Königin der Herzen und ein bisschen schwarzes Blut
Für eine Projektion brauchen wir ein Bild. Am besten ein Dia«, führte Merlot begeistert aus. Er sah es als besondere Herausforderung an, dass er die Jungfrau Maria erscheinen lassen sollte. »Haben Sie so was?«
Gina nickte. »Massenweise. Die Grauenfelser Marienszene schwimmt in Heiligenbildchen.«
»Aber die können Sie doch nicht einfach abfotografieren!« Merlot zog missbilligend die Stirn kraus. »Was ist mit dem Copyright? Wollen Sie da einen Künstler um sein Honorar betrügen?«
Gina winkte unbekümmert ab. »Wir nehmen eins von Leonardo da Vinci oder so. Der ist schon tot. Oder ich male selbst.«
»Sie bringen nicht den richtigen Ernst auf!«, tadelte Merlot. »Nein, wirklich, das mit dem Copyright war natürlich ein Scherz, aber ein Heiligenbildchen kommt nicht infrage. Das könnten die Leute wiedererkennen. Es darf sowieso kein Gemälde sein, das wirkt nicht echt. Wir brauchen ein Foto, besser zwei oder drei, dann könnte ich vielleicht etwas Bewegung reinbringen. Die Projektion darf ja nur ganz kurz kommen und ganz schwach, die Leute müssen selbst ein bisschen daran zweifeln, was sie gesehen haben – und sie dürfen keine Gelegenheit haben, das Phänomen zu knipsen.« Merlot kam jetzt in Fahrt.
Gina beobachtete fasziniert, wie er dabei mit Händen und Füßen gestikulierte und manchmal wie nebenbei die Zuckerdose oder das Kaninchen verschwinden ließ.
»Wenn das einer auf dem Film hat und Experten untersuchen das Bild, dann haben sie uns. Das muss euch klar sein!«
Das frustrierte Kaninchen steckte schnuppernd den Kopf aus Merlots Hosentasche. Der Zauberer streichelte es fahrig und half ihm heraus.
»Ich würd’s deshalb auf keinen Fall an einem der Erscheinungstage machen«, überlegte er weiter. »Da liegen zu viele Leute mit Videokameras und Fotoapparaten auf der Lauer. – Besser ein anderer Tag, an dem nur zwanzig oder dreißig Pilger anwesend sind. Das reicht vollkommen. Ich muss mir das Gelände auch vorher noch anschauen. Passt mal auf, ich habe morgen keine Vorstellung. Soll ich da einfach mal bei euch vorbeischauen?«
*
Merlot erschien pünktlich, ohne Leguan und Tiger, nur Pudelhündin Claudette wich ihm nicht von der Seite. Zumindest bis zu ihrer Begegnung mit Rex. Der sabbernde Riesenköter gewann ihr Herz mit dem ersten Schnüffeln. Claudette tanzte zierlich auf den Hinterbeinen vor ihm herum, während Gina Igor Barhaupt den Magier vorstellte.
»Und Sie wollen uns nun die Jungfrau herzaubern?«, fragte der Bürgermeister skeptisch. »Na, wenn das mal gut geht …«
»Also für die Unberührtheit der Erscheinung kann ich nicht garantieren«, sagte Merlot und ließ grinsend ein Heiligenbildchen aus der Luft auftauchen. »Hier, hab ich gerade geschenkt gekriegt. Als Zugabe für den Parkplatz sozusagen. Saftige Gebühren haben Sie da übrigens, kann man nicht anders sagen!«
Barhaupt warf Gina einen entnervten Blick zu. »Haben die Jungs schon wieder erhöht? Da müssen wir langsam einen Riegel vorschieben … Vor allem sollten unsere eifrigen Jungunternehmer die Einnahmen bald mal versteuern!«
»Aber ich kann Ihnen die Dame natürlich auch ohne Unterleib aus der Luft holen …«
»Nun hören Sie mal auf zu ulken«, bremste Gina Merlot. »Kommen Sie lieber mit zum Erscheinungsplatz, bevor es regnet. Und gucken Sie gefälligst wie ein Pilger, Sie fallen sonst auf!«
Claudette verließ Rex sichtlich ungern, aber Gina erlaubte nicht, dass der Schäferhund ihnen folgte. Trotz seines enttäuschten Blicks schlug sie ihm die Tür vor der Nase zu.
