Der Auftrag
Atomkraft ist Liebe. Der Slogan stand unaufdringlich, aber gut sichtbar in der rechten oberen Ecke einer ganzseitigen Anzeige.
Angewidert starrte Berit auf das in warmen Farben gehaltene Foto darunter: ein heimeliges Wohnzimmer, in dem ein strubbelhaariger Vater mit seinen Kindern Eisenbahn spielte. Die lächelnde Mutter stellte eine Kanne Tee auf eine Warmhalteplatte. Eine Katze räkelte sich neben der Heizung.
»Fehlt nur noch: Katzen würden Kernkraft kaufen«, kommentierte Berit die Seite. Sie schleuderte die Zeitschrift Richtung Papierkorb, traf jedoch nicht.
Die Illustrierte landete auf dem schmutzig braunen Teppichboden, der Berit seit Eröffnung der Agentur ein Dorn im Auge war. Leider war kein Geld da, um ihn auszuwechseln.
»Fang nicht schon wieder an«, warnte Gina und warf ihr einen tadelnden Blick zu, ohne die Moorhuhnjagd auf ihrem Computer zu unterbrechen. »Wenn du so mit den Slogans um dich schmeißt, musst du dich nicht wundern, wenn andere sie aufgreifen.«
»Das war kein Slogan, das war ein Witz«, meinte Berit giftig. Offensichtlich machte sie sich bereit, die Sache mit der Kündigung zum hundertsten Mal durchzukauen. »Woher sollte ich wissen, dass Carsten keinen Anflug von Humor hat?«
»Aus Erfahrung, Mädchen. Wie lange haben wir für den Kerl gearbeitet? Mist, jetzt ist das Huhn weg … Ach, egal, hab sowieso keine Lust mehr. Hätte nie gedacht, dass mir das Spiel mal langweilig wird.« Gina verließ das Programm mit ein paar Mausklicks und gähnte. »Aber die Websites mit den Stellenangeboten für Texter und Grafiker sind noch trostloser.«
Gina hob die Zeitschrift auf und studierte nun ihrerseits die Anzeige. »Das Layout hätte ich auch nicht besser machen können«, meinte sie schließlich anerkennend. »Und der Slogan ist schlicht genial. Einer deiner besten. Da wäre fast ein Preis vom Art Directors Club drin. Allerdings hätte ich noch irgendwo ein kleines Atomkraftwerk untergebracht. Hier zum Beispiel.« Sie wies auf die Spiellandschaft, durch die sich die Schienen der elektrischen Eisenbahn wanden. »Ob Märklin die Dinger im Angebot hat? Sonst hätte ich selbst eins basteln müssen.« Geistesabwesend warf Gina die Zeichnung eines kleinen Atommeilers auf den jungfräulich weißen Notizblock neben dem Telefon.
»Das meinst du nicht ernst. Oder bereust du jetzt doch, dass wir wegen der Sache gekündigt haben?« Berit sah teilnahmslos vor sich hin.
Sie schien heute wirklich ihren depressiven Tag zu haben. Gina hatte das bereits morgens erkannt. Wenn ihre Freundin und Geschäftspartnerin schlecht drauf war, machte sie sich morgens nicht die Mühe, ihren dunklen Pony aufzuföhnen. Die fransig geschnittenen Strähnen fielen ihr dann wie ein trauriger Vorhang ins Gesicht. Um ihr Gegenüber anzusehen, musste Berit darunter hervorschielen wie weiland Prinzessin Diana. In der Regel fand sich dann schnell ein männliches Wesen, dessen Zuwendung ihre Laune wieder hob. Aber dazu fehlte es im Büro an Gelegenheiten. Die neue Agentur zeigte sich männerfrei wie ein Nonnenkloster. Der einzige Kunde war bislang die Betreiberin eines Yoga-Studios für Frauen. Mit angeschlossener Feng-Shui-Beratung. Nach dem ersten Blick in Berits und Ginas Räume hätte sie den Auftrag allerdings fast zurückgezogen. Angeblich stimmten die Schwingungen nicht, und der Glücksdrache fühlte sich nicht wirklich willkommen.
»Du hättest nicht kündigen müssen. Schließlich war es meine Schuld«, führte Berit ihren Gedanken selbstquälerisch fort.
Gina seufzte. Seit die beiden ihr helles, riesiges Büro bei Carsten & Company gegen die schmuddeligen neuen Räume eingetauscht hatten, schien Berit auf Vorwürfe geradezu zu warten. Die Tatenlosigkeit und vor allem das anhaltend schweigende Telefon zerrten an ihren Nerven. Gina ging es nicht besser. Aber sie brauchte sich wenigstens nicht schuldig zu fühlen. Schließlich war es Berits dummer Witz, der ihren Weggang von Carsten & Company eingeleitet hatte.
Gina sah die Szene noch vor sich: Berit in ihrem netten Business-Kostümchen, der dunkle Pony spritzig hochgeföhnt. Gina selbst ganz im sportlichen Burberry-Look. Ihr dunkelblondes Haar hatte sie streng als Knoten nach hinten gebunden. Beide strotzten sie damals vor Selbstbewusstsein, galten sie doch als das erfolgreichste Kreativ-Team der Agentur. Berit, Texterin mit vorausgegangenem Psychologiestudium, und Gina, Grafikerin und Designerin, ergänzten sich bestens, wenn es um erfolgreiche Werbeideen und deren Umsetzung ging. Die Freundinnen arbeiteten seit Jahren zusammen, bewarben Nordseeinseln, Tennisschläger und Deckhengste und machten einen guten Umsatz für sich und ihren Chef Thomas Carsten. Gemeinsam mit dem zweitbesten Team, Wolf und Tanja, hatte Carsten sie diesmal in sein Büro gebeten.
