Nur gegen Aufpreis …
Grauenfels – eine Kleinstadt im letzten Zipfel der neuen Bundesländer. Wenn hier zurzeit die Arbeitslosenrate gegen null tendiert, wenn Menschen zu- statt abwandern und im Monat durchschnittlich zehn Unternehmensgründungen notiert werden, dann kann man wohl zu Recht von einem Wunder sprechen. Aber echte Wunder sind leider selten, und wenn doch mal etwas scheinbar Unerklärliches passiert, so stecken meist außergewöhnliche Ideen und extreme Experimentierfreude dahinter. Alles das – wenn nicht gar den Mut der Verzweiflung angesichts seiner sterbenden Stadt – bewies in diesem Frühjahr Igor Barhaupt, Bürgermeister von Grauenfels in Thüringen. Gemeinsam mit ein paar Werbeprofis heckte er den wohl gewaltigsten Schelmenstreich zur Konjunkturbelebung auf, den die Republik in den letzten Jahren zu verzeichnen hatte. Barhaupt und seine Mitarbeiter inszenierten das »Wunder von Grauenfels« …
»Eigentlich schreibt er ja sehr nett«, kommentierte Gina die ersten Sätze des sechsseitigen Artikels, in dem Ruben Lennart die Grauenfelser Marienerscheinung nach allen Regeln der Kunst enttarnte. BeGin hatten bei Öffnung des ersten Kiosks ein druckfrisches Exemplar der Lupe erstanden.
»Er nennt Claudia eine ›seltene Begabung‹, und Sophie bescheinigt er eine ›in ihren besten Momenten fast überirdische Schönheit‹ …«, meinte Berit, die schon weitergelesen hatte. »Vielleicht beruhigt das Frau Martens. Sie hat noch nicht angerufen, oder, Sybille?«
Frau Clarsen schüttelte den Kopf. »Bis jetzt noch nicht. Aber … was da in dem Artikel steht … das ist doch nicht die Wahrheit.«
Berit schenkte ihr einen entschuldigenden Princess-Diana-Blick. »Ich fürchte doch … wir … also eigentlich hätten wir dich ja eingeweiht, aber du hast so fest dran geglaubt …«
Sybille biss sich auf die Lippen. »Ich habe zuerst gar nicht dran geglaubt, ich bin doch nicht blöd. Schließlich hab ich gesehen, dass die Mädchen hier von Anfang an ein und aus gingen und mit euch herumgetuschelt haben. Aber dann … Ich hab das Wunder schließlich erlebt …« Mit leuchtenden Augen rekapitulierte Frau Clarsen ihr Wunder.
Gina warf Berit einen beschwörenden Blick zu und schüttelte fast unmerklich mit dem Kopf.
Berit deutete ebenfalls ein Nicken an. Es war unzweifelhaft besser, Sybille nicht über die Reiseorganisation aufzuklären. »Es hat sich dann wohl etwas verselbstständigt …«, sagte sie vage.
Sybille warf einen Blick auf ihre Notizen. »Der Doktor hat übrigens angerufen. Wenn es eben geht, möchtet ihr um elf zu ihm in die Praxis kommen, es wäre ziemlich wichtig. Betrifft auch Igor, falls der heute überhaupt noch auftaucht. Sieht aus, als wollte er sich verkriechen.«
Gina seufzte. »Verdenken kann ich’s ihm nicht – würde mich nicht wundern, wenn hier gleich die Hölle los wäre.«
Ganz Unrecht hatte sie damit nicht. Gegen zehn lief das Telefon heiß, und die ersten Reporter warteten vor dem Bürgermeisteramt. Die meisten waren eher belustigt, einige forderten aber auch ziemlich wütend Stellungnahmen der Stadtverwaltung. Auch einzelne Bürger riefen an – Pilger, die sich betrogen fühlten, und andere, die wilde Verschwörungstheorien von Seiten der Presse und der Kirche vermuteten und Grauenfels ihrer Unterstützung versichern wollten. Pfarrer Herberger brachte das Gebäude fast zum Einsturz, ließ sich dann aber dazu abstellen, Regine Martens seelsorgerischen Beistand zu leisten. Claudias Mutter stand kurz vor dem Nervenzusammenbruch – wobei auch sie keineswegs bereit war, die weltlichen Hintergründe der Marienerscheinung zu akzeptieren. Stattdessen klammerte sie sich an die letzten Sätze von Rubens Artikel.
