfte sich ein zweiwöchiger Aufenthalt im Mittelmeerklima auch auf atheistische Rheumatiker positiv auswirken.
Schließlich gönnte sich die rührige Pilgerin dann endlich ein Nickerchen, und Ruben hatte Zeit, sich den jungen Frauen auf der anderen Seite des Ganges zu widmen. Auch die zwei wirkten nicht krank. Besonders die eine nicht, ein Dickerchen von rosigem Aussehen mit blitzenden, in Fettgebirgen versinkenden Schweinsäuglein schaute eher lüstern zu Ruben herüber. Bereitwillig gab sie Auskunft, dass dies ihre erste ›Marienreise‹ sei.
»Meine Freundin hier, die war auch in Marpingen. Aber ich versuch’s jetzt zum ersten Mal.«
»Was versuchen Sie denn?«, erkundigte sich Ruben. »Ich meine, haben Sie bestimmte Wünsche, äh, Bitten, die Sie an die Jungfrau richten wollen?«
Die beiden Frauen kicherten.
»Sieht fast aus, als ob du schon auf dem besten Wege bist«, neckte die Freundin, eine hübsche Brünette, deren Nase allerdings gut Vorlage für ein Pinocchio-Bilderbuch geben konnte, das Dickerchen. »Gib’s schon zu, na los, vielleicht geht es ihm ja genauso.«
»Nein, sag du zuerst!«, forderte Miss Piggy auf.
»Nein, nein, das ist zu peinlich … Mach du!«
»Also ich …« Miss Piggy prustete los, rettete sich dann aber in einen verführerischen Augenaufschlag. »Also ich suche einen Mann.«
»W …«, Ruben schluckte. »Aber warum fahren Sie dazu zu einer Marienerscheinung? Wäre nicht eine einfache Partnervermittlung –?«
»Ach, das habe ich alles schon durch.« Miss Piggy seufzte. »Nur so richtig hat sich da nichts ergeben. Aber dann hatte ich ein ganz seltsames Erlebnis. Wirklich. Ich war im Zug von Mailand nach München, und im selben Abteil saß so ein Mönch. Oder Pfarrer, oder was weiß ich. Aus Rumänien. Es war sehr lustig, weil … es war ein Liegewagen, und er war zuerst ganz entsetzt, als er ihn mit Frauen teilen sollte. Aber dann haben wir uns doch sehr nett unterhalten, und zum Schluss hat er gesagt, ich müsste zur Muttergottes beten. Dann kriegte ich einen guten Mann. Und einen Rosenkranz hat er mir auch noch geschenkt.« Sie nestelte ein billiges Kettchen aus ihrer Handtasche. »Na ja, und dann habe ich halt gedacht: Warum nicht? Hundertfünfzig Mark sind ja nicht die Welt. Dafür kriege ich gerade mal ein Date über die Partnervermittlung.«
Ruben atmete tief durch und versuchte, an die langweiligste Politikerrede der letzten Bundestagsdebatte zu denken. Er durfte jetzt auf keinen Fall lachen, wer weiß, was die andere zu bieten hatte. Immerhin brauchte sie keine Aufforderung. Das erledigte schon ihre Freundin.
»Jetzt du, Elfi. Los, ich hab’s auch erzählt.«
»Na ja …« Die Brünette wand sich sichtlich, wobei sich ihr vorwitziges Riechorgan dunkelrot verfärbte. »Also ich wünsche mir eine neue Nase.«
»Sie wünschen sich was?«, fragte Ruben, zu verblüfft, um in Lachkrämpfe zu verfallen. »Sie glauben wirklich, da in Grauenfels würde jetzt die Jungfrau erscheinen, und dann würde ihre Nase … sozusagen mit einem Plopp … Wie möchten Sie sie denn überhaupt, größer oder kleiner?«
»Nach der heuchlerischen Frage müsste Ihre eigentlich drei Meter wachsen!«, tadelte Elfi. »Das war sicher charmant gemeint, aber so dreist lügen müssen Sie auch nicht. Wenn der Zinken noch größer würde, käme ich ins Guinness-Buch der Rekorde.«
»Entschuldigen Sie«, meinte Ruben. »Aber so was regelt man doch heute operativ. Da braucht es keine Wunder mehr!«
Elfi schnaubte. »Wenn Sie Friseurin wären und zwei kleine Kinder zu ernähren hätten, die Ihnen ein Kerl angehängt hat, der in Sachen Nasen sehr gut lügen konnte, dann würden Sie das anders sehen mit dem Wunder!«, brach es aus ihr heraus. »Ich kann mir die OP nicht leisten. Und die Krankenkasse zahlt das nicht, die übernehmen so was nur, wenn mit dem Zinken irgendwas nicht in Ordnung ist. Da kann ich allerdings nicht klagen. Funktionieren tut das Ding. Ich rieche sozusagen das Gras wachsen!«
Ruben war froh, nun einen guten Anlass zum Lachen zu haben. Erleichtert führte er aus: »Sie beten dann also eher um einen Lottogewinn als um eine neue Nase.«
Elfi nickte. »Oder sonst irgendwas. Ein Wunder eben. Und die Madonna … sie ist schließlich auch eine Frau. Und meinen Sie, die wäre sozusagen gebenedeit worden, oder wie man das sagt, mit einer Nase wie der hier?«
Die beiden Nonnen in der Reihe vor den Frauen mussten Teile der Unterhaltung mitgehört haben. Ruben hörte, wie sie verhalten lachten und dann miteinander tuschelten. Immerhin schienen sie Elfis Sorgen nicht als blasphemisch zu empfinden.