»Eine neue Kampagne für einen ganz großen Kunden«, verkündete er geheimnisvoll und tätschelte beim Eintreten zunächst Berits, dann Tanjas Hinterteil. Nur Gina konnte ihm rechtzeitig entweichen. Die Frauen warfen einander angewiderte Blicke zu. Carsten war unerträglich. Und wie immer hatte er vor, die beiden Teams bei der Auftragsvergabe gegeneinander auszuspielen. BeGin und WoTan, wie die vier sich scherzhaft nannten, kannten das freilich längst. Für gewöhnlich einigten sie sich am Abend friedlich in ihrer Stammkneipe darüber, wer den Auftrag haben wollte. Das andere Team gab dann meist nur flüchtig hingeschluderte Entwürfe ab.
Carsten platzierte seine Mitarbeiter um einen chromglänzenden Konferenztisch. Gina verursachte bereits der bloße Anblick der Stühle, die um den Tisch standen, Rückenschmerzen, und der Feng-Shui-Glücksdrache litt angesichts der eiskalten Bodenfliesen vermutlich an permanenter Blasenentzündung. Andererseits sicherte die Einrichtung kurze Konferenzzeiten. Fehlende Alltagstauglichkeit konnte man dem Design folglich nicht vorwerfen.
Wohlgefällig ließ Carsten die Blicke über die Versammlung schweifen und blieb schließlich an Tanjas stattlicher Oberweite hängen.
»Es kommt diesmal darauf an, unsere Kunden buchstäblich zu elektrisieren«, eröffnete er die Sitzung. »Es geht um Energie, den Strom des Lebens …«
Berit unterdrückte ein Gähnen. Carstens weitschweifige Erörterungen machten die Texterin stets müde. Ihr Talent bestand darin, eine Sache schnell auf den Punkt zu bringen. Schwafeleien schläferten sie ein. Allerdings verfiel sie dann nur in eine Art Stand-by-Modus. Sobald Carsten konkret wurde, tauchte sie überraschend schnell wieder auf, und die Ideen sprudelten nur so aus ihr heraus.
Diesmal ging jedoch zunächst Gina hoch, als Carsten endlich die Identität des wichtigen neuen Kunden enthüllte. Der Auftrag entpuppte sich als Imagekampagne für Atomstrom.
»Herr Carsten, ich unterstütze Greenpeace!«, brach es aus Gina heraus. »Ich kann nicht ernstlich für Atomstrom werben!«
Carsten sah unwillig auf. »Also ich bitte Sie: Was Sie in Ihrer Freizeit tun, geht uns nun wirklich nichts an! Wir machen in Werbung, nicht in Weltanschauung!«
Während Gina noch überlegte, was sie darauf antworten sollte, erwachte Berit aus ihrer kreativen Starre. Mit sanftem Grinsen und unschuldigem Augenaufschlag schob sie den ersten Slogan heraus. »Atomkraft ist Liebe! Nichts brennt so heiß wie der Super-GAU«, sagte sie spitz.
Tanja und Gina kicherten hysterisch.
Carsten dagegen bekam leuchtende Augen.
»Spitze! Atomkraft ist Liebe – das trifft ins Herz. Schreibt das auf, Mädchen. Das passt! Dazu noch die richtige Illu, und die Sache ist im Kasten!« Der kleine Mann schien nahe daran, einen Indianertanz aufzuführen. Außerdem machte er Anstalten, Berit dafür abzuküssen. Sie wich entsetzt zurück.
»So mag ich das, Kinder! Kurz, knapp, kreativ, das ist Carsten & Company!«
Es war gänzlich unmöglich, Thomas Carsten den ironischen Charakter von Berits Äußerung nahe zu bringen. Er wollte den Entwurf unbedingt realisieren, allen Einwänden zum Trotz. Schließlich drohten Berit und Gina mit Kündigung, aber die Entscheidung, Millionenetat oder Berit und Gina, war natürlich zugunsten des Geldes ausgefallen. Seitdem gab es die Agentur BeGin. Mit leeren Auftragsbüchern und schwindendem Bankguthaben.
»Ich hab’s noch keine Sekunde bereut«, tröstete Gina die Freundin. »Im Gegenteil. Ich wollte mich schon immer in der Moorhuhnjagd vervollkommnen. Außerdem hatte ich noch nie so gepflegte Fingernägel, noch nie einen so aufgeräumten Schreibtisch … Mal ganz abgesehen davon, dass mir keiner mehr unvermittelt in den Hintern kneift. Ehrlich, das hier ist das, was ich mir immer erträumt habe. Und wenn uns demnächst noch die Feng-Shui-Tante berät und die Schwingungen besser werden …« Während Gina all diese Vorteile aufzählte und sich langsam wieder ein Lächeln auf Berits Gesicht stahl, klingelte plötzlich das Telefon. Wie elektrisiert fuhren die beiden hoch.
