DONNERSTAG
»Tika will einen warmen
Kakao.« Ich öffne die Augen. Da steht mein Sohn. Es ist 6:43 Uhr.
Er hat durchgeschlafen. Er ist fieberfrei. Also zurück in den
Alltag. Aufstehen. Anziehen. Honigbrot. Müsli. Kakao. Kaffee.
Kindergarten. Büro. Der Wecker klingelt.
Beim Frühstück erzählt mein Mann von der Fernsehsendung, die er am Abend zuvor gesehen hat. Eine Talkshow, in der darüber diskutiert wurde, ob Frauen über Quoten in Führungspositionen kommen sollen. Unter anderem saß ein ehemaliger BDI-Präsident da. »So alt wie mein Vater ist der«, sagt mein Mann. »Mit genau denselben komischen Ansichten.« Dieser BDI-Präsident hat in seinem ganzen Arbeitsleben keine Frau als Vorgesetzte gehabt.13 Und kann sich auch nicht vorstellen, wie das wäre, Anweisungen von einer Frau zu bekommen. Wenn er eine Chefin hätte, so der Alt-BDI-Präsident, würde er sich fragen, ob sie hübsch ist. Und vor lauter Nachdenken über ihr Aussehen würde er dann das eigentliche Arbeiten total vergessen.
Ich ärgere mich über diesen BDI-Präsidenten. Alt, arrogant, vielleicht schon senil. Andererseits kann ich mir gut vorstellen, wie er war, als sein Rentenalter noch kein mildernder Umstand für sein ignorantes Gerede war. Ich stelle fest, dass ich noch nie darüber nachgedacht habe, ob mein Vorgesetzter gut aussehend ist. Oder männlich. Und dass ich ihn, wenn ich jetzt darüber nachdenke, ziemlich geschlechtslos finde – rein äußerlich. Ich könnte noch nicht mal sagen, ob er blaue oder grüne Augen hat. In seinem Verhalten bemerke ich durchaus männliches Gehabe14: von der aufgeplusterten Einführungsrede auf dem Jour fixe, der alle Anwesenden zuhören müssen, über seine oft ganz schön lahmen Witze, über die wir Angestellten aus Höflichkeit lachen müssen, bis zu seiner Angewohnheit, anderen ständig ins Wort zu fallen. All das mag ich nicht.
Mein Kleiner turnt auf dem Stuhl herum, den Plüschhasen im Arm. Auf meine Bitte trägt er seine Schüssel zur Spülmaschine und sagt dann zu mir: »Der Hase sagt, du sollst den Tisch abräumen.« Ich lache. »Und sagt der Hase auch, was Tika machen soll?« »Spielen!« Es geht ihm offensichtlich wieder gut. Trotzdem bin ich nicht ganz sicher, ob er schon gesund genug ist, in den Kindergarten zu gehen. Mein Mann beruhigt mich. »Heute ist Autotag«, sagt er. »Heute ist Elternabendtag«, sage ich und bitte ihn, pünktlich nach Hause zu kommen. Er nickt und zieht unserem Sohn Schuhe, Jacke, Mütze an. Die beiden verabschieden sich von mir und machen sich auf den Weg, zum Auto, zum Kindergarten, ins Büro.
Ich starte die Spülmaschine und programmiere die Waschmaschine so, dass die Wäsche geschleudert ist, wenn ich nach Hause komme. Dann beziehe ich die Betten frisch und vertreibe das letzte bisschen Krankheit.
Auf dem Weg zum Bus kaufe ich mir einen Cappuccino und ein Croissant in der Bäckerei. Einfach so. Und obwohl ich zu Hause ein Honigbrot gegessen habe. Ich setze mich im Bus ans Fenster und beiße in das Croissant. Dazu ein Schluck Kaffee. Wunderbar. Ich klemme den Kaffeebecher zwischen meine Knie und hole dann mein Handy aus der Tasche. Ziel: der Kalender. Als Erstes suche ich nach meinem Highlight: Noch fünfzehn Wochen bis zum Familienurlaub. Dann klicke ich zum heutigen Tag. Was steht an? Um vier kommt meine Mutter, damit ich zu meiner Friseurin gehen kann. Sonst steht nichts im Kalender – bis auf die Dinge, die im Büro auf mich warten. Ein Gang in die Personalabteilung mit dem Attest für den gestrigen Tag. Eine Nachfrage in der Druckerei zum aktuellen Stand des Druckauftrags der Broschüre. Und etwas, das mir erst jetzt wieder einfällt – ein Gespräch mit meinem Vorgesetzten über die Präsentation, die mir den Montagabend verdorben hat. Darum wollte ich mich am Tag zuvor schon kümmern. Die Sekretärin des Vorgesetzten hat mir auf die Mailbox gesprochen. Ich hab’s total vergessen.
Aber gestern war ich auch nicht im Büro, denke ich trotzig. Ich war entschuldigt, sogar mit Attest, also medizinisch und rechtlich abgesichert. Weil ich mich um mein krankes Kind kümmern musste. Das wusste auch mein Vorgesetzter. Warum lässt er seine Sekretärin trotzdem bei mir anrufen? Hat er neunzig Minuten nach dem Gespräch mit mir schon wieder vergessen, dass ich am Bett meines fiebernden Sohnes sitze? Hat er es mit Absicht vergessen? Als Revanche für den Ärger mit der Broschüre?
Noch zwei Haltestellen, dann muss ich aussteigen. Ich könnte den Vorgesetzten danach fragen, warum er mich gestern so unter Druck gesetzt hat. Ich könnte sogar zum Betriebsrat gehen und melden, dass ich mich diskriminiert fühle als Angestellte mit einem Kind. Oder ich übergehe dieses Verhalten und lasse mich davon nicht beeinflussen, nicht aus der Ruhe bringen. Was ist die effizienteste Lösung? Kurzfristig sicher das Schweigen. Doch langfristig? Und solidarisch gesehen mit all den anderen angestellten Müttern in meiner Firma?
Ich zerknülle die Papiertüte, in der mein Croissant war, steige aus dem Bus und werfe die Tüte in den Mülleimer. Die Ampel ist grün, ich gehe zügig zum Bürohaus und denke an meinen Sohn. Ist er wirklich schon gesund genug, wieder in den Kindergarten zu gehen? Beim Gehen kontrolliere ich mein Handy, ob ich einen Anruf aus dem Kindergarten verpasst habe. Am Aufzug angekommen frage ich mich, ob meine Sorgen nur vorgeschoben sind und ich nur wieder nach guten Ausreden suche, um mich nicht mit dem Büro auseinanderzusetzen. Ich drücke auf den Nach-oben-Knopf und warte.
Pünktlich um 8:40 Uhr hält der Aufzug im fünfzehnten Stockwerk. Ich gehe in mein Büro, rufe der Sekretärin meines Vorgesetzten im Vorbeigehen ein munteres »Guten Morgen!« zu, das sie erwidert. Dann setze ich mich an meinen Schreibtisch. Meine Assistentin ist noch nicht da.
Ich starte meinen Computer und öffne mein E-Mail-Programm. Neben einigen anderen Nachrichten empfange ich eine Mail von der jungen Kollegin. Sie ist krank und hofft, dass es ihr morgen wieder besser geht. Kreislaufprobleme, schreibt sie. Also stimmt es wirklich, dass sie schwanger ist, denke ich und arbeite mich durch meinen Posteingang.
Um 9:25 Uhr habe ich einen Teil meiner To-do-Liste abgearbeitet: Ich habe das Attest in der Personalabteilung abgegeben, mit der Druckerei gesprochen und mit der Sekretärin meines Vorgesetzten. Um 10:45 Uhr habe ich einen Termin mit dem Vorgesetzten, um die Präsentation zu besprechen. Ich stelle fest, dass das Gerede über meine Assistentin größere Ausmaße angenommen hat. In der Personalabteilung hat man mich gefragt, ob ich von einer Schwangerschaft in meiner Abteilung wüsste. Was ich verneinte.
