DIENSTAG

babywagen.aiIn sechzehn Minuten müssen wir los. Mein Sohn sitzt im Schlafanzug am Küchentisch. In der linken Hand hält er seinen Plüschhasen, in der rechten ein Honigbrot. Er isst nicht. Er sitzt einfach nur da. Der Honig läuft langsam über seine Finger. Ich sage jetzt zum dritten Mal, er soll endlich das Brot essen, endlich seinen Kakao trinken, endlich fertig werden mit dem Frühstück, damit ich ihn endlich anziehen kann. »Wir müssen bald los«, sage ich, »und Zsófia wird auch gleich klingeln.« »Tika«, sage ich, betone jede Silbe besonders deutlich und lächle ihn aufmunternd an. Doch er sitzt einfach nur da und macht nichts.

Dienstags erwache ich immer mit einem Gefühl von Anspannung. Eigentlich kommt dieses Gefühl schon am Montagabend: Ich habe Angst zu verschlafen – trotz Wecker und kindlichem Frühwarnsystem. Die Vorstellung, von der Putzfrau geweckt zu werden, ist mir wahnsinnig unangenehm. Ihr Arbeitstag beginnt morgens um fünf. Sie muss die Böden einer Zeitarbeitsfirma vor Bürobeginn reinigen. Da will ich ihr über drei Stunden später kein Guten Morgen entgegengähnen. Und ich will auch kein verschlafenes Kind mit Honigfingern am Tisch sitzen haben. Ein Kind im Schlafanzug ist für mich nur dann in Ordnung, wenn es wirklich krank ist. Ist der Kleine aber tatsächlich krank, sage ich der Putzfrau ab – sie möchte sich sicher nicht anstecken. Und kranke Kinder brauchen Ruhe, keine emsigen Putzgeräusche.

Ich ziehe den Kleinen auf meinen Schoß, lege das Brot auf den Teller und den Hasen daneben. Ich wische ihm Hände und Mund mit einem feuchten Waschlappen sauber, ziehe ihm den Schlafanzug aus und Unterhemd, Unterhose, Socken, Hose, Hemd an. Er wehrt sich nicht, reagiert eigentlich gar nicht richtig. Ob er etwas ausbrütet? In der Nacht hat er nicht gehustet, und seine Stirn fühlt sich nicht heiß an. 8:02 Uhr. Mein Mann kommt in die Küche, um sich zu verabschieden. Auch er befühlt die Stirn des Kleinen, drückt einen Kuss drauf und streichelt meine Wange. Dann ist er weg.

Um 8:14 Uhr klingelt es. Ich öffne der Putzfrau die Tür, mein Sohn steht fertig angezogen neben mir. Wir gehen Hand in Hand zum Kindergarten. Der Weg erscheint mir heute doppelt so lang wie sonst. Der Kleine geht langsam und reagiert nicht auf mein Antreiben. Ich will ihn nicht ziehen, weil ich mir dann vorkomme, als wäre er ein störrisches Maultier. Also nehme ich ihn auf den Arm und trage ihn. Ich will pünktlich sein. Als wir im Kindergarten ankommen, bin ich ganz schön außer Atem, fünfzehn Kilo Kind plus Tasche sind kein Fliegengewicht. Mein Sohn will runter. Er gibt mir einen Kuss auf die Wange und läuft den anderen Kindern entgegen.

»Tschüss, Tika«, sage ich und schaue ihm hinterher, nur für einen Moment. Die Zeit drängt. Ich laufe zur Haltestelle und erreiche gerade noch den Bus. Wieder außer Atem lasse ich mich auf einen Sitzplatz am Fenster fallen.

Was ist mit dem Kleinen? Ich sehe im Handykalender nach, wann er das letzte Mal krank war. Husten hatte er letzte Woche, Bauchweh vor sechs Wochen. Es könnte gut sein, dass sich eine Frühlingserkältung anbahnt. Ich wähle die Nummer des Kindergartens und informiere die Leitung über den möglichen Zustand meines Sohnes. Ich bitte sie, mich im Falle einer Verschlechterung – Weinen, Husten, Fieber – zu benachrichtigen. Nach dem Telefonat behalte ich das Handy in der Hand. Ich bin nervös, rechne mit einem sofortigen Rückruf vom Kindergarten.

Der Bus hält an. Eine Frau mit einem Kinderwagen steigt aus, die obligatorische Bananenschale in der Hand. Ein junger Mann in Anzug drängelt sich an ihr vorbei aus dem Bus. Sie sagt nichts, wahrscheinlich passiert ihr das nicht zum ersten Mal. Wohin sie wohl unterwegs ist, frage ich mich, und ob sie ein Ziel hat oder einfach einen Spaziergang macht mit ihrem Kind. Jetzt erst bemerke ich den blauen Himmel.

»Hermannswetter« nannte meine Großmutter Tage wie diese. Das waren die Tage, an denen sie sich Zeit nahm, nach dem Frühstück einen Strauß Wiesenblumen zu pflücken, den sie dann auf den Friedhof brachte und an das Grab ihres jüngsten Kindes legte: Hermann. Der nur ein paar Wochen alt wurde. Blumen für Hermann pflücken, das hat meine Großmutter auch als ganz alte Frau noch gemacht. Ich habe sie manchmal begleitet.

Der Bus fährt an. Kein Anruf auf dem Handy. Ich sehe aus dem Fenster und stelle mir meine Großmutter vor: graue Haare, klein und immer eine bunte Schürze über dem Rock. Sie hat fünf Kinder zur Welt gebracht, das erste mit achtzehn, das letzte mit dreißig. Meine Mutter war die Zweitjüngste, zwei Jahre älter als Hermann. Meine Großmutter hatte keine Ausbildung, sie heiratete sehr früh und war dann zu Hause. Sie hat gekocht, geputzt und ihren Garten gepflegt. Wenn ich sie besuchte, stand sie in der Küche, backte Kuchen oder weckte Obst aus dem Garten ein. Sie saß niemals auf dem Sofa. Meine Großeltern hatten einen Fernseher, aber meine Großmutter sah nie fern. Zu viel zu tun, sagte sie, ohne jammernden Unterton. Ich glaube, meine Großmutter liebte ihr Leben als Hausfrau und Mutter.

Ganz anders meine Mutter. Sie hasste das Leben in einem Dorf mit Eltern, Geschwistern, Onkeln, Tanten, Großeltern. Überall Familie und sich den ganzen Tag um den Gemüsegarten, die Hühner und die Wäsche kümmern – so hat sie ihr Elternhaus mal beschrieben.

Meine Mutter ist 1943 geboren. Im selben Jahr wurde mein Großvater eingezogen, kam aber bald schwer verletzt zurück. Er hatte ein Bein an der Front verloren und lag lange im Bett. Meine Großmutter pflegte ihn und kümmerte sich um seine Werkstatt, den Haushalt und die Kinder. Die mussten zu Hause immer auf Zehenspitzen laufen und durften niemals laut reden, um den Heilungsprozess nicht zu stören, hat meine Mutter über diese Zeit gesagt.

Der Bus hält wieder an. An der nächsten Haltestelle muss ich aussteigen. Ich kontrolliere kurz den Inhalt meiner Tasche: Sandeimer, Bagger und zwei Schaufeln habe ich dabei, ebenso die blaue Flasche mit Saft und Wasser. Ich möchte nach der Arbeit mit dem Kleinen auf den Spielplatz, ihm von einer Schatzsuche erzählen und gemeinsam ein großes Loch graben. Heute Morgen habe ich zur Bluse einen weiten Cordrock angezogen, der sich gut waschen lässt, das klassische Spielplatz-Outfit einer berufstätigen Mutter. Geschichten erzählen und Löcher graben – so was hätte mein Großvater nie mit seinen Kindern gemacht, wenn ich den Erzählungen meiner Mutter glaube. Als er nach Kriegsende gesund genug war, um aufzustehen, übernahm er wieder die Chefposition in der Familie. Die Zeit, in der er das Bett nicht verlassen konnte, wurde zum Tabuthema. Meine Großmutter musste ihr Mitspracherecht in wichtigen Dingen wieder abtreten und ihm die Kinder vom Hals halten. Denn: Er war der Mann. Er war wichtig. Er verdiente das Geld. Und er sagte, was zu tun war.