Da der Platz vor Ruben frei geblieben war, lächelte er den beiden jungen Frauen schließlich zu und setzte sich für eine Weile neben die Nonnen. »Wie kommt’s, dass sich zwei Kirchenvertreterinnen in einen Bus mit uns schlichten Pilgern verirren?«, fragte er munter. »Ich dachte, Grauenfels sei als Marienwallfahrtsort noch gar nicht anerkannt. Ihr Bischof …«
»Wir sind privat unterwegs«, meinte die Jüngere der Schwestern und warf Ruben einen prüfenden Blick zu. Sie hatte wache, grünbraune Augen in einem sommersprossengesprenkelten, schmalen Gesicht. »Also schreiben Sie besser nichts über uns in Ihrem Artikel.«
Ruben war verblüfft. »Wer sagt Ihnen, dass ich einen Artikel schreibe?«
»Ihnen sieht man den Reporter an der Nase an!«, behauptete die Nonne. »Sie sind viel zu neugierig für einen ›schlichten Pilger‹. Und Sie passen auch so gar nicht ins Bild. Wenn Sie nicht von der Presse sind, kommt höchstens noch ›Undercoveragent der heiligen Inquisition‹ infrage …«
Die andere Nonne lachte. »Feli, du liest zu viel ›Pater Brown‹! Sie müssen meine Mitschwester entschuldigen.«
Ruben wehrte ab. »Wieso denn, sie hat ja ganz Recht. Ich gestehe hiermit meine Mitarbeit bei der Lupe, leugne allerdings jede Verwicklung in freimaurerische oder sonstige Geheimorganisationen, Ob ich über die Angelegenheit ›Grauenfels‹ schreiben werde, weiß ich bis jetzt noch nicht. Ich bin nur neugierig geworden, als ich las, wie schnell so ein Ort zum Wallfahrtsort avanciert, wenn auch nur zum inoffiziellen, und wie eine solche Busfahrt mit Marienerscheinung wohl abläuft. Vielleicht gibt es eine Reportage über Marientourismus, vielleicht über die Seherinnen. Vielleicht lasse ich das Thema aber auch ganz fallen, wenn es sich als Windei entpuppt. Ich kann’s bis jetzt noch nicht sagen. Aber nun stillen Sie auch meine Neugier: Was treibt Sie nach Grauenfels?«
»Also mich interessiert es vor allem unter soziologischen Gesichtspunkten«, meinte die ältere der Schwestern. Sie hatte ein langes, starkknochiges Gesicht und kluge blaue Augen. »›Die Rolle der Frau in der Religion als Objekt der Anbetung und als Gläubige‹ war mein Forschungsthema an der Uni, ich habe über ›Muttergottheiten als Vorläufer der christlichen Marienverehrung‹ promoviert. Insofern habe ich mich angeschlossen, als Feli diese Reise plante.«
Ruben war schon wieder geplättet. Eine Nonne mit Doktortitel hätte er nicht erwartet. Bisher hatte er die schwarz gewandeten Damen eher unter dem Stichwort ›schlichte Naturen‹ eingeordnet.
»Und was hat Sie motiviert?«, fragte er die Jüngere.
»Oh, ich will wissen, ob was dran ist!«, platzte Maria Felicitas heraus. »Ich möchte das mal mit eigenen Augen sehen, diese angeblichen Erscheinungen, diese Kinder, das ganze Drum und Dran. Und dann für mich selbst entscheiden, ob ich’s glaube.« Die Augen der Nonne glänzten unternehmungslustig.
»Wie gesagt, sie liest zu viele Kriminalromane«, seufzte die Ältere. »Unser Kloster ist ihr entschieden zu ruhig. Sie träumt von einer Abtei wie im Namen der Rose.«
Maria Felicitas kicherte. »Also das denn doch nicht. Aber mal so ein bisschen Abwechslung … jedenfalls ist dies unser freies Wochenende. Und die Mutter Oberin hat es schließlich nicht direkt verboten. Ich bin gespannt, was uns erwartet. Werden Sie mir nachher sagen, wie Sie es fanden?«
Ruben nickte. »Und wenn ich das große Geheimnis lüfte, sind Sie die Ersten, die es erfahren!«, versprach er lächelnd.
Auf dem Weg zur Toilette kam Ruhen dann kurz ins Gespräch mit einem Ehepaar. Die Frau, ein energisches Geschöpf in den Fünfzigern, hatte ihren Mann zu der Reise überredet, weil er anhaltende Venenprobleme hatte.
»Immer starker Raucher gewesen … tja … und jetzt wollen sie das operieren. Raucherbein, wissen Sie. Aber mein Hansemann will das partout nicht. Und da hab ich ihm gesagt … dann fahren wir wenigstens nach Lourdes, hab ich ihm gesagt. Aber er will nicht. Ist ihm zu teuer. Deshalb versuchen wir es jetzt erst mal in Grauenfels. Aber ich sag dir gleich, Hansemann, wenn das nichts bringt …«
Später quetschte sich Ruben neben eine andere ältere Frau, die hingebungsvoll in einem Büchlein blätterte. »Die Geheimnisse von Fátima«. Die Dame hatte eine Sitzbank für sich allein, da ihre Körperfülle kaum Platz für einen weiteren Reisenden ließ. Ruben fragte sich, ob sie für die zwei Sitzplätze hatte bezahlen müssen oder ob es einfach Glück war, dass überhaupt noch Plätze frei waren. In dieser Gesellschaft wäre es höchstens ihm, Elfi oder Schwester Maria Felicitas möglich gewesen, das Gesäß halbwegs vollständig neben der Dame niederzulassen. Verglichen mit ihr, erschien selbst Miss Piggy schlank wie eine Elfe. Immerhin war die Dame kommunikativ. Die unvermutete Gesellschaft ließ sie das Traktat gleich beiseite legen.
Ohne Luft zu holen, erzählte sie Ruben ihre Krankengeschichte. »Wissen Sie, ich bin behindert. Schon mit einem dünneren Bein geboren, und dann musste ich immer Schienen tragen, mein ganzes Leben lang. In den letzten Jahren wurde es dann immer schlimmer und schlimmer, jetzt kann ich kaum noch gehen …«
Ruben wunderte das nicht. Auch ein gesunder Mensch hätte seine Probleme gehabt, diese Fettmassen mit sich herumzuschleppen.
»Ich sollte natürlich auch abnehmen …«, fügte die Frau hinzu, als sie seinen prüfenden Blick bemerkte. »Aber das ist so schwer, wenn man sich nicht bewegen kann. Meine Nichte sagt immer, ich soll Bodybuilding machen. Können Sie sich das vorstellen? Dieses herzlose Kind! Mein Sohn ist da ganz anders, der war sogar mit mir in Fátima. Das war sehr, sehr erhebend. Aber auch anstrengend. Und dann dieses Land … Also wie die reden, da kann keiner Deutsch. Und das Essen, nein, das war nichts für mich. Da bin ich dann hinterher lieber nach Marpingen. Und jetzt eben Grauenfels. Die ›Regenbogenmadonna‹ … das muss schon sehr erhebend gewesen sein, diese Erscheinung unter dem Regenbogen, unsere Kirchenzeitung hat ausführlich darüber berichtet. Ich habe immer noch Hoffnung, wissen Sie, immer noch Hoffnung … Mein Sohn sagt immer, mit deinem Optimismus, Mama …«
Ruben suchte einen guten Grund, sich zu verabschieden. Für die Heilung der Dame sah er ziemlich schwarz – allerdings würde Grauenfels eine Goldgrube werden, falls das erhoffte Wunder doch in Erfüllung ging: eine Wunderquelle, die Gewichtsreduktion versprach – die Stadt hätte ausgesorgt. Überhaupt förderte so eine Marienerscheinung unzweifelhaft den Tourismus. Ruben lachte in sich hinein. Manchmal musste er wirklich aufpassen, dass seine Fantasie nicht mit ihm durchging.