Bleibt die Frage, was Bernie B. sah, als er seinen Eltern bei der letzten Erscheinung entwischte und sich der unsichtbaren »Dame« geradezu in die Arme stürzte. Vielleicht lüftete der Himmel seine Geheimnisse ja doch ein wenig für diese vor Leben und Einfallsreichtum nur so sprühende Stadt und ihre aktiven Bewohner. Oder, um mit einer in Grauenfels engagierten Ordensschwester zu sprechen: »Glauben Sie wirklich, die Madonna lässt sich foppen? So leicht geschieht nie etwas gegen ihren Wunsch …«
»Sie war da, ganz sicher!«, beharrte Frau Martens.
»Sie war natürlich nicht da, ich wusste es doch gleich!«, polterte Herberger und verfärbte sich mal wieder tomatenrot. »Eine Verschwörung – Linke, Schwule, Hippies … Und was um Himmels willen ist das …?« Der Pfarrer wies auf Friederike, die sich gerade aus ihrem Terrarium heraushangelte. Es war erheblich zu klein für sie, und sie pflegte es nach Belieben zu verlassen. »Mein Gott, ich habe auch schon Halluzinationen …«
Gina und Berit waren ganz froh, diesem Wirrwarr für kurze Zeit entkommen zu können. Mit nur wenig Verspätung betraten sie Doktor Hoffmanns Praxisräume. Pfarrer Jaeger war bereits da und kochte Kaffee. Anschließend förderte er aus einem versteckten Schrank eine Cognacflasche hervor.
»Kann sein, dass wir die heute brauchen«, meinte er mit angestrengtem Lächeln. »Der gute Herr Barhaupt ganz sicher, er ist das reinste Nervenbündel. Hat bei mir angerufen, weil er zum Amt nicht durchkam. Die Reporter belagern ihn seit halb neun, und die Dame von der Bild-Zeitung hätte angeblich in seiner Küche einen Weinkrampf gekriegt. Sie fürchtet rauszufliegen, weil erst einer von der Lupe kommen musste, um das aufzudecken. Dabei war sie die ganze Zeit vor Ort.«
Gina und Berit lachten ziemlich mitleidslos.
»Wahrscheinlich wird sie nur nach Borunji versetzt!«, mutmaßte Berit. »Warum sollten wir denn jetzt kommen? Wo steckt überhaupt der Doktor?«
»Hat noch eine Patientin. Schwächeanfall an der Quelle. Die Frau meint, ihren verstorbenen Großvater gesehen zu haben, der ihr gesagt hätte, wo die Aktien liegen, die sie seit drei Jahren suchen. Jetzt glaubt sie, sie wäre reich.« Jaeger schlug die Augen gen Himmel.
»Vielleicht stimmt’s ja, wäre nicht das erste Wunder.« Gina lachte. »Hast du schon irgendwelche Probleme wegen des Artikels?«
Jaeger zuckte die Achseln. »Anruf von der Bischöfin. Sie lädt mich zu einem hochnotpeinlichen Gespräch morgen Nachmittag. Wahrscheinlich wird sie mich gründlich abwatschen. Aber passieren dürfte nichts. Ich glaube, sie hat sich in den letzten Monaten köstlich amüsiert – schlimmstenfalls schickt man mich als Missionar nach Borunji …«
Die drei sahen erwartungsvoll auf, als sich die Tür öffnete, aber statt Doktor Hoffmann schneite nur Igor Barhaupt herein.
»Ich bin entkommen«, erklärte er geschafft und erfasste die Cognacflasche mit dem ersten Blick. »Darf ich?«
Jaeger nickte.
»Die Bild-Zeitung tobt. Sie wollen diesen ›Betrug an gutgläubigen Pilgern‹ bis ins letzte Tüpfelchen aufklären. Und überlegen, ob sie rechtliche Schritte einleiten können und was nicht alles. Das Büro hier wird natürlich gleich geschlossen …«
»Umso besser. Dann kommt Marco wenigstens nicht auf die Idee, denen ein Exklusivinterview anzubieten. Machen Sie sich keine Sorgen, das verpufft genauso schnell, wie es aufflammt …«, beruhigte ihn Gina.
»Wenn die Sache rauskommt, aufgrund derer ich euch hergerufen habe, werden sie den Laden gleich wieder eröffnen.« Das war Doktor Hoffmann. Der Arzt kam aus dem Behandlungszimmer und legte im Eintreten den weißen Kittel ab. Er warf einen begehrlichen Blick auf die Cognacflasche, goss sich dann aber nur einen Kaffee ein. »Wir haben eine Heilung.«
»Na und? Wenn ich mich recht erinnere, haben wir in der Woche durchschnittlich vierzig Heilungen«, meinte Berit.
»Eine richtige Heilung. Eine spontane Regression, wie man das eigentlich nennt. Heute Morgen hat mich ein Onkologe aus Düsseldorf angerufen, wegen einer Patientin. Ich hatte sie kurz mal behandelt, eine Kreislaufschwäche im Anschluss an eine der ersten Erscheinungen. Sie hatte einen Tumor im Kopf, mit Metastasen im Rückenmark. Inoperabel.«
»Und?«, fragte Gina.
