Spiel mit dem Feuer

Es ist die Murphy Family! Denen kann ich doch nicht einfach was vorspielen!« Sophies Augen zeigten einen unnatürlichen Glanz, und ihre Finger spielten nervös mit ihrem Murphy-Family-Fanbook.

Berit und Gina hatten den Mädchen eben eröffnet, dass sich die Sänger zur nächsten Erscheinung angesagt hatten. Statt der erwarteten Freudenbekundungen tendierte Sophie allerdings zum Nervenzusammenbruch. »Marvin wird dabei sein!«

»Eben«, bemerkte Gina. »Dieser Marvin Murphy wird zehn Minuten lang an deinen Lippen hängen. Hast du dir das nicht schon immer gewünscht?«

»Ich werde ohnmächtig«, behauptete Sophie und blätterte erneut in ihrem abgegriffenen Taschenbuch.

»Kein Problem«, meinte Berit gelassen. »Läuft unter religiöse Ekstase. Wir schicken den Jungen dann rüber zwecks Mund-zu-Mund-Beatmung.«

Gina grinste.

»Das ist nicht komisch!«, ereiferte sich Sophie. »Außerdem habe ich einen Pickel.«

Berit und Gina warfen prüfende Blicke auf ihr makelloses Gesicht.

»Wo?«, fragte Berit.

Claudia, die die Ankündigung des »Staatsbesuchs« bislang kommentarlos hingenommen hatte, kicherte mitleidslos. »Kauf dir Clearasil. Oder bete zu MM – der Doc sagt, wir hatten schon vier Akne-Heilungen.«

»Du bist gemein!«

»Und du bist nicht ganz dicht«, gab Claudia zurück. »Seit Monaten schläfst du mit dem Autogramm von diesem Typen unterm Kopfkissen, und jetzt …«

»Ich will nicht, dass er mich für verrückt hält!« Sophie war den Tränen nahe. »Wer verliebt sich denn in ein Mädchen, das Geister sieht?«

Gina zuckte die Achseln. »So kleine Eigenheiten können eine Frau durchaus interessant machen …«

Berit warf ihrer Freundin einen drohenden Blick zu und wandte sich dann wieder an Sophie.

»Sophie, der Junge ist oberkatholisch erzogen«, dozierte sie. »Der glaubt an deine Erscheinungen. Also sei so gut und liefere sie ihm. Deshalb kommt er ja. Und ich versichere dir, dass er hin und weg sein wird von dir. Ob du Geister siehst, Hunde dressierst oder Kopfstand machst! Wenn er dich erst mal sieht, flippt er aus vor Begeisterung.«

»Glaub ich nicht …«, seufzte Sophie. »Wenn ich es wenigstens früher gewusst hätte. Dann hätte ich noch eine Diät machen können. Ich bin so dick geworden!«

Claudia tippte sich an die Stirn. »Drehen eigentlich alle Leute durch, wenn sie verliebt sind?«

»Ich hoffe nicht«, meinte Gina mit einem vielsagenden Blick auf Berit.

Berit blitzte verärgert zurück. »Erstens bin ich nicht in Ruben verliebt –«

Lautes Gelächter von Gina und Claudia ließ sie kurz verstummen.

»… und zweitens kann ich die Klappe halten! Von mir erfährt er nichts über die Erscheinungen. Aber der Mann ist schließlich nicht blöd. Der kann sich doch an fünf Fingern abzählen, wer hinter MM steckt. Und wenn er lange genug recherchiert, findet er auch irgendwelche Beweise …«

»Und du triffst dich nur mit ihm, um ihn von eben diesen Nachforschungen abzuhalten, ja?«, neckte sie Gina.

Berit tat, als wollte sie einen Radiergummi nach ihr werfen. »Einer muss sich ja opfern«, nahm sie den Gag schließlich auf. »Und ich halte immerhin einen feindlich gesinnten Journalisten von der Arbeit ab. Du dagegen irritierst unseren Magier.«

»Den halte ich nicht von der Arbeit ab, auf den wirke ich befruchtend«, behauptete Gina. Jetzt kicherte sogar Sophie.