Der Bus erreichte Grauenfels gegen elf Uhr und wurde von einem mürrisch blickenden Jungen in Jeans und Turnschuhen auf einen Parkplatz gewiesen. Der Knabe trug die Haare stoppelkurz, Ruben hätte ihn fast für eine Glatze gehalten, wenn die sonst eher konventionelle Bekleidung nicht gewesen wäre.
»Macht vier Mark!«, forderte der Junge. Der Busfahrer zahlte ohne Widerrede. Wahrscheinlich war er froh, überhaupt noch einen Parkplatz zu finden. Spezielle Busparkplätze waren anscheinend noch nicht ausgewiesen.
»Sie können sich jetzt noch ein bisschen die Beine vertreten, und um zwölf Uhr wird dann ein Mittagessen im Adler serviert«, instruierte der Busfahrer die Pilger, die jetzt rasch aus dem Bus strömten. »Das Lokal liegt hier gleich um die Ecke, können Sie gar nicht verfehlen. Sie können sich beim Essen auch Zeit lassen, vor zwei Uhr läuft nichts in dem Wald, die Jungfrau kommt meistens so gegen drei, halb vier. Vorher sind die Mädchen auch noch gar nicht oben, also machen Sie halblang. Wir treffen uns hier dann wieder gegen sechs. Abfahrt halb sieben. Alles klar?«
Die Pilger nickten. Ruben schloss sich Elfi und Piggy an – und erfuhr dabei auch deren richtigen Namen, Annika.
Auf den Straßen von Grauenfels herrschte für einen Sonntag ungewöhnlicher Betrieb. Es gab Bücherstände, organisiert von verschiedenen christlichen Organisationen, und sogar ein Info-Zelt über UFO-Sichtungen. Eine junge Frau mit halblangem blondem Haar und hellgrünen Augen, anscheinend eine Vertreterin der Stadtverwaltung, sprach in tadelndem Ton auf die Betreiber ein. Anscheinend fand sie den Aufbau unpassend.
Ein Stand nebenan verkaufte Devotionalien – Rosenkränze, Heiligenbildchen, winzige Marienstatuen in aufklappbaren Minikapellen und gerahmte Marienbilder. Ruben fragte sich, woher der Händler sein mochte. Die neuen Bundesländer hatten sicher nicht viele Geschäfte dieser Art aufzuweisen. Eine Frage an den gähnenden Verkäufer klärte die Angelegenheit.
»Ich komm von Paderborn. Hab das hier gehört, und da dachte ich, man kann’s ja versuchen. Vielleicht lohnt sich die Sache. Und bislang ist der Umsatz nicht ohne. Wenn sich da nachher wirklich was tut, in dem Wald, mach ich hier das Geschäft des Jahres.«
Ruben zog innerlich den Hut vor so viel Geschäftstüchtigkeit. Elfi kaufte einen Rosenkranz.
»Vielleicht segnet sie den ja. Also die Muttergottes, meine ich. In Marpingen hat sie Rosenkränze gesegnet. Da hab ich mich geärgert, dass ich keinen hatte«, erklärte sie.
Ruben vermerkte im Stillen für seinen Artikel, dass Rosenkranzsegnungen bei Marienerscheinungen offensichtlich den gleichen Stellenwert hatten wie Autogrammstunden bei Popkonzerten.
Ein paar Meter weiter sang eine christliche Jugendgruppe zur Gitarre, daneben verwies ein Schild auf einen Biergarten im Innenhof des Hauses. Ein paar Schritte weiter hielten Jugendliche leere Flaschen und Kanister feil.
»Wenn Sie Wasser mitnehmen wollen«, meinte einer von ihnen hoffnungsvoll. Auch seine Haare waren verdächtig kurz, und unter dem T-Shirt war eine Tätowierung erkennbar. Ruben meinte, den Schriftzug »Böhse Onkelz« identifizieren zu können, war sich aber nicht sicher.
Formschönere Gefäße, die allerdings weniger dicht wirkten, verkauften ein paar Mädchen nahe der Gaststätte. Die Krüge mit wenig vertrauenerweckenden Korkverschlüssen schienen selbst getöpfert.
»Der Erlös kommt unserer Mädcheninitiative zugute!«, erläuterte die junge Verkäuferin, ein niedlicher Punk mit Nasenstecker und Tattoo auf dem Oberarm. Das Mädchen hatte sein hennarotes Haar mit Gel zu einem vogelnestartigen Aufbau hochgestylt. »Wir üben Umgang mit Technik und machen Kurse zur Selbstverteidigung. Außerdem natürlich Gesprächskreise zu allen möglichen Frauenthemen …«
Auf die Pilger schien das nicht viel Eindruck zu machen. Die meisten warfen nur einen Blick auf das Mädchen und gingen dann schnell weiter. Dafür lächelte ihr die junge Frau zu, die Ruben eben schon am UFO-Stand aufgefallen war. Mit prüfendem Blick begutachtete die große, sportlich gekleidete Blondine den Stand und wandte sich dann an das Mädchen, anscheinend mit Auflagen oder Anweisungen. Ruben folgte Elfi und Annika in den Gasthof. Es war brechend voll, der Biergarten ein paar Meter weiter hätte sicher die angenehmere Atmosphäre geboten. Elfi und Annika mochten aber nicht auf das kostenlose Essen verzichten. Insofern verspeisten die drei ein drittklassiges Zigeunerschnitzel mit fettigen Pommes frites. Den anschließenden klumpigen Pudding schob Elfi zu Annika hinüber, die ihn dankend verschlang.
Auch die blonde junge Frau ließ sich kurz im Adler sehen, verzog sich aber gleich wieder, als ihr der Lärm und die bierdunstgeschwängerte Luft entgegenwaberten.