Meine Mutter hat nie viel über die Ehe meiner Großeltern gesagt, aber ich denke, sie sah meine Großmutter als Gefangene meines Großvaters, die ihm bereitwillig die Socken wusch und die Taschentücher bügelte. Mein Großvater hatte zu seinen Kindern ein ähnliches Verhältnis wie zu seinen Uhren: Sie sollten hübsch aussehen und möglichst nicht kaputt gehen, sprich, sie sollten seinen Vorstellungen entsprechen und möglichst nicht davon abweichen. Dass meine Mutter mit ihm zusammen die gelbe Uhr, die bei uns im Kinderzimmer hängt, gebaut hat, ist wohl eine Ausnahme gewesen in Sachen Vater-Kind-Aktivitäten. Und ich bin mir sicher, der Vorschlag stammte von ihm.

Ich mag keine Uhren – die gelbe Uhr ist eine Ausnahme –, ich trage auch keine Armbanduhr. Dafür habe ich mein Handy. Das gleichzeitig mein Kalender und mein Notizblock ist. Ich notiere: Uhr aufziehen. Das habe ich heute Morgen vergessen, vor lauter Kind antreiben und pünktlich loskommen. Dann klicke ich in meinen Handykalender. Nichts vergessen, nur die Uhr.

Meine Mutter hat die Uhr mit siebzehn Jahren gebaut, mit achtzehn ist sie von zu Hause ausgezogen und hat studiert. Als sie schwanger wurde mit mir, war sie dreiunddreißig, hatte längst Fuß gefasst im Berufsleben. Sie wollte nie Kinder haben, hat sie mir mal gesagt, wurde dann aber durch mich eines Besseren belehrt. Sie wollte auch nie heiraten. Da ist sie konsequent geblieben: Sie hat zwar mit meinem Vater zusammengelebt bis zu seinem Tod im vergangenen Jahr, geheiratet hat sie ihn aber nie. Sie nennt Ehen »den von Romantik getriebenen Verlust von Freiheit«. Auch meine Ehe. Obwohl sie meinen Mann schätzt.

Der Bus hält vor dem Bürohaus. Ich stecke das Handy in meine Tasche. Es hat nicht geklingelt. Irgendwie bin ich erleichtert und enttäuscht zugleich. Erleichtert, weil mein Kleiner doch nicht krank ist. Enttäuscht, weil ich insgeheim eine Möglichkeit gesehen hatte, auszubrechen aus dem Büroalltag, auf den ich heute keine Lust habe. Mein krankes Kind zu pflegen wäre die perfekte Ausrede dafür gewesen, nicht zur Arbeit zu gehen. Tika, fällt mir da wieder ein. Klingt wirklich geheimnisvoll. Warum er sich wohl so genannt hat? Ich mag den Namen, denke ich, und steige aus dem Bus. 8:37 Uhr. Ich muss auf die andere Straßenseite, aber die Ampel ist rot. Ich drücke auf den Knopf und warte. Mir fällt ein, dass mir meine Mutter immer Schokoladenkekse brachte, wenn ich krank war. Oder Kummer hatte. Als ich mit sechzehn meinen ersten Liebeskummer hatte, hat sie mich auch mit Keksen getröstet.

Meine Mutter hat sich früh von ihrer großen Familie abgenabelt. Sie hat sich noch als Schülerin um ein Stipendium bemüht, weil sie ihre Familie nicht um Geld fürs Studium bitten wollte. Auch als mein Vater krank wurde, hat sie mit der Krankenkasse gestritten, um die maximale Unterstützung herauszuholen. Sie sagt oft, sie will nur das haben, was ihr zusteht. Nicht mehr.

Trotzdem hat meine Mutter nie Netzwerke gebildet. Die waren ihr immer zuwider, weil sie sie an ihre große Familie erinnert haben. Und sie wollte eben nie heiraten. Ich bin da anders, sehe meinen Mann nicht nur ganz romantisch als meinen Geliebten, sondern auch als meinen Partner. Wir sind ein Team, auf Augenhöhe.

Sind wir das wirklich?, frage ich mich, als ich auf das große Bürohaus zugehe. Haben wir die Putzfrau auch in seinem Interesse? Oder nur, weil ich aufgrund meiner Berufstätigkeit keine Zeit mehr habe, die Böden zu wischen und die Toilette zu putzen? Ich kann mich nicht erinnern, wie wir uns den Haushalt vor der Geburt meines Sohnes aufgeteilt haben. Einen festen Putztag gab es nicht. Und einen geregelten Putzplan auch nicht. Wahrscheinlich hat jeder das gemacht, was gerade als dringend notwendig erkannt wurde. Ich habe mehr gewischt. Mein Mann hat mehr Staub gesaugt, glaube ich. Teamplay halt.

8:40 Uhr. Ich warte auf den Aufzug, den Nach-oben-Knopf habe ich schon zweimal gedrückt. Neben mir stehen zwei Kolleginnen aus der Grafikabteilung. Ich begrüße sie, bin aber so in meine Gedanken vertieft, dass es mir erst im Aufzug auffällt, dass sie tuscheln. Und zwar über meine junge Kollegin. Um 8:42 Uhr bin ich in meinem Büro, zwei Minuten zu spät. Die junge Kollegin sitzt bereits an ihrem Schreibtisch. Ich wünsche einen guten Morgen und schaue sie dabei etwas genauer an: Ist etwas anders an ihr? Sie wirkt wie immer, ein wenig blass vielleicht. Ich kontrolliere mein Handy. Keine Anrufe. Ich lege meine Tasche auf den Tisch und schalte meinen Rechner an. Dann bringe ich die Präsentation, die ich am Abend zuvor zu Hause fertig gemacht habe, in die Grafik. Das Handy nehme ich mit.

Gegen neun kommt die ältere der beiden Grafikerinnen in unser Büro. Sie ist Ende fünfzig, hat eine erwachsene Tochter, die in Frankreich lebt, und ein klares Feindbild: Frauen mit Kindern in glücklichen Beziehungen. Ihr Mann hat sie verlassen, als sie dreiundzwanzig war und ihre Tochter drei. Erst als die Tochter mit neunzehn als Au-pair nach Paris gegangen ist, hat die Grafikerin wieder angefangen zu arbeiten. Vorher hat sie von den Unterhaltszahlungen ihres Exmannes gelebt. Die sie heute noch als ein paar lausige Kröten abtut. Sie ist gut im Nörgeln, aber nicht so gut am Computer. Ihre Layouts sind konservativ, vielleicht sogar altmodisch, treffen aber fast immer den Geschmack des Vorgesetzten. Unser Vorgesetzter ist nicht ihr erster Chef hier, sie ist seit fast zwanzig Jahren in der Abteilung, die dienstälteste Mitarbeiterin. Die andere, die jüngere Grafikerin, ist ihr unterstellt. Sie ist seit etwa fünf Jahren hier. Und bewältigt eigentlich die ganze Arbeit, vor allem die am Computer. Was das gute Verhältnis der beiden aber nicht stört.

Die ältere Grafikerin hat einen Becher Kaffee aus dem Automaten in der Teeküche dabei; der Duft erfüllt den Raum. Sofort steht meine Assistentin auf und verlässt das Büro. Die Grafikerin lächelt und beugt sich zu mir. »Wenn eine Frau plötzlich keinen Kaffee mehr mag, dann ist eigentlich alles klar.« »Wieso?«, frage ich ganz unbedarft. »Na, ein Braten in der Röhre.« Die Grafikerin grinst. Ich sehe sie an: »Mir ist da nichts bekannt.« Dann frage ich nach den Entwürfen für die Präsentation, die ich am Abend zuvor fertig gemacht habe. »Die Textvorlage liegt auf Ihrem Schreibtisch. Ich brauche bis heute Mittag ein paar Skizzen«, sage ich kurz.

Die Grafikerin geht aus dem Raum. Ich kontrolliere mein Handy. Keine Anrufe. Dann nehme ich mir die Abrechnung einer Fotografin vor, die eine Imagekampagne für ein Firmenprojekt gestaltet hat. Ich muss mehrere Telefonate führen, mit der Fotografin, der Honorarabteilung und dem Sekretariat des Vorgesetzten, da die Abrechnung das von mir kalkulierte Budget sprengt. Zwischendurch kontrolliere ich immer wieder mein Handy, ob nicht doch ein Anruf aus dem Kindergarten gekommen ist, den ich vielleicht verpasst haben könnte.