Berit nahm das als gutes Zeichen und begann, den Plan zum Empfang der Murphy Family mit den Mädchen durchzugehen.

»Also, sie kommen mit ihrem Tourbus, und ich hab mit den Sicherheitskräften ausgemacht, dass sie oben im Steinbruch parken dürfen. Die Zwei-Uhr-Prozession muss deshalb entfallen, aber da wären eh nicht viele mitgegangen, wenn um drei MM kommt. Dann bieten wir ihnen eine hübsche Erscheinung …«

»Mit dem öden Text über die Priesterehe?«, fragte Claudia. »Ich kann ihn schon auswendig, aber ich find ihn ein bisschen langweilig.«

Berit schüttelte den Kopf. »Nein, ich schreib euch was Neues. Es ist nämlich so, dass … also die Murphys haben sich selbst was gewünscht. Sie wollen wissen, wie MM, äh, zur Homosexualität steht …«

*

Ruben hatte seine Recherchen inzwischen bei Pfarrer Herberger und Pastor Jaeger fortgesetzt. Vor allem von dem katholischen Geistlichen – laut Peters von Anfang an ein Kritiker der Erscheinung – erhoffte er sich Informationen. Das Gespräch mit Herberger erwies sich dann aber als nicht sehr ergiebig. Natürlich spuckte der Pfarrer Gift und Galle gegen die Grauenfelser Erscheinung, aber irgendwelche Beweise dagegen hatte er nicht.

»Auf jeden Fall steckt dieser Jaeger dahinter, dieser … Schämen sollte man sich, dass so was den Priesterrock tragen darf! Der und der Doktor – da sollten Sie mal nachhaken!« Herbergers Blutdruck schien bereits in astronomische Höhen zu steigen, wenn er nur an seinen evangelischen Amtsbruder dachte. »Und die Mädels kommen aus seinen Kirchengruppen, das sagt doch schon alles!«

Ruben fuhr enttäuscht zurück nach Grauenfels, schlenderte Richtung Pfarrhaus und inspizierte auf dem Weg dahin alle Biergärten auf Apfelbaumbewuchs. Im dritten traf er zu seiner freudigen Überraschung Pastor Jaeger und Doktor Hoffmann. Die beiden ließen den heißen Tag bei einem kühlen Bier ausklingen. Ruben stellte sich vor, gesellte sich zu ihnen und fand sehr schnell heraus, was ihre Beziehung besonders machte. Irgendwelche Zusammenhänge mit Grauenfels’ Marienerscheinung konnte er jedoch nicht ausmachen. Schließlich erzählte er ihnen rundheraus von Herbergers Vermutungen.

Pastor Jaeger lachte schallend. »Was sollte ich denn davon haben, hier die Madonna erscheinen zu lassen? Das treibt doch höchstens Herberger Schäfchen zu! Mal abgesehen davon, dass man darauf erst kommen muss. Eine Marienerscheinung ist weiß Gott nicht das Erste, was einem aufrechten Lutheraner zur Belebung des Fremdenverkehrs einfällt!«

»Aber Sie als Arzt könnten daran Interesse haben«, wandte sich Ruben an Doktor Hoffmann. »Ihre Praxis floriert doch seit der Marienerscheinung, oder etwa nicht?«

Der Mediziner zuckte die Achseln. »Meine Praxis hat immer floriert«, meinte er gelassen. »In Zeiten der Depression sind Arztpraxen von jeher gut besucht – und die hatten wir in Grauenfels, das kann ich Ihnen versichern. Achtzig Prozent Arbeitslosigkeit, keine Perspektive für die Jugendlichen, eine Stadt, die langsam verfällt – so was macht die Leute krank. Seit die Madonna hier für Aufschwung sorgt, ist der Krankenstand der Grauenfelser rapide gesunken. Natürlich habe ich jetzt mehr Laufkundschaft mit erheblich höherem Unterhaltungswert – aber finanziell ist das gar nicht so interessant. Wer sich geheilt fühlt, verursacht schließlich keine Arztkosten. Für die Bereitschaft im Steinbruch an den Erscheinungstagen kriege ich natürlich eine Aufwandsentschädigung von der Gemeinde, aber reich macht mich das nicht. Mich dürfen Sie getrost von der Liste der Verdächtigen streichen.«

»Aber Sie wissen doch, was hier läuft!«, behauptete Ruben provokant.