Als Ruben schließlich gemeinsam mit den anderen Pilgern aus der Wirtschaft kam und an anderen Bier- und Cafégärten vorbeischlenderte, erhaschte er einen Blick auf sie in einem der Innenhöfe. Sie teilte den Tisch mit einer dunkelhaarigen jungen Frau und zwei Männern. Die vier schienen Informationen auszutauschen. Ruben merkte sich den Cafégarten für später. Wenn sich die Organisationsleitung hier traf, musste das Restaurant empfehlenswert sein.
Auf dem Pilgerpfad in den Wald hinauf herrschte reger Betrieb. Ein paar Jugendliche hielten Rollstühle für gehbehinderte Besucher bereit oder boten ihre Hilfe beim Aufstieg an. Die Gesänge der Gläubigen, in der Stadt nur verhalten zu hören, wurden jetzt immer durchdringender. Annika fiel mit überraschend schöner Stimme in ein Marienlied ein.
»Ich hab als Kind im Kirchenchor gesungen!«, erklärte sie später vergnügt. »Sogar solo. Ich hab immer davon geträumt, mal zur Oper zu gehen.«
Die entsprechende Figur hatte sie, dachte Ruben respektlos. Für ihre Körperfülle bewegte sich Annika allerdings recht behände. Sie stieg ohne größere Atemnot den Waldpfad hinauf und erreichte die ›Wunderquelle‹ noch vor ihrer Freundin und Ruben. Mit einem raschen Schluck Wasser zur Erfrischung sah es allerdings schlecht aus. Die Quelle wurde von mehreren freundlichen, aber bestimmt auftretenden Polizisten bewacht, die den Verkehr gelassen regelten. Die Schlange vor der Wasserstelle war endlos. Immerhin war die Zapfstelle nicht mehr mit dem brackigen Loch vergleichbar, das die Zeitungsfotos von der letzten Erscheinung gezeigt hatten. Es gab eine ordentliche Verrohrung, ein gemauertes Becken und einen Wasserhahn. Der reichte allerdings nicht. Wer immer da die Installation gemacht hatte, war zu sparsam gewesen. Ein einziger Wasserhahn konnte die Bedürfnisse der Menge nicht stillen.
»Niemand mehr als drei Liter!«, instruierte der Polizist an der Quelle die Pilger, die, meist nach einem flüchtigen Kreuzzeichen, oft aber auch schnell und geschäftsmäßig, ihre Kanister unter den Hahn hielten. »Seien Sie fair, die Leute nach Ihnen möchten auch an die Reihe kommen.«
Zwischen Wasserstelle und Krankenwagen war ein Platz mit rotweißem Flatterband abgesteckt.
»Der Erscheinungsort«, raunte jemand ehrfürchtig. »Da haben die Mädchen sie gesehen. Auf die Dauer werden sie da sicher eine Kirche bauen.«
Bei dem hiesigen Durchschnittswetter war das sicher eine gute Idee, dachte Ruben. Der Waldboden erwies sich noch schlüpfrig nach dem letzten Regen, und Pilger mit wenig angepasstem Schuhwerk strauchelten en masse. Aber immerhin sehnte man sich heute nicht nach einem Unterstand. Das Wetter meinte es auch diesmal gut mit Grauenfels, die Sonne stand seit Stunden strahlend am Himmel. Viele ältere Pilger litten denn auch unter Atemnot nach dem langen Aufstieg in der Wärme. Die Belegschaft der drei Malteser-Einsatzwagen hatte gut zu tun.
Bei all dem Wirrwarr wäre Ruben der Auftritt der Seherkinder beinahe entgangen. Erst als ein erwartungsvolles Raunen durch die Menge ging, registrierte der Reporter ein blondes Mädchen im geblümten Sommerkleid und ein dunkelhaariges in grünen Samthosen. Beide Mädchen hielten den Blick gesenkt – allerdings linste die Blonde mitunter neugierig unter den gesenkten Lidern hervor. Die Dunkelhaarige schien dagegen ganz in sich versunken. Eine kleine Schönheit, registrierte Ruben. Beim Casting eines Doubles für Bernadette Soubirous wäre die Wahl der Jury sicher auf sie gefallen. Der kleine Junge an ihrer Hand hielt dagegen nicht viel von Andacht, sondern winkte seinen Anhängern ganz ungeniert zu. Ein paar Pilger hielten ihm Heiligenbildchen, kleine Bücher und sogar Stofftiere entgegen. Das Ganze erinnerte an den Auftritt eines Kinderstars. Die Eltern der Geschwister – Rubens geübter Blick registrierte sofort die Ähnlichkeit zwischen dem kleinen Bernie und seinem langaufgeschossenen, aber ebenfalls strubbelhaarigen Vater – standen sichtlich peinlich berührt neben einem bärtigen jungen Mann des Typs Jesusdarsteller. Die Eltern des blonden Mädchens konnte Ruben nicht ausmachen. Die Menschen drängten zu den Kindern hin. Auch Ruben kam dem Spektakel immer näher. Wenig später nahmen die Ereignisse um die Kinder ihn ganz gefangen.
*
Claudia ging langsam zur Quelle und wusch ihre Hände in dem Wasser. Sophie kniete inmitten des Erscheinungsplatzes und hielt ihren Bruder mit sanfter Gewalt bei sich. Sie zeigte ihm etwas in einem der Bücher, die er gerade geschenkt bekommen hatte, woraufhin er strahlend lächelte.
»Ssoll ich auch mal ssingen?«, fragte der Kleine. Stillsitzen fand er offensichtlich langweilig.
»Nein jetzt – oh, das Licht! Es ist – Sie ist –« Sophie starrte auf in die Luft und versank in Trance.
»Aber wir haben wirklich gebetet!«, beteuerte Claudia, den Blick in ernster Verzückung in die Weite gerichtet. »Bestimmt. Wir … Nein, natürlich sind wir nicht für alle Welt zuständig. Wir können nur … Ja, wir werden das weitergeben … Warum zeigen Sie sich eigentlich nicht all diesen Leuten hier?«
Claudias scheinbarer Dialog mit der nur ihr sichtbaren Erscheinung klang ungekünstelt und äußerst authentisch. Ruben fiel auf, dass das Mädchen selbst Bewegungen ihres unsichtbaren Gegenübers mit den Augen zu verfolgen schien. Der kleine Bernie summte inzwischen vor sich hin, schaute aber in die gleiche Richtung wie die Mädchen. Dabei lächelte er hinreißend mit fehlenden Vorderzähnen.