Ich bereite mich auf das Gespräch mit dem Vorgesetzten vor, drucke ein Angebot eines Fotografen aus, dessen Bilder mir für eine geplante Kampagne gefallen. Mein Handy klingelt. Die Putzfrau, Zsófia, ist dran. Sie sagt mir, dass sie nicht mehr kommen kann, weil sie sich um ihre Tochter kümmern muss, die die letzten drei Jahre bei Zsófias Mutter in Ungarn gelebt hat. Vor einem Jahr ist sie zu Zsófia nach Deutschland gezogen. Sie geht in die vierte Klasse und will im nächsten Schuljahr aufs Gymnasium. Oder mindestens auf die Realschule. Dafür muss ihr Deutsch aber noch viel besser werden. Um die Tochter bei den Deutschkursen zu unterstützen, braucht Zsófia mehr Zeit. Es tut ihr leid, sagt sie. Auch dass sie so kurzfristig kündigt.
Beim Reden stößt sie immer wieder an sprachliche Grenzen, manche Sätze klingen unfreundlich, sind aber wohl nicht so gemeint. Ich sage ihr, dass ich sie verstehe. Und dass es wichtig ist, eine gute Schule zu besuchen. Damit später eine gute Ausbildung möglich ist. Das hört sich unfreundlich an, obwohl es nett gemeint sein soll, was ich merke und Zsófia auch. Sie sagt nach einer kleinen Pause, dass sie nicht will, dass ihre Tochter auch putzen gehen muss. Nur putzen, das ist nicht gut. Zsófia sagt außerdem, dass sie eine Freundin hat, die auch putzt. Und dass sie mir mit der Abschlussrechnung auch die Telefonnummer dieser Freundin schickt. Damit schnell wieder jemand zu mir kommt. Zum Putzen. Ich bedanke mich bei Zsófia. Und wünsche ihr und ihrer Tochter alles Gute. Und viel Glück für die neue Schule.
Ich fühle mich nicht gut. Weil ich zwei Jahre eine Putzfrau beschäftigt habe, über die ich fast nichts weiß. Ich nenne sie meistens »Putzfrau« und nicht Zsófia. Ich kann mir ihren Nachnamen nicht merken, geschweige denn ihn richtig aussprechen. Ich habe nicht gewusst, dass sie eine Tochter hat, ich habe nicht gewusst, dass die Tochter seit einem Jahr in Deutschland lebt und hier in die Schule geht. Ich schäme mich für das letzte Weihnachtsgeschenk, das ich Zsófia gemacht habe: Glühwein und Amarettochriststollen. Geht’s noch familienunfreundlicher? Auch wenn ich peinlich genau darauf geachtet habe, Zsófia nicht auszubeuten, bin ich mir jetzt nicht mehr so sicher, ob mir das gelungen ist. Gedankenlos war ich auf jeden Fall. Da leide ich unter dem Mutter-Mobbing meines Vorgesetzten und bin selbst eine ignorante Auftraggeberin.
Zeit, zum Vorgesetzten zu gehen. Ich muss bei der Sekretärin warten, da er noch telefoniert. Nach einer Weile öffnet er die Tür und bittet mich in sein Zimmer. »Da sind Sie ja. Zu Hause alles klar?« Meine Chance, denke ich. Und höre mich sagen: »Alles wieder in Ordnung.« Er deutet auf einen Stuhl, der auf der anderen Seite seines Schreibtisches steht, und schließt die Tür. Ich setze mich. Er fragt, ob ich mich für Fußball begeistere. Meine Antwort wartet er aber gar nicht ab, sondern erzählt ausführlich, wie er gestern Abend den Tisch mit einem bekannten Fußballer und dessen Freundin teilen musste. Das Restaurant hatte eine Doppelbuchung gemacht und war bis zum letzten Stuhl besetzt. Die haben erstklassiges Essen, so mein Vorgesetzter. »Was für ein primitiver Typ«, sagt er dann über den Fußballer, »bestellt Weißbier zum Fisch.« Ich nicke, sage aber nichts. Der Vorgesetzte legt mir den aktuellen Proof für die Broschüre hin und den Entwurf der Präsentation, den ich Montagabend für ihn gemacht habe. »Da ist zweimal der Wurm drin in Ihren Projekten«, sagt er. »Brauchen Sie Urlaub?«
Ich schlucke erst mal. Dann setze ich an, mich zu verteidigen, breche aber gleich wieder ab. Und frage stattdessen, wo er konkret nicht zufrieden ist.
Er bemängelt das Hin und Her bei der Erstellung der Broschüre, dass es Probleme mit den Farben gab, dass ein falsches Logo verwendet wurde und ich einen Tippfehler übersehen habe. Er kann sich nicht um alles selbst kümmern, deswegen vertraut er mir Projekte an, sagt er. Die ich in der Vergangenheit deutlich besser abgeschlossen habe als in letzter Zeit. Ja, und diese neue Präsentation, die ist so langweilig, dass er keine Lust hat, die dreißig Seiten bis zum Ende durchzulesen. »Und dann noch so eine altbackene Grafik«, sagt er und klappt die Mappe zu. »Das können Sie doch besser!«
Ich erkläre, dass ich den Arbeitsablauf bei künftigen Druckaufträgen verändern werde, eventuell auch eine externe Schlussredakteurin hinzuziehen möchte. Sage, dass wir trotz des zweiten Andrucks keine höheren Kosten haben, weil der Farbfehler von der Druckerei verursacht worden ist. Ich schließe damit, dass ich gerne Schritt für Schritt über die Präsentation sprechen möchte, um sie nach seinen Vorstellungen zu verändern. Dann werde ich mutiger: »Vielleicht muss man manchmal ein Weißbier mit einem Fisch kombinieren«, sage ich und lege das Angebot des Fotografen auf den Tisch, um eine neue grafische Gestaltung vorzuschlagen.
»Ja, machen Sie das«, sagt er und sieht auf die Uhr. Die Fotos interessieren ihn nicht. Aha, es geht ihm also gar nicht um Details. Er ist unzufrieden, weil er sich um Sachen kümmern musste, um die er sich nicht kümmern will. Die er wegdelegiert hatte. Deswegen nörgelt er und macht etwas schlecht, was er normalerweise schnell abgesegnet hätte. Er hat noch etwas zu bemängeln. »Können Sie sich nicht besser absprechen mit Ihren Frauenproblemen? Gestern sind Sie nicht da, dafür die andere. Die ist heute nicht da, Sie aber schon.« Er lächelt mich an. »Da kommt man ja völlig durcheinander.« Ich verpasse meine nächste Chance. Und nicke.
Die restliche Zeit verbringe ich damit, die Präsentation zu verändern. Ich werfe den ursprünglichen Aufbau über Bord und gestalte die Präsentation wie einen Artikel in einem Magazin. Ein großer Mittelteil, der ohne Zahlen und Fakten auskommt, kombiniert mit einem großen Foto. Dann kleine Infoinseln mit Zahlen aus unserer Abteilung, Statistiken zum Thema und Expertenmeinungen. Ich spreche mit der Grafik und bitte, Illustrationen zu den Infoinseln zu machen.