»Es macht einen zu schlechten Eindruck, wenn er da oben an die Bäume pinkelt«, erklärte sie Merlot. »Und die Quelle scheint ihn anzuregen, kaum betritt er das Wäldchen, da sprudelt’s aus ihm heraus. Sonst hab ich ihn ja gern, aber er stört die Andacht der Pilger. Mal abgesehen von seinem nervtötenden Gejaule, kaum dass einer singt.«
Merlot folgte Gina interessiert durch die beim heutigen Regenwetter wenig bevölkerten Straßen von Grauenfels. Wenn die Temperatur unter eine gewisse Grenze fiel, blieben erfahrungsgemäß auch die eifrigsten Pilger weg. Der Devotionalienhändler verschanzte sich und seine Waren unter einer schwarzen Plastikfolie. Die Mädcheninitiative – inzwischen firmierten die »Regenbogenmädchen« unter einem rührend kitschigen Emblem, auf dem ein artiges Mädchen der Madonna eine Rose reichte – schützten ihre Angebote notdürftig mit bunten Schirmen. Merlot warf einen skeptischen Blick auf die Tongefäße: »Handarbeit der Regenbogenmädchen«. Der Aufkleber war mit Hilfe des neuen Computers höchst professionell gestaltet, machte die Töpferwaren aber auch nicht schöner.
Mandy – sie bewahrte ihre artige Frisur mit einem blauen Schal vor dem Sprühregen – winkte Gina etwas frustriert zu.
»Heute läuft’s nicht, was?«, fragte Gina mitleidig.
Mandy nickte. »Ich mach auch gleich zu. Wir haben noch Gruppensitzung. Wegen dieser Chorgründung, die alte Martens sucht noch Stimmen für den Sopran der Marienlieder. Wir machen ja ungern was mit ihr zusammen. Aber ’ne CD wär nicht schlecht. Und als Chorleiterin kann sie was, ich hatte sie in der Grundschule. Die hat selbst aus uns Dreikäsehochs einen ordentlichen Kanon rausgekitzelt.«
»Vor allem wäre Frau Martens beschäftigt und ließe Claudia in Ruhe.« Gina seufzte. »Seit wann macht sie denn das mit dem Chor? Ich dachte, sie steckt noch voll in der Organisation des Frauengebetskreises und der Blumendekoration an der Quelle.« Gina öffnete ihren Schirm. Merlot zog sich einen Knirps aus der Luft. Mandy beobachtete ihn ungläubig.
»Sie sollen das doch lassen!«, zischte Gina ihm zu und wandte sich dann wieder Mandy zu. »Eine CD der ›Kinder von Grauenfels‹ wäre jedenfalls der Verkaufsschlager. Wenn die Martens das wirklich professionell aufzieht, würde ich euch empfehlen mitzumachen. Aber lasst euch bei den Verhandlungen nicht an die Wand drücken. Seht zu, dass ihr euren Anteil kriegt.«
»Keine Sorge!«, meinte Mandy selbstsicher. »Ich hab ein Buch über Marketing. Wir werden auch über die Titelgestaltung diskutieren. Wenn wir da überhaupt mitjodeln, dann heißt das Album ›Regenbogenmädchen singen um ein Wunder‹ oder so!«
»Aber nicht den guten Zweck vergessen!«, rief Gina ihr noch zu, während sie Merlot weiterführte. Der Pilgerweg erwies sich heute als etwas glitschig. Zweimal reichte der Zauberer Gina die Hand, um ihr über extreme Stellen hinwegzuhelfen.
»Hier muss unbedingt mal geschottert werden«, bemerkte Gina. Sie hätte die Hilfe nicht wirklich gebraucht, aber sie fand Merlots Fürsorge rührend.