»Und nun hat sie nichts mehr. Sie ist geheilt. Und führt das auf ihre Wallfahrt nach Grauenfels zurück.« Doktor Hoffmann schüttete seinen Kaffee herunter.
»Aber das kann doch nicht sein!« Berit wurde fast etwas blass. »Ich meine … Sie kann doch nicht einfach …«
»Doch, sie kann. So etwas gibt es. Allerdings sehr, sehr selten. Auf ein paar hunderttausend Fälle von lebensbedrohenden Krankheiten kommt eine Spontanheilung. Das sind dann die Sachen, die von der Kirche anerkannt werden …«
»Aber … aber … Du meinst, die Leute fahren wirklich nach Lourdes, und dann ist der Krebs weg? Das gibt’s doch nicht.«
»Das eine steht nicht zwangsläufig im ursächlichen Zusammenhang mit dem anderen«, dozierte Doktor Hoffmann. »Tatsächlich passieren diese Heilungen auch ohne vorherige Wallfahrt. Warum weiß keiner. Es ist so was wie ein Lottogewinn. Nur noch seltener.«
»Aber das müsste dann doch ein Wahnsinnszufall sein!«, rief Gina. »Unter Tausenden von Schwerkranken fährt wahrscheinlich nur einer nach Lourdes oder so was, und unter denen wieder hat nur einer unter Hunderttausend eine – wie hieß das?«
»Spontane Regression. Natürlich ist das ein Irrsinnszufall! Auch entsprechend selten natürlich. Denkt mal, wie viele Leute täglich nach Lourdes oder Fátima kommen – aber in all den Jahren seit den Erscheinungen dort gab es nur fünf oder sechs anerkannte Fälle. Und da mögen auch noch Fehldiagnosen drunter sein.«
»Aber diese ist keine?«, versicherte sich Barhaupt.
Hoffmann schüttelte den Kopf. »Der Arzt aus Düsseldorf ist eine Kapazität. Der irrt sich nicht. Der Fall ist narrensicher. Grauenfels hat den Treffer des Jahrzehnts gelandet – wenn wir mal davon ausgehen, dass alle zehn Jahre eine Spontanheilung auf eine Wallfahrt kommt. Weltweit, versteht sich, also auch verteilt auf islamische, buddhistische, hinduistische und was weiß ich was für Heiligtümer. Die katholische Kirche hat da ja kein Monopol.«
»Und was ist nun?«, fragte Barhaupt ungläubig. »Was tun wir jetzt?«
»Das müssen wir eben besprechen. Deshalb rief mich der andere Arzt auch an, er möchte wissen, was wir jetzt zu unternehmen gedenken. Die geheilte Frau möchte eigentlich kein Aufsehen. Sie sei nicht hysterisch, meinte Doktor Riemenschneider, nur unheimlich dankbar. Deshalb wäre sie grundsätzlich bereit, sich einer Untersuchung zu stellen. Schon um anderen Mut zu machen – und auch weil sie sich der ›Regenbogenkönigin‹ verpflichtet fühlt. Gerade nach dem Artikel heute Morgen. Fragt sich, ob wir das wollen.«
»Warum sollten wir es nicht wollen? Mensch, das würde hier Pilgerströme …« Igor Barhaupt begriff erst jetzt, welches Wunder ihm da eben widerfahren war. Wenn die Sache mit der Spontanheilung publik wurde, konnte die Lupe schreiben, was sie wollte. Dann würden die Menschen nach Grauenfels kommen, gleichgültig, wie viele Beweise es gegen die Erscheinung gab.
Doktor Hoffmann hob die Hand. »Igor, überlegen Sie erst mal! Bis jetzt war das hier immer eine Art Jux … Klar kamen ein paar ziemlich verzweifelte Menschen, aber die meisten waren doch Fälle wie die Frau mit der Nase oder die von eben mit dem verlegten Erbe. Wenn wir jetzt zustimmen, machen wir wirklich Schwerkranken Hoffnung. Wir werden ein Krankenhaus bauen müssen statt der Therme. Sie würden jeden Tag einen unendlichen Zug wirklich leidender, sterbender Menschen zu dieser Wunderquelle hinaufwanken sehen, die letztlich nichts anderes ist als ein Anschluss an die städtische Wasserleitung. Oder haben Sie damals ernstlich dieses dreckige Grundwasser verrohrt?«
Barhaupt schüttelte etwas schuldbewusst den Kopf.
»Wollen Sie diese Leute wirklich betrügen? Ist es das wert?«
»Es würde Grauenfels retten«, meinte Barhaupt trotzig.