Doktor Hoffmann lachte. »Ich habe Schweigepflicht«, redete er sich heraus, wurde dann aber ernst. »Hören Sie, warum lassen Sie das nicht einfach mit der Herumschnüffelei?«, fragte er. »Schreiben Sie einen netten Bericht über die Heilungen und Wunder. Alles ein bisschen augenzwinkernd, ihre Leser glauben doch auch nicht an Marienerscheinungen. Ich habe Ihre Serie über UFOs gelesen, die war herrlich witzig und trotzdem gut recherchiert. Warum wollen Sie hier unbedingt Geheimnisse aufdecken?«

»Weil’s mein Job ist«, meinte Ruben. »Und weil ich es absolut nicht leiden kann, wenn mich einer verarscht. Außerdem können Sie das hier sowieso nicht ewig so weitermachen. Irgendwann forscht einer nach. Da kann genauso gut ich die Lorbeeren ernten. Apropos ernten: Gibt’s hier irgendwo ein Lokal mit Apfelbäumen?«

Ruben kaufte schließlich ein Pfund Äpfel und hängte es mit Erlaubnis der verwirrten Kellnerin in den Walnussbaum im Café Lohmeier. Bevor Berit eintraf, erschien allerdings Gina am Stammtisch – in Begleitung eines schlaksigen jungen Mannes mit wachen, braunen Augen, Zweitagebart und auffällig beweglichen Gesichtszügen.

»He, da fehlt ja nur noch die Schlange!«, bemerkte er zu Rubens Anstrengungen, die Früchte mit dünnem Draht an den Ästen zu fixieren.

Ruben lächelte etwas bemüht – und wäre gleich danach beinahe vom Baum gefallen. In einer Astgabel räkelte sich urplötzlich etwas Kleines, Grünes und zwinkerte ihn aus runden Echsenaugen an. Ruben hätte schwören können, dass das Wesen vor zwei Sekunden noch nicht da gesessen hatte – mal abgesehen davon, dass es offensichtlich nicht zur heimischen Tierwelt von Grauenfels gehörte.

Gina, die sich eben noch mit der Kellnerin unterhalten hatte, wurde aufmerksam, reagierte aber nur mit mäßiger Verwunderung auf das Reptil.

»Merl!«, rief sie tadelnd. »Was macht denn Friedrich hier? Du sollst doch nicht ständig …«

Ihr Begleiter warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Das ist nicht Friedrich, das ist Friederike! Solltest du eigentlich erkennen! Sie ist viel kleiner als er. Und auch noch nicht so zahm.« Das Tier gab eine Art Fauchen von sich, als der Mann es vom Baum nahm und Gina feierlich überreichte. »Hier. Dein persönlicher Glücksdrache. Die unsichtbaren sind auf die Dauer doch langweilig!«

»Für mich?«, fragte Gina zwischen Entsetzen und Begeisterung. »Frau Clarsen wird Zustände kriegen, wenn wir den ins Büro setzen. Und Berit ist irgendwie auch nicht so heiß auf Reptilien.«

»Tja … dann lässt du sie eben einfach verschwinden, wenn die beiden vorbeikommen.« Der junge Mann zuckte die Achseln, und der Leguan schien auf ebenso magische Weise zu dematerialisieren, wie er eben im Baum aufgetaucht war.

»Merl!«, schimpfte Gina. Sie sah Ruben geradezu an der Nase an, was er sich eben an fünf Fingern abzählte.

Zum Glück erschien Berit im Biergarten, bevor er die Sache kommentieren konnte.

»Ein Apfel für Eva«, meinte Ruben galant und warf ihr eine Frucht zu. »Und sag jetzt nichts zu dem Baum – ich wette, der ist mindestens so echt wie eure Marienerscheinung.«

Berit und Gina ließen das unbeantwortet.