»Nein, versteh ich nicht«, antwortete Claudia auf eine vermeintliche Erklärung der Erscheinung. »Aber muss ich ja auch nicht. Mal was anderes. Die Leute hier meinen – also fragen –, ob Sie nicht ein paar Rosenkränze segnen könnten?«
Ruben riss den Blick kurz von der kleinen Seherin los und blickte dabei unversehens in die Augen der dunkelhaarigen jungen Frau, die er vorhin mit der Blondine im Café gesehen hatte. Sie hatte ein hinreißend hübsches, helles Gesicht mit sorgfältig geschminkten, tiefblauen Augen, die mit einem Ausdruck zwischen Unglauben und Verärgerung unter einem bauschigen, dunklen Pony hervorlugten. Ein bisschen der Typ Prinzessin Diana, aber erheblich aparter. Ruben war bezaubert und gewann gleich ganz neues Interesse an dieser Marienerscheinung. Wenn die Frau zur Stadtverwaltung gehörte, konnte er sicher mal ein Interview mit ihr arrangieren. Aber was passte ihr jetzt bloß nicht am Ablauf der Ereignisse? Sie wisperte nervös mit der Blonden an ihrer Seite. Die schien sie zu beruhigen. Inzwischen sprach das Mädchen auf dem Erscheinungsplatz weiter.
»Ja, ja, werde ich ihnen sagen. Danke … Natürlich werden wir hier sein, wenn Sie wiederkommen!«
Nach einer kurzen Pause übernahm das andere Mädchen, Sophie, den Dialog. »Doch, ich bete jetzt jeden Tag. Auch mit Bernie. Jetzt? Alle? Doch, bestimmt …« Sophie schien kurz aus der Trance zu erwachen und die riesigen dunklen Augen in die Menge zu richten.
Aber dann übernahm Bernie. In anrührend süßem Knabensopran erklangen die ersten Takte des »Ave Maria« – die Menschen um die Lichtung herum nahmen es begeistert auf –, Ruben sehnte sich nach Ohrenschützern. Auch die Erscheinung schien die Flucht zu ergreifen. Die Mädchen schauten noch kurze Zeit ins Leere und knieten dann mit geschlossenen Augen an ihren Plätzen. Bernie streichelte seine Schwester, mit deren plötzlicher Versunkenheit er offensichtlich nichts anfangen konnte.
Ruben beobachtete, wie sich ein paar Mitarbeiter des medizinischen Hilfsdienstes um die Mädchen kümmerten. Zeit, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Er steuerte auf die dunkelhaarige Frau zu.
»Entschuldigung, gehören Sie hier … äh, sozusagen zur Organisationsleitung?«
Die Frau schob ihren Pony beiseite und musterte ihn mit freundlich-geschäftsmäßigem Blick. Sie trug ein helles Designerkostümchen mit aufreizend kurzem Rock, der den Blick auf lange, schlanke Beine freigab.
»Berit Mohn, Medienreferentin. Was kann ich für Sie tun?«
»Rüben Lennart, von der Zeitschrift Lupe. Sagen Sie, was geschieht jetzt? Ist es irgendwie möglich, ein Interview mit den Mädchen zu kriegen?«
Berit lächelte ihm zu. »Nun, wenn es so abläuft wie immer, dann brauchen die Kinder jetzt ein bisschen Zeit für sich. Doktor Hoffmann untersucht sie in einem der Krankenwagen, aber außer ein paar kleinen Kreislauf Schwankungen hat er bisher nie was festgestellt. Irgendwann kommen sie dann raus und erzählen, was die Erscheinung gesagt hat. Jedenfalls beim letzten Mal. Diesmal könnte es schon sein, dass sie ein paar Hemmungen haben. Die vielen Leute …«
»Na ja, eben hat sie das ja auch nicht gestört«, wandte Ruben ein.
»Wenn sie diese Erscheinungen haben, sind sie auch wie umgewandelt«, behauptete Berit. »Besonders Sophie ist sonst eher schüchtern. Aber wie gesagt, ich kann da keine Voraussagen machen. Wir müssen abwarten.«
»Und wie sieht es mit einem Interview aus? In einer Stunde oder so?«
Berit schüttelte den Kopf. »Also heute ganz bestimmt nicht. Die Mädchen sind erschöpft, wenn sie das hinter sich haben. Und auch sonst … also bisher haben die Eltern noch nie einem Gespräch mit der Presse zugestimmt. Die Familien sehen das hier nicht gern – na ja, wundert einen nicht, wenn ich eine Tochter hätte, wäre mir das auch nicht recht. Aber die Kinder bestehen darauf, herzukommen.«
»Die Lupe ist nicht irgendeine Zeitung«, versuchte Ruben es noch einmal.
Berit nickte. »Ich kenne die Lupe. Deshalb habe ich auch nicht von vornherein nein gesagt. Aber Sie müssen verstehen …«
»Wenn es denn schon mit den Mädchen nichts wird – wie wäre es mit Ihnen?«, versuchte Ruben einen weiteren Vorstoß in Richtung Verbindung des Angenehmen mit dem Nützlichen. »Können wir uns nicht nachher irgendwo treffen?«
»Herr, äh, Lennart, wir können gern eine Verabredung treffen, aber heute ist es nicht möglich. Sie sehen doch, was hier los ist, und meine Kollegin und ich sind auch noch nicht sonderlich gut eingearbeitet. Wir haben den Job heute erst angetreten – gleich voll ins kalte Wasser gesprungen, sozusagen. Bis jetzt haben wir nicht mal ein Büro. Wie wär’s, Sie geben mir Ihre Karte, und ich rufe Sie an. Im Laufe der nächsten Woche.«
Ruben nestelte eine Visitenkarte hervor. Seltsames Geschäftsgebaren. Aber wenn die Frau wirklich gerade erst angefangen hatte … Wozu brauchte ein Kaff wie dieses überhaupt eine Medienberaterin? Oder gleich zwei? Natürlich mochte der Hype um diese Marienerscheinung der Stadtverwaltung auf die Nerven gehen. Aber gleich zwei Vollzeitstellen für das Management? Ruben beschloss, hier noch einmal gezielt nachzufragen, wenn er diese Frau Mohn erst mal in Ruhe vor sich hatte. »Versprochen?«, fragte er, als er Berit seine Karte hinhielt.
Berit nahm sie ihm graziös aus der Hand und lachte dabei fast verführerisch. »Ganz sicher. Sobald mir hier ein Telefon zur Verfügung gestellt wird.«
Inzwischen kam wieder Bewegung in die Menge der Pilger. Claudia trat aus dem Erste-Hilfe-Wagen, hinter ihr folgte Sophie, die sichtlich nervös schien.