Am Erscheinungsplatz tat sich heute auch nicht viel. Nur ein paar wirklich unentwegte Pilger harrten, zusammengekauert unter ihren Schirmen, auf den Bänken aus. Gina dachte an Sybille Clarsen und ihr verzweifeltes Gebet. In den nächsten Tagen müsste die Gewinnbenachrichtigung eintreffen.
Merlot schien den Sprühregen gar nicht zu bemerken. Gefolgt von der wenig begeisterten Claudette, wanderte er Wäldchen und Steinbruch fast zentimeterweise ab und fand schließlich den gesuchten Platz ganz in der Nähe der Quelle – in dem Teil des Wäldchens, den Berit als mögliche Freilichtbühne vorgesehen hatte. Eine Kalksteinwand ragte hoch vor einer Lichtung auf. Die ideale Projektionsfläche.
»Hier müsste es gehen«, meinte der Zauberer. »Kriegt man die Leute da hin?«
Gina nickte. »Lässt sich machen. Müssen wir nur die Prozession in die Richtung leiten. Am besten jetzt schon, damit das Ganze vorbereitet ist. Wir machen die Prozessionen jetzt jeden Freitag, Samstag und Sonntag. Pfarrer Herberger aus dem Nachbarort tobt deswegen, aber weder er noch der Bischof können den Leuten verbieten, Kerzen schwenkend und Lieder singend durch den Wald zu ziehen. Was ist mit dem Projektor? Was haben Sie überhaupt für ein Equipment?«
Merlots Mimik verzog sich wieder mal in Richtung spöttisch-unnahbar. »Die Geheimnisse des Magiers …«, setzte er an.
Gina verdrehte die Augen. »Hören Sie, ich kann zwar keine Kaninchen aus dem Hut zaubern, aber ich bin Grafikerin. Ich hab schon unzählige Male mit Dias gearbeitet, und wie Projektionen funktionieren, brauchen Sie mir beim besten Willen nicht zu erklären. Mit Ihren speziellen Gerätschaften kennen Sie sich zwar garantiert besser aus, aber ich kenne dafür dieses Waldstück wie meine Westentasche. Also wollen Sie mich jetzt aufklären, in welcher Entfernung zur Wand Sie arbeiten wollen und wie viel Platz der Aufbau benötigt, oder haben Sie das dringende Bedürfnis, allein das ideale Versteck zu finden? Dann lassen Sie sich aber auch allein nass regnen! Wenn Sie mich nicht brauchen, habe ich’s im Büro gemütlicher.«
Merlot sah sie reumütig an. »Ich weiß, ich bin albern«, gab er zu. »Also: angenommen, die Erscheinung in zehn Meter Höhe, dann benötigen wir einen Abstand von der Wand von, sagen wir mal, fünfzig Metern. Relativ wenig Equipment, leicht zu tragen. Wo würden Sie aufbauen?«
Nach einer weiteren, feuchten halben Stunde im Wald hatten Gina und Merlot das ideale Versteck gefunden und waren endgültig per du. Der Magier würde seine Ausrüstung in eben jenem alten Hochsitz aufbauen, den Gina und Berit als Ausguck bei den ersten Erscheinungen benutzt hatten. Er müsste allerdings noch etwas besser getarnt werden. Außerdem sollte die Leiter weg.
»Wäre schließlich ein böses Foul, wenn ich da am Tag der Tage hinkomme, und der Ausguck ist schon belegt …«
Auf dem Rückweg ins Büro machten die beiden kurz Halt bei Lohmeier und tranken einen wärmenden Klosterschnaps auf den ersten Planungsschritt. Entsprechend heiter gestimmt erreichten sie anschließend Ginas und Berits Büro und warfen Ginas Computer an. Sie hatte schon etwas vorgearbeitet.