»Ich Vorzimmer, du Chef«, wisperte Berit und griff zum Hörer. Als sie ihn langsam zum Ohr führte, schob sie sich mit der linken Hand den Pony aus dem Gesicht. Ein Zeichen steigender Stimmung.
»BeGin, Publicrelations«, meldete sie sich geschäftsmäßig. »Was können wir für Sie tun?«
Gina langte zum Telefon und betätigte die Lautsprechertaste.
»Public äh was?«, fragte eine Männerstimme. »Ich dachte, Sie machen Werbung?« Der Anrufer schien verunsichert.
»Natürlich machen wir Werbung«, beruhigte Berit ihn. »Woran denken Sie denn konkret?«
»Reklame für eine Stadt, für einen kleinen Ort … Prospekte und so, was man da so macht. Damit vielleicht Leute kommen.« Sehr genaue Vorstellungen schien der Anrufer nicht zu haben.
»Also Tourismuswerbung? Oder möchten Sie sich als Industriestandort vorstellen?« Berit versuchte, ihm auf die Sprünge zu helfen. »Ich verbinde Sie am besten mal mit der Chefin. Der können Sie Ihre Wünsche ganz konkret erläutern.« Berit hielt den Hörer eine Sekunde lang in die Luft und reichte ihn dann zu Gina hinüber. Dabei machte sie eine Handbewegung, als wische sie sich imaginären Schweiß ab.
Gina straffte sich. »Gina Landruh«, stellte sie sich vor. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Indem Sie Leute herholen«, meinte der Mann, der nun endlich in Fahrt kam. »Touristen, Firmen, ganz egal. Es muss nur wieder Leben in die Stadt kommen. Vielleicht sollte ich mich erst mal vorstellen. Barhaupt. Igor Barhaupt. Ortsvorsteher von Grauenfels. Wenn sich hier nicht langsam was tut, dann habe ich bald nichts mehr, dem ich vorstehen kann, verstehen Sie?«
»Nicht ganz, Herr Barhaupt«, gab Gina zu. »Lassen Sie uns die Sache noch mal von Anfang an durchsprechen. Also: Sie möchten Ihren Ort für den Fremdenverkehr oder alternativ als Industriestandort attraktiver machen. Und der Ort heißt Grauenfels. Wo liegt das überhaupt?«
»Wo das liegt? … Ach so, in Thüringen. Früher hatten wir hier einen Sandsteinbruch. Und eine LPG. Aber die ist geschlossen. Und der Steinbruch seit dem letzten Jahr auch. Wir haben siebzig Prozent Arbeitslosigkeit, keine Lehrstellen für die Jugendlichen, keine Perspektiven, wissen Sie. Und da dachte ich, ich gehe mal neue Wege. Wie im Westen. So mit Werbung eben. Was – was – kostet so was?«
»Eine große Imagekampagne für eine Stadt? Das ist nicht ganz billig, das sage ich Ihnen gleich. Bei uns sieht es so aus, dass wir für die Grafiker- wie für die Texterstunde jeweils einhundertvierzig Mark berechnen. Und dazu kommen natürlich die Anzeigenkosten. Sie müssen schon in ein paar großen Blättern inserieren, vielleicht mit Reiseveranstaltern zusammenarbeiten. Zunächst müssen wir uns überhaupt über die Strategie klar werden. Ihre Vorstellungen sind da ja noch sehr offen.« Gina schwankte zwischen Hoffnung und Besorgnis. Eine solche Kampagne konnte ihre Rettung sein. Nur dass sich das alles so gar nicht nach einem Millionenetat anhörte.
»Aber grundsätzlich machen Sie so was?«, vergewisserte sich Herr Barhaupt.
»Sicher«, meinte Gina selbstbewusst. »Wir verfügen über ein sehr erfahrenes Kreativ-Team mit Erfolgen auf dem einen wie dem anderen Sektor. Unter anderem haben wir die Werbung für eine Nordseeinsel gemacht und, äh, eine Imagekampagne für einen großen Energiekonzern. Vielleicht sollten wir uns einfach mal zusammensetzen.«
»Habe ich auch gedacht«, freute sich Herr Barhaupt. »So am Telefon ist das nichts. Und Sie sollten Grauenfels kennen lernen. Am besten kommen Sie mal runter. Wenn Sie die Zeit erübrigen können, meine ich. Sie haben sicher viel zu tun. Sie brauchen das auch nicht umsonst zu machen. Sagen Sie mir einfach, was es kostet.«
Berit hatte inzwischen eine Straßenkarte herausgekramt und den Weg nach Thüringen geschätzt … circa dreihundert Kilometer. Sie schrieb die Zahlen auf einen Zettel. Machte zweimal drei Stunden Fahrtzeit, dazu mindestens zwei Stunden Besprechung, also acht mal einhundertvierzig Mark pro Nase. Und Sprit. Pauschal also zweitausendfünfhundert Mark.
»Zeitlich ließe sich das ermöglichen. Wäre ja vielleicht der Beginn einer längeren Zusammenarbeit. Die Anfangskosten dürften sich auf etwa zweitausendfünfhundert Mark belaufen.« Gina bemühte sich um einen geschäftsmäßig optimistischen Ton.
Diese Summe sicherte die Agenturmiete für den nächsten Monat.