Merl bestellte Prosecco und erzählte Ruben, dass er im Zirkus mit Tieren arbeite. Gelogen war das ja nicht, und Merl verstand es auch, seine diversen Dressurerlebnisse so lebhaft zu schildern, dass Ruben vor Lachen kaum dazu kam, Fragen zu stellen. Besonders die Faultierdressur schien eine Lebensaufgabe zu sein.

»Es hat etwas Meditatives«, behauptete Merl. »Verlangt aber eine gewisse Kondition …« Während er von der sportlichen Herausforderung erzählte, einen Ring wirklich so lange hochzuhalten, bis ein Faultier hindurchgeklettert war, tippte Ruben jemand schüchtern von hinten an.

»Entschuldigung, ich will nicht stören, aber ich hab Sie hier gesehen, und da dachte ich, ich sage kurz Guten Tag.«

Als Ruben sich umwandte, erkannte er Annika. Hinter ihr stand Peter Lohmeier.

»Das ist jetzt aber kein Besuch im Krankenhaus mehr, oder?«, fragte Ruben, nachdem er sie begrüßt hatte. »Ihre Freundin muss doch längst wieder zu Hause sein.«

Annika nickte eifrig. »Aber ja! Und sie ist so glücklich mit ihrer neuen Nase. Ich bekomme Elfi kaum noch zu sehen, sie hat neuerdings auch wieder einen Freund, einen Zahnarzt …«

»Dann kommen ja bald auch noch Jacketkronen dazu!«, scherzte Ruben. »Anschließend ist sie dann völlig unwiderstehlich. Aber Sie sehen auch fantastisch aus!« Das war nicht gelogen. Seit ihrem letzten Zusammentreffen hatte Annika einige Kilo abgenommen. Sie trug ein weites, grünes Sommerkleid, sorgfältiges Make-up und wirkte so rosig und glücklich, wie es eigentlich nur Verliebte tun.

»Danke«, sagte sie verlegen. »Ich fühl mich auch großartig. Weil …« Sie beugte sich zutraulich zu Ruben herab und flüsterte ihm ins Ohr: »Weil mein Wunsch doch auch in Erfüllung gegangen ist. Peter und ich …«

»Ich hab Annika gerade vom Zug abgeholt. Wir wollen morgen im Hainich wandern«, erzählte Peter, fast etwas eifersüchtig ob Annikas Vertrautheit mit Ruben. »Sonntag ist natürlich wieder Erscheinung, da hab ich Dienst, aber Samstag machen wir jetzt fast immer eine Tour.«

Annika strahlte ihn an. Die Zeit vor und nach den Wandertouren wussten die beiden sicher auch zu nutzen. Während sie vorerst im Haus verschwanden, erzählte Ruben den anderen unter dem Siegel der Verschwiegenheit von Annikas Wallfahrt.

»Und da sagst du, unsere Madonna wäre nicht echt«, meinte Berit vorwurfsvoll. »Wie haben hier eine Erfolgsquote, auf die jedes Heiratsinstitut neidisch wäre. Unsere Frau Clarsen zum Beispiel, du erinnerst dich, die Frau mit dem Jamaikaner … Da ist sie übrigens. Sieht sie nicht wunderbar aus?«

Tatsächlich betraten Frau Clarsen und ihr Terry gerade das Lokal. Frau Clarsen war so aufgedreht, dass die Luft um sie zu vibrieren schien. Terry federte das mit karibischer Gelassenheit ab. Er trug es auch mit Fassung, dass er offensichtlich gleich am ersten Tag seines Aufenthalts in Grauenfels einen Unfall gehabt hatte. Der junge Jamaikaner trug den Arm in der Schlinge.

»Wir gefound pretty Restaurant«, erklärte er, bevor ihn jemand danach fragen konnte. »Nicht weit, in die house von Sybil …«

»Sie wollen Ihr Haus zum Restaurant umbauen?«, fragte Gina verwundert. »Und Ihr Mann?«

Frau Clarsen warf hitzig das Haar zurück – und entblößte dabei einen dicken blauen Fleck an der Schläfe.