»Aber es wäre nicht in Ordnung!«, brach es aus Berit heraus. »Denken Sie doch auch mal an die Mädchen. Die Zeitungen würden sie aufspüren, sie würden nie zur Ruhe kommen. Das geht einfach nicht, Igor, das können wir nicht machen!«
»Ich denke auch an die betroffene Frau«, fügte Jaeger hinzu. »Die würde doch angestarrt wie die Kuh mit zwei Köpfen, wo immer sie hinkäme. Und nach Ansicht dieses Arztes ist sie nicht der Typ, der so was genießen würde.«
»Wie etwa unsere Frau Martens …« Gina und Berit lachten gepresst.
»Diese Regressionen sind auch keineswegs unbedingt von Dauer«, gab Doktor Hoffmann weiterhin zu bedenken. »Wirklich als Spontanheilung anerkannt wird das erst, wenn es fünf Jahre anhält. Manchmal wächst nach einem Jahr oder später wieder ein Tumor, und dann ist es ganz schnell vorbei. Für die Frau hieße das, Leiden und Sterben unter Beobachtung der Regenbogenpresse. Ich würde ihr das nicht gern antun.«
Igor Barhaupt holte tief Luft. Er sah plötzlich geschafft und müde aus.
»Dann eben nicht«, sagte er leise. »Wenn ich ehrlich sein soll, ging es mir bisher schon genug an die Nieren. Diese Heilungen aufgrund unserer Schwindeleien … Sterbenskranke Leute zu betrügen ist irgendwie nicht mein Ding. Also lassen wir’s. Wäre nur zu schön gewesen. Wir hätten doch auch mal ein Wunder verdient, oder?«
Am Nachmittag desselben Tages hatte der Betrieb an der Quelle spürbar nachgelassen. Das mochte natürlich auch daran liegen, dass Frau Martens und Pfarrer Herberger die Prozessionen vorerst eingestellt hatten. Donnerstag war zudem nie einer der Hauptbesuchstage.
»Den totalen Einbruch gibt’s wahrscheinlich erst am Wochenende«, meinte Gina. »Wenn die Sache in der Bild stand und in den anderen Blättern. Die Lupe liest von unserer Klientel kaum einer. Aber morgen werden etliche Klatschblätter mit der getürkten Madonna aufmachen.«
*
Am Freitag regnete es in Strömen. Das Wetter passte zu Berits und Ginas Stimmung, nachdem sie sich durch die ersten Stapel Zeitungen durchgebissen hatten – Friederike im Übrigen im wahrsten Sinne des Wortes: Die Leguandame verspeiste die Blätter, wobei sie die Bild-Zeitung bevorzugte.
»Jetzt weiß ich endlich, was die Feng-Shui-Lehre damit meint, dass der Glücksdrache Ordnung in mein Leben bringt«, bemerkte Gina und entriss dem Reptil das Papier. »Ist zwar lieb gemeint, Fritzi, aber das hält dein Magen nicht aus.«
Wie erwartet waren die Kommentare der Regenbogenpresse niederschmetternd. Man sprach von Blasphemie und Betrug an den Pilgern, äußerte sich wortreich über den Missbrauch der armen Kinder aus Profitgründen und stellte haarsträubende Vermutungen zu Claudias und Sophies Verschwinden an. Während Gina und Berit noch nicht in der Schusslinie standen, ließen die Blätter kein gutes Haar an Igor Barhaupt. Der Provinzpolitiker wurde als Hauptschuldiger dargestellt, ein kalt berechnender Geier, dem jedes Mittel recht war, um nur seine Wiederwahl zu sichern. Igor zog es offensichtlich vor, diese Schmähungen zu Hause zu verarbeiten. Im Bürgermeisteramt ließ er sich jedenfalls vorerst nicht sehen. Dabei jagte eine Interview-Anfrage die andere, und Gina und Berit waren im Grunde dafür, möglichst alle anzunehmen.
»Schlimmer als jetzt kann es sowieso nicht mehr kommen«, argumentierte Berit am Telefon. »Und neben den Typen, die sich aufregen, gibt es garantiert Leute, die unsere Idee genial finden. Wer weiß, vielleicht liest es irgendein Industrieboss und findet, diese fitte Stadt mit ihrer flexiblen Verwaltung braucht unbedingt ein … na, was weiß ich, vielleicht eine Formel-1-Teststrecke.«
»Oder eine Endlagerstätte für Brennstäbe«, grunzte Barhaupt verkatert. Er hörte sich an, als hätte er seinen edelmütigen Verzicht auf eine Wiederbelebung des Wunders am gestrigen Abend in Klosterschnaps ertränkt. »Lasst mal, Mädchen, gebt euch keine Mühe …«
Gina hielt die gedrückte Stimmung im Büro schließlich nicht mehr aus und wanderte trotz Bindfadenregens hinauf zum Erscheinungsort. Dort herrschte, wie zu erwarten, gähnende Leere. Gina meinte, das Wäldchen noch nie so verlassen gesehen zu haben, seit sie damals zur ersten Besichtigung mit Igor Barhaupt hinaufgestiegen war.