»Zweitausendfünfhundert …« Barhaupts Stimme klang erschrocken. »Nur für einen Tag? Und dann haben Sie noch gar nicht angefangen? Also ich glaube … Ich fürchte, das können wir uns nicht leisten. Das müsste ich vom Stadtrat bewilligen lassen, und was meinen Sie, wie die PDS mich dann auseinander nimmt! Nein, dann lassen wir das. Es war auch nur so eine spontane Idee …«
Während Barhaupt herumdruckste, fasste Berit einen Entschluss. Sie zog einen dicken Strich durch ihre Berechnungen und griff nach dem Telefonhörer.
»Herr Barhaupt? Hier ist Berit Mohn, das Be von BeGin. Ich habe mitgehört. Und der Auftrag interessiert mich. Wirklich. Wir sind eine junge Firma, und eine so offene Aufgabenstellung ist auch für uns eine Chance. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Meine Partnerin und ich sehen uns Grauenfels erst mal an. Für einen Pauschalbetrag von fünfhundert Mark. Und dann reden wir weiter. Ist das ein Wort?«
Barhaupt stimmte zu. Danach füllten Berit und Gina endlich die ersten Blätter mit Notizen. Barhaupt erklärte wortreich den Weg nach Grauenfels.
»Das war dir doch recht, oder?«, fragte Berit Gina, als das Telefonat beendet war. »Ich meine, besser ein bisschen Geld als gar keins. Und vielleicht ist in dem Ort ja wirklich was zu holen. Wenn der Stadtrat sein Ja-Wort zu einer Kampagne gibt.«
»Aber nicht, dass du ihnen wieder alle Slogans umsonst lieferst«, bemerkte ihre Partnerin. »In Grauenfels wirst du gefälligst schweigen wie ein Grab.«
Die Autobahn Richtung Thüringen war erstaunlich frei. Als Berit jedoch die Abfahrt nach Tatenbeck/Grauenfels nahm, bereuten die beiden schnell, sich für Berits kleinen Sportwagen anstelle von Ginas Landrover entschieden zu haben. Wohin auch immer die Mittel für den Aufbau Ost geflossen waren: Die Straßen rund um Grauenfels hatten davon anscheinend nichts gesehen.
»In Sachen Geldbeschaffung scheint unser Herr Barhaupt ja nicht gerade der Größte zu sein«, bemerkte Gina.
»Vielleicht ist er gerade erst gewählt worden«, überlegte Berit und wich einem Schlagloch aus. »Waren hier nicht vor kurzem Kommunalwahlen? Jedenfalls schien ihm sein Job alles andere als gleichgültig zu sein. Das Kaff liegt ihm wohl wirklich am Herzen. Da ist es übrigens …«
Die Straße führte über eine Hügelkuppe, die den Blick auf Grauenfels freigab. Berit hielt kurz an. Der Ort präsentierte sich eintönig in Sandsteingelb und Ziegelrot, war von geraden Straßen durchzogen, wie auf dem Reißbrett geplant. Im Norden grenzte das Städtchen an einen gigantischen Steinbruch, der wie eine gelbliche Wüstenlandschaft dalag; daran angrenzend standen dicht Bäume, vermutlich die letzten eines ehemaligen Waldes. Hätte der Steinbruch nicht kürzlich geschlossen, wären sie sicher auch noch den Abbaumaschinen zum Opfer gefallen.
Im Süden der Stadt hatte wohl die LPG gelegen. Von oben erkannte man Stall- und Wirtschaftsgebäude, seitlich davon die Schlossruine. Um die Bauten herum lagen Felder, durchzogen von schnurgeraden Wirtschaftswegen.
»Also für Tourismus sehe ich schwarz«, meinte Gina nüchtern. »Das hier wirkt so idyllisch wie eine Mondlandschaft. Ich denke, wir sollten uns auf Industrieansiedlung spezialisieren«.
»Nun warte erst mal ab«, erklärte Berit optimistisch und gab wieder Gas. »Vielleicht kann man ja was über Museen oder VIPs aufziehen. Wenn Goethe hier beispielsweise mal gelebt hätte. Oder Schiller. Dann könnte man glatt einen Balladenerlebnispark draus machen. Der Steinbruch ist doch frei, da ließe sich was aufbauen. Oder wenn sich herausstellte, dass … meinetwegen Hera Lind hier geboren ist …«
Gina kicherte. »Gib’s auf, das hier war bis vor zehn Jahren DDR. Das heißt, die Karriere der Dame wäre gänzlich anders verlaufen. Und ein Balladenerlebnispark? Wie willst du denn hier John Maynard inszenieren? Kein See weit und breit. Und kein Moor und keine Heide. Bis du das angepflanzt hast, illustriert man Balladen 3-D im Internet. Als Freizeitpark käme hier höchstens was Gruseliges infrage. Spukschloss, Geistergrotte, Drachenhöhle … Die Kids wären hingerissen.«
»Und der Slogan hieße Grauenvolles Grauenfels – Wir lehren Sie das Fürchten!«, fügte Berit hinzu. »Wer nach dem Horrorpark im Steinbruch und dem Grauen-Pfad im Wäldchen immer noch nicht genug hat, darf eine Nacht in der Ex-LPG verbringen. Todesnähe erleben eben. Die Gebäude da sind garantiert völlig asbestverseucht.« Die beiden lachten noch, als sie bereits das Ortsschild von Grauenfels passierten. Dann verging ihnen der Spaß.