Mein Magen knurrt. Es ist schon 13:45 Uhr. Ich packe mein Pausenbrot aus und verschlinge es. Dann gehe ich in die Teeküche, um mir eine Flasche Mineralwasser zu holen. Kurz vor der Tür bleibe ich stehen, weil ich meinen Namen höre. Jemand spricht über mich. »Die ist ja auch dauernd weg und hält ihrem Kind die Hand«, sagt eine Stimme. »Ist wohl ansteckend, diese Mamakrankheit«, sagt eine andere Stimme. Ich atme tief durch und betrete die Teeküche. Die ältere Grafikerin steht mit einem Kollegen aus der IT-Abteilung vor dem Kühlschrank. Ich nehme eine Flasche Mineralwasser aus dem Träger und gehe zur Tür. Der IT-Mann zwinkert mir zu: »Na, heute nur halbtags?«
Da platzt mir der Kragen. Nach dem unglücklichen Telefonat mit der Exputzfrau und den verpassten Chancen bei meinem Vorgesetzten entlädt sich nun mein angestauter Zorn auf diesen Kollegen. »Ich arbeite so lange, wie es mein Vertrag vorsieht. Und ich stehe darüber hinaus auch nach Ende meiner Arbeitszeit meinen Kolleginnen und Kollegen telefonisch zur Verfügung. Das können Sie ja bestätigen«, hier nicke ich der Grafikerin zu. »Mit meinem Arbeitspensum kann ich zwar während der Dienstzeit keine langen Schwätzchen machen, dafür erledige ich alle Aufgaben termingerecht. Sie stimmen mir sicher zu, das eher als Mamaeffizienz denn als Mamakrankheit zu bezeichnen.« Dann gehe ich.
Wahrscheinlich hält mich der IT-Mann jetzt für eine Zicke. Das ist mir aber egal. Ich bin halt anders als seine Frau, die den Kindern die Windeln wechselt und ihm abends einen kalten Schweinebraten zum Bier auftischt. Sicher ist seine Gattin ein braves Weibchen, das bereitwillig alles opfert, damit er sich beruflich selbst verwirklichen kann. Eine Frau, die glaubt, dass sie karrieremäßig zum Zug kommt, wenn die Kinder aus dem Gröbsten raus sind – weil er es ihr nach dem ersten positiven Schwangerschaftstest versprochen hat. Nur ist dann, wenn die Kinder so weit sind, ihr Karrierezug längst abgefahren. Dann kann sie wieder von vorne anfangen damit, sich einen Platz zu suchen in der familienfeindlichen Berufswelt. Und wenn sie Pech hat, ist sie dann auch noch ganz allein, weil ihr ach so gestresster Ehemann sich längst umorientiert und mit einer Kollegin ein neues Leben angefangen hat. Einer Frau, die ihn versteht – und nicht nur von Hausaufgaben oder neuen Turnschuhen für die Kinder redet.
Natürlich habe ich überhaupt keine Ahnung vom Privatleben des IT-Mannes. Ich kenne ihn nur flüchtig und nicht mal mit Namen. Und mit Sicherheit tue ich ihm und seiner Frau, so er eine hat, gerade gewaltig unrecht. Das ist mir aber egal. Ich hasse es, gedemütigt zu werden. Es ist dasselbe Gefühl, das ich verspürt habe, wenn mir die Bustür vor der Nase geschlossen wurde, weil ich es gewagt habe, mit einem Kinderwagen einsteigen zu wollen.
Ich gehe zurück in mein Zimmer und atme durch. Kurz nach zwei. Noch eine gute halbe Stunde, dann kann ich hier raus. Statt mich weiter mit der Präsentation zu befassen, drucke ich sie aus, so wie sie ist. Ich räume meinen Schreibtisch auf, sortiere Papiere und lösche alte E-Mails aus meinem Posteingang. Dabei stoße ich auf eine Nachricht meiner Schulfreundin. Sie empfiehlt mir das Buch Das Unbehagen in der Gesellschaft eines französischen Soziologen15, der sich Gedanken über die heutige Arbeitswelt macht. Es geht im Berufsleben nur noch um Flexibiliät und Effizienz, um Autonomie und um Kommunikationsstörung, fasst sie das Buch zusammen. Fachliche Kompetenz ist fast schon zweitrangig, Hauptsache, man zeigt gute Laune und ist allzeit bereit für das, was verlangt wird. Meine Freundin fühlt sich durch das Buch bestätigt in ihrer Entscheidung, ihren Beruf als Übersetzerin an den Nagel gehängt zu haben. Und sie tröstet mich in ihrer Mail mit dem Hinweis, dass Kinder die Flexibiliät vielleicht schmälern, die Effizienz aber ungemein steigern. Stimmt. 14:45 Uhr. Zeit zu gehen.
Auf dem Weg zum Aufzug kommt mir die ältere Grafikerin entgegen. »Ist ja ein Superwetter heute. Sie gehen sicher gleich mit Ihrem Kind raus.« Ich schaue sie streng an und nicke. »Ja.« Sie lächelt. Den Vorfall in der Teeküche scheint sie vergessen zu haben. Oder sie war so beeindruckt von meinem Wutanfall, dass ich nun an Ansehen gewonnen habe. »Ich weiß noch, wie ich meine Tochter stundenlang angeschubst habe auf der Schaukel. Ist ’ne besondere Zeit, wenn die Kinder so klein sind. Und sie ist auch so schnell vorbei.« Die Grafikerin wünscht mir einen schönen Tag. Ich gehe zum Aufzug und entscheide mich für die zweite Variante – meine Reaktion in der Teeküche hat sie beeindruckt. Ich buche das kurze Gespräch als Erfolg ab. Vielleicht können Menschen sich ja doch ändern. Wenigstens ein bisschen.
Ich erreiche den Bus und komme pünktlich am Kindergarten an. Mein Sohn läuft mir entgegen und erzählt, dass er eine Biene im Garten gesehen hat. Ich hole seine Sachen und nehme ihn an der Hand. »Die Oma kommt gleich zu uns. Vielleicht geht sie mit dir auf den Spielplatz. Ich muss nämlich noch mal kurz weg zum Haareschneiden«, erkläre ich ihm. Er nickt. Und hält meine Hand sehr fest. Kurz steigt in mir die Sorge hoch, ob er wieder Fieber hat. Doch seine Augen sind klar, und er fühlt sich nicht heiß an. »Ich will ein Eis essen«, sagt er. Ich schaue auf die Uhr, 15:17 Uhr. Um vier kommt meine Mutter. Die Eisdiele liegt fünf Minuten von unserer Wohnung entfernt. »Einverstanden«, sage ich.
Es herrscht reger Betrieb an der Eisdiele. Ein Mann löffelt einen Eisbecher an einem der beiden Bistrotische, zwei Frauen sitzen an dem anderen unter einem Sonnenschirm. Die ältere der beiden ermahnt einen vielleicht sechsjährigen Jungen, der auf einem Skateboard um den Bistrotisch kreist. Die jüngere ist offensichtlich schwanger. Während wir warten, höre ich dem Gespräch der Frauen zu. Zuerst möchte ich gar nicht lauschen, doch sie sprechen so laut, dass ich es nicht verhindern kann. Die ältere Frau klagt, sie fände keinen Mittagsbetreuungsplatz für ihren Sohn, der im Herbst in die erste Klasse kommt. »Keinen Hortplatz. Nur eine Mittagsbetreuung suche ich. Der Unterricht endet an drei Tagen um halb zwölf, an zwei Tagen um halb elf.« Die Frau wirkt verzweifelt. Sie weiß, dass es noch drei freie Plätze gibt in der Mittagsbetreuung – auf die sich vierundzwanzig Kinder bewerben müssen. »Wenn ich keinen Mittagsbetreuungsplatz finde, muss ich in der Apotheke kündigen. Von Viertel vor acht bis Viertel nach zehn arbeiten – das ist ein Witz. Aber ein schlechter.« Die jüngere Frau versucht sie zu trösten. Sagt, dass es noch ein bisschen hin ist bis zum Schulanfang. Dass sie sich mit den anderen Müttern zusammentun kann, die auch keinen Mittagsbetreuungsplatz finden. Oder selbst etwas auf die Beine stellen kann.
Vor uns steht eine Gruppe Schülerinnen, die sich nicht entscheiden können, welche Eissorte sie wollen. Also warten wir. Mein Sohn steht geduldig neben mir und hält meine Hand. Ich höre weiter dem Gespräch der beiden Frauen zu.