»Das liegt daran, dass Sie sonst nie bei Regen dort heraufkommen«, tröstete sie später Schwester Felicitas.
Gina traf sie und ihre Mitschwester im Café Lohmeier, wo sie auf dem Rückweg von ihrem Spaziergang kurz einkehrte.
»Nun trocknen Sie erst mal in Ruhe, trinken einen Schluck, dann sieht schon alles ganz anders aus.« Energisch orderte die zweite, deutlich ältere Nonne Irish Coffee für alle.
»Was machen Sie überhaupt noch hier?«, fragte Gina schließlich. »Pilger gibt es schließlich nicht mehr, und Sie müssten uns doch eigentlich eher böse sein.«
Schwester Felicitas schüttelte energisch den Kopf, wobei sich ein paar ihrer drahtigen roten Locken unter der Haube vorstahlen.
»So schlimm ist das gar nicht. Es hat auch keine Sekunde lang jemand daran gedacht, den Kongress abzusagen.«
Die Schwestern waren zum Treffen der feministisch gesinnten Theologinnen gekommen, das an diesem Wochenende stattfand. Die ältere Nonne, Schwester Constanze, gehörte zu den wichtigsten Rednerinnen. Trotz ständiger Reibereien mit ihrer Ordensleitung machte sie sich für die Priesterweihe für Frauen stark.
»Und was die Pilger angeht: Wenn es so gießt wie heute, ist nie was los. Bleibt zu hoffen, dass es morgen besser wird, sonst müssen wir Gummistiefel anziehen.« Schwester Felicitas nickte Gina tröstend zu.
»Unsere Wanderung zur Quelle im Rahmen des Kongresses findet auf jeden Fall statt«, erklärte auch Schwester Constanze. »Schon um zu demonstrieren, dass wir zu den Aussagen der Madonna stehen – egal, ob sie direkt erschienen ist oder das Ganze jemand anderem in die Maschine diktiert hat.«
»Aber wir haben das alles wirklich nur zur Belebung des Fremdenverkehrs gemacht …«, gestand Gina. »Es stand keine politische Absicht dahinter.«
Felicitas lachte. »Das nehme ich Ihnen nicht ab! Sie waren ganz schön sauer, als Sie rauskriegten, dass die Kirche der Jungfrau den Mund verbieten wollte. Geben Sie’s zu! Sonst hätten Sie nicht mit dem Frage- und Antwortspiel angefangen, sondern mit den Prophezeiungen weitergemacht. Damit waren Sie doch auch ganz erfolgreich, und Sie hätten sich langfristig nicht die Anerkennung durch die Kirche verspielt.«
»Die hätten wir doch sowieso nie bekommen«, meinte Gina mutlos.
Schwester Constanze schürzte die Lippen. »Das würde ich so nicht sagen. Schließlich hätte sich ja auf die Dauer noch was ändern können – irgendeine Prophezeiung, die spektakulär genau eintrat, oder eine richtige Heilung. ›Spontane Regression‹ sollte ich vielleicht lieber sagen. Dann hätten sich die Herren das noch mal überlegt. Aber so? Die erste frauenfreundliche Aussage, und es war vorbei. Das wussten Sie!«
Gina zuckte die Achseln. »Darüber haben wir gar nicht nachgedacht. Aber Sie werden wohl Recht haben. Na ja, ich wünsch Ihnen jedenfalls viel Spaß bei Ihrem Kongress. Ich hab gleich ein Interview mit einem Journalisten vom Spiegel, und Berit macht Focus. Nachher will der Stern uns beide und Igor möglichst auch noch. Bleibt zu hoffen, dass er auftaucht – und dass Frau Martens, Claudias Mutter, wegbleibt. Sie hat gestern schon haarsträubende Interviews gegeben. Inzwischen will sie die Jungfrau persönlich im Traum gesehen haben. Wenn sie so weitermacht, verscherzt sie uns die letzten Sympathien.«
Die Reporter der diversen politischen Magazine erwiesen sich als überraschend umgänglich. Die meisten von ihnen neigten wie Ruben dazu, das Ganze von der komischen Seite zu nehmen. Vor allem Ginas Begründung, warum man die Marienerscheinung der UFO-Landung vorgezogen habe, erregte Heiterkeit. Natürlich wollten alle wissen, wo die Stadt Claudia und Sophie versteckt hielt. Die Häuser ihrer Eltern waren umlagert, aber bislang hielten alle dicht. Die Aufenthaltsorte der vorgetäuschten Seherinnen sollten so lange wie möglich geheim bleiben – auch wenn Claudia es wahrscheinlich »geil« gefunden hätte, gleich beim Eintritt in die Schauspielschule von Reportern umlagert zu werden.