Auch von nahem wirkte die Stadt deprimierend. Links und rechts der engen, noch kopfsteingepflasterten Straßen erhoben sich schmucklose, graue oder rötliche Hausfassaden. Die Sandstein- oder Ziegelbauten wirkten abweisend und streng. Vor allem aber sahen sie absolut gleich aus. Die Uniformität war erdrückend. Zwar hatte jedes Haus eine große Einfahrt in einen Innenhof, der sicher individuell angelegt war. Ab und an sah man auch gestalterische Bemühungen, Fensterbilder an den Scheiben oder Blumenkästen. Aber das half alles nichts gegen den städtebaulichen Würgegriff, in dem Grauenfels gefangen schien.
»Schaurig«, kommentierte Berit.
Aber Gina schüttelte den Kopf. »Mit etwas Farbe wäre das halb so schlimm«, meinte sie. »Guck mal, das muss alles früher mal gestrichen gewesen sein. Dieser Torbogen da zum Beispiel – wenn du genau hinschaust, siehst du auch noch eine Aufschrift und ein Hufeisen. Das war mal ’ne Schmiede. Wenn du das Haus jetzt beispielsweise hellgelb anstreichst und den Torbogen und die Fenster in einem warmen Braun abhebst, sieht das gleich ganz anders aus. Oder da, die kaputten Steintröge. Die könnte man herrichten und Blumen reinpflanzen. Und das Haus würde ich zartblau streichen, mit weiß abgesetzten Fensterrahmen. Wie Wölkchen. Mit ein bisschen Geld und Elan könnte diese Straße ein Schmuckstück werden.«
Genau an Geld und Elan schien es Grauenfels jedoch zu mangeln. Alle Versuche, die Häuser zu verschönern, blieben im Ansatz stecken, und die eher alten Autos und rostigen Fahrräder vor den Häusern trugen auch nicht dazu bei, den Eindruck zu verbessern.
Nach etwa einem Kilometer Holperstrecke, die Berit fast in Schrittgeschwindigkeit zurücklegte, erreichten sie den Ortskern. Die beiden Hauptstraßen liefen hier in einer großen Kreuzung zusammen. In ihrer Mitte lag eine Verkehrsinsel, die endlich etwas Farbe in den Ort brachte. Ein gepflegtes Blumenbeet rund um einen Brunnen versuchte sich in Verbreitung von Optimismus. Auch der Ziehbrunnen, anscheinend ein Relikt aus der Zeit, da Grauenfels noch ein richtiges Dorf war, zeigte sich bunt gestrichen und ansprechend hergerichtet. Die gelangweilten Jugendlichen mit Bierflaschen und Bürstenschnitt, die sich an den Beet- und Brunnenrändern herumlümmelten, machten das freundliche Bild allerdings wieder zunichte. Zwei der Jungs trugen Glatzen und Springerstiefel, die anderen hatten sich offenbar nicht mal zu dieser Demonstration von Protest aufraffen können. Auch die Wahl des Treffpunktes zeugte nur scheinbar vom Bedürfnis, im Zentrum des Geschehens zu stehen. Eher hatte wohl die gegenüberliegende Aldi-Filiale den Ausschlag gegeben. Sie garantierte schnellen Nachschub an preiswerten Spirituosen. Die leeren Flaschen deponierte man gleich im Blumenbeet.
»Wo finde ich denn das Geschäft von Herrn Barhaupt?« Berit hielt zwischen dem Aldi und einem Zeitschriftenladen. Gina hätte sich nicht gewundert, wenn darin noch Blätter von vorgestern feilgeboten worden wären. Ein Blick überzeugte sie jedoch vom Gegenteil. In der Auslage waren die neuesten Nummern von Lupe, Stern und Spiegel. Die Lupe befasste sich mit aktuellen PR-Kampagnen: »›Atomkraft ist Liebe‹ – Ist die Werbung noch zu retten?«
Die Jungs von der Verkehrsinsel stierten auf Berits Sportwagen wie auf eine Erscheinung aus einer anderen Welt. »Wie viel PS hat denn der?«, fragte einer, der näher kam.
»Mehr als der Durchschnitts-IQ der Bevölkerung«, bemerkte Berit. An die Jungen war der Witz jedoch verschwendet.
»IQ? Ist das nicht ein Lamborg-Hini?«, erkundigte sich eine der Glatzen.
Berit sah sich bemüßigt, die Jungen über PS und Hubraum, Höchstgeschwindigkeit und Baujahr aufzuklären. Inzwischen waren alle herangekommen und bildeten ein dankbares Publikum.
»So was möchte ich auch mal fahren«, meinte die andere Glatze sehnsüchtig.
»Schaffst du nie, Kalle, vergiss es«, höhnte sein Kumpel. »Nich mal, wennste die Lehrstelle bei Barhaupt kriegst.«
»Womit wir wieder beim Thema wären. Barhaupt. Klempner, Eisenwarenhandlung. Da wollen wir hin.« Gina fühlte sich deutlich unwohl in der Gesellschaft der angetrunkenen Jugendlichen.
Kalle überlegte kurz. Wegbeschreibungen schienen nicht sein Ding zu sein. »Geradeaus«, meinte er schließlich. »So fünfhundert Meter. Und dann rechts.«
»Rechts abbiegen?«, fragte Berit.