Um 10:27 Uhr kommt die jüngere Grafikerin in mein Büro und will Details für den Druck der Broschüre besprechen. Sie kaut wieder Kaugummi. Und hat einen Becher Kaffee in der Hand. Die Szene von zuvor wiederholt sich: Meine Assistentin verlässt den Raum. Die Grafikerin grinst. Ich weise sie darauf hin, dass wie am Vortag vereinbart bis 14:30 Uhr alle Druckunterlagen vorliegen müssen und dass ich das fertige Layout für die Broschüre spätestens in einer halben Stunde haben will. Wir gehen ihren Entwurf gemeinsam durch, ich bitte sie um Detailänderungen an einigen Stellen. Pünktlich um 11:00 Uhr kommt sie mit dem fertigen Layout wieder zu mir. Ich überprüfe noch einmal die Rechtschreibung und bringe die Unterlagen dann zum Vorgesetzten. Er ist nicht am Platz, ich hinterlasse eine Nachricht bei seiner Sekretärin. Auf dem Rückweg in mein Büro kontrolliere ich wieder mein Handy. Keine Anrufe vom Kindergarten.

Zwei Stunden später, als die meisten aus dem Büro in der Mittagspause sind, packe ich mein Pausenbrot aus. Die junge Kollegin sitzt an ihrem Schreibtisch und kaut an einer Reiswaffel. »Geht es dir heute nicht so gut?«, frage ich. »Doch, doch, alles in Ordnung«, sagt sie.

Ich frage nicht weiter. Die Reiswaffeln sprechen Bände – in den ersten Wochen meiner Schwangerschaft habe ich mich fast ausschließlich davon ernährt, weil ich unter starker Übelkeit litt. Aber abgesehen von der Übelkeit war ich so glücklich, dass ich dachte, alle Menschen müssten bemerken, wie sehr ich strahle. Ein Kind, ein Kind, ein Kind! Trotzdem war ich oft gehemmt, meine Freude mit anderen zu teilen. Aus Angst vor einer Fehlgeburt, habe ich mir immer gesagt – vor der dreizehnten, vierzehnten Woche kann ja so viel passieren. Doch eigentlich war die Angst davor nur vorgeschoben. Tatsächlich hatte ich damals viel mehr Angst, abgestempelt zu werden. Auch eine von »denen« zu sein, eine dieser werdenden Mütter, die sich von Fenchel-Kümmel-Anis-Tee und eben diesen geschmacksneutralen Reiswaffeln ernähren. Die nur noch an Stillbüstenhalter und Erstausstattungsangebote denken können. Und ob die über Ebay gebraucht gekaufte Maxi-Cosi-Babyschale wirklich unfallfrei ist. Ich habe tatsächlich viel Tee getrunken. Aber Cappuccino ebenso. Sogar mal alkoholfreies Bier – das jedoch nur einmal.

Ich schlucke den letzten Bissen meines Pausenbrotes runter und spüle mit einem Schluck Mineralwasser nach. Ein Apfel ist noch in meiner Tasche, den ich mir aufheben möchte für den Endspurt. Ich überprüfe ein letztes Mal die Abrechnung der Fotografin und lege die Rechnung dann in den Hauspostausgang, damit die Honorarabteilung das Geld anweisen kann. Erledigt. Die Sekretärin des Vorgesetzten ruft an, Freigabe für den Broschürendruck. Ich bestelle einen Kurier, der die Unterlagen sofort in die Druckerei bringt. Auch erledigt.

Jetzt habe ich Lust auf einen Kaffee, den ich aber aus Rücksicht auf die junge Kollegin in der Teeküche trinken will. In der Teeküche steht die ältere Grafikerin. Ich hole mir einen Latte macchiato aus dem Kaffeeautomaten. »Ah«, sagt die Grafikerin, »’ne Latte-Mama.« Bevor ich antworten kann, ist sie weg. Und ich ärgere mich über mich selbst, ihr ins Messer gelaufen zu sein.

Ich hasse es, Latte-macchiato-Mutter*** genannt zu werden, selbst im Spaß. Es ist mir so was von zuwider, dieses Abstempeln von Frauen, die angeblich ständig Milchkaffee schlürfen, ihre gute Ausbildung wegwerfen und, statt zu arbeiten, Kinder großziehen. Finanziert vom Einkommen ihrer Männer.

Ganz anders sieht das meine Freundin, die ich noch aus der Schulzeit kenne. Sie hat zwei Kinder, eine fünfjährige Tochter und einen achtjährigen Sohn. Seit einem Jahr ist sie nur noch Hausfrau und Mutter – und nennt sich selbst »Latte-macchiato-Mutter aus freiem Willen«. Das Geld für die Familie bringt ihr Mann nach Hause, der für einen Pharmakonzern arbeitet. Eigentlich ist meine Freundin promovierte Übersetzerin für französische Literatur und hat lange in einem kleinen Verlag gearbeitet. Bis die Kinder kamen. Nach der Geburt ihres Sohnes blieb ihr Mann drei Wochen zu Hause, sie wollte drei Jahre in Elternzeit gehen und dann wieder arbeiten. Aber meine Freundin wurde wieder schwanger und nahm nach der Geburt ihrer Tochter erneut drei Jahre Elternzeit – drei Wochen Urlaub ihr Mann. Als die Tochter dann in den Kindergarten kam, ging meine Freundin wieder in den Verlag. Fünfzehn Stunden pro Woche. Mehr war nicht möglich, weil sie keinen Mittagsbetreuungsplatz für ihren Sohn bekommen konnte. Der war gerade in die Schule gekommen. Durchschnittlicher Unterrichtsschluss in der ersten Klasse: 11:30 Uhr.

Am Anfang war meine Freundin hoch motiviert. Sie hat ein Farbsystem eingeführt, das ihre Arbeitszeit koordieren sollte – mich hat es an die Stundenpläne aus unserer Schulzeit erinnert. Rot markiert waren die Stunden, in denen sie tatsächlich im Verlag war (die sogenannte face time). Grün markiert waren die Stunden, in denen sie telefonisch erreichbar war (die sogenannte home office time). Und gelb markiert waren die Stunden, in denen sie nicht zur Verfügung stand (die sogenannte family time).

Diese Aufteilung hat aber nicht funktioniert. In den drei Stunden, die sie täglich ins Büro ging, fühlte sie sich immer wie zerrissen. Sie nahm an keiner Konferenz teil, teilweise aus Termingründen, teilweise aber auch aus Angst, dann gar nichts mehr zustande zu bringen. Und für das eigentliche Übersetzen reichten drei Stunden am Stück auch nicht aus. So beschloss sie, ihren Beruf an den Nagel zu hängen. Wenigstens bis auf Weiteres. Im Verlag wurde ihr endgültiger Weggang bedauert, unterm Strich war man aber auch froh.

Seitdem meine Freundin nicht mehr arbeitet, sitzt sie nicht etwa den ganzen Tag im Café und schlürft Latte macchiato. Sie ist viel unterwegs, liest im Kindergarten ihrer Tochter französische Bücher vor, engagiert sich ehrenamtlich in der Nachbarschaftshilfe und kümmert sich um ihre demenzkranke Mutter. Natürlich unternimmt sie auch viel mit ihren Kindern, fährt sie zum Turnen, zum Musikunterricht oder zu Treffen mit anderen Kindern. Sie geht auch zum Sport und ist häufig im Kino. Und zwischendurch hat sie noch Zeit für mich.

Sie war dabei, als ich in meiner Schwangerschaft ein besonderes Erlebnis hatte. Wir waren im Kino und gingen anschließend noch etwas trinken. Ich bestellte ein alkoholfreies Bier. Als die Getränke auf dem Tisch standen, kam einer der anderen Gäste zu uns. Mein dicker Bauch in Kombination mit einer Flasche Bier hatte ihn angelockt. Ob ich nicht wisse, dass Alkohol für Schwangere verboten sei, fragte er. »Klar weiß ich das«, antwortete ich gut gelaunt. »Deswegen trinke ich ja alkoholfreies Bier.« Ob ich nicht wisse, dass in alkoholfreiem Bier Restalkohol sei, fragte der Fremde weiter. Als ich nichts mehr sagte und auch meine Freundin nicht, ging er kopfschüttelnd an seinen Tisch zurück. Eine Weile später kam die Bedienung bei ihm vorbei, er redete auf sie ein und deutete mit dem Finger auf mich. Ich habe mein Bier nicht mehr weitergetrunken. Wir sind bald nach Hause gegangen. Der Abend war kaputt, meine Freundin und ich konnten kein Gespräch mehr führen, ohne immer wieder auf den Fremden zurückzukommen.