»Sie haben die Mädels doch nicht wirklich um die Ecke gebracht, wie dieses Blatt hier vermutet?« Augenzwinkernd hob einer der Reporter das Abendblatt an und schaute höchst irritiert, als darunter Friederike sichtbar wurde. Der Mann zwinkerte daraufhin nochmals, schien im Geist seinen gestrigen Alkoholgenuss zu rekapitulieren und legte die Zeitung dann vorsichtig zurück.
»Natürlich nicht!«, meinte Gina heftig. »Die Mädchen sind absolut glücklich, sie besuchen Internate ihrer Wahl.«
»Und Sie können Ihren Aufenthaltsort natürlich herausfinden, wenn Sie wirklich wollen«, fügte Berit hinzu. »Sie haben da Mittel und Wege, und die Kinder sind schließlich nicht entführt worden und werden auch nicht direkt versteckt. Wahrscheinlich weiß die Hälfte ihrer früheren Mitschüler Bescheid. Aber was hätten Sie davon, wenn Sie sie aufspüren? Die zwei können Ihnen nicht mehr sagen als wir. Aber anschließend hätten sie die ganze Regenbogenpresse auf dem Hals – und die Drohbriefe, die wir hier auch kriegen.«
Berit wies auf einen Korb voller Briefe mit Anschriften wie »An die dreckigen Betrüger in Grauenfels« oder an die »miesen Blasfeministen«.
Der Stern-Reporter angelte sich Letzteren heraus. »Das ist schon ein sprachliches Kunstwerk«, sagte er grinsend. »Ein ›Freud’scher Verschreiber‹?«
Gina lachte. »Eher ein Problem für den Duden. Je lauterer die Gesinnung unserer Brieffreunde hier, desto schwächer die Rechtschreibung … Wollen Sie noch ein paar lesen? Wir öffnen Sie Ihnen bereitwillig – aber die Mädchen würden wir gern davor bewahren.«
Der zweite Reporter blätterte nun ebenfalls in dem Briefstapel und schmökerte in ein paar besonders üblen Exemplaren. Jemand bot Berit und Gina an, ihren »Seherinnen die Jungfrau aus dem Arsch zu ficken«. Andere drohten damit, den Verantwortlichen die Qualen der Hölle schon im Diesseits zugänglich zu machen, wenn sie nur ihrer habhaft würden. Der Leser wechselte einen kurzen Blick mit seinem Kollegen.
»Das fällt schon irgendwie unter Jugendschutz …«, meinte er zögernd und warf den Brief auf den Tisch. Friederike bewegte ihren Kopf langsam unter dem Abendblatt vor, um ihn aufzufressen.
»Also schön«, entschied der andere mit einem nervösen Blick auf das kauende Reptil. »Lassen wir das mit den Mädchen. Aber dafür möchten wir jetzt minutiös wissen, wie Sie die Sache mit dem Hund und der Levitation gemacht haben! – Und was um Himmels willen ist das hier?« …
In den Samstagsausgaben der Boulevard-Blätter stand Grauenfels zwar immer noch auf Seite eins, gab aber immerhin keinen Aufmacher mehr her. Bild und Co konzentrierten sich jetzt fast vollständig auf die verschwundenen Mädchen. Außerdem kamen ein paar Kirchenvertreter zu Wort, die natürlich angaben, das alles von vornherein gewusst zu haben. Die meisten seriösen Zeitungen erwähnten die Erscheinung gar nicht mehr. Denen war das Ganze zwar eine Meldung wert gewesen, aber ausschlachten würden sie es nicht.
»Das nutzt uns bloß nicht viel«, meinte Gina. »Die braven Pilger hier lesen Bild und die Feministinnen TAZ. Und die zerreißt uns in ihrer nächsten Ausgabe garantiert so, dass uns Hören und Sehen vergeht. Wir hatten übrigens gerade eine Interviewanfrage von Emma. Hörte sich auch nicht gerade an, als wollten sie uns einen Preis verleihen …«
Berit nickte und packte ein paar persönliche Sachen aus dem Büro in einen Karton. Es wäre nur fair, zum nächsten Ersten freiwillig fristlos zu kündigen.