»Das Kleid nehmen wir von der Hochzeit von Prinzessin Diana. Daran hatte ich den Zeichnungsentwurf orientiert, da bleiben wir jetzt auch dabei. Nur die Puffärmel mache ich noch weg.«
Gina rief ein Hochzeitsfoto der Prinzessin auf und entfernte Prinz Charles in demselben Tempo vom Bildschirm, in dem Merlot gewöhnlich seine Kaninchen verschwinden ließ. Ein paar Mausbewegungen später war auch das Kleid etwas schlichter gestaltet.
»Fragt sich nur, welches Gesicht wir jetzt nehmen.«
Gina ließ verschiedene Gesichter junger Frauen nacheinander über den Bildschirm flackern. So richtig zufrieden war sie bisher allerdings mit keinem davon.
»Dies hier, das hat was Orientalisch-Geheimnisvolles … Das find ich schon irgendwo gut …«
»Aber es fehlt die menschliche Wärme«, meinte Merlot. »Die guckt zu verführerisch. Die Blonde eben war irgendwie mütterlicher.«
»Aber sonst sah sie aus wie Barbie. Warte mal, wenn ich die beiden übereinander lege …«
Gina stellte mit wenigen Mausklicks ein drittes Gesicht aus den beiden ersten zusammen.
»Nee, das wirkt künstlich. Obwohl die Kombinationsidee gar nicht schlecht ist, die zwei müssen nur besser zusammenpassen.«
»Warum nehmt ihr nicht gleich das Original als Ausgangsgesicht?«, fragte Berit mit einem beiläufigen Blick auf den Bildschirm. »Ich meine, der Ausdruck dieser Prinzessin passt doch ideal: ›Königin der Herzen mit gütig-glücklichem Blick auf ihr Volk‹. Was wollt ihr mehr?«
Merlot sah das Hochzeitsbild der verblichenen Prinzessin genauer an. »Keine schlechte Idee. Wenn man da das Gesicht von der Orientalin drüberlegt …«
Gina nahm die entsprechenden Veränderungen vor. Das Ergebnis war verblüffend.
»Ich würd vielleicht noch einen Schuss Shari Belafonte drüberlegen«, meinte Berit. »Weil – also wenn wir jetzt textlich das ganze Madonnenbild reformieren, dann will ich auch verschiedene Rassen in ihr gespiegelt sehen. Gib ihr einen Tropfen schwarzes Blut, bitte!«
Gina suchte nach entsprechenden Fotos und arbeitete eine Viertelstunde lang intensiv an ihrer Kreation. Dann stand der Entwurf: Eine strahlend schöne, rassisch nicht zu definierende junge Frau im weißen Kleid, die Kapuze ihres weiten, blauen Mantels leicht nach hinten verrutscht, sodass der Blick auf langes, schwarzes Haar freigegeben wurde, streckte dem Betrachter anmutig grüßend die Arme entgegen. Die Lippen der Gestalt waren leicht geöffnet, ein geringes Schwanken der Projektion würde fast den Eindruck erwecken, als bewegten sie sich. Der Augenaufschlag unter der Kapuze wirkte ein wenig wie ein Schielen – hier war Diana durchgeschlagen –, aber es gab der Gestalt einen anrührend menschlichen Ausdruck und erweckte wieder den Anschein von Bewegung. Das Gesicht verfügte über aristokratisch hohe Wangenknochen, eine weiche, leicht negroide Lippenform, eine hohe Stirn und eine gerade, klassisch schöne Nase.
»Perfekt«, rief Merlot. »Optimal zwischen Mädchen, Mama und Kleopatra. Das wird die Show meines Lebens. Wann ziehen wir’s durch, nächste Woche?«
*
Die Verschwörer wählten einen Freitag für ihre Aufführung – zufällig genau den Tag, an dem Sybille Clarsen ihre Gewinnbenachrichtigung erhielt.
Die Gemeindesekretärin konnte es nicht fassen. »Eine Reise nach Jamaika! In ein Fünf-Sterne-Hotel! Und ich kann Michi mitnehmen, Kinder unter acht Jahren sind frei! Ist das nicht wunderbar? Wissen Sie, bis jetzt hab ich ja nicht so ganz dran geglaubt an die heilige Maria hier, aber … aber jetzt wo ich so sehr um ein Wunder gebeten habe …«
»Inwiefern ist denn eine Reise ein Wunder?«, grummelte Igor Barhaupt. Der Bürgermeister litt schwer unter Lampenfieber. Die Einbeziehung des Magiers in die Erscheinungsgeschichte lag ihm ziemlich im Magen.