Als ich zu Hause meinem Mann von diesem Erlebnis erzählte, regte er sich fürchterlich auf. Über den Gast, der sich einfach in das Leben anderer einmischte, aber auch über mich, die das zugelassen hatte. Meine Schulfreundin tröstete mich bei unserem nächsten Telefonat. »Du willst halt nur das Zweitbeste für dein Kind«, sagte sie mit einem Lächeln. »Weil du auch ein Leben hast.« Sie hat Recht. Leider. Ich trinke den letzten Schluck Milchkaffee, kontrolliere mein Handy und gehe zurück in mein Büro.

Die Grafikerin liefert pünktlich. Gegen zwei Uhr drucke ich die Präsentation für den Vorgesetzten aus und lege die blaue Mappe auf seinen Schreibtisch. Nummer drei erledigt, freue ich mich. Ich beantworte noch einige Mails und gehe den Abteilungsterminkalender durch. Alles im Zeitplan, ich habe nichts übersehen. Ich schalte meinen Computer aus und verlasse das Büro um 14:45 Uhr.

Während der Fahrt zum Kindergarten steht ein Telefonat mit meiner Mutter an. Ich gehe zur Bushaltestelle und wähle ihre Nummer. Sie ist zu Hause. Ich frage sie, wie es ihr geht. Sie klingt etwas müde, vielleicht hat sie geschlafen. Ich bitte sie, am Donnerstagnachmittag für eine Stunde mit dem Kleinen auf den Spielplatz zu gehen, da ich einen Termin bei meiner Friseurin vereinbart habe. Meine Mutter verspricht zu kommen. »Ich freu mich«, sage ich und beende das Gespräch. Hungrig beiße ich in den Apfel, den ich noch in meiner Tasche habe. Noch eine Haltestelle, dann muss ich aussteigen. Ich suche in meinem Geldbeutel die Münzen für eine Brezel zusammen und beschließe, mir für den Spielplatzbesuch ein Schokocroissant zu kaufen. Mir fällt mir auf, dass ich mich nicht daran erinnern kann, was meine Mutter gesagt hat, als ich sie gefragt habe, wie es ihr geht. Hat sie überhaupt geantwortet? Ich weiß es nicht.

Fünf nach drei, der Bus hält an. Ich steige aus, werfe den Apfelrest in den Müllkorb an der Haltestelle und überquere die Straße. Mein Handy klingelt. Eine Kindergartenmutter ist dran. »Kannst du meinen Sohn mitnehmen?«, fragt sie, »ich hab die U-Bahn verpasst.« Wenn sie die nächste nimmt, schafft sie es nicht mehr rechtzeitig, ihre Tochter aus der Kinderkrippe abzuholen. Die ist zwei U-Bahn-Stationen vom Kindergarten entfernt. »Um halb vier fangen die mit der Nachmittagsbrotzeit an und lassen die Kinder dann nicht vor vier gehen«, erklärt die Kindergartenmutter. »Um vier kommt aber ein Handwerker zu uns, den ich nicht verpassen will. Das Klo ist verstopft.« Sie ist völlig aufgelöst. Wahrscheinlich ist sie nicht rechtzeitig von der Arbeit weggekommen. Sie hat mir mal erzählt, dass sie da sehr unter Druck steht, weil ihre Chefin sie nicht mag – die gerne kurz vor Dienstschluss mit Aufgaben kommt, um sie, die berufstätige Mutter von zwei Kindern, zu schikanieren. »Ich nehme deinen Sohn mit, wir gehen auf den Spielplatz mit dem Klettergerüst und der Schaukel«, sage ich. Sie ist erleichtert. Und ich muss mich beeilen, es ist schon 15:12 Uhr. In der Bäckerei kaufe ich zwei Brezeln und ein Schokocroissant und haste weiter.

Im Kindergarten läuft mir mein Sohn entgegen. »Mama«, ruft er, »ich habe gerade Streusel gegessen!« Er will auf meinen Arm. Ich nehme ihn hoch und drücke ihn an mich. Angekommen, denke ich. Dann fühle ich seine Stirn. Er ist nicht heiß. Trotzdem frage ich die Erzieherin, ob ihr etwas aufgefallen ist. Ob er gehustet hat. Nein, sagt sie, er war wie immer, vielleicht ein bisschen ruhiger. Und dann erklärt sie, dass ihre Kollegin heute einen Kirschstreuselkuchen mitgebracht hat, um auf der Teamsitzung bekannt zu geben, dass sie schwanger ist und in vier Monaten in Mutterschutz geht. Die Erzieherin ist Anfang zwanzig und hat gerade erst im Kindergarten angefangen. Ich freue mich für sie, aber nicht für meinen Sohn, der nun darunter leiden wird, dass eine Vertrauensperson geht. Und durch eine fremde, neue Person ersetzt wird. Ich hoffe, dass der Übergang fließend ist. Vorsichtig frage ich die Erzieherin, ob schon Ersatz gefunden ist. Nein, sagt sie, so schnell sind wir nicht.

In der Kinderkrippe, in der mein Sohn früher war, konnte eine Stelle einen Winter lang nicht besetzt werden, weil es keine Bewerbungen gab. Seitdem die Bundesregierung den Kinderbetreuungsausbau vorantreibt und das ehrgeizige Ziel »Alles wird gut ab 2013« sogar mit einem Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz kombinieren möchte, können sich Erzieherinnen – und Erzieher, sofern es welche gibt – ihre Arbeitsplätze aussuchen. Unsere Krippe war wohl nicht so beliebt; vielleicht lag es aber auch an den hohen Mieten, die man in unserer Stadt gerade für Ein-Zimmer-Appartements zahlen muss. Die meisten Erzieherinnen sind jung, viele ungebunden, sie suchen eine Wohnung für sich allein, wenn sie wegen eines neuen Jobs in die Stadt ziehen. Ganz klar sind Mieten dabei ein Entscheidungsfaktor.

In unserer Krippe mussten die drei übrig gebliebenen Erzieherinnen die Lücke schließen und sich die zwei Gruppen à zwölf Kinder teilen. Es gab Praktikantinnen, die einmal pro Woche kamen, und Berufsschülerinnen, die mehrere Wochen am Stück da waren. Das war schon eine Unterstützung – auch wenn manche Windel meines Sohnes zu locker zugeklebt war, was für nasse Hosen sorgte. Unterstützung gab es auch von den Müttern, die nicht berufstätig waren. Sie kamen zum Vorlesen in die Krippe, auch mal zum Weihnachtsplätzchenbacken. Die drei Erzieherinnen mussten trotzdem viele Sonderschichten einlegen – was manchmal zu einer gedämpften Stimmung führte.

Mein Sohn hat klebrige Hände, was ich auf die Streusel zurückführe. Ich gehe mit ihm in den Waschraum und bitte ihn, seine Hände zu waschen. Ich erkläre ihm, dass wir noch einen anderen Jungen mitnehmen auf den Spielplatz. Ich gebe der Erzieherin Bescheid, die schon informiert ist – die Kindergartenmutter hat bei der Leitung angerufen. Der andere Junge ist schon fünf und reagiert sehr ruhig auf die Nachricht, dass seine Mutter ihn erst auf dem Spielplatz abholt. Ich nehme noch eine Mitteilung von der Leitung aus dem Garderobenfach meines Sohnes. Die Zeit reicht nicht, um die Mitteilung zu lesen, da mein Kleiner an meiner Hand zieht. Ich stopfe Zettel und T-Shirt in meine Tasche.

Wir verabschieden uns von der Erzieherin und gehen zu dritt zum Spielplatz. Wir wollen zu der Anlage mit dem Klettergerüst und der Schaukel, nicht zu der mit der Rutsche, wo wir am Tag zuvor waren. Als ich um 15:38 Uhr das Tor zum Spielplatz öffne, klingelt mein Handy. Der größere Junge rennt los und setzt sich auf die Schaukel. »Geh doch auch zur Schaukel«, sage ich zu meinem Sohn. Er geht nicht, sondern bleibt neben mir stehen. »Dein Telefon klingelt«, sagt er. Ich nicke und nehme den Anruf entgegen. Es ist meine Assistentin. »Kann ich gleich zurückrufen?«, frage ich und beende das Gespräch. Erneut bitte ich meinen Sohn, zur Schaukel zu gehen. »Tika, komm schon.« Und als er sich immer noch nicht bewegt, gehe ich vor, zur Schaukel. Er läuft mir nach. Ich setze ihn auf die Schaukel neben den anderen Jungen und schubse ihn an.