»Hast du dich denn schon um einen Krippenplatz gekümmert?«, fragt die ältere Frau. Die jüngere schüttelt den Kopf. Die ältere erklärt ihr, dass es jetzt schon zu spät dafür ist. Und dass sie vielleicht was Eigenes gründen muss, wenn sie nicht die nächsten drei Jahre daheim und auf dem Spielplatz verbringen möchte.
Eigentlich finde ich die Idee hinter Kinderläden oder Elterninitiativen gut. Man löst ein Betreuungsproblem, weist die Öffentlichkeit darauf hin, dass es einen Mangel an Betreuungsmöglichkeiten gibt, und hat auch noch Einfluss darauf, wie die Betreuung gestaltet wird. Doch dass ich etwas selbst aufbaue, eine Krippe, einen Kindergarten, das kann ich mir nicht vorstellen. Vielleicht weil ich Glück hatte und nicht verzweifelt genug war. Ja, die Suche war auch bei uns, trotz Großstadt mit fast flächendeckenden Angeboten, schrecklich: viele Kitas, viele Gespräche, viele Absagen.
Es war Zufall, dass ich meinen Sohn in einer Krippe nahe unserer Wohnung unterbringen konnte, ganz knapp bekamen wir einen Kindergartenplatz für ihn, den wir zu Fuß erreichen können. Ich glaube aber, wenn das nicht geklappt hätte, dann wäre ich nicht zur Arbeit zurückgekehrt. Hätte aufgegeben, auf den viel beschworenen Erwerb von Sozialkompetenzen, von denen ein Krippen- und Kindergartenkind profitiert, verzichtet. Und auf mein Comeback im Büro. Andererseits hätte ich mich dann in die Reihe der Latte-macchiato-Mütter stellen müssen … Ich kann Leute auf jeden Fall verstehen, die sich in einer Elterninitiative engagieren. Auch wenn ich die eine, die ich kennengelernt habe, ziemlich unmöglich fand. Nicht nur wegen der Zu-früh-zu-spät-kommen-Kasse.
»Wenn Sie berufstätig sind, ist das der falsche Ort für Sie.« So lautete eine Maxime der Chefin von besagter Elterninitiative. Diese Chefin verlangte nicht nur eine unglaublich hohe Monatsgebühr (600,00 Euro plus 90,00 Euro Essensgeld), sondern auch einen enthusiastischen Einsatz der Eltern. Drei Elternabende im Monat – und dann mussten die Mütter, die ja nicht berufstätig sein sollten, auch noch beim Putzen helfen. Wahlweise Böden oder Fenster. Ob sie nun zu Hause Lappen und Eimer schwingen würden oder in der Kita – sie täten es ja an beiden Orten für ihre Kinder, so die Kita-Leiterin. Ich weiß nicht, ob auch ein schrubbbereiter Vater akzeptiert worden wäre, der ein Kind mit einer Vollzeitkarrierefrau großzieht.
Endlich sind wir an der Reihe. Ich bestelle ein Schokoladeneis für meinen Sohn und einen Eiskaffee für mich. Wir setzen uns an den einen der beiden Bistrotische, der inzwischen frei geworden ist. Der Kleine löffelt langsam das Eis aus dem Pappbecher. Ich nehme einen Schluck Eiskaffee. Wunderbar. »Du sollst hier nicht fahren. Weil ich es dir sage«, höre ich die ältere Frau vom Nebentisch. Gemeint ist ihr Sohn, der immer noch auf seinem Skateboard Runden um die Bistrotische zieht. Weil ich es dir sage – auch ein Leitsatz des Erziehungskonzeptes dieser Elterninitiative, in das sich aber weder Väter noch Mütter einmischen durften. Die Chefin hatte die Konzepthoheit, mischte Montessoripädagogoik mit antiautoritären Methoden, ließ Kinder aber auch in die Ecke stellen, wenn beim Essen gekleckert wurde. Daneben prahlte sie mit ihrem selbst designten Raumkonzept, das mich an Schöner Wohnen erinnerte. Der Schlafplatz für die Kinder war über eine Wendeltreppe zu erreichen und befand sich durch eine extra eingezogene Decke quasi im Hochparterre. Ein schlauer architektonischer Einfall: Die Kita hatte die Räumlichkeiten einer alten Werkstatt übernommen, mit dem zusätzlichen Stockwerk wurde die gesamte Raumhöhe genutzt. Nicht so schlau war aber, dass der Schlafplatz nicht mit einem anständigen Geländer gesichert war: Nur eine Handbreit hoch war das Gitter, das die Kinder vom Sturz auf den darunterliegenden Boden bewahren sollte. Als ich die Kita-Leiterin darauf ansprach, reagierte sie sehr zickig. Aus Sicherheitsgründen dürfen Kinder nur dort oben sein, wenn eine Erzieherin dabei sei – Auflage der Stadt. »Aber im Vertrauen«, sagte sie dann, »wenn ein Kind so dumm ist, dass es statt im Bett zu schlafen lieber aus dem Bett fallen will, dann haben die Eltern ihren Erziehungsauftrag gründlich versaut.«
Mein Sohn isst sein Eis ohne Kleckern, ich bin begeistert. Ich ziehe kurz das Handy raus, 15:29 Uhr. Wir haben noch ein bisschen Zeit. Am Nebentisch geht es immer noch um Elterninitiativen. Was die kosten, was die verlangen. Manche wollen ganz schön viel, erinnere ich mich an »meine« Elterninitiative. Bei Vertragsabschluss wurden drei Monatsbeiträge im Voraus als Kaution verlangt. Ich kam mir vor, als würde ich eine Wohnung anmieten. Fehlte noch die Schufa-Auskunft und ein polizeiliches Führungszeugnis. Auf Nachfrage erklärte mir die Leitung dann aber, dass es immer wieder vorkommt, dass Eltern ihr Kind anmelden und sich dann nicht mehr melden. Plätze bleiben frei, und das Vergabeprozedere muss von Neuem beginnen. Eltern sind also nicht nur Opfer, sondern auch Täter, habe ich daraus verstanden.
Die beiden Frauen brechen auf. Ich höre noch, wie der Junge ausgeschimpft wird, weil er mit dem Skateboard einen Blumentopf umgefahren hat.
Ich will meinen Sohn nicht hetzen. Also trinke ich den Rest meines Eiskaffees in Ruhe. »Tika liebt Schokoladeneis«, höre ich und sehe auf seinem Shirt doch einen Eisfleck. Er will auf meinen Schoß und schmiert mir Schokoladeneis auf die Bürobluse. Muss ich nicht selbst waschen, denke ich mir und genieße es einfach, mit ihm hier zu sitzen.
Ich glaube, die Kinderläden, die in den Siebzigern gegründet wurden, sollten die Gesellschaft nachhaltig verändern. Sich dabei aber nur an einen elitären Teil der Gesellschaft zu wenden, das ist der Hauptgrund, warum ich »meine« Elterninitiative so unmöglich fand. Die Gebühr, die sie verlangte, können sich nur wenige Familien leisten. Wir gehören nicht dazu. So wurden finanziell schlechter gestellte Familien ebenso ausgeschlossen wie die, in denen mehrere Kinder sind (eine Geschwisterermäßigung war in dieser Kita nicht vorgesehen). Und doch ist längst erwiesen, dass besonders die Kinder, die eben nicht aus wohlhabenden Familien kommen, durch einen Kita-Besuch Chancen erhalten, die sie sonst verpassen würden.16 Mehr als wenn den Familien das Geld für die Kita bar ausgezahlt werden würde. Daneben stinkt es gewaltig zum Himmel, dass trotz dieser hohen Gebühren auch noch Fulltime-Einsatz der Eltern gefordert ist. Toiletten putzen – warum wird keine Putzhilfe eingestellt? Ach, stimmt ja, Putzfrauen können kündigen. Das hatte ich ja vergessen. Ich muss unsere Toilette auch wieder selbst putzen. Und mir erneut darüber klar werden, ob ich die innige Verbindung mit meinen sandigen Fußböden und meinen Armaturen voller Wasserspritzer mehr schätze als die Qualitätszeit mit meinem Kind. Alles in allem ist eine solche Elterninitiative eine Erweiterung der Upperclass-Hausfrauenehe: Sie bietet die Kinderbetreuung passend zum Ehegattensplitting.