Berit und Gina konnten es nachvollziehen. Bisher hätte Barhaupt jegliche Beteiligung an der Erscheinungsgeschichte leugnen können. Aber jetzt: Ein Profi-Zauberer auf der Gehaltsliste war nicht wegzuleugnen.
»Für mich ist es ein Wunder!«, jubelte Sybille Clarsen. »Einmal hier rauskommen, die Sonne, die Karibik … frei sein, verstehen Sie?«
»Also in der Regel nimmt man seine Probleme mit, egal wo man hinfliegt«, dämpfte Barhaupt sie. »Können Ihnen all meine Nachbarn bestätigen, die Balkonien gegen Mallorca eingetauscht haben.« Er verließ missmutig das Zimmer.
»Ich nicht!«, rief Sybille Clarsen Barhaupt hinterher. Sie strahlte Gina und Berit an. »Ich tauche mal ganz ab. Buchstäblich! Ein Tauchkurs ist nämlich auch dabei. Oh, ich freue mich so, ich glaube, ich gehe mit auf die Prozession heute!«
Gina und Berit sahen einander fragend an. Ob das so eine gute Idee war? »Oh, äh, Frau Clarsen …«, setzten beide gleichzeitig an.
»Wollten Sie heute nicht diese Probeaufnahme von Frau Martens’ Chorgesang für uns machen?«, fiel Berit glücklicherweise ein. Das war tatsächlich geplant. Claudias Mutter musste vom Erscheinungsort fern gehalten werden, und das ging erfahrungsgemäß am besten, indem man ihrem Ego schmeichelte. In den letzten Wochen hatten Berit und Gina reichlich Zeit gehabt, Frau Martens’ Persönlichkeit zu studieren. Nach wie vor legte Claudias Mutter ihren gesamten Ehrgeiz in Betreuung und Promotion ihrer »auserwählten« Tochter. Abgesehen von der nervlichen Belastung aller sonstigen Beteiligten tat das der Gesamterscheinung eher gut. Seit Frau Martens den von Pfarrer Herberger stets eher stiefmütterlich behandelten katholischen Frauenkreis von Tatenbeck dazu gebracht hatte, mit fliegenden Fahnen zu ihr überzulaufen, war die Quelle stets mit frischen Blumen geschmückt. Die Erscheinungsplätze waren sauber wie geleckt – Frau Martens entdeckte jedes Bonbonpapierchen und entfernte es umgehend von der heiligen Stätte –, und wenn es nicht regnete, hielt der Frauengebetskreis täglich eine Andacht an der Quelle. Die Frauen genossen die Chance, sich als Vorbeterinnen zu profilieren, und sahen dabei gern darüber hinweg, dass die Leiterin ihres Kreises streng genommen nicht mal der richtigen Konfession anhing. Von ihrer SED-Vergangenheit ganz zu schweigen. Neuerdings leitete Frau Martens nun auch noch den Ghor – angeblich mit guten Ergebnissen. Am nächsten Erscheinungstag sollte sie ihn zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentieren. Die Sänger hofften auf einen Plattenvertrag. Gina und Berit sahen vor allem den positiven Nebeneffekt, dass Claudia ungestört von ihrer Eislaufmami würde agieren können.