Ich wähle die Nummer der jungen Kollegin und erkläre, dass ich auf dem Spielplatz bin. Sie sagt, dass es Probleme mit der Druckerei gibt. Die Broschüre ist schon um 14:00 Uhr in Druck gegangen, weil wir so pünktlich geliefert haben. Schon eine gute Stunde später war der Proof im Büro. Weil ich nicht da war, hat der Kurier ihn bei unserem Vorgesetzten abgeliefert. Der hat sich dann fürchterlich aufgeregt. Die Farben sind, so die junge Kollegin, total »abgesoffen«. Der Vorgesetzte hat den Druck gestoppt. Und nach mir verlangt. Was sie nun tun soll, fragt sie mich.

»Mehr!«, ruft mein Sohn. »Bis in den Himmel!«

Ich erbitte mir kurze Bedenkzeit und schubse die Schaukel wieder an. Soll ich den Vorgesetzten anrufen und nach seiner Einschätzung fragen? Oder erst die Druckerei? Oder die junge Grafikerin, die die Druckunterlagen fertig gemacht hat? Nur kurz kommt mir der Gedanke, alles auf den kommenden Tag zu verschieben.

Mein Sohn jauchzt auf der Schaukel, und mein Handy piept, ich habe eine Kurzmitteilung erhalten. Mein Mann schreibt, dass er am Abend später kommen wird. Und große Neuigkeiten hat.

Ich atme durch und wähle die Nummer der Sekretärin meines Vorgesetzten. Das Telefon zwischen Kinn und Schulter geklemmt, schubse ich meinen Sohn wieder an. Vielleicht sollte ich mir eine Freisprechanlage kaufen für den Spielplatz, denke ich, um endgültig bei den nicht berufstätigen Müttern wie meiner Nachbarin unten durch zu sein. Irgendwie gefällt mir die Vorstellung, vor allem, weil ich dann das zickige Gerede nicht mehr hören muss. Ich schubse wieder die Schaukel an. Dann verbindet mich die Sekretärin mit meinem Vorgesetzten.

Der Vorgesetzte ist kurz angebunden. Er ist nicht zufrieden mit dem Druck und benötigt die Broschüre Ende der Woche. Mehr Geld wird er nicht ausgeben, schneidet er mir das Wort ab, als ich andeute, dass eine kürzere Druckfrist mit höheren Kosten verbunden ist. Finden Sie eine Lösung, sagt er. Er fügt nicht hinzu, na ja, Sie sind halt nicht immer hier, da kann so was schon passieren. Aber ich weiß, dass er es denkt. Ich verspreche, das Problem zu lösen. Er wartet das Ende meines Satzes nicht ab und beendet das Gespräch ohne Gruß.

»Ich will nicht mehr schaukeln«, sagt mein Sohn und lässt sich von der Schaukel in den Sand fallen. »Tika hat ein Aua«, jammert er und beginnt zu weinen. Er will auf meinen Arm. Ich nehme ihn hoch und tröste ihn. Streichle sein Haar, das im Nacken ganz verschwitzt ist. Der andere Junge schaukelt weiter. Ich sage zu ihm, dass wir zur Bank gehen. Und dass ich eine Brezel für ihn habe. Dann trage ich meinen Kleinen zu der Bank gegenüber dem Klettergerüst. Er jammert immer noch, ganz leise. Ich setze mich hin und halte ihn im Arm. Da klingelt mein Handy wieder.

»Dein Telefon klingelt«, sagt mein Sohn. Ich hole es aus meiner Tasche, zusammen mit der blauen Flasche. »Magst du was trinken?«, frage ich und drücke auf »Anruf annehmen«. Es ist die junge Kollegin. Mein Sohn schiebt meine Hand, die die blaue Flasche hält, weg und sagt: »Du sollst nicht telefonieren.« Ich ignoriere ihn und gebe meiner Assistentin das Gespräch mit dem Vorgesetzten kurz wieder. Ich bitte sie, in der Grafik nachzufragen, ob der Fehler in unseren Druckunterlagen liegt. Dann soll sie sich noch mal melden. Ich lege das Telefon neben mich auf die Bank und biete meinem Sohn ein Stück Brezel an. Er will es nicht und das Schokocroissant auch nicht. Nur trinken will er. Mein Handy piept. Eine Kurzmitteilung von der Kindergartenmutter. Sie ist jetzt zu Hause mit ihrer Tochter, wartet auf den Handwerker und kommt dann zum Spielplatz. Ihr Sohn schaukelt immer noch.

»Ich muss noch mal kurz telefonieren«, sage ich und wiege den Kleinen auf meinem Schoß. Dann rufe ich die Druckerei an und lasse mich mit meinem Ansprechpartner verbinden. Ich stelle fest, dass ich mit meinem Sohn auf dem Schoß nur schwer hart verhandeln kann und bitte deswegen nur um die Fakten. Der Farbfehler im Druck liegt an einem Kalibrierungsfehler, der inzwischen behoben ist. Mein Sohn windet sich auf meinem Schoß und versucht, meine Hände festzuhalten. Also klemme ich das Telefon wieder zwischen Kinn und Schulter und umarme ihn mit beiden Armen. Auch wenn ihm der Fehler sehr leidtut, muss er mir den zeitlichen Mehraufwand in Rechnung stellen, sagt mein Ansprechpartner. »Darüber müssen wir noch mal sprechen«, sage ich und bitte ihn, einen neuen Proof anzufertigen und bis 18:00 Uhr ins Büro zu schicken, zu Händen der jungen Kollegin. Ich drücke Ohr und Wange auf das Telefon, und hoffe, das Gespräch mit der Druckerei beendet zu haben. Dann löse ich langsam einen Arm aus der Umarmung und lege das Telefon neben mich auf die Bank.

Der andere Junge ist jetzt am Klettergerüst. »Tika, hast du auch Lust zu klettern?«, frage ich betont heiter. Er antwortet nicht, was auch eine Antwort ist. Ich bin mir sicher, dass er weiß, dass ich noch mal telefonieren muss. Er merkt, dass ich nicht bei der Sache bin, weder bei der Umarmung noch beim Schaukelschubsen. Und das stört ihn.

Ich seufze. Sehe auf das Handy, das neben mir auf der Bank liegt. 15:55 Uhr. Die Arbeitszeit in der Druckerei endet um sechs, aber mir wurde versprochen, dass der neue Proof heute noch per Kurier in mein Büro gebracht wird. Das ist Vereinbarkeit von Kind und Karriere, denke ich, Businesstelefonate auf dem Spielplatz führen. Ich streichle meinen Sohn mit der einen Hand und greife mit der anderen Hand nach dem Handy. Die junge Kollegin ist sofort in der Leitung. Ich bitte sie, den Proof entgegenzunehmen, zu kontrollieren und mir dann Bescheid zu geben. Eine Druckfreigabe werden wir erst am kommenden Morgen erteilen – vorher wird in der Druckerei sowieso nichts passieren. Meine Assistentin ist einverstanden. Dann fragt sie, wann denn mit dem Proof zu rechnen ist. »Spätestens 18:00 Uhr«, sage ich. Kurze Pause. »Geht klar«, sagt sie dann und dass sie mich anrufen wird.

»Klettern?«, frage ich. Mein Sohn schüttelt den Kopf. »Schaukeln?«, frage ich dann. Nein, sagt er. Auch das Sandspielzeug in meiner Tasche will er nicht haben. Der andere Junge sitzt auf dem Klettergerüst. Ich winke ihm zu. Er winkt nicht zurück. Wahrscheinlich ist er genervt, dass seine Mutter noch nicht da ist. Wegen ihrer Arbeit.

Bevor ich Mutter wurde, habe ich alle paar Wochen unangekündigte Überstunden gemacht, weil ich auf eine Freigabe, einen Entwurf oder den Ausgang einer Besprechung warten musste. Meine Arbeitszeit, die damals laut Vertrag vierzig Wochenstunden betrug, dehnte sich deshalb oft auf fünfundvierzig, in seltenen Fällen sogar auf fünfzig Wochenstunden aus. Diese Überstunden wurden mir nie ausgezahlt, aber mein Vorgesetzter war immer außergewöhnlich zufrieden mit mir, wenn ich ein Projekt mit Erfolg zu Ende brachte. Er lobte mich oft vor versammelter Mannschaft auf dem allwöchentlichen Jour fixe. Und ich dachte damals, seine öffentliche Anerkennung wäre Entgelt genug, ebenso dass er in mich und meine Fähigkeit, Aufgaben in seinem Sinne zu erledigen, Vertrauen hatte. Heute bin ich mir nicht mehr so sicher. Ich hätte nach jedem abgeschlossenen Projekt einen kleinen Bonus einfordern können. Oder mehr Verantwortung.