»Nö, einfach vor dem Laden parken. Soll ich mitfahren? Dann zeig ich’s Ihnen.« Kalle sah seine Chance. Inzwischen erwärmte er sich offensichtlich nicht nur für das Auto, sondern auch für seine attraktive Fahrerin.
Berit trug ihr Haar heute weich ins Gesicht gekämmt, der leicht nach innen geföhnte Pony ließ gerade genug Diana-Blick zu, um verletzlich, aber nicht gänzlich hilflos zu wirken.
Kalle verfiel ihren klaren grünen Augen vollkommen.
»Nein, lass mal, so kompliziert ist das ja nicht«, beschied Gina den Knaben. Sie atmete auf, als Berit den Wagen wieder anließ und an den Jungs vorbeisteuerte. Berit winkte den Kids noch kurz fröhlich zu.
»Schließ die Kiste bloß gleich gut ab«, warnte Gina. »Nicht, dass sich noch ein Liebhaber dafür findet. Wir hätten wirklich besser mein Auto genommen. Guck mal, da ist der Laden.«
Igor Barhaupts Eisenwarenhandlung lag in einem der typischen Grauenfels’schen Häuser, verriet aber den Optimismus ihres Inhabers. Die Schaufenster waren bunt dekoriert – ein himmelblauer Rasenmäher prangte auf quietschrosa Krepppapier, Werkzeuge mit bunten Griffen waren zu einem fantasievollen Mosaik zusammengelegt. Auch Barhaupts Glaube an die Werbung manifestierte sich an jeder Ecke, wobei er sich hemmungslos bei allen erfolgreichen Kampagnen der letzten Jahrzehnte bediente. Über dem Geschäft prangte der Slogan Erst mal sehn, was Barhaupt hat!. Das Schild Klempnerei war mit Barhaupt macht’s möglich aufgepeppt. Darunter stand: Wir fahren meilenweit für Ihren Rohrbruch!
Gina und Berit prusteten los.
»Vor dem Copyright scheint er nicht viel Respekt zu haben«, sagte Gina lachend.
»Gefällt’s Ihnen? Ist vielleicht nicht ganz so perfekt wie das, was so’n Kreativ-Dings macht, aber auch nicht so trist wie früher. Für Tipps bin ich natürlich offen. Sie sind doch die Damen von BeGin, oder?« Ein großer, kräftiger Mann mit breitem, aufgeschlossenem Gesicht und imponierendem Vollbart war aus dem Laden getreten. »Ich bin Igor Barhaupt.«
Der Mann streckte Berit die Hand entgegen, wobei Berits zierliche Rechte vollständig in seiner schwieligen Pranke verschwand. Gina begrüßte unterdessen den altdeutschen Schäferhund, der sich im Gefolge seines Herrn genähert hatte. Wie sein Besitzer beeindruckte er durch enormen Haarwuchs und gewaltige Pfoten.
»Das ist Rex«, stellte Barhaupt den Hund vor. Rex hinterließ einen Sabberstreifen auf Ginas Armani-Jeans. »Er tut nichts, er tropft nur. Und auch das nur bei Leuten, die er mag.«
»Dann läuft ihm sozusagen das Wasser im Mund zusammen«, raunte Berit und entzog sich nachdrücklich Rex’ Zuwendungen. Gina sah das nicht so eng. Sie mochte Hunde. Die Hand auf Rex’ Riesenschädel gelegt, folgte sie Barhaupt zunächst durch den Laden, dann in seine Wohnung. Das mit Nippes vollgestellte Wohnzimmer wies ein Fenster zum Innenhof auf. Der Hof wirkte überraschend attraktiv. Barhaupts hatten ihn mit Blumen bepflanzt und zusätzlich ein paar Gartenbeete angelegt.
»Sieht nett aus«, lobte Gina. »Von außen sind die Häuser hier ja nicht so schön, aber ich habe mir gleich gedacht, dass man aus den Innenhöfen was machen kann.«
»Zum Teil sind es kleine Schmuckstücke«, meinte Barhaupt. »Meine Frau nennt unseren ›Klein-Mallorca‹. Unser Urlaubsersatzort sozusagen. Wir gehen raus und sind im Grünen. Und das hier ist noch gar nichts, andere Höfe sind viel schöner gestaltet. Viele Leute haben ja nichts anderes mehr zu tun … siebzig Prozent Arbeitslose, wie gesagt. Aber wenn wir Touristen herkriegen, könnten sie vielleicht Biergärten in den Höfen eröffnen. Oder Cafés. Wir könnten auch in der Stadt eine Menge tun, wenn wir die Mittel hätten. Haben Sie den Brunnen auf dem Dorfplatz gesehen? Den gibt es durch eine Bürgerinitiative.« Barhaupt sah Berit und Gina Beifall heischend an.