»Also, die Dame hat gesagt, sie würde blutige Tränen weinen um diese Welt und dass Tage voller Hass und Leid vor uns lägen, wenn wir nicht endlich beten. Ich hab ihr gesagt, wir machten ja schon, aber sie meint, da müssten auch noch ein paar andere mitziehen …«
»Sie sagte, wir könnten nicht die Sünden der anderen auf uns nehmen«, modifizierte Sophie.
»Tja, und dann hab ich sie gefragt, warum sie das nicht allen sagt. Uns glaubt noch nicht einmal jeder, es käme doch irgendwie viel besser an, wenn sie sich mal richtig outet – äh, wenn sie sich mal mehreren Leuten zeigt. Aber sie meinte, die Menschen sollten glauben, nicht sehen, sie könnte immer nur kleine Lichter entzünden, daraus müsste der Funke des Glaubens entstehen, oder so ähnlich. Ich hab sie dann noch gebeten, gerade mal ein paar Rosenkränze zu segnen, und sie meinte –«
»Sie sagte, wir wären alle gesegnet!«, sagte Sophie mit süßer Stimme und hob dabei in einer hilflos segnenden Geste die Arme.
Das Publikum war verzaubert.
»Sehn Sie, da hat es doch was gebracht, dass ich einen gekauft hab!«, meinte Elfi, die mit Annika wieder neben Ruben stand, befriedigt und packte ihren Rosenkranz sorgfältig in seine Plastikhülle. »Oh, das war schön, nicht? Sollen wir uns jetzt noch wegen Wasser anstellen, oder gehen wir einen Kaffee trinken?«
»Ich bin für Kaffee«, meinte Annika. Sie hatte bereits mehrere Rundblicke über die Lichtung riskiert und dabei unzweifelhaft festgestellt, dass hier die einzigen Männer über zwanzig und unter sechzig Polizisten oder Mitglieder des medizinischen Hilfspersonals waren. Dabei hatten weder die einen noch die anderen einen Blick für die junge Frau. Sie waren sämtlich mehr als beschäftigt.
»Dann nehmen wir aber einen anderen Weg!«, bestimmte Elfi. »Der Pilgerpfad ist ja völlig überlaufen. Was ist mit dem da?«
Elfi wies auf einen schmalen Pfad, der zunächst weiter in den Steinbruch führte, dann aber parallel zum Hauptweg zu verlaufen schien.
»Ist der nicht zu steil?«, fragte Ruben skeptisch. Doch auch er hatte genug von dem lautstarken Durcheinander auf der Lichtung. Nachdem die Seherinnen – und die attraktive Medienberaterin – abgezogen waren, hielt ihn dort nichts mehr. Der Abstieg über den Alternativweg war allerdings nicht von Pappe. Annika tapste die Strecke zwar behände herunter, aber Elfi, die obendrein Pumps trug, hatte ihre Schwierigkeiten.
»Hier komme ich nicht runter!«, piepste sie, als sie eine besonders üble, vom Regen in den letzten Tagen noch schlüpfrige Stelle passierten. Annika hüpfte herunter wie ein Gummiball, aber auch Ruben tastete sich nur mühsam bergab.
»Warten Sie, ich helfe Ihnen«, bot er an, als er etwa auf halber Höhe Fuß gefasst hatte. Elfi beugte sich daraufhin vertrauensvoll vor und griff nach seiner Hand – aber in dem Moment rutschte der Abhang unter seinen Füßen weg. Ruben geschah dabei nichts weiter, er landete zwei Meter tiefer auf den Knien, aber Elfi verlor das Gleichgewicht und stürzte gefährlich. Dabei hätte sie sich auf dem weichen Waldboden kaum verletzen können, aber unglücklicherweise stand ein Baum im Weg. Eine Astgabel bremste unsanft ihren Fall, Elfi prallte mit dem Gesicht auf die raue Rinde.
Als Ruben sich aufrichtete, sah er Annika entsetzt neben ihrer Freundin knien, die sich gerade mühsam wieder aufrichtete. Ihr Gesicht war blutüberströmt.
»Es ist nichts, ich brauche nur ein Taschentuch …«, wehrte Elfi Annikas Hilfsangebot ab. Dabei schien ihr Gesicht in Sekundenschnelle anzuschwellen.
»Sie brauchen einen Arzt«, konstatierte Ruben. »Nein, keine Widerrede, lassen Sie mich mal sehen. Die Wunde an der Stirn und erst recht die an der Nase müssen auf jeden Fall genäht werden, sonst gibt das Riesennarben. Und die Nase ist auch gebrochen. Können Sie den Kiefer bewegen? Nein, nicht aufstehen, mit Kopfverletzungen ist nicht zu spaßen. Annika, Sie laufen jetzt schnell zurück zur Lichtung und holen Hilfe, ich bleibe bei Ihrer Freundin. Und Sie legen sich hin, den Kopf zurück, dann hört auch das Nasenbluten auf …«
Annika war in Rekordzeit wieder da, begleitet von einem betörend gut aussehenden jungen Mann, der sich als Doktor Hoffmann vorstellte, und einem schlaksigen Typ in der Uniform der freiwilligen Feuerwehr.
Der Jüngere schaute fasziniert zu, wie geschickt Annika durchs Gelände tänzelte, und lächelte ihr zu, als; sich beide über Elfi beugten.
»Oh, ja, Ihre Freundin hat nicht übertrieben«, meinte Doktor Hoffmann nach kurzer Untersuchung. Elfi hatte sich inzwischen aufgesetzt. Ihr Gesicht war auf Vollmondbreite angeschwollen und ihr Auge blutunterlaufen. »Das kann ich auch nicht einfach nähen, das muss chirurgisch versorgt werden. Die Nase ist mehrfach gebrochen, dazu die Schnittwunde, ich rufe gleich im Krankenhaus an, dass die einem Spezialisten Bescheid sagen. Nun gucken Sie mal nicht so. Sie kriegen einen erstklassigen Schönheitschirurg. Doktor Vanderup ist ein guter Freund von mir – verraten Sie mich nicht, aber er hat auch mein letztes Lifting gemacht …« Doktor Hoffmann zeigte ein verschwörerisches Grinsen.
Elfi verzog ihr malträtiertes Gesicht mühsam zu einem Lächeln.