15:49 Uhr. Wir müssen los. »Die Oma kommt gleich«, sage ich zu meinem Sohn. Wir stehen auf und gehen nach Hause. Ich habe dem Kleinen gerade die Schuhe ausgezogen, als es klingelt. Meine Mutter kommt kurz darauf aus dem Fahrstuhl. Sie sieht abgekämpft aus. »Was für eine Hitze«, sagt sie und bittet um ein Glas Wasser. Ich sehe sie besorgt an. Sofort steigt in mir das schlechte Gewissen hoch, dass ich sie über die Maßen beanspruche mit meiner Bitte, einen Nachmittag mit ihrem Enkelkind zu verbringen. Kaum denke ich das, ärgere ich mich über mich selbst. Mein Sohn ist ihr einziges Enkelkind. Meine Mutter ist Rentnerin. Sie wohnt zwanzig Minuten mit dem Auto entfernt. Es gibt keine regelmäßigen Einsätze für sie als Babysitterin, sondern nur gelegentliche. Und oft hat sie auch von sich aus abgesagt, weil es ihr terminlich oder gesundheitlich nicht gepasst hat. Hier gibt es nichts, was mir ein schlechtes Gewissen machen sollte – außerdem lieben sich Oma und Enkelsohn. Und genießen es, Zeit miteinander zu verbringen.
Ich schlage meiner Mutter vor, in der Wohnung zu bleiben, wenn es ihr draußen zu heiß ist, und den Spielplatzbesuch ausfallen zu lassen. Und sage ihr, dass ich spätestens um halb sechs wiederkomme. Dann ziehe ich mein Bürokostüm und die Bluse mit dem Eisfleck aus und Jeans und ein Shirt an. Ich nehme das Fahrrad, um pünktlich zu sein. Der Friseursalon ist in derselben Straße wie die Kinderarztpraxis. Ich fahre auf eine rote Ampel zu, dieselbe, die ich gestern mit meinem Sohn auf dem Kindersitz überfahren habe. Ich drehe mich um. Keine Polizei, leider auch nicht der alte Mann von gestern – niemand zu sehen. Ich fahre mit Freude über die rote Ampel und hoffe, dass sich wenigstens irgendjemand im Verborgenen fürchterlich über mich aufregt.
Tönung und Schnitt stehen heute an. Eine Weile später sitze ich unter der Wärmehaube, die Haare in Alufolie eingewickelt, und trinke kaltes Wasser. Ich habe keine Lust, eines der Klatschhefte zu lesen, die im Zeitungsständer sind, sondern unterhalte mich lieber mit meiner Friseurin. Sie erzählt mir von einer Kundin, die bis vor kurzem in einer 200-Quadratmeter-Eigentumswohnung in einem teuren Viertel gewohnt hat. Jetzt ist sie umgezogen, in eine Zweieinhalbzimmerwohnung von der Sozialhilfe: als Witwe mit drei Kindern. Ihr Mann ist völlig überraschend gestorben, an einem Herzinfarkt auf dem Rückweg von einer Dienstreise. Beim Start des Flugzeugs ist er bewusstlos geworden. Als sich die Kabinenbesatzung nach dem Start um ihn kümmern wollte, war es schon zu spät. Nun streiten sich die Anwälte der Fluggesellschaft mit dem Anwalt der Witwe um Schadensersatz. Die Witwe überlegt, sich auf einen Job an der Supermarktkasse zu bewerben, um wenigstens ein bisschen Geld zu verdienen – die Witwenrente deckt gerade so ihre Lebenshaltungskosten. Natürlich muss sie die Eigentumswohnung verkaufen, die noch nicht abbezahlt war. Und das zweite Auto. Und die Ferienwohnung im Zillertal. Eine furchtbare Geschichte, schließt die Friseurin. Ich stimme ihr zu. Und ziehe mich dann mit meinen Gedanken unter die Wärmelampe zurück.
Ich höre immer wieder Geschichten von Frauen, die plötzlich ohne das Geld ihrer Ehemänner dastehen. Natürlich geht dann das Latte-macchiato-Mütter-Gerede wieder los, dass die Frauen ja selbst schuld sind, weil sie, statt arbeiten zu gehen, nur Kaffee und Kinder im Kopf hatten und sich von ihren Männern finanzieren ließen. Das nervt mich gewaltig, dieses »Wir haben’s dir ja gleich gesagt«-Nachtreten! Obwohl es tatsächlich ziemlich naiv und vielleicht auch gewagt ist, sich in finanzielle Abhängigkeit von romantischer Liebe zu begeben. Denn ohne Happyend wird die auch von unserer Bundesregierung nicht mehr beschützt. Stichwort: Unterhaltsrecht. Da Ehen heute nicht mehr so lange halten wie früher, soll das Leben von Männern und ihren Zweit- und Drittfrauen unterstützt und nicht durch finanzielle Verpflichtungen den Erstfrauen gegenüber gestört werden.17 Geld bekommen die Exfrauen nur noch, wenn die gemeinsamen Kinder unter drei Jahren sind, heißt es im neuen Unterhaltsrecht. Allen anderen ist ein Vollzeitjob zuzumuten – wenn die Kinderbetreuung geregelt ist.
Das macht mich ganz schön zornig – auf die Politikerinnen und Politiker, die willkürlich modernisieren. Denn das Ehegattensplitting, die staatlich geförderte Hausfrauenehe, die Familien das Einer-verdient-Modell fast schon aufzwingt, wurde bei der Modernisierung des Rechts nicht angetastet. Und die Grundvoraussetzung für entspanntes Arbeiten, nämlich die flächendeckende Kinderbetreuung, ist auch Zukunftsmusik. Zornig wurde ich aber auch auf mich, weil ein großer Teil meines Antriebs, zwölf Monate nach der Geburt meines Kindes wieder arbeiten zu gehen, Angst war. Angst vor finanzieller Abhängigkeit von meinem Mann. Eben weil ich die Gefahren des Lebens einer Latte-macchiato-Mutter kenne. Ich habe gesellschaftliche Entwicklungen über das gestellt, was ich eigentlich empfinde. Ich glaube nämlich an meinen Mann und mich, an unsere Fähigkeit, Probleme zu lösen – was wir auch in der Vergangenheit schon bewiesen haben. Ich glaube an uns und unsere Familie. Abgesehen davon macht mich mein 30-Stunden-Job ökonomisch nicht unabhängig. Mein Gehalt allein deckt meine Lebenskosten und die Kosten für den Kleinen nicht – ohne meinen Mann und sein Einkommen müsste ich mein Leben gewaltig verändern.
Es klingelt, die Wärmelampe schaltet sich aus. Ich sehe aufs Handy, 16:59 Uhr. Keine Anrufe – weder von meiner Mutter noch aus dem Büro. Während sie mir die Haare wäscht, sagt die Friseurin, dass sie gerne ein Kind hätte. Aber nicht weiß, was sie dann mit ihrem Laden machen soll. Der Salon gehört ihr, sie arbeitet dienstags bis samstags von neun Uhr morgens bis abends um acht. Selbst wenn sie einen Ganztagsplatz in einer Kinderkrippe bekommen würde, wüsste sie nicht, wer dann das Kind ab fünf Uhr nachmittags betreuen solle. Ihr Freund? Und wann würde sie ihr Kind dann sehen?