»Schön«, meinte Berit. »Nur … Es wird kaum jemand nach Grauenfels kommen, bloß um sich Innenhöfe anzugucken und ein Bier zu trinken. Selbst dann nicht, wenn die Fassaden ein bisschen bunter werden. So aufregend ist die Architektur nun auch wieder nicht. Was Sie brauchen, sind touristische Attraktionen. Interessante Landschaften, Museen, Erlebnisparks …«
»Erlebnisparks?«, fragte Barhaupt verwundert. »Also wir hatten schon mal jemanden hier, der einen Kletterpark aus dem Steinbruch machen wollte. Aber das ging dann nicht. Das Gestein ist zu weich – und wasserdurchlässig ist es auch, deshalb wurde nichts aus der Idee mit der Endlagerstätte für Atommüll. Mein Vorgänger hat das angeleiert. Aber die Prüfungen ergaben, dass es unmöglich ist.«
»Ihr Vorgänger wollte hier ein Endlager für Brennstäbe einrichten?«, wunderte sich Gina. »Gab es da keine Bürgerproteste?«
Barhaupt zuckte die Schultern. »Na ja, man war’s nicht so gewohnt zu protestieren … Und Arbeitsplätze hätt’s gebracht. Inzwischen würden wir so ziemlich alles tun, damit Grauenfels wieder auf die Beine kommt.«
Berit guckte verträumt. »Atomkraft ist Zukunft …«
»Halt die Klappe!«, zischte Gina ihr zu.
»Was meinten Sie?«, fragte Herr Barhaupt.
»Das mit den Brennstäben ist keine so gute Zukunftsperspektive«, meinte Berit. »Wie wäre es denn mit Museen? Gibt es da irgendetwas? Oder hatten Sie vielleicht mal so was wie … einen prominenten Mitbürger?«
Barhaupt überlegte. »Hermann Löns war mal hier«, bemerkte er dann.
»Und?«, fragte Gina.
»Nichts und. Er war nur mal kurz da. Soll eine Freundin hier gehabt haben.«
»Aha«, Berit richtete sich auf. »Da wird es doch schon interessanter. Eine heiße Affäre? Neben seiner Ehe? War der Typ überhaupt verheiratet? Wann hat er gelebt? Kann man da eine Ost-West-Geschichte draus bauen?«
»Sie war wohl mehr eine Brieffreundin«, schränkte Barhaupt ein. »Adelgunde Leibgast. Er hat ihr geschrieben.«
»Was hat er ihr geschrieben? Liebesbriefe? Gibt’s die noch? Vielleicht in ihrem Haus? Eine Heideecke im Innenhof? Hat er ihr vielleicht Lieder gewidmet?« Vor Ginas innerem Auge entstiegen Touristenschwärme den bekannten, klimatisierten Luxusbussen. Ein Löns-Leibgast-Museum musste her, mit Fotos und gerahmten Liebesbriefen. Dazu konnte man Liederabende organisieren, Innenhöfe mit Heideecken versehen und Briefpapier mit gepresstem Heidekraut verkaufen. Gut, Löns war nicht gerade der heißeste Tipp in Sachen Promi-Tourismus, aber wenn man es geschickt anfing …
»Sie war Diakonisse. Hat ihn wohl mal gepflegt, als er krank war. Und dann hing er irgendwie an ihr«, erzählte Barhaupt weiter.
Ginas Fantasien fielen in sich zusammen.
Auch Berit, die gerade einen Slogan formulieren wollte, blieb dieser im Halse stecken …
»Also eine Affäre können wir dem Mann nicht anhängen.« Gina seufzte und stand auf. »Mal ganz abgesehen davon, dass Löns’ Love mit der Nonne keinen Touri von der Diana-und-Dodi-Gedächtnisrundfahrt weglockt. Vergessen wir die Promi-Schiene. Gucken wir uns lieber den Wald an. Und den Steinbruch. Vielleicht fällt uns ja dazu was ein.«
Während die beiden Barhaupt zu seinem Auto folgten – sein alter Opel kam mit den Straßen rund um Grauenfels sicher besser zurecht als Berits kleiner Flitzer –, besprachen sie die Alternatividee Industrieansiedlung. Wie sich herausstellte, hatte Barhaupts Vorgänger im Bürgermeisteramt hier schon alle Register gezogen. Bevor sich aber irgendein Betrieb in Grauenfels ansiedelte, musste zunächst die Infrastruktur gefördert werden. Hier waren allerdings kaum Zuschüsse zu bekommen, solange es keinen Anflug von Interessenten gab. Grauenfels lag schlicht zu abgelegen, hatte keine industrielle Vergangenheit, keine Fachkräfte in irgendeinem Berufszweig, nicht mal ein ausgewiesenes Industriegebiet. Im Nachbarort Tatenbeck entstand jetzt immerhin eine Tierverwertungsfabrik.
»Die kriegen die Arbeitsplätze, wir den Gestank«, schimpfte Barhaupt. Gina und Berit sahen sich an. Keine guten Aussichten für Tourismusbetriebe. Schließlich standen sie deprimiert im Grauenfelser Forst, dessen Baumbestand die Bezeichnung Wald allerdings kaum verdiente. Zu viele Bäume waren in der Vergangenheit gefällt worden.
»Der Forst sollte dieses Jahr eigentlich komplett abgeholzt werden«, meinte Barhaupt. »Um den Steinbruch auszuweiten. Aber dann hieß es, das sei unrentabel. Anderswo gibt’s billigeren Kies. So ist das halt.«
Das Wäldchen schien noch nicht ganz überzeugt von seiner überraschenden Rettung. Die Einöde des angrenzenden Steinbruchs setzte die Bäume gnadenlos dem Nordwind aus. Sie wirkten zerzaust und erschöpft vom Kampf gegen Mensch und Naturgewalten. Rex machte Anstalten, an einer kraftlosen Tanne das Bein zu heben, überlegte es sich dann aber anders. Hatte er Skrupel?