»Der ist Vergangenheit!«, sagte sie dann mit triumphierendem Unterton. »Die Sache mit Raimund ist vollständig vorbei!«

»Wie das denn auf einmal?«, erkundigte sich Berit. »Heute Mittag waren Sie doch noch ziemlich besorgt.«

Frau Clarsen nickte. »Ja, es lag mir schon auf der Seele, wie er das mit Terry aufnehmen würde. Ich hab mir lange überlegt, ob ich es ihm heute schon sage, aber er hätte ja spätestens heute Abend gemerkt, dass etwas faul ist. Also fand ich, ich könne es auch gleich hinter mich bringen, und bin zu meinen Eltern in die Werkstatt gegangen. Da arbeitet er ja. Ich dachte, vor meinem Vater wird er nicht gewalttätig werden. Aber er ist vollkommen durchgedreht. Wahrscheinlich hat er sich in Wut gesteigert, seit ich weggefahren bin. Dem stank es gewaltig, so ohne Putzfrau und Fußabtreter für den Frust. Auf jeden Fall habe ich ihm gesagt, dass ich ihn verlassen will, und zuerst war mein Vater natürlich auf seiner Seite. Ich sollte mir das doch alles noch mal überlegen, und was soll aus der Firma werden, und und und … Aber dann ist Raimund völlig übergeschnappt. Hat mich zu Boden geprügelt, und dann auch noch Terry. Zuletzt ging er auf meinen Vater los, der ihn natürlich stoppen wollte. Er ist durch die halbe Werkstatt geflogen und hat sich den Kopf angeschlagen. Na ja, und dann hat Terry …«

»Isch mal gesehen wie man … shark … Hai … k.o. schlägt, when attacks. Sehr mutig, swim auf Hai zu, hauen Faust über die mouth … Maul. Das isch gemacht mit Mann. Deshalb …« Terry wies auf sein geschientes Handgelenk.

»Sie haben diesen Zweimetermann angegriffen?«, fragte Berit verdutzt.

Frau Clarsen nickte stolz.

»Und, hat es genutzt?«, fragte Gina gespannt.

Frau Clarsen bejahte. »Er hat ihm die Nase gebrochen.«

Die anderen lachten schallend.

»Aber Terry hat sich auch das Handgelenk verstaucht, und mein Vater liegt im Krankenhaus«, dämpfte Frau Clarsen ein wenig die allgemeine Begeisterung. »Er ist mit dem Kopf gegen eine Werkbank geknallt, als Raimund ihn niederschlug. Jedenfalls hatten wir die Polizei da und es gibt eine Anzeige wegen Körperverletzung. Ich glaube nicht, dass Raimund sich noch groß gegen die Scheidung wehren wird. Tja, und mein Vater hat sich bei mir entschuldigt, weil er meine Klagen nie ernst genommen hat! Könnt ihr euch das vorstellen? Das gehört alles zu meinem Wunder!«

»Sie meinen, die Madonna habe den Beteiligten an dieser Schlägerei sozusagen die Hand geführt?«, fragte Ruben skeptisch.

Frau Clarsen nickte fromm. »Ich hab mich immer gefragt, ob das richtig ist, dass die Regenbogenmädchen mit den Marienspenden Karatekurse finanzieren. Aber jetzt weiß ich, wo der tiefere Sinn liegt.«

»Halleluja«, bemerkte Ruben. »Dann lasst uns da noch mal einen drauf trinken.«

Aus dem einen Glas wurden mehrere, und gegen Mitternacht, als sich die anderen Gäste des Biergartens langsam verzogen, bestand Terry darauf, seinen Freunden zum Abschluss einen echten karibischen Rum-Cocktail zu mischen. Unter viel Tamtam verzog er sich in die Bar und nahm die Spirituosenvorräte des Café Lohmeier unter die Lupe. Annika und Peter fanden unterdessen eine CD mit karibischen Rhythmen und räumten eine Tanzfläche frei.