Vor einiger Zeit habe ich ein Interview mit einer Spitzenpolitikerin gehört, die gerade Mutter geworden war.3 Vor der Entbindung hatte sie in einer Frauenzeitschrift gesagt, dass sie ein gewisses Unbehagen verspüre, wenn sie an ihre Rückkehr nach dem Mutterschutz in ihr Amt denke.4 Auch deswegen, weil es ja immer Leute gebe, die einem den Job neiden. Darüber haben sich ihre Parteigenossen fürchterlich aufgeregt. Wie heuchlerisch – denn jede Frau, die in den Mutterschutz geht, fragt sich: Ist meine Stelle noch da, wenn ich zurückkomme? Was, wenn ich nicht mehr so viel Zeit habe wie zuvor, weil ich neue Interessen habe – zum Beispiel mein Kind? Diese Fragen habe ich mir auch gestellt vor der Geburt meines Sohnes. Und ich kann mich an eine Studie erinnern, die dem nachgegangen ist – mit dem Ergebnis, dass fast jede fünfte Frau nach der Elternzeit einen neuen Job suchen muss.5

Einen Vorteil habe ich gegenüber der Politikerin: Für mich gibt es die Elternzeit. Für sie nicht. Darüber hat sie nach der Geburt gesprochen, dass sie als Bundestagsabgeordnete keine Möglichkeit hat, eine Elternzeit zu nehmen. Dass sie nach Ablauf der achtwöchigen Mutterschutzfrist gezwungen ist, ihr Baby in die Obhut anderer zu geben. Und dafür natürlich als »karrieregeile Rabenmutter auf dem Egotrip« beschimpft wurde.6 Dann hat sie noch die Einführung von »politikfreien Abenden« gefordert, also die Abschaffung von Spätterminen, die das letzte bisschen Familienleben zerstören. Sie hat als Beispiel Schweden genannt, wo es nach fünf keine Parteitermine geben darf.

Der andere Junge kommt zu uns. »Wo bleibt meine Mutter?«, fragt er. Er würde sicher für die Einführung arbeitsfreier Nachmittage stimmen. Ich sage ihm, dass es nicht mehr lange dauern wird. Dass seine Mutter mit seiner Schwester zu Hause auf einen Handwerker wartet. Ich sehe auf mein Handy. 16:07 Uhr. »Wahrscheinlich ist sie schon auf dem Weg hierher«, sage ich und biete dem Jungen eine Brezel an. Er nimmt sie und setzt sich damit in den Sand unter das Klettergerüst. Jetzt will mein Sohn auch eine Brezel. Er beißt einmal ab, dann gibt er sie mir zurück. »Tika mag keine Brezel«, sagt er. Aha, denke ich.

Diese Spitzenpolitikerin war die erste, die in ihrer Amtszeit Mutter geworden ist. Mir hat sie aus dem Herzen gesprochen: Wie furchtbar, das eigene Baby acht Wochen nach der Geburt fremdbetreuen lassen zu müssen. Und dann noch keine Aussicht auf einen pünktlichen Feierabend zu haben. Umso überraschter war ich über Reaktionen aus meinem Umfeld. Ein Bekannter schimpfte, dass Politiker doch eh schon so viel Geld von ihm, dem Steuerzahler, bekämen. Da solle diese Politikerin wenigstens das Elterngeld sausen lassen, wenn sie schon alles andere hinten reingeschoben kriege. Und im Büro meckerte eine Kollegin, dass besagte Politikerin ganz schön faul sei, wenn sie nach fünf nicht mehr arbeiten wolle. Der habe ich dann einen Satz des Firmenchefs vorgesetzt, der eine Frauenquote für seine Führungsetage als erstes deutsches DAX-Unternehmen eingeführt hat: »Vielleicht sollten die Männer einfach mal diesen Quatsch lassen.«7

Weder der Bekannte noch die Kollegin haben verstanden, um was es der Politikerin geht. Nämlich um ein Arbeitsklima, in dem Zeit mit der Familie etwas ist, das wertgeschätzt wird. Das nicht einfach beiseitegeschoben wird, weil Termine, die den Arbeitgeber betreffen, vorrangig sind. Der Bekannte hat keine Kinder – wahrscheinlich hat er sich deswegen über die Politikerin aufgeregt. Weil es ihm so vorkommt, als würde ihm etwas weggenommen von seinem Stück des Staatskuchens, wenn Menschen Elternzeit nehmen. Und Elterngeld erhalten. Im Geheimen fände er vielleicht sogar eine Ausgleichszahlung angebracht, für Menschen, die keine Kinder haben, aber trotzdem gerne mal eine vom Staat finanzierte Auszeit nehmen möchten. Ich glaube auch, er hat nicht begriffen, dass Menschen kein Gehalt beziehen, während sie Elterngeld erhalten. Dass das Elterngeld keineswegs so hoch ist wie das Gehalt, sondern nur 65 bis 67 Prozent davon. Und dass man in der Zeit, in der man das Elterngeld als Lohnersatz bekommt, nicht im Urlaub ist, sondern sich Vollzeit um ein Kind kümmert.

Der Bekannte kennt das Wort »Solidarität« nicht, da bin ich mir sicher. Ähnlich wie die Kollegin, die die Politikerin als faul bezeichnet hat. Sie macht regelmäßig Überstunden. Ihr Engagement hat aber mehr mit ihrem Zeitmanagement als mit ihrem Fleiß zu tun: Sie steht mindestens einmal pro Stunde auf dem Balkon und raucht; holt sich rund acht Tassen Kaffee pro Tag aus der Teeküche und freut sich über jeden, den sie dabei in ein kleines Gespräch verwickeln kann. Ihre Mittagspause beginnt sie pünktlich und kombiniert sie gerne mit einem anschließenden Work-out im Pilates-Studio gegenüber. An sich ist es mir egal, wie die Kollegin es schafft, ihre Arbeit zu erledigen. Mir stinkt nur, dass sie ihr Modell als maßgebend nimmt.

Mein Handy piept. Bin um halb fünf da, schreibt die Kindergartenmutter. Mein Sohn greift nach meiner Hand. »Du sollst nicht telefonieren«, sagt er leise. Ich lege meine Arme um ihn. »Ist gut«, sage ich.

Ich glaube, viele wissen gar nicht, was für ein Aufwand es ist, Elterngeld oder Mutterschaftsgeld zu beantragen. Ich habe beides gemacht. Und musste beide Male warten und streiten und wieder warten. Habe mich gefühlt wie meine Mutter, die auch mit der Krankenkasse um Geld gestritten hat, nachdem mein Vater krank geworden war. Zuerst habe ich mich bei meiner Krankenkasse um Mutterschaftsgeld beworben.8 Eine sogenannte besondere Leistung der gesetzlichen Krankenkasse für mich als berufstätige Frau: Für jeden Tag, den ich aufgrund der Schutzfrist – sechs Wochen vor der Entbindung und acht Wochen danach – nicht arbeiten konnte, sollte ich 13,00 Euro erhalten. Die Differenz zwischen diesen 13,00 Euro und meinem durchschnittlichen Nettogehalt der letzten drei Monate vor der Schutzfrist sollte mein Arbeitgeber bezahlen.

Der errechnete Geburtstermin meines Sohnes war der 10. März. Demnach begann meine Schutzfrist am 27. Januar und endete am 5. Mai. Ich habe das Attest über meinen mutmaßlichen Entbindungstermin wie von der Krankenkasse verlangt eine Woche vor Beginn der Schutzfrist bei meiner Frauenärztin geholt und an meine Krankenkasse geschickt. Nach der Entbindung habe ich noch eine Geburtsurkunde nachgesandt. Das Mutterschaftsgeld habe ich dann im Mai erhalten, am Ende der Schutzfrist.