Ich frage, ob sie nicht eine Teilhaberin finden kann, die den Salon mit ihr zusammen führt und ihre Arbeitszeit somit verkürzt. Darüber hat sie auch schon nachgedacht, sagt die Friseurin. Doch dann bleibt am Ende des Monats sehr viel weniger Geld übrig. Sie seufzt. Und deshalb, sagt sie, hat sie sich eine neue Spirale einsetzen lassen. In drei Jahren ist sie vierunddreißig – bis dahin muss sie eine Lösung gefunden haben.
Sie schneidet meine Haare und föhnt sie sorgfältig. Dann zeigt sie mir meinen neu frisierten Hinterkopf in einem Spiegel. Ich bin zufrieden, zahle, steige auf mein Fahrrad und fahre nach Hause. Auf dem Heimweg halte ich bei der Metzgerei, beim Bäcker und an einem Blumenladen. Ich kaufe einen Strauß bunter Tulpen für meine Mutter. Dann mache ich noch einen Stopp bei der Reinigung und hole fünf Hemden, ein Kostüm und drei Blusen ab – frisch gewaschen und gebügelt. Es gelingt mir, Wäsche und Blumen einigermaßen unzerknittert auf dem Fahrrad nach Hause zu bringen. Und wieder einmal wünsche ich mir, mein Mann würde diesen Reinigungsgang mit dem Auto übernehmen. Schließlich sind es auch seine Sachen – und ich habe entweder den Kleinen dabei oder sitze auf dem Fahrrad. Doch die Öffnungszeiten der Reinigung passen nicht zu seinen Arbeitszeiten: Montag bis Freitag von 9:00 bis 18:00 Uhr. Aber samstags liefert er die getragenen Hemden und Blusen in der Reinigung ab.
Mein Sohn sitzt am Küchentisch und malt ein Bild mit Wasserfarben, als ich um 17:51 Uhr nach Hause komme. Meine Mutter sitzt auch am Tisch. Sie sieht besser aus. Vielleicht war es wirklich nur die Hitze, die ihr zu schaffen gemacht hat. »Hübsch siehst du aus, Herzchen«, sagt sie. »Gut geschnitten – eine schöne Tochter habe ich.« Dann sieht sie meinen Sohn an. »Eine schöne Mama hast du«, sagt sie zu ihm. »Tikas Mama ist schön«, sagt er. Wir lachen alle drei. Ich gebe meiner Mutter den Blumenstrauß und bitte sie, zum Abendessen zu bleiben. »Es gibt Salat und Bratkartoffeln und Fleischpflanzerl.« Aber meine Mutter will nach Hause. Sie sei müde, sagt sie. Ich spüre wieder die Sorge in mir aufsteigen und das schlechte Gewissen. An der Tür umarme ich sie und ermuntere sie, mich anzurufen, wenn sie sich nicht wohl fühlt. »Ist schon gut, Herzchen«, sagt sie. »Du hast genug andere Dinge im Kopf.« Mein Sohn winkt ihr.
Mir fällt ein, dass ich die Waschmaschine vergessen habe: Die gewaschene Wäsche liegt seit fast zwei Stunden in der Trommel. Ich räume die Maschine aus und befülle den Trockner. Dann gehe ich in die Küche und bereite gemeinsam mit meinem Sohn das Abendessen vor. Der Kleine schneidet Tomaten und Gurken für den Salat und Zwiebeln für die Fleischpflanzerl. Ich schäle die Kartoffeln. Während die Kartoffeln in der Pfanne braten, zeige ich ihm, wie man aus Hackfleisch, Petersilie und Zwiebeln kleine Bällchen formt. Bald brutzeln auch die Fleischpflanzerl. Um 18:28 Uhr höre ich meinen Mann an der Tür. »Du bist ja schon da«, rufe ich ihm entgegen. »Wir haben Essen gebraten«, ruft mein Sohn und rennt zu ihm.
Dann sitzen wir zu dritt am Tisch und essen. Der Kleine kaut glücklich und weist meinen Mann vor jedem Bissen darauf hin, dass er das Essen gebraten hat. Ich bin auch glücklich. Auch wenn es nur ein gemeinsames Abendessen ist – das zweite in einer Woche –, bedeutet es mir doch viel. Familie. Die an einen Tisch zu bekommen, ist gar nicht so einfach. Aber in ein paar Minuten muss ich wieder los – der Elternabend. Ich überlasse meinem Mann Kind und Küche und steige wieder aufs Fahrrad. Im Kindergarten haben sich schon einige Eltern versammelt, wir setzen uns auf die kleinen Holzstühle im Gruppenraum und trinken Wasser und Saft aus kleinen Gläsern. Die Leitung begrüßt die anwesenden Eltern und stellt die Tagesordnung vor. Es geht um den Tag der offenen Tür in vier Wochen, das Sommerfest in sechs Wochen und die Abschiedsfeier vom Kindergarten für die künftigen Schulkinder in zwölf Wochen. Außerdem möchte sie noch einmal auf den Streik am kommenden Montag hinweisen, der bereits per Rundschreiben angekündigt ist.
Beim Stichwort Streik gibt es Unruhe unter den Eltern. Einige signalisieren Verständnis für die Forderungen der Streikenden. Andere finden es ungeheuerlich, dass der Kindergarten einen Tag geschlossen ist. Und dann auch noch an einem Montag. Die Leitung schlägt vor, erst mal die Tagesordnung abzuarbeiten. Und im Anschluss daran über den Streik zu sprechen. Es gibt einige unzufriedene Stimmen, aber der Großteil der Eltern findet den Vorschlag dann doch ganz vernünftig.
Während es also erst mal um Termine geht, betrachte ich die anwesenden Eltern genauer. Es sind einige Väter da, die ich noch nie beim Hinbringen oder Abholen gesehen habe. Unter ihnen sind die, die sich am meisten über den Streik aufgeregt haben. Was ich erstaunlich finde – schließlich haben die doch im Alltag nicht viel mit dem Kindergarten zu tun. Ob es diesen Männern ums Prinzip geht? Weil sie etwas, für das sie auch bezahlt haben, immer und ohne Ausnahme vollständig haben wollen? Oder sprechen sie hier im Sinne ihrer Frauen, die durch einen Streik im Kindergarten noch mehr gehetzt sein werden als sonst?
Besonders geschimpft haben zwei Männer. Der eine muss der Vater der Kindergartenzwillinge sein, die Ähnlichkeit ist unverkennbar. Seine Frau bringt die zwei Mädchen jeden Morgen mit dem Fahrrad zum Kindergarten, die Kinder im Anhänger. Das macht sie auch, wenn es regnet. Nur bei Eis und Schnee kommt sie mit dem Bus. Die Frau wirkt noch gehetzter als ich mich oft fühle: Ihre Kleidung ist ausschließlich funktional, und ihr Blick ist nur auf ihre große, wahrscheinlich wasserdichte Armbanduhr und die Kinder gerichtet. Einmal hat sie gesagt, sie führt eine ambulante Ehe. Weil ihr Mann ständig auf Reisen ist. Heute ist er offensichtlich da, und dann ist er gleich für den Elternabend eingespannt worden. Vielleicht ist er deshalb in Nörgellaune.
Der andere Mann ist elegant gekleidet. Ich habe ihn schon mal mit Frau und Sohn auf dem Spielplatz mit der großen Rutsche gesehen. Er saß am Rand der Sandkiste und las die Financial Times. Neben ihm seine Frau, in einen Roman vertieft. Der Sohn spielte mit Eimer und Schaufel. Irgendwie bekam er Sand in die Augen und lief weinend zu seinen Eltern. Sein Vater sagte: »Du bist ja voller Sand, da fasse ich dich doch nicht an.« Seine Mutter wischte wortlos Sand und Tränen weg. Die Reaktion ihres Mannes, die ich unglaublich fand, kommentierte sie nicht, was ich ebenso unglaublich fand. Dann stand der Mann auf und sah auf seine schwarzen Designerschuhe. »Wenn wir nach Hause kommen, muss ich als Erstes meine Schuhe putzen«, sagte er ärgerlich. Seine Frau meinte, dass ihr Sohn auch voller Sand sei. Das tat der Mann damit ab, das Kind könne einfach in die Badewanne gesteckt werden, die Reinigung seiner Schuhe sei weitaus komplizierter. Ich habe mich von den beiden weggesetzt, weil ich es nicht ertrug, wie der Mann sich verhielt. Und genau dieser Typ regt sich jetzt auf, dass das Personal des Kindergartens einmal einen Tag streikt.