Frau Lohmeier hatte den Biergarten inzwischen geschlossen, ließ aber Doktor Hoffmann und Pastor Jaeger noch ein, die gerade auf dem Heimweg vorbeikamen und die Stimmung in ihrer Stammkneipe bemerkten. Natürlich waren auch sie nicht mehr ganz nüchtern, nahmen die Rum-Cocktails aber trotzdem dankbar an. Gegen eins führte Terry eine der Frauen nach der anderen durch die Merengue, während Frau Clarsen versuchte, dem unmusikalischen Ruben wenigstens die Grundschritte zu vermitteln. Pastor Jaeger und Doktor Hoffmann erwiesen sich da als erheblich begabter. Nach dem dritten Rum-Cocktail tanzten sie auch ungehemmt miteinander. Außerdem zeigte Annika einen hochprofessionellen Bauchtanz.

»Mache ich seit Jahren«, erklärte sie fröhlich und ließ ihre Speckröllchen wirbeln.

»In einem islamischen Heiligtum wäre sie vermutlich auch fündig geworden«, raunte Berit Ruben zu.

»Und erst mal in Borunji.« Ruben lachte. »Ihre Eltern hätten mindestens zwanzig Rinder für sie gekriegt. Kannst du das eigentlich auch? Komm, wir versuchen’s noch mal mit der Samba.«

Aber dann fand die Party ein jähes Ende.

»Macht auf, ihr Schweine, ich weiß, dass sie da ist …«

Jemand polterte gegen das Tor, das den Innenhof des Café Lohmeier zur Straße hin verschloss. Eigentlich war es eine massive Holzkonstruktion, ähnlich einem Scheunentor, aber der Muskelmasse von Raimund Clarsen hatte das alte Schloss nichts entgegenzusetzen. Während die angetrunkenen Tänzer erschrocken stoppten und wie gebannt auf das berstende Tor blickten, schob sich Frau Clarsens Noch-Gatte in voller Größe auf sie zu, gefolgt von zwei ähnlich muskulösen Kumpanen.

»Jetzt hol ich mir, was mir gehört – von wegen, mit ’nem Neger auf und davon … Das haste dir so gedacht …«

Sybille machte verängstigt ein paar Schritte zurück, Terry stellte sich mit einer leeren Rumflasche schützend vor sie. Seine rechte Hand machte allerdings noch nicht ganz mit, und mit der Waffe in der Linken wirkte er eher tapsig als abschreckend.

»Ruf die Polizei an«, zischte Peter seiner Annika, die der Haustür am nächsten stand, leise zu. »Herr Clarsen, nun seien Sie doch vernünftig!«, rief er dann laut.

Wie abgesprochen gingen Peter, der Pastor und Doktor Hoffmann langsam auf den Betrunkenen zu, aber der wollte sich nicht beruhigen lassen. Als Peter und der Doktor gleichzeitig versuchten, seine Arme zu ergreifen, schüttelte er die beiden so leicht ab wie lästige Insekten. Seine beiden Freunde nahmen sie grinsend in den Schwitzkasten. Der Pastor versuchte, ihnen zu Hilfe zu kommen, wurde aber mit einem rechten Schwinger abgewehrt und flog durch den halben Biergarten. Den nächsten Schlag empfing Ruben und landete im Schatten des Walnussbaums, zu Füßen von Merl, der eben hektisch in den Taschen seiner Schlabberbekleidung herumsuchte.

»Ihr Feuerzeug, schnell!«

Ruben reagierte nicht, er brauchte etwas Zeit, um zu sich zu kommen. Merlot dauerte das zu lange. Der Magier reichte Ruben die linke Hand, um ihm aufzuhelfen – wobei das Feuerzeug wie von selbst in seiner rechten auftauchte.