Zwischen März und Mai habe ich immer wieder bei der Krankenkasse nachgefragt, telefonisch, per Mail und per Brief, wo denn nun meine besondere Leistung bleibe und bekam zu hören »Der Vorgang ist in Bearbeitung«, »Es fehlen Unterlagen vom Arbeitgeber«, »Eine andere Stelle hat noch eine Nachfrage« usw. Ich wurde hingehalten. Und gleichzeitig mit anderen Informationen und Angeboten versorgt, etwa mit dem Hinweis, baldmöglichst zur Rückbildung zu gehen. Die Krankenkasse versprach, alle Kosten vollständig zu übernehmen. Ich habe dann einen entsprechenden Kurs besucht und die Quittung eingereicht – eine weitere Geldstreitbaustelle. Zuerst schrieb man mir auf meine Nachfrage, die Kosten würden nur übernommen, wenn ich ein Attest vorlege, das bestätige, ein Rückbildungskurs sei für mich aus gesundheitlichen Gründen notwendig. Als ich antwortete, die Krankenkasse selbst habe mich in die Rückbildungsgymnastik gedrängt, mit dem Versprechen der Kostenübernahme, bekam ich die Mitteilung, dass in meinem Fall eine einmalige Ausnahme gemacht werde. Die Kasse übernehme die Hälfte der Kosten für die Rückbildungsgymnastik.

Ich habe wegen der anderen Hälfte nicht weitergestritten. Schließlich musste ich ja noch auf das Mutterschaftsgeld warten. Und das Elterngeld – das erst ab dem Tag der Geburt beantragt werden kann. Und obwohl mein Mann und ich alle Unterlagen zusammenhatten und wir gut auf das Anforderungsprozedere vorbereitet waren, zehrte auch dieser Vorgang stark an meinen jungen Mutternerven. Gefühlt haben wir die Steuererklärungen der letzten fünf Jahre kopiert und zahlreiche Extrainformationen von der Schuhgröße meines Sohnes bis zur Farbe unseres Autos nachgereicht.

Wäre ich in dieser Zeit auf Mutterschaftsgeld und Elterngeld angewiesen gewesen, um Miete davon zu bezahlen oder die Windeln meines Neugeborenen, ich wäre verrückt geworden. Denn das letzte Gehalt hatte ich Anfang Februar erhalten, seitdem waren die Zahlungseingänge auf meinem Girokonto zum Stillstand gekommen. Ich konnte ab April meine Handyrechnung nicht mehr bezahlen, ohne meinen Mann anzupumpen. Und das hat mich neben dem ganzen Hickhack mit den Kassen auch wahnsinnig genervt. Ein Kind zu bekommen darf doch nicht bedeuten, finanziell ruiniert zu werden.

Da kommt die Kindergartenmutter. Noch eine Frau im Businessoutfit auf dem Spielplatz. Sie trägt zu ihrem Kostüm Pumps und schiebt ihre Tochter im Buggy erstaunlich trittsicher durch den Sand. Vielleicht lernt man das mit dem zweiten Kind. Ich winke ihr und zeige auf das Klettergerüst, unter dem ihr Sohn sitzt und die Brezel isst. Sie ruft ihn, er steht auf und läuft auf sie zu. Die Kindergartenmutter kommt zu mir und bedankt sich. »Wir müssen heim, der Handwerker«, sagt sie. Ich nicke. Immer im Stress. Immer zu wenig Zeit. Niemals Feierabend.

Und meiner Assistentin habe ich auch den Feierabend verdorben, denke ich dann. Denn aus Erfahrung weiß ich, dass die Druckerei den Proof nicht vor halb acht liefern wird – Extraaufträge dauern einfach extra lang. Ich habe sie nicht davor gewarnt. Weil die junge Kollegin kein Kind hat, das sie von der Krippe abholen muss. Weil sie keinen Mann hat, mit dem sie den Abend verbringen möchte. Halt, ich weiß überhaupt nicht, ob sie eine Beziehung hat. Geschweige denn, wer der Vater ihres Kindes ist, wenn das, was die Kaffeebecher und die Reiswaffeln heute angedeutet haben, stimmt.

Mein Sohn sitzt immer noch auf meinem Schoß. Ich fühle nach, ob sein Nacken oder seine Stirn heiß sind – doch seine Temperatur scheint völlig normal. Ich ziehe ihn näher an mich ran und flüstere in sein Ohr: »Wollen wir heimgehen?« Er nickt.

Wir kommen um 16:30 Uhr nach Hause, haben auf dem Heimweg noch im Supermarkt eingekauft. Die letzte Etappe will mein Sohn nicht mehr laufen, ich muss ihn tragen – und meine Tasche und zwei volle Einkaufstüten. Ich schnaufe schwer. Er ist aber sehr ruhig. Ich bin mir sicher, dass er krank wird.

Zu Hause sehe ich sofort, dass alles sauber ist, sogar die Spülmaschine hat die Putzfrau ausgeräumt. Das beruhigt mich. Ich ziehe dem Kleinen die Schuhe aus. Dann gehe ich mit ihm in die Küche und schenke ihm ein Glas Wasser ein. Während ich den Staubsauger hole, frage ich ihn, ob er Lust hat, mit mir eine DVD anzusehen. Er jubelt, aber sein Jubel ist matt. Nachdem ich die heute nur ziemlich kleine Sandspur zwischen Eingangstür und Kinderschuhen weggesaugt habe, setze ich mich mit meinem Kleinen aufs Sofa. Wir schauen eine Folge einer Kinderserie an. Schon bei der Hälfte sehe ich, dass seine Augen glasig sind. Ich fühle seine Stirn – er ist heiß. Ich ziehe ihm seinen Schlafanzug an und trage ihn ins Bett. Die gelbe Uhr zeigt erst kurz nach fünf – aber er protestiert nicht. Es scheint ihm wirklich schlecht zu gehen. Nicht mal den Plüschhasen will er haben. Ich messe Fieber: 38,9 Grad.

Ich koche Lindenblütentee und setze mich an sein Bett. Er liegt unter der Decke und fragt nach meinem Mann. »Der Papa kommt bald«, sage ich. Mein Handy piept – Erinnerung: Ich ziehe die gelbe Uhr auf. Und dann klingelt es auch noch. Erst will ich den Anruf gar nicht entgegennehmen, schließlich braucht mein krankes Kind gerade meine Aufmerksamkeit. Dann fällt mir ein, dass ich die junge Kollegin um einen Rückruf gebeten habe, wenn der Kurier aus der Druckerei eintrifft.

Der Anruf kommt aus dem Büro, aber nicht von meiner Kollegin. Es ist die junge Grafikerin, die das Layout für die Broschüre gemacht hat. Sie klingt kleinlaut, hat ausnahmsweise keinen Kaugummi im Mund. Sie hat einen Fehler gemacht, das veraltete Logo eines Sponsors verwendet. Das ist ihr gerade aufgefallen. Ob ich da noch was ändern kann, will sie wissen. Mein Sohn hält meine Hand und stöhnt leise. Ich bitte sie, sofort das Logo auszutauschen und den geänderten Entwurf dann per Kurier und per Datenübertragung an die Druckerei zu senden. Ich rufe die Druckerei an und erkundige mich nach dem Status. Ich habe Glück – der Auftrag steht in der Warteschleife und ist für 17:30 Uhr angesetzt. Ich erkläre, dass es ein neues, aktualisiertes Layout gibt, das innerhalb der nächsten fünfzehn Minuten per Filetransfer und Kurier eintrifft. Und bitte darum, den Proof basierend auf dem neuen Entwurf anzufertigen. Schließlich rufe ich meine Assistentin an und sage, dass der Proof wohl erst gegen 19:30 Uhr kommt. Sie ist gelassen. Ich entschuldige mich trotzdem dafür, dass ich ihr Überstunden verschafft habe.

Dann lege ich das Handy beiseite. Mein Sohn ist eingeschlafen. Ich streichle seine Stirn und bemerke, dass ich hungrig bin. Kurz vor sechs. In der Küche mache ich mir ein belegtes Brot und schenke mir ein Glas Orangensaft ein. Ist es nur Fieber? Oder kommt jetzt eine der großen Kinderkrankheiten? Ich überlege kurz, ob ich im Kindergarten von einem Windpocken- oder Scharlachfall gehört habe. Mir fällt nichts ein, ich erinnere mich nur an ein Kind, das einen Gipsarm hat. Vielleicht ist es ja einfach nur Fieber, das morgen wieder weg ist. Ich versuche mich zu beruhigen, da fällt mir ein, dass ich neben der Sorge um meinen Sohn auch Sorge habe, weil ich auf meinem Krankentage-für-das-Kind-Konto nur noch einen Tag habe. Und dann denke ich an den Proof, den ich eigentlich morgen früh kontrollieren muss. Um die Broschüre rechtzeitig in Druck zu geben.