»Kostet das … was?«, fragte sie mit schwacher Stimme. »Ich meine … zahlt das die Krankenkasse?«
Doktor Hoffmann schaute verwundert. »Natürlich zahlt das die Krankenkasse. Warum denn nicht? Es war doch ein Unfall. Wir müssen nur sehen, dass wir Sie schnell in die Klinik in Vierenhausen bringen. Lassen Sie mich gerade mal Blutdruck messen, aber an sich sehen Sie ganz fit aus. Ich glaube nicht, dass Sie einen Krankenwagen brauchen. Der Peter Lohmeier hier, einer unserer Jungs von der freiwilligen Feuerwehr, fährt Sie ins Krankenhaus.«
»Ich hab mein Auto gleich hier oben«, ließ Peter sich vernehmen. »War der Erste heute Morgen. Deshalb hab ich mich jetzt auch gemeldet, ich dachte, ich bin näher dran als jeder Krankenwagen. Bis der schließlich erst mal da runter ist und dann durch den Steinbruch wieder rauf …«
»Aber wie soll ich denn zu Ihrem Wagen kommen?«, fragte Elfi verzagt. »Dieser Weg …«
»Das hier war die steilste Stelle. Wenn Sie um die Ecke sind, geht es im Steinbruch weiter, und dann sind wir fast bei meinem Auto«, tröstete Peter. »Kommen Sie, stützen Sie sich einfach auf mich.«
»Kann ich mitkommen?«, fragte Annika.
»Natürlich«, meinte Doktor Hoffmann. »Machen Sie sich nur keine Sorgen, es wird alles gut. Das sieht jetzt viel schlimmer aus, als es ist.«
Tatsächlich endete der Weg nach wenigen weiteren Metern im Steinbruch. Ruben schaute neugierig um sich. Bis vor kurzem war hier sicher noch Kies abgebaut worden. Noch ein Betrieb, der in Grauenfels zugemacht hatte. Von der LPG hatte er vorher schon gehört. Die Arbeitslosigkeit musste Rekordhöhen erreichen. Diese Marienerscheinung war tatsächlich das Beste, das dem Ort passieren konnte.
Ruben beschloss, Grauenfels noch ein bisschen zu erkunden und dann einen Kaffee trinken zu gehen. Er hatte die Hoffnung, Berit in besagtem Café im Ort wieder zu treffen. Irgendwann musste sie schließlich eine Pause machen. So wanderte er denn noch eine halbe Stunde durch die trostlosen Seitenstraßen, fernab der durch den Pilgerstrom belebten Hauptverbindungen zwischen Parkplätzen und Steinbruch. Der Anblick der heruntergekommenen Häuser und verlassenen Ladenlokale war deprimierend. Wenn sich überhaupt noch Einzelhändler hielten, so meist kleine Geschäfte, Bäckereien, ein Secondhandshop sowie Getränkeläden und Kioske. Größtenteils hatten die sogar heute geöffnet. Die frustrierte Einwohnerschaft mochte Nachschub an Spirituosen brauchen.
Ruben war fast erleichtert, als er den Weg zum Adler wiederfand. Auf der Suche nach dem Innenhof-Café passierte er erneut den Stand der Mädcheninitiative, an dem sich jetzt ein bisschen mehr tat als vorhin.
»Mit einem Kauf unterstützen Sie unseren Mädchenclub Regenbogen«, sagte das Mädchen hinter dem Verkaufstisch.
Ruben musste zweimal hinsehen, bis er in ihr die niedliche Punkerin von eben wiedererkannte. Die Kleine hatte das Gel weitgehend aus ihren Haaren entfernt und trug sie nun geflochten zu lustigen Pippi-Langstrumpf-Zöpfchen. Das Nasenpiercing hatte sie herausgenommen, und das Tattoo am Oberarm verdeckte ein T-Shirt. »Wir haben eine Schreibgruppe und einen Gesprächskreis, und wir möchten uns einen Computer anschaffen.«
Ruben grinste in sich hinein. Die Werbeberatung der Blonden von vorhin trug offensichtlich erste Früchte.
Berit befand sich nicht im Café, wohl aber die beiden Nonnen aus dem Hamburger Bus. Vergnügt schaufelten sie Kuchen in sich hinein, der erheblich leckerer aussah als das Schnitzel im Adler.
»Kommen Sie, setzen Sie sich zu uns!«, lud Schwester Felicitas ihn ein. »Die Käsetorte ist ein Gedicht. Ich war auch schon fast verhungert, das Mittagessen war ja ungenießbar.«
»Ich dachte immer, Kasteiung gehöre bei Ihnen zum Alltag.« Ruben grinste freundlich. »Kriegt Audrey Hepburn in Geschichte einer Nonne nicht eine Geißel ausgehändigt?«
»Die müssen wir uns heute selbst kaufen«, bemerkte Felicitas mit todernstem Gesicht. »Sparmaßnahmen, wissen Sie?« Dann prustete sie los.
»Im Übrigen sollten Sie beim Thema ›Kasteien‹ nicht Fasten mit Fast Food verwechseln«, fügte die ältere Nonne hinzu. »Mal abgesehen davon, dass wir Franziskanerinnen sind, und ich kann mir gut vorstellen, was unser Ordensgründer zur modernen Schweinemast gesagt hätte. Wo haben Sie denn unsere jungen Freundinnen mit dem Nasen- und dem Beziehungsproblem? Wir haben schon gedacht, Sie wirkten vielleicht gerade ein Wunder bei dem kleinen Dickerchen.«
»Solche unkeusche Gedanken hätte Audrey Hepburn sich nie erlaubt«, tadelte Ruben. »Im Übrigen: Die zwei sind unterwegs in Sachen Wunder …«
Während eine Kellnerin dampfenden Kaffee vor ihn hinstellte, erzählte er seinen verblüfft lauschenden Zuhörerinnen von Elfis Unfall. »Operiert werden muss auf jeden Fall«, endete er schließlich. »Und wenn dieser Chirurg auch nur einen Hauch ästhetisches Empfinden hat, dann näht er den Zinken nicht einfach zusammen, sondern schnippelt noch ein bisschen daran herum.«
»Dann war das ja mal eine erfolgreiche Wallfahrt! Man möchte es nicht glauben. Auf jeden Fall brauche ich darauf einen Cognac.« Die ältere Nonne schüttelte lachend den Kopf und winkte der Kellnerin. »Sie auch? Ich glaube, wir haben uns noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Schwester Maria Constanze.«
»Ruben Lennart. Und der Cognac ist eine gute Idee. Für mich dazu noch einen Kaffee, bitte. – Aber da wir gerade beim Glauben sind: Wie sieht es denn nun aus, Pfarrerin Braun? Nehmen Sie den Mädchen die Erscheinung ab?«
Schwester Maria Felicitas schüttelte so lebhaft den Kopf, dass sich ein paar rote Haarsträhnen unter ihrer Haube vorwagten. »Nein. Absolut nicht. Ich weiß nicht, warum die das durchziehen, aber da ist was faul, glauben Sie mir. Die Mädchen machen uns was vor.«
»Darüber haben wir uns eben schon gestritten«, meinte Schwester Constanze. »Ich bin nicht ganz der Meinung meiner Mitschwester. Ich halte die Trance der Kinder für echt. Haben Sie die Blonde gesehen, diese Claudia? Bei der spiegelte sich die Erscheinung doch geradezu in den Augen. Auch die Gesprächsbeiträge wirkten lebendig … das war … perfekt.«
»Das war zu perfekt!«, urteilte Felicitas. »Zu glatt. Das war so, wie Hollywood sich eine Erscheinung vorstellt, alles sauber, klinisch rein – aber Mensch, wenn einem von uns so was passieren würde: Würden wir nicht stottern, uns beim Reden wiederholen – würden wir nicht ganz andere Fragen stellen?