»’tschuldigung«, kommentierte Merl den Taschendiebstahl. »Aber ich hab’s etwas eilig …«

Frau Clarsen hatte inzwischen auch eine Flasche ergriffen und anscheinend mehr Hollywood-Filme gesehen als ihr Freund. Jedenfalls dachte sie daran, die Flasche am Baumstamm zu zerschlagen, und stand ihrem Gegner nun mit einer weitaus wirksameren Waffe gegenüber. Der hatte eben noch kurz mit Berit und Gina zu kämpfen. Auch Gina versuchte es mit einer Hollywood-Lösung, aber Clarsen reagierte gar nicht, als sie einen der Gartenstühle auf seinem Rücken zerschlug. Die ungeschickte Berit knickte schon beim Versuch eines Angriffs auf ihren hochhackigen Schuhen um. Clarsen versetzte ihr einen beiläufigen Fußtritt.

Sybille wedelte mit ihrer Flasche. »Ich – ich stoß dir die ins Gesicht!«, drohte sie mit unsicherer Stimme.

Der Betrunkene lachte schallend und warf zunächst Terry mit einer Handbewegung beiseite.

»Das will ich sehen! Aber so gefällst du mir. So mag ich das Kätzchen, warte, heute Nacht werd ich dich zähmen, dass dir das Kratzen vergeht.«

»Verschwinde!«, schrie Sybille verängstigt und spähte nach Terry, der immer noch am Boden lag. Der Betrunkene griff brutal nach ihrem Handgelenk und zwang sie, die Flasche fallen zu lassen.

»Kommst du jetzt freiwillig mit, oder muss ich dich erst überzeugen?«

»Lass mich …« Sybille stöhnte auf, als er ihr den Arm verdrehte.

Ruben wollte ihr zu Hilfe kommen, aber dann sah er, dass sich Merl geschmeidig wie ein Tänzer aus dem Schatten löste.

»Sie hören, was die Dame gesagt hat!« Merl trat dem Angreifer gelassen entgegen. »Verschwinden Sie hier augenblicklich!«

Clarsen lachte. »Noch ein kleiner Mann mit mehr Mut als Muskeln. Was ist denn, wenn ich nicht gehe, hm? Was ist, wenn ich nicht gehe?«

Sybille wimmerte, während er ihr brutal den Arm auf den Rücken drehte.

»Dann gehen Sie zur Hölle!«, donnerte Merl, hob beide Arme und schleuderte dem Betrunkenen zwei Blitze entgegen, die den Biergarten in gespenstisches Licht tauchten. Gleich darauf folgten zwei weitere. Ruben sah, dass Clarsen Sybille losließ, und zog die Frau schnell von ihm weg. Auch Peter und Doktor Hoffmann kamen frei, ihre erschrockenen Wächter flohen Richtung Tür. Aber Merl war noch längst nicht fertig. Lohmeiers Biergarten war nachts mit bunten Lichterketten schummerig erleuchtet, und der Magier trat nun genau kalkuliert in den Kegel einer roten Lampe. Das gedämpfte Licht ließ das Tier, das plötzlich auf seiner Schulter auftauchte, einen gigantischen, schemenhaften Schatten werfen. Ein fauchender Drache, der jetzt auch noch eine Feuerfontäne auszustoßen schien. Merl hob dabei wieder die Arme, bewegte die Hände, die im Schattenspiel zu Klauen wurden, schleuderte weitere Blitze und gab ein bedrohliches Knurren von sich. Mensch und Tier verschmolzen zu einem dämonischen, fauchenden und knurrenden Wesen.

Raimund Clarsen, längst zu alkoholisiert, um logisch zu denken, ergriff die Flucht. – Und rannte dabei direkt Wachtmeister Wegeborn und einem weiteren Polizisten in die Arme.

»Moment mal!«, rief der Dorfsheriff bestimmt. »Nicht so stürmisch! Erst schauen wir uns mal Ihre Personalien an. Hab ich Sie heute nicht schon mal verhaftet? Was ist hier überhaupt los?«

Verwundert schauten die Ordnungshüter auf die ein wenig nach Pulverdampf müffelnde Szenerie. Ein Gewirr aus umgeworfenen Tischen und zerschlagenen Flaschen und Gläsern, Ruben mit der schluchzenden Sybille im Arm, Terry und Berit, die eben wieder auf die Beine kamen, Gina in den Trümmern des Gartenstuhls, Peter und der Doktor, die sich die verdrehten Arme rieben – und mittendrin der völlig gelassene junge Mann im Schlabberlook, dessen bloßer Anblick offensichtlich genügt hatte, die Aggressoren in die Flucht zu schlagen. Wachtmeister Wegeborn rieb sich die Augen. Täuschte er sich, oder hatte da eben noch ein Reptil auf dessen Schulter gesessen? Jetzt war es jedenfalls verschwunden.