»Unser altes Büro in Berlin ist übrigens noch frei … Wir können den Schuppen sofort wieder haben. Einschließlich Feng-Shui-Beratung.« Berits Pony hing traurig über ihren Augen und zeigte an, dass sich ihre Stimmung auf dem Nullpunkt befand. Nicht nur, dass in Grauenfels alles den Bach herunterging, auch Ruben war mal wieder abgängig. Erneut in Sachen Borunji. Nach einem erneuten Putsch – Ruben zählte inzwischen nicht mehr mit – überlegte der neue Kaiser, den alten Präsidenten als Berater zurückzuholen. Der hatte sich dazu bereit erklärt, allerdings nur in Begleitung eines internationalen Beobachterstabes.
»Er scheint der Meinung zu sein, wenn ein paar Leute aus dem Westen dabei sind, wird er nicht gegessen«, hatte Ruben gescherzt. »Aber ich würd mich da nicht drauf verlassen. Die Herrschaften waren nie sehr zurückhaltend. Und ob es gesellschaftlich so verpönt ist? Womöglich hat da jeder eine Rezeptsammlung für unliebsame Verwandte. Wer weiß, ob der Fernsehkoch nicht schon in den Startlöchern steht.«
»Und ihr seid als Vorspeise ausersehen?«, hatte Berit gefragt. »Schöne Aussichten. Mein Job ist weg, und mein Freund steht auf der Speisekarte irgendwelcher Möchtegern-Kaiser. Ich hätte dem Glücksdrachen nicht immer das billigste Katzenfutter kaufen sollen …«
Gegen elf Uhr, Gina öffnete gerade die erste Packung Kartoffelchips und Berit nahm den ungefähr achtundzwanzigsten obszönen Anruf des Tages entgegen, kam Mandy vorbei. Die kleine Hexe hielt sich nicht mit Klopfen auf, sondern wirbelte mit vergnügtem Gesichtsausdruck direkt in Berits und Ginas Büro.
»Schöne Grüße von Herrn Barhaupt, Sie möchten doch bitte mal zur Quelle kommen. Es gäbe ein Wunder!«, vermeldete der Rotschopf. Mandy trug heute eine schrillbunte, wattierte Jacke über einem sehr abgetragenen Baumwollrock.
»Was gibt es?«, fragte Berit irritiert und drückte das Gespräch weg. Der Anrufer hatte ohnehin nur rhythmisch hineingestöhnt.
»Müssen Sie selbst sehen!« Mandy war schon wieder im Aufbruch und winkte ihr nur im Hinauslaufen zu. »Keine Zeit, muss schnell noch ein paar Pötte verkaufen. Ich mach heute Vertretung, die Frauen vom Stand sind beim Kongress. Bis nachher!«
Berit und Gina schauten einander unschlüssig an. Das Telefon klingelte schon wieder.
»Wenn ihr gerade rübergehen wollt – ich komme allein zurecht.« Sybille machte Anstalten abzuheben. Sie war trotz des Samstags vorbeigekommen, um Gina und Berit zu entlasten und aufzuheitern. Im Restaurant, behauptete sie, würde wohl sowieso nicht viel zu tun sein.
»Du willst dir das wirklich antun?«, fragte Gina zweifelnd. Das erste Interesse der Presse an Stellungnahmen war weitgehend verebbt. Dafür nutzten enttäuschte und wütende Mariengläubige sowie chronische Nörgler und Perverse den freien Samstagmorgen zum Frustablassen.
»Ach, da hör ich drüber weg«, meinte Sybille unbekümmert. »Wenn sie’s zu weit treiben, lege ich auf, und ansonsten bleibe ich einfach bei der Wunderversion. Die kann ich problemlos vertreten. Ich hab schließlich eins erlebt.« Sybille lächelte verschwörerisch.
Diese Argumentation war kaum zu widerlegen.
»Den Prozessionsweg oder schnell über den Steinbruch?«, fragte Berit, als die beiden Frauen schließlich vor der Tür standen. Sie blinzelten in gleißendes Sonnenlicht. Dieser erste Samstag im Herbst präsentierte sich von der besten Seite.
»Steinbruch«, entschied Gina. »Klang schließlich dringend. Also wenn das jetzt noch mal eine spontane Sowieso ist, dann nehme ich es als göttliche Fügung …«
Im Steinbruch fiel den beiden als Erstes auf, dass die Zufahrt für die Notarztwagen hoffnungslos zugeparkt war. Kein Wunder, die hier gewöhnlich aufgestellten Wächter von der freiwilligen Feuerwehr hatte Barhaupt gestern abgezogen. Außerdem hörten sie gedämpften Gesang, der lauter wurde, je höher und schneller sie zum Erscheinungsplatz hinaufstiegen. Die übliche musikalische Vergewaltigung des »Ave Maria«.
»Ich werd verrückt«, murmelte Gina.