Ich weiß gar nicht, wie viele Mütter im Kindergarten berufstätig sind. Wenn ich sie mir aber ansehe, die Frauen, die morgens ihre Kinder zum Kindergarten bringen – und trotz aller Gleichberechtigungsbemühungen sind es fast nur Frauen –, wirken sie alle nicht sonderlich entspannt. Bestimmt stehen alle berufstätigen Mütter ständig unter Zeitdruck, sind so gehetzt wie ich. Aber wahrscheinlich kennen die Mütter, die nicht arbeiten, das auch: das Gefühl, den Bus nicht mehr zu erreichen, egal wie schnell sie rennen und egal wie zeitig sie losgehen.
Meine Schulfreundin sagt oft, sie bewundert mich dafür, dass ich so schnell nach der Geburt meines Sohnes zurück ins Büro gegangen bin. Und dass sie mich um mein Berufsleben beneidet, auch wenn sie ihre Entscheidung, nicht mehr zu arbeiten, nach wie vor richtig findet. Sie selbst steht ohne Beruf schon unter großem Druck, will alles richtig machen, perfekt sein in dem, was sie tut. Vor allem wenn es um ihre Kinder geht. Davon spricht sie häufig. Du willst eben das Beste für deine Kinder, sage ich immer zu ihr, um sie zu trösten. Ja, sagt meine Freundin dann. Weil ich meine Kinder liebe. Und weil ich unter Beobachtung stehe und allen zeigen will, dass ich nicht versage. Seitdem ich Kinder habe, komme ich mir vor, als wäre ich öffentliches Gut. Sie hat mir vom Artikel einer Journalistin erzählt, die die deutsche Durchschnittsfrau aufgrund dessen, was über sie in Medien, Politik und U-Bahnen so geredet wird, mit einer Labormaus verglichen hat. Lasst mich in Ruhe! war die Überschrift dieses Artikels.18
Das Gefühl kenne ich auch. Mit meiner Schwangerschaft bin ich vom uninteressanten Individuum zum Gesprächsgegenstand geworden. Weil Kinder etwas sind, das alle angeht. Deshalb wollte mich der Mann in der Kneipe maßregeln, als ich schwanger mit einer Flasche alkoholfreiem Bier dort saß. Deswegen hat mich der Alte ausgeschimpft, als ich mit meinem Kind auf dem Rücksitz über eine rote Ampel geradelt bin. Völlig Fremde mischen sich in die Kindererziehung ein oder beurteilen meine Entscheidungen, kritisieren mich willkürlich als Rabenmutter oder als Latte-macchiato-Mutter.
Man sollte meinen, die Menschen stünden Kindern positiv gegenüber. Kinder sind unser wertvollstes Gut, sie sind die Zukunft, retten die Renten und pflegen die Alten hoffentlich voller Hingabe. Geben das zurück, was sie bekommen haben. Sie sind ja auch so niedlich. Doch diese positive Einstellung ist nur die Theorie. Geht es um die Realität, sind die guten Wünsche schnell dahin. In den wenigsten Restaurants freut man sich, wenn jemand mit seinem Kind hereinkommt. Kinder nerven oft. Sie werfen Gläser um, wollen nur Pommes frites essen, verkleckern die Tischdecke mit Ketchup oder stören mit ihrer bloßen Anwesenheit die anderen Gäste. Beim Reisen ist das ähnlich, ob in der Bahn oder im Flugzeug.
Ich melde mich beim Stichwort »Apfelkuchen«. Die Leitung ist immer noch dabei, den Tag der offenen Tür im Kindergarten zu organisieren, und sie braucht ein paar Elternspenden für das Büfett. Ich ziehe das Handy raus. Schon 19:55 Uhr, zwei Tagesordnungspunkte stehen noch bevor, und dann kommt die Diskussion um den Streik.
Neben mir sitzt die Mutter, die mir meine Exputzfrau Zsófia vermittelt hat. Ich beuge mich zu ihr und frage sie im Flüsterton, ob sie schon eine neue Putzfrau gefunden hat. Sie ist überrascht, verneint und fragt, warum Zsofía denn nicht mehr zu mir kommt. »Wegen ihrer Tochter«, sage ich. Die Mutter weiß von nichts, sie will nachfragen und mir Bescheid geben. Ich nicke. Und ernte einen strafenden Blick von der Leitung. Wie in der Schule – zum Glück fragt sie nicht, ob der Inhalt unseres Gesprächs für alle interessant sein könnte.
Endlich ist die Leitung mit den Tagesordnungspunkten durch. Sie schlägt vor, eine kurze Pause zu machen und dann über den Streik am Montag zu sprechen. Ich nutze die Zeit und rufe meinen Mann an. »Kind schläft«, sagt er zur Begrüßung. »Alles in Ordnung.« Ich sage, dass noch über den Kindergartenstreik am Montag gesprochen wird. Und dass die Putzfrau gekündigt hat. Aber nur bei uns, nicht bei der anderen Kindergartenmutter. Er ist überrascht, beruhigt mich aber. »Wir finden eine andere«, sagt er. Dann muss ich wieder auf meinen kleinen Stuhl zurück. Ein paar Eltern sind gegangen. Unter ihnen der Vater im Designeranzug, der sich so über den Streik aufgeregt hat.
Die Leitung bittet noch einmal um Aufmerksamkeit. Als alle Eltern auf den kleinen Stühlen sitzen und sie erwartungsvoll ansehen, erklärt sie die Hintergründe des Streiks: Es geht um höhere Löhne für die Erziehungsarbeit, aber auch um bessere Arbeitsbedingungen. »Ihnen ist sicher klar, dass sich Ausbildung, Qualifikation, aber auch körperliche und geistige Verfassung des Personals direkt auf die Qualität der Kinderbetreuung auswirken.19 Es sind Ihre Kinder, die wir betreuen. Wir möchten das so gut wie irgend möglich machen. Schließlich haben wir uns auf eine Erziehungspartnerschaft eingelassen.«20
Ein paar Mütter räuspern sich, eine klatscht leise in die Hände. Andere stimmen mit ein, ich klatsche auch. Natürlich will ich, dass mein Kind so gut wie möglich betreut wird. Und ich will nicht, dass dabei Leib und Seele des Betreuungspersonals auf der Strecke bleiben.
Der Vater der Zwillinge meldet sich. Natürlich. Er plustert sich auf, meint, er kann ja verstehen, was die Erzieherinnen auf die Straße treibt. Aber er sieht nicht ein, dass das Problem auf seinem Rücken ausgetragen wird. Weil er ja nun wirklich nichts für Arbeitsbedingungen oder Tarife kann. Zustimmende Geräusche von einigen Eltern, ich unterdrücke ein Kopfschütteln. Ein dummer Kommentar! Als wäre alles nur die Schuld eines Politikers, einer Partei oder einer Bundesregierung, die vielleicht längst abgewählt ist. Es sind doch auch wir, die Menschen, die Kinderbetreuung als weniger wertvoll erachten (ist ja eigentlich ein Instinktjob, den Mütter auch ohne Ausbildung daheim gut machen können – haha!) als zum Beispiel Finanzmanagement.