»Vielleicht eine Waldbühne?«, überlegte Berit halbherzig. »Für irgendwelche Festspiele?«
»Was willst du denn hier aufführen?«, fragte Gina. »›Die Wüste lebt?‹ – wir könnten natürlich mal nachgucken, ob Franz Xaver Kroetz ein Stück übers Waldsterben geschrieben hat. Diese Bäume wären da die Traumbesetzung.«
»Ich müsste mal wieder ins Geschäft«, meinte Herr Barhaupt. »Oder möchten Sie noch die LPG sehen? Die Gebäude sind alle zu verkaufen, aber bisher interessiert sich niemand dafür. Da können Sie auch selbst hinfahren. Die Straßen sind in Ordnung, gleich hinter dem Ortsschild links.«
Gina und Berit versicherten ihm, keine weitere Führung zu brauchen. Deprimiert stiegen sie wieder in den Opel. Rex tropfte tröstend auf Ginas Blazer.
»Sie waren nicht so begeistert, was?«, fragte Barhaupt, als sie schließlich wieder die Aldi-Filiale passierten. »So viel hat Grauenfels bis jetzt nicht zu bieten. Aber das könnte anders werden. Wirklich. Die Leute hier haben viel Gemeinsinn. Vor der Grenzöffnung waren wir ein ganz fröhlicher Haufen. Was meinen Sie, was wir zu Stande gekriegt haben. Unser kleines Mallorca, da haben wir Feste gefeiert, dass sich die Balken bogen. Und wenn jemand was zu machen hatte, am Haus oder so, haben die Nachbarn geholfen. Einmal haben wir Farbe für das evangelische Jugendzentrum aus dem Westen organisiert. An allen Spitzeln vorbei. Angeblich hatte sie der Apotheker vom Baikalsee mitgebracht. Wir haben dann immer die sowjetische Fabrikation gelobt. Blätterte viel später ab als DDR-Farbe. Aber jetzt … Zuerst fuhren die Leute ins richtige Mallorca. Aber danach war das Geld weg, und nun sitzen sie hier fest. Mit Fernweh trotz offener Grenzen und Heimweh nach der Welt von früher. Aber irgendwie mag ich nicht aufgeben. Aus Grauenfels muss was zu machen sein. Deshalb wollte ich ja gerade, dass Profis sich das ansehen.«
»Na ja, aber Wunder wirken können wir auch nicht«, druckste Berit. »Ich weiß nicht, ob das was wird, mit dem Tourismus.«
»Aber Sie sehen auch nicht ganz schwarz, oder?« Barhaupt warf den beiden einen flehenden Blick zu. »Sie überlegen sich was, ja?«
Barhaupt hielt vor seinem Laden und öffnete die Beifahrertür für Berit. Das ging nur mit Brachialgewalt. Auch der Opel hatte schon bessere Zeiten gesehen. Gina und Rex stemmten die hintere Tür allein auf. Schließlich verabschiedeten sie sich vor dem himmelblauen Rasenmäher. Selbst Berit ließ sich herab, Rex’ Riesenkopf kurz zu tätscheln. Herr und Hund schauten die Freundinnen gleichermaßen vertrauensvoll an. Noch einmal quetschte Barhaupt Ginas Finger. »Darf ich Sie anrufen? Nächste Woche?«
»Nächste Woche«, versprach Gina mit halbem Lächeln.
Berit atmete auf, als sie Grauenfels endlich hinter sich ließen. »Da haben wir uns ja was Schönes eingebrockt. Willst du wirklich noch zu dieser LPG fahren?«
»Bloß nicht. Das würde mir den Rest geben. Bring uns nur schnell nach Hause. Verglichen mit den negativen Schwingungen dieses Ortes wird uns unser Büro wie ein Feng-Shui-Paradies vorkommen.« Gina schloss entnervt die Augen.
»Aber wir haben ihm versprochen, uns was einfallen zu lassen.« Berit hatte eben den Hügel vor der Stadt erreicht und hielt auf dem Gipfel nochmals an. Vielleicht brachte die Gesamtansicht von Grauenfels doch noch den entscheidenden Einfall.
»Gefangenenlager?«, überlegte Gina. »Truppenübungsplatz für zukünftig in Wüstenregionen eingesetzte Streitkräfte? Um hier Touristen hinzulocken, brauchten wir entweder eine UFO-Landung oder eine Marienerscheinung.«
»UFO-Landung? Müssten schon ziemlich belämmerte Außerirdische sein, wenn sie ein paar Lichtjahre weit fliegen, um nach Grauenfels zu kommen.« Berit startete das Auto erneut. »Mit der Marienerscheinung könnten wir mehr Glück haben. Die Dame zeigt ja ein Faible für eher abgelegene Orte. Wer hatte vorher schließlich was von Lourdes gehört oder Fátima? Fragt sich nur, wo man die buchen kann.«
»Im Zweifelsfall im Internet.« Gina lachte. »Rentamary.com. Gar keine schlechte Idee, übrigens. Du, wenn’s das noch nicht gibt, sollte man es glatt erfinden …«