Sybille Clarsen schaute enttäuscht in ihren Terminkalender. »Das hätte ich jetzt fast vergessen. Aber nachher zünde ich an der Quelle eine Kerze an. Bestimmt!«
»Und nach der Reise legt sie den Flugschein zu den Votivgaben«, grinste Gina, als Frau Clarsen wieder hinaus war. »Wozu mir die Nase dieser Frau Sowieso einfällt. Was macht dein Journalistenfreund, Berit? Nichts mehr von ihm gehört? Ich dachte damals, bei euch wär’s schwer am Schnackeln …«
Berit imitierte ein Schniefen. »Es hat nicht sollen sein. Zumindest vorerst nicht. Ich werde mir beim nächsten Mal überlegen, die Madonna irgendwelche Putsche voraussagen zu lassen, Borunji war ein Eigentor. Da haben sie sich nämlich gleich nach dem vorhergesagten Regierungswechsel noch mal in die Haare gekriegt, und der neue Häuptling ist zufällig ein alter Bekannter von Ruben. Er hat mal eine größere Reportage über dieses komische Land gemacht, und der Typ war wohl Sprecher der Opposition. Auf jeden Fall hat Ruben ihn damals interviewt, und jetzt hat der Mann angerufen und wollte ihm ganz exklusiv von den diversen Massakern erzählen, die sie da gerade durchziehen oder vorher durchgezogen haben, oder was weiß ich. Der Chefredakteur der Lupe war hin und weg – und hat Ruben natürlich gleich von der Neue-Bundesländer-Story abgezogen und in den nächsten Flieger gesetzt. Seitdem ist Funkstille.«
»Im Urwald haben sie wahrscheinlich keinen E-Mail-Anschluss«, mutmaßte Gina tröstend.
»Oder der Häuptling hat auch eine sehr nette Medienreferentin«, bemerkte Berit. »Wir werden es sehen. Ich mach mir jedenfalls keine Illusionen. Wenn er weg ist, ist er weg. Wie ist das Wetter draußen?«
»Ganz ordentlich«, meinte Gina. »Kühl, wolkig, aber kein Regen, auch nicht angesagt. Merl meint, es sei ideal für die Erscheinung. Das Pilgeraufkommen ist ziemlich hoch, eher mehr als geplant, hoffen wir mal, dass keiner einen Fotoapparat dabeihat. Wir überprüfen das ja auch seit ein paar Tagen. Weil angeblich das Blitzlicht die Andacht stört. Superidee! Stammt von Merl!«
»Du bist auch nicht schlecht verschossen, oder?«, fragte Berit grinsend. »Gedenkst du, demnächst mit ihm im Wohnwagen zu leben und dein Bett mit einem Faultier zu teilen?«
»Wäre nicht das erste!« Gina lachte. »Wenn ich an den Architekten denke, mit dem ich mal zusammen war –«
Claudia und Sophie unterbrachen das Gespräch. Beide in Jeans und Wachsjacken. »Ist windig draußen«, erklärte Claudia ihren Aufzug. »Hoffentlich geht mir nicht wieder die Kerze aus.«
»Nehmt ihr nicht die neuen Leuchter, die Mandy und Co verkaufen?«, fragte Berit. »Die sind doch ganz hübsch und sollten den Wind abhalten.«
Mit den regelmäßigen Prozessionen hatten die Regenbogenmädchen das Angebot erweitert.
Claudia schnaubte. »Deren Leuchter halten den Wind genauso sicher ab wie ihre Krüge das Wasser drin«, bemerkte sie. »Mir ein Rätsel, wer den Schrott kauft. Aber Susan und Linda, die im Chor mitmachen, können wenigstens singen. Die reißen da einiges raus. Dagegen die Leute von Pfarrer Herberger …«
»Ist der Tatenbecker Chor jetzt auch übergelaufen? Dieser Pfarrer Herberger wird sich noch mal nach der Idee mit der Endlagerstätte für Atommüll zurücksehnen. Könnt ihr euren Text?«, fragte Gina und wurde ernst.
Claudia und Sophie überhörten die letzte Frage.
Schweigend machten sich die vier auf den Weg zum Prozessionsweg. Unterwegs sauste Gina noch schnell in den Supermarkt, um die Chipsvorräte aufzufüllen. Sophie spielte nervös mit ihrer Kerze.
Am Verkaufsstand der Regenbogenmädchen war heute viel los, fast noch mehr bei den Devotionalien.