Der Platz vor der Quelle war angefüllt mit Pilgern. Die Menschen starrten inbrünstig ins Nichts und sangen aus voller Kehle. Igor Barhaupt schraubte an den Wasserhähnen herum, offensichtlich gab es hier einen Defekt. Die Menschen in der Schlange davor warteten jedoch geduldig mit ihren mitgebrachten oder unten in der Stadt erstandenen Gefäßen.
»Sie sind hier wegen … der Marienerscheinung?«, fragte Berit eine ältere Frau, die sich auf einem ihrer drei Wasserkanister niedergelassen hatte. Die Dame unterbrach ihren Gesang und nickte eifrig.
»Aber es heißt doch, das wäre alles Schwindel«, meinte Gina. »Die Zeitungen …«
»Diese Zeitungsschmierer!« Die Pilgerin zeterte wie von der Tarantel gestochen. »Alles müssen sie in den Dreck ziehen. Aber nicht mit uns! Ich weiß, auf welcher Seite ich stehe. Und die anderen auch. Wir werden die Jungfrau nicht verraten. Auch wenn sie die kleinen Seherinnen jetzt weggeschickt haben. Hier ist ein Wunder geschehen. Das können die nicht wegschreiben!« Dann versank die Frau plötzlich wieder in Anbetung.
Als Gina und Berit sich abwandten, nahm sie auch ihren Gesang erneut auf. Gina und Berit liefen weiter. Am Sammelplatz für die Prozessionen, wo sich eben etwa zwanzig Pilger zum nächsten Zug formierten, gesellte sich Pastor Jaeger zu ihnen.
»Es wirft einen um, nicht wahr? Ich glaube fast, es sind mehr als vorher.«
»Es ist nicht zu glauben«, meinte Gina kopfschüttelnd.
»Falsch«, bemerkte Schwester Felicitas. Sie war tatkräftig damit beschäftigt, die Organisation des Pilgerverkehrs wieder anzukurbeln, und ließ den Frauenkongress offensichtlich gern dafür sausen. »Es ist ganz allein eine Frage des Glaubens. Solange die Leute Wunder wollen, werden auch welche passieren. Und das ist auch gut so. Tun Sie mir jetzt bitte einen Gefallen und leihen Sie mir kurz Ihr Handy, damit ich diesen Pfarrer Herberger herbeordere. Der muss nachher die übliche Samstagnachmittag-Andacht halten, sonst sind die Leute vergrätzt. Und diese Frau Martens soll auch ihre Schmollecke verlassen und sich schleunigst herbemühen. Die Leute fragen ständig nach geführten Prozessionen. Und außerdem wollte sie doch so wahnsinnig gern dieses Wochenende getauft werden. Schwester Constanze steht schon in den Startlöchern.«
Gina reichte ihr grinsend das Mobiltelefon. »Rufen Sie Frau Martens an. Aber den Pfarrer Herberger – den überlassen Sie doch mir!«
Im Büro zurück erwartete Berit und Gina eine weitere Überraschung. Sybille wedelte vergnügt mit einem Notizblock. »Drei obszöne Anrufer und einen Klatsch-Reporter hab ich abgeschmettert. Aber ansonsten war da noch ein Anruf von so einer buddhistischen Sekte. Für die ›Wunder-Agentur Be-Gin‹. Sie würden ihren Guru gern fliegen lassen. Ob sich das bewerkstelligen ließe. Außerdem wären seine letzten Mantras etwas ausgelutscht. Da müsste am Text gearbeitet werden. Ach ja, und dann hattet ihr zwei Anfragen von Schlosshotels – die hätten gern ein paar Geister-Erscheinungen. Mit dem Hund von Baskerville, wenn’s geht.«
Berit schaute noch etwas irritiert, während Gina schon zum Hörer griff. »Okay. Fangen wir mit dem Guru an. Der Weg ist das Ziel. Ich frage gleich mal Merl wegen der Levitation. Und du nimmst die Hotels. Geister sind kein Problem. Aber sag’s ihnen gleich, der Hund kostet extra. Nicht, Rex?«
Rex Heß den Tisch mit einem Schwanzwedeln erbeben, erhob sich dann und deponierte seinen Riesenkopf auf Ginas Jil-Sander-Kostüm. Gina hatte schon ein Tempotuch gezogen und entfernte den Geifer mit geübtem Griff.
»Und Ektoplasma«, sagte sie gelassen, »kostet natürlich erst recht einen Aufpreis. Ach ja, und biete ihnen auch noch Feng-Shui-Beratung für ihre Zimmer an. Mit sichtbarem Glücksdrachen.«
Friederike, die es sich auf der Bild-Zeitung gemütlich gemacht hatte, hob langsam ein Augenlid. Dann versank sie wieder im Tiefschlaf. Für heute hatte sie ihren Job erledigt.
ENDE