Meine Güte, wenn ich mir vorstelle, dass mir die Jungfrau erschiene – da gibt es doch weltbewegende Probleme, zu der ich gern ihre Ansicht wüsste. Verhütung zum Beispiel, das Zölibat, Frauen als Priesterinnen … Also mir fällt da auf Anhieb eine ganze Liste ein, und die Mädchen haben doch jeweils zwei Wochen, sich vorzubereiten. Aber nein, die beten den ganzen Sermon noch mal herunter, den wir bei Bernadette und Sophia und Jacinta schon hatten.«
»Felicitas! Du würdest die Jungfrau nicht wirklich nach der Pille fragen!« Schwester Constanze kippte ihren Cognac und liebäugelte mit einem zweiten.
»Warum denn nicht, wenn sie schon mal da ist?«, fragte ihre junge Mitschwester. »Aber hier tragen zwei Gymnasiastinnen im Jahre 1998 den Text von ein paar Hirtenkindern aus dem neunzehnten Jahrhundert vor. Da stimmt was nicht, da bin ich sicher.«
»Na ja, ich hab ja bisher noch nicht viel drüber gelesen«, meinte Ruben – genau genommen beschränkten sich seine bisherigen Recherchen auf ein bisschen Schmökern im Traktat seiner fettleibigen Busnachbarin. »Aber die Vorgänger waren ja auch nicht sonderlich originell, was Fragestellungen anging.«
Felicitas zuckte die Schultern. »Schauen Sie, ich habe Bernadette Soubirous nicht gesehen – ebenso wenig wie die Kinder von Fátima. Insofern kann ich dazu nichts sagen. Aber ich habe diese Claudia gesehen. Und die landet wahrscheinlich mal beim Film, aber bestimmt nicht im Heiligenkalender!«
Während die drei noch diskutierten, betrat überraschend Annika den Hof, begleitet von dem jungen Feuerwehrmann Peter Lohmeier.
»Kriegen wir einen Kaffee, Lorchen?«, rief er der Kellnerin zu. »Und falls noch was von Mutters Käsetorte übrig ist …«
Annika hatte Ruben inzwischen gesehen, winkte ihm und lotste ihren Begleiter an seinen Tisch.
Die Kellnerin brachte kurz darauf eine Kanne Kaffee und eine Platte Kuchen hinaus. »Hier, aber bevor du nachher verschwindest, sollst du noch schnell in die Küche kommen. Die neue Espressomaschine spielt mal wieder verrückt«, wies sie Peter an.
Peter reichte den Kuchen herum. »Meiner Mutter gehört das Café«, erklärte er den kostenlosen Segen. »Ein alter Traum von ihr, und jetzt, wo endlich mal Leute in die Stadt kommen, hat sie in Rekordzeit was auf die Beine gestellt. Die Espressomaschine erweist sich allerdings als Albtraum.«
Dafür war die Torte umso besser. Annika lud gleich zwei Stücke auf ihren Teller.
»Na, haben Sie Ihre Freundin erfolgreich abgeliefert?«, fragte Ruben.
Annika schluckte rasch einen Mund voll Torte hinunter und nickte eifrig. »Der Doktor Vanderup ist riesig nett – und irre gut aussehend, noch besser als der Doktor Hoffmann. Er hat Elfis Stirn genäht – mit ganz winzigen Stichen, er sagt, man wird die Narbe gar nicht sehen –, und morgen macht er ihre Nase. Er meint, bei der alten wäre nicht viel zu retten, und Elfi erklärte, da wär’s auch nicht schade drum. Und dann hat er gelacht und gesagt, sie könnte sich dann ja eine neue aussuchen. Der hat da echt einen Katalog für – man fasst es nicht! Jedenfalls ist Elfi natürlich ganz aufgeregt, es gibt ja auch eine Masse zu klären, also wer die Kinder versorgt und so was, und ich muss auch noch mal herkommen und ihr ein paar Sachen bringen, weil zehn Tage, zwei Wochen muss sie bestimmt hier bleiben, meint der Doktor. Weiß ich gar nicht, wie ich das mache …«
»Also, wenn es bis Dienstag warten kann, könnte ich dich mitnehmen«, mischte sich Peter überraschend ein. »Da bin ich nämlich in Hamburg, wegen eines Vorstellungsgespräches.«
»Wirklich?« Annikas Augen leuchteten auf. »Dann nehm ich mir den Mittwoch frei …«
»Übernachten kannst du hier, Mutter vermietet auch ein paar Zimmer«, erklärte Peter. »Und Mittwoch zeige ich dir dann ein bisschen die Umgebung.«
Ruben registrierte, dass er die junge Frau wohlgefällig musterte.
Ein paar Minuten später waren Peter und Annika in ein lebhaftes Gespräch vertieft. Offensichtlich waren sie beide begeisterte Wanderer und Campingurlauber.
»Sieht aus wie der Beginn einer wunderbaren Freundschaft«, kommentierte Ruhen, als er mit Schwester Constanze und Schwester Felicitas das Café verließ. Annika folgte Peter noch rasch in die Küche, um sich bei seiner Mutter für den Kuchen zu bedanken und das Zimmer für Dienstagnacht zu buchen.
Die Nonnen sahen einander an.
»Sieht aus wie ein Wunder!« Schwester Constanze lachte.