»He, der hat ja neue Bilder!«, bemerkte Berit und zeigte auf eine Auswahl grauenhaft kitschiger, aber perspektivisch immerhin gut gestalteter Gemälde und Drucke. »Qualitativ deutlich besser als die alten. Wieder ein örtlicher Künstler?«
Gina räusperte sich. »Äh, hm … diesmal mehr eine Zugereiste. Mein, äh, Auto brauchte Sommerreifen.«
Berit gluckste. »Ganz neue Definition von Gebrauchsgrafik.« Sie kicherte. »Wie schade, dass ich meine Texte nicht vermarkten kann.«
»Du kannst später deine Memoiren schreiben«, tröstete sie Gina. »Außerdem geht ›Die Geheimnisse von Fátima‹ hier wie verrückt. So was kannst du ja auch mal verfassen.«
Die Pilger warteten am Eingang zum Steinbruch mit schon entzündeten Kerzen und grüßten die Seherkinder mit einem schauerlich falschen »Ave Maria«. Sophie schob sich unauffällig Ohropax ein, woraufhin ihr hübsches Gesicht den typisch entrückten Ausdruck eines Teenagers unter dem Einfluss seines Walkmans annahm. Claudia schenkte den Fans ein schüchternes Lächeln und zog dann mit züchtig gesenktem Kopf der Prozession voran. Neuerdings gab es einen Rundweg zum Erscheinungsplatz. Nach Elfis Sturz hatte Barhaupt den Parallelweg zum Pilgerpfad planieren lassen. Den zogen die Mädchen jetzt mit ihrem Gefolge hinauf, frontal auf die Felswand zu, auf die Merlot die Erscheinung projizieren würde.
Die Wanderung verlief quälend langsam. Viele der Pilger waren nicht sonderlich gut zu Fuß, dazu schien Singen und gleichzeitiges Wandern die meisten zu überfordern.
Berit schaute genervt auf die Uhr. Wenn es nur nicht noch anfing zu regnen und zu früh dunkel wurde. Die Lichtverhältnisse mussten genau stimmen, damit die Erscheinung so ankam, wie geplant. Wenn das überhaupt klappte – eine Generalprobe war in Anbetracht der stetigen Pilgerströme nicht möglich gewesen. Gina öffnete die erste Chipstüte. Sie fühlte sich in ihren schlimmsten Ahnungen bestätigt, als tatsächlich leichtester Sprühregen aufkam, während die Gruppe das Wäldchen verließ und auf die Lichtung vor der Felswand trat. Von irgendwoher donnerte es sogar. Oder lieferte Merlot auch einen Soundtrack? Auf jeden Fall begann er seine Show exakt in dem Moment, in dem die Prozession stockte, weil die Pilger ihre Schirme herauskramten. Von einem Moment zum anderen wurde die Szenerie in blendend helles Licht getaucht, dazu ertönte weiterer Donner. Nach zwei Blitzen wirkte das frühabendliche Zwielicht im Steinbruch fast bedrohlich.
Claudia und Sophie fielen wie verabredet auf die Knie, flüsterten etwas wie »Nicht vermutet …«, und in der Pilgergruppe brach Chaos aus. Ein Teil der Leute ließ sich ebenfalls auf die Knie fallen, einige sangen weiter, andere gaben ihrer Verwunderung oder ihrem Erschrecken Ausdruck. Und dann schien die Luft zu vibrieren, ein Flimmern brach sich durch den Sprühregen, und ganz kurz – später waren sich alle einig, dass es nur Bruchteile von Sekunden gedauert hatte – flammte das Bild einer wunderschönen, sich den Menschen zuwendenden jungen Frau vor den Augen der Pilger auf.
Im Anschluss an die Erscheinung brach ein Tumult los. Die Pilger hatten sich fast alle zu Boden geworfen. Nur einige wenige starrten wie gebannt auf die jetzt wieder dunkle Felswand. Die Mädchen sprachen brav weiter ihren Text, aber kaum jemand hörte ihnen zu. Claudias und Sophies leise Stimmen wurden vom Schluchzen, Schreien und Beten der restlichen Erleuchteten völlig übertönt.