Raimund Clarsen zitterte unkontrolliert, als die Polizisten ihn etwas näher an den Mann heranführten, um im Licht seine Ausweispapiere zu kontrollieren.

»Der – der Teufel –«, stammelte er wimmernd. »Ein D-D-Dämon wie im Fernsehen – und ein – ein D-D-D-Drache – nicht, tun Sie mir nichts!« Clarsen hob abwehrend die Hände und schien freiwillig zu Boden gehen zu wollen, als Merlot sich den Polizisten lächelnd zuwandte.

»Ich glaube, der Mann braucht einen Arzt. Nennt man das nicht Delirium? Im Allgemeinen soll man aber eher weiße Mäuse sehen.«

Wachtmeister Wegeborn schaute prüfend von einem zum anderen.

»Der Mann braucht vor allem eine Ausnüchterungszelle. Kann mir jetzt endlich mal einer erklären, was hier passiert ist?«

Pastor Jaeger übernahm die Schilderung der Vorgänge, während Doktor Hoffmann sich um die Verletzten kümmerte. Zum Glück war niemandem ernstlich etwas passiert. Nur Terrys Hand sollte besser noch einmal geröntgt werden.

»Und was war dann mit dem Dämon und dem Drachen?«, fragte der Wachtmeister schließlich.

»Wie es aussieht, haben die Aufregung und der Alkohol Herrn Clarsen doch noch rechtzeitig in seine private Hölle befördert«, lächelte Jaeger. »Mir sind hier jedenfalls keine Dämonen aufgefallen, und Sie wissen, dass ich berufsmäßig für so etwas zuständig wäre.«

Die Polizisten lachten.

»Na, dann nehmen wir den Kandidaten mal mit. Und Sie kommen morgen bitte alle auf die Wache und machen Ihre Aussage. Den Drachen können Sie allerdings zu Hause lassen.« Wegeborn zwinkerte Merlot zu. »Müssen wir jemanden ins Krankenhaus bringen? Fahren kann ja hier wohl keiner mehr.«

Doktor Hoffmann verneinte. Er konnte Terry in seiner Praxis röntgen, und die war zu Fuß zu erreichen. Vorerst fielen aber erst mal alle auf die noch intakten Gartenstühle.

Annika und Frau Lohmeier hatten das Geschehen vom Haus aus verfolgt. Jetzt erschienen sie mit einer Kaffeekanne und einer Cognacflasche.

»Für die Vernünftigen und für alle anderen«, lächelte Frau Lohmeier.

Annika griff nach dem Cognac und wandte sich an Merlot. »Ich komm da nicht drüber weg! Das war ein Drache, leugnen Sie nicht, wenn auch nur ein kleiner. Und er hat Feuer gespuckt. Ich hab es gesehen! Wie um Himmels willen haben Sie das gemacht?«

Merlot lächelte harmlos und wollte eben eine beschönigende Erklärung abgeben, als sich Frau Clarsen vernehmen ließ.

Die Gemeindesekretärin hielt eine Tasse Kaffee in den zitternden Fingern, schien sich aber noch nicht so recht entscheiden zu können, ob sie trinken oder nur ihre Hände wärmen wollte.

»Er hat gar nichts gemacht. Es war ein Wunder …«, flüsterte sie mit tonloser Stimme. »Ich habe mich immer gefragt, was der kleine Junge meinte, mit diesem ›Ssöne Dame hat ein Pokémon‹ Aber er hat es gesehen, das Kind hat den Drachen gesehen … Die Jungfrau hat mich gerettet …«