Die Leitung lächelt. Ich bin sicher, sie hat damit gerechnet. Sie wendet sich direkt an den Vater. »Das ist der erste Streiktag in diesem Kindergarten in diesem Jahr. Rein arbeitsrechtlich kann Ihnen nichts passieren, wenn Sie aufgrund eines Streiks Ihr Kind zu Hause betreuen müssen.21 Gerne stelle ich Ihnen auch noch eine Bescheinigung für Ihren Arbeitgeber aus, um zu bestätigen, dass wir wirklich streiken.« Nun schaut sie in die Runde. »Rein menschlich bin ich sicher, dass Sie von der Unterstützung unseres Streiks nur profitieren können.« Sie trinkt einen Schluck Wasser. »Der Streik endet am Montag um 17:00 Uhr. Am Dienstag werden wir Ihre Kinder wie gewohnt hier im Kindergarten betreuen. Gibt es noch weitere Fragen?« Niemand sagt mehr etwas.
Ich glaube, einige Eltern schämen sich. Weil sie ihre individuelle, gewohnte Bequemlichkeit über das Wohl einer ganzen Berufsgruppe stellen wollten. Die meisten stehen auf und verabschieden sich schnell. Mir ist es ein Bedürfnis, der Leitung die Hand zu schütteln. »Ich finde, Sie haben wirklich gute Sachen gesagt.« Und diesem Blödmann angemessen den Kopf gewaschen, denke ich, sage es aber nicht. Die Leitung bedankt sich und sagt: »Sie können auch mit Ihrem Arbeitgeber reden, um eine individuelle Lösung zu finden. Meistens ist es kein Problem, ein Kind für einen Tag mit zur Arbeit zu nehmen. Sofern dort keine Gefahren lauern.« Dann wünscht sie mir einen schönen Abend.
Mir fällt auf, dass die Leitung mit keinem Wort die Möglichkeit angesprochen hat, dass man am Montag einen Urlaubstag nehmen könnte. Wahrscheinlich läuft es der Streikethik entgegen, von jemand anderem einen Urlaubstag einzufordern, wenn man gleichzeitig für mehr gesellschaftliche Gerechtigkeit auf die Straße geht. Ich hätte auch keinen Urlaubstag mehr zur Verfügung. Von den einunddreißig Tagen, die mir zustehen, habe ich fünf Anfang Januar genommen. Acht waren es an Ostern, als wir zwei Wochen in Südtirol verbracht haben. Ein Tag ist für ein längeres Wochenende im Juni gedacht, da sind wir zu einer Hochzeit in Frankreich eingeladen. Elf Tage brauche ich im Sommer – Familienurlaub auf Elba. Bleiben sechs Tage für Weihnachten. Da komme ich auch nicht drumrum, der Kindergarten schließt am 22. Dezember und öffnet erst am 7. Januar wieder.
20:50 Uhr. Ich steige auf mein Fahrrad und fahre los. Die Gefahren, die an meinem Arbeitsplatz lauern, haben nichts mit scharfen Werkzeugen, hohen Temperaturen oder wackligen Gerüsten zu tun, sondern mit dem Wesen der Menschen, die dort beschäftigt sind. Egoismus, Engstirnigkeit, Rücksichtslosigkeit. Mir fällt das Interview mit den Musikerinnen ein, das ich gestern gelesen habe. Eine Violinistin erzählte, sie habe ihre Kinder oft auf Konzertreisen mitgenommen, wenn weder Großmutter noch Kinderfrau Zeit hatten. Und es sei immer ein großes Vergnügen gewesen. Ich beneide sie richtiggehend.
Ich bin froh, zu Hause anzukommen. Ich stelle das Fahrrad im Hof ab und gehe in unsere Wohnung. Mein Mann sitzt auf dem Sofa und liest Zeitung. »Da bist du ja«, sagt er. »Feierabend«, sage ich. »Hier gibt’s nichts Neues«, sagt er. »Und bei dir?« Ich fasse die offiziellen Tagesordnungspunkte knapp zusammen: »Termine, Termine, Termine und dann noch viel Lärm um den Kindergartenstreik am Montag.« Er sieht mich fragend an. Ich erkläre, dass zwei Väter sehr wenig Verständnis dafür zeigten, dass unser Kindergartenpersonal für mehr Rechte auf die Straße geht. »Ich glaube, es geht da um Besitzstandswahrung«, sage ich. »Die meinen, sie haben mit dem Vertrag und der pünktlichen Überweisung aller Gebühren einen Platz für ihre Kinder gekauft, der immer verfügbar ist. So was wie ein Streik ist dabei nicht vorgesehen. Allenfalls würden sie Verständnis haben für höhere Gewalt – wenn der Blitz in die Kita einschlägt oder ein Satellit drauffällt, wären sie wahrscheinlich einverstanden, ihre Kinder mal nicht dort abzugeben.« Mein Mann lacht. Er bedauert, nicht dabei gewesen zu sein, dass er nicht als Verräter in den eigenen Reihen entlarvt wurde, als bekennender Erzieherinnenversteher.
»Ich habe gerade was Unterhaltsames über US-amerikanische Politikerinnen gelesen«, sagt er dann.22 »Gerade auf der erzkonservativen Seite machen neue Mütter mobil. Zuerst kaufen sie ihren Teenagersöhnen Gewehre, dann ziehen sie gemeinsam mit ihnen in den Wahlkampf. Ihr Motto: Wer eine Familie mit fünf, sechs Kindern managen kann, kann auch einen Bundesstaat, ja, sogar ein ganzes Land managen.«
Das Kind als Qualifikationsgarantie. Mal ein neuer Aspekt in der Vereinbarkeitsdiskussion. Und das nimmt den Leuten, die berufstätige Mütter mit Fragen nerven wie »Warum hast du dir denn überhaupt ein Kind angeschafft, wenn du es so schnell wieder loswerden willst?«, den Wind aus den Segeln. Diese Frage habe ich auch gehört, wenn ich erzählt habe, dass ich ein Jahr nach der Geburt meines Sohnes wieder arbeiten werde – und zwar auch im Familien- und Freundeskreis. Da konnte ich dann über moderne gesellschaftliche Veränderungen reden, mich über Abhängigkeiten auslassen und Befürchtungen formulieren, ohne meinem Mann zu unterstellen, dass er mich und unser Kind bei passender Gelegenheit sitzenlassen wird. Rechtfertigungen, Erklärungen, Beteuerungen. Ich habe solche Gespräche gehasst. Vielleicht wäre eine Waffe – natürlich nur eine Wasserspritzpistole – in manchen Situationen hilfreich gewesen, denke ich und grinse.
»Kinder sind in den letzten Jahren für Frauen zu einem wichtigen politischen Accessoire geworden«, liest mein Mann vor. Das kennt man doch auch von Hollywoodschauspielerinnen, die mit Kindern, Nannys und tonnenweise Spielzeug Filmstudios in Kindergärten umwandeln. Das Kind als Statussymbol. Das Kind als Politikum. Wo bleibt das Recht des Kindes auf Kindsein? Und das Recht der Mutter auf Menschsein?
Was für ein Tag! Ein unangenehmes Gespräch mit meinem Vorgesetzten, eine Kündigung von der Putzfrau, die Szene in der Teeküche mit dem IT-Mann und der Grafikerin. Dann die Sorge um meine Mutter, die Geschichte von der verwitweten Mutter und ein Elternabend, der nicht enden wollte. Zum Glück hat mein Kleiner keinen Rückfall erlitten. Eigentlich bin ich der Meinung, es muss einen fieberfreien Tag geben, bis ich ihn wieder in den Kindergarten schicke. Bin ich doch eine Rabenmutter? Ich schüttle den Kopf und verbiete mir für den Rest des Abends alle Muttergedanken.
»Gute Nacht«, sage ich zu meinem Mann und nehme mir einen englischen Krimi aus dem Bücherregal. Ich muss mich entspannen. Das geht mit Verbrechen, die an der malerischen Küste von Cornwall geschehen und von klassisch gekleideten Briten aufgeklärt werden, am besten.