Es dauerte endlos, bis sich die Szene beruhigte und die Pilger ihren Schrecken überwanden. Während sie lachten und weinten, sich umarmten und schließlich wieder sangen, trat Igor Barhaupt zu Berit und Gina.
»Beeindruckend«, murmelte er und raufte seinen Bart. »Meine Güte, von jetzt an werden die Leute in Scharen kommen! Könnte man nicht jeden Freitag …?«
Berit schüttelte missbilligend den Kopf. »Wir sind doch nicht im Zirkus! Aber das bringt uns die nächsten Tage in jedem Fall Schlagzeilen. Und warten Sie erst mal ab, bis die Mädchen erzählen, was sie gesagt hat!«
Claudia wartete mit ihren Enthüllungen, bis sich alles einigermaßen beruhigt hatte. Dann erwachte sie langsam aus ihrer gespielten Trance und ließ die Pilger an den Worten der »Dame« teilhaben.
»Unsere Freundin war ziemlich nölig wegen dieses Schreibens vom Bischof«, erklärte sie kurz und bündig, was ihr die angespannte Aufmerksamkeit der Zuhörer einbrachte.
»So hat sie das nicht gesagt«, schränkte Sophie ein. »Sie sagte: ›Wir trauern darum, dass die, welche glauben sollten, an uns zweifeln. Die Worte des Schäfers haben mich bedrückt – muss er wirklich den Blitz sehen, bevor er die Herde eintreibt? Genügt es nicht, den Donner zu hören? Reicht es nicht, wenn ein paar Lämmer unter den Schutz des Hauses des Vaters streben?‹«
»Na ja, sie drückt sich ja immer etwas umständlich aus«, meinte Claudia. »Und dann sagte sie jedenfalls noch, sie wollte heute die wahrhaft Gläubigen einen Blick auf die Mutter dessen werfen lassen, der da sitzen soll auf des Königs Thron.«
»Princess Di und Prinz William …« Berit grinste. »Soll keiner sagen, dass wir lügen.«
»Und sie würde uns nicht verlassen«, fügte Sophie hinzu. »Sie würde wie immer an jedem zweiten Sonntag bei uns sein und mit uns sprechen und unsere Gebete und Fragen hören. Dann war sie weg. Haben Sie … haben Sie sie diesmal wirklich alle gesehen?«
Gina war sehr verwundert, als Merlot kurze Zeit später zu ihnen stieß. Die Pilger waren noch ganz erfüllt von ihrem Erlebnis, folgten Claudia und Sophie jetzt aber zur Quelle, um dort die vorgesehene Andacht zu halten. Insofern konnte der Magier seinen Hochsitz ungesehen verlassen.
»Wie bist du denn runtergekommen?«, fragte Gina besorgt.
»Geklettert. Gehört zu meinen leichtesten Übungen – da war ich sogar bei der Bundeswehr immer der Beste. – Ja, auch Magier verschlägt’s dahin. Kam aber nicht sonderlich an. Ich weiß noch, wie unser Spieß fluchte, als ich einmal sein Gewehr verschwinden ließ. Mitten in der Übung mit Feindberührung … Wie kam’s denn nun an? Gut?«
»Hören Sie selbst«, meinte Berit.
Merlot, BeGin und Igor Barhaupt mischten sich unauffällig unter die Pilger, die sich jetzt so weit beruhigt hatten, dass sie es schafften, Erfahrungen auszutauschen.
Eine rundliche Dame, eben noch ziemlich außer Atem nach dem Anstieg, jetzt jedoch beschwingt von ihrem Erlebnis, redete aufgeregt auf ihre magere Freundin ein. Die hatte sich eben wortreich beklagt, dass sie die Jungfrau mangels Brille nur schemenhaft wahrgenommen hätte. »Sie war wunderschön – dieses Lächeln, ich werde nie dieses Lächeln vergessen! Und ich schwöre dir – ich bin ganz sicher –, sie sah ein bisschen aus wie Prinzessin Diana!«