Vielleicht wäre es eine gute Idee, die Druckfreigabe von der jungen Kollegin machen zu lassen. Schließlich sitzt sie jetzt im leeren Büro und verbringt ihren Feierabend mit Warten auf einen Kurier. Ich könnte dem Vorgesetzten mitteilen, dass meine Assistentin die Sache mit meinem Einverständnis und vollstem Vertrauen … Ich ertappe mich wieder dabei, wie ich versuche, mich zu beruhigen. Mein Sohn stöhnt laut. Ich gehe ins Kinderzimmer.

Der Kleine schläft, wälzt sich aber unruhig hin und her. Ich messe noch einmal seine Temperatur. 39,5 °C. Ich streichle seine heiße Stirn und bleibe neben ihm sitzen. »Tika«, flüstere ich, »alles wird gut.« Ans Büro denke ich dabei auch. Nach ein paar Minuten gehe ich ins Bad und starte die Waschmaschine.

Um 19:46 Uhr ruft die junge Kollegin an. Der Proof ist da, mit neuem Logo und den richtigen Farben. Ich bedanke mich bei ihr und kündige an, dass ich voraussichtlich am nächsten Tag nicht ins Büro kommen werde. »Mein Sohn hat hohes Fieber«, sage ich und verspreche, ihr am kommenden Morgen frühzeitig Bescheid zu geben. Tatsächlich habe ich gerade noch ein drittes Mal Temperatur gemessen: 39,2 °C.

Ich kenne einige Leute, die ihre Kinder vorschieben, wenn sie zu faul oder zu feig sind, die Wahrheit zu sagen. Sind sie zu müde, um abends noch auf ein Bierchen auszugehen, sagen sie die Verabredung mit der Begründung, ihr Kind will nicht einschlafen, sie finden keinen Babysitter oder das Kleine hat plötzlich Fieber gekriegt, ab. Natürlich gibt es immer Tage, an denen Kinder nicht einschlafen wollen oder überraschend krank werden. Auch Babysitter gibt es nicht wie Sand am Meer. Um ein richtig gutes Gefühl beim Ausgehen zu haben, ist es mir auch am liebsten, mein Mann oder meine Mutter sind bei unserem Sohn. Und dennoch finde ich es falsch, ein Kind als praktisches Mittel für die eigene Befindlichkeit vorzugeben. Das stört mich auch an Situationen, die ich gerne mit Small Talk 2.0 betitle: Manche Leute können nur über ihre Kinder sprechen. Haben sie früher über das Wetter geschimpft, sind sie heute auf Schlafgewohnheiten oder Windelgeschichten fixiert. Andere Themen gibt es nicht für sie.

Ich kontrolliere noch mal meinen Handykalender, den ich heute mit dem Jobkalender synchronisiert habe. Wenn ich morgen nicht arbeiten gehe, ist das zwar schlimm, aber keine Katastrophe. Zwei Dinge muss ich koordinieren, nämlich den Druck der Broschüre und die Präsentation für den Vorgesetzten. Ich klicke weiter im Kalender bis zum Familienurlaub. Elba, Ferien, Sonne – noch in weiter Ferne. Die Waschmaschine ist fertig. Ich räume die Wäsche in den Trockner und starte das Programm Schnelltrocken. Dann setze ich mich wieder ans Bett meines Sohnes.

Um kurz nach acht kommt mein Mann nach Hause. Wir setzen uns gemeinsam an den Küchentisch. Er ist gut gelaunt und schlägt vor, ein Glas Wein zu trinken. Ich merke gleich, dass er große Neuigkeiten hat: Das Familienauto, eine neue energiesparende Limousine mit viel Platz, an dessen Entwicklung er seit langem mitarbeitet, steht kurz vor der Fertigung. Der Bereich meines Mannes ist die Entwicklung des Interieurs. Und heute kam die Nachricht, dass der Prototyp des Wagens schon in der nächsten Woche in den USA vorgestellt werden soll. Mein Mann soll dabei sein. »Mein Chef hat meine Arbeit der letzten Monate sehr gelobt«, sagt mein Mann. So sehr, dass er ihm nach Abschluss der Arbeit am Familienauto einen neuen Verantwortungsbereich übergeben möchte. Er freut sich. »Eine Beförderung«, sage ich und freue mich auch. Wir stoßen an.

Aber eigentlich freue ich mich nicht. Denn ich habe natürlich auch bemerkt, dass er in den letzten Monaten sehr gut gearbeitet hat. Weil er häufig später nach Hause gekommen ist. Weil er oft so früh aus dem Haus musste, dass er unseren Sohn nicht in den Kindergarten bringen konnte. Obwohl wir uns von Anfang an darauf geeinigt haben, dass es Papa-Hinbring-Tage – der Kleine nennt sie Autotage – und Mama-Hinbring-Tage gibt; sind doch alle Tage schon Mama-Abhol-Tage. Nun kommt noch eine einwöchige Reise in die USA hinzu.

Es ist die erste Dienstreise, die mein Mann seit der Geburt unseres Kindes antreten muss – und will. Er spricht von seiner großen Chance, erklärt, dass er seinem erzkonservativen Chef zeigen möchte, dass er für die Firma verreisen kann. Dass seine Familie kein Hindernis ist. Dabei spekuliert er nicht auf eine Beförderung. Sondern auf die Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen, um in eine andere Abteilung zu wechseln, weg von seinem Vorgesetzten, für den Frauen nur Sekretärinnen und Ehegattinnen sind. »Ich soll dich übrigens herzlich von ihm grüßen«, sagt mein Mann ein wenig bitter. »Du kannst stolz auf mich sein, soll ich dir bestellen.« »Das bin ich. Auch ohne Befehl deines Chefs«, sage ich. Ich freue mich wirklich für meinen Mann. Aber ich sorge mich darum, was diese Neuigkeit, diese Reise, diese Beförderung mit unserer Familie macht. Gerade weil mein Mann und ich alles so sorgfältig organisiert haben, ist es schwierig, unsere Alltagsstruktur über den Haufen zu werfen.

Natürlich kann ich unseren Sohn eine Woche lang allein zum Kindergarten bringen. Nur bin ich mir nicht sicher, ob ich das auch möchte. Vielleicht kann ich aus egoistischen Gründen gerade keine reine Freude empfinden. Ich denke an eine Studie über die Veränderung des Alltagslebens von Paaren.**** Dass es nach der Heirat weniger Gleichberechtigung in Sachen »Wer kümmert sich um den Haushalt?« gibt – weil die frischgebackenen Ehemänner nach dem Jawort angeblich weniger anpacken. Ich frage mich, ob es auch eine Studie gibt, die belegt, dass es nach einer Beförderung des Mannes weniger Gleichberechtigung in Sachen »Wer kümmert sich ums Kind?« gibt – weil die Ehemänner dann, wenn sie mehr Verantwortung und Anerkennung im Büro bekommen, in ihrem Zuhause gerne Verantwortung und Anerkennung abgeben.

Ich bin eine schlechte Partnerin, denke ich. Und weil ich nicht auch noch eine schlechte Mutter sein will, gehe ich ins Kinderzimmer. Die gelbe Uhr zeigt Viertel vor neun. Mein Sohn schläft. Er hat die Decke weggeschoben und ist immer noch heiß. Vorsichtig messe ich seine Temperatur. 39,1 °C. Ich decke seine Füße zu, gehe wieder in die Küche und erzähle meinem Mann von dem Fieber. »Warum hast du das nicht gleich gesagt?«, fragt er vorwurfsvoll. Er geht ins Kinderzimmer und kommt mit besorgtem Blick zurück. »Er ist wirklich heiß«, sagt er. »Hoffentlich ist es nichts Schlimmes, vor allem, weil ich doch wegmuss nächste Woche.«

Mein Mann weiß genau, was ich denke, nämlich dass er doch bitte bleiben soll, weil es jetzt schon schlimm ist. Dass ich es natürlich allein schaffen kann, ob Fieber oder Windpocken-Scharlach-Mumps, dass ich das aber nicht will. Er beruhigt mich. »Er hat nur Fieber. Wir schauen einfach, wie es weitergeht. Und natürlich kann ich die USA-Reise noch absagen.« Ich sage ihm, dass ich seine gute Laune nicht verderben wollte und dass ich deshalb nicht gleich vom Fieber gesprochen habe. Dass ich ihn nicht damit überfallen wollte. Er lächelt.

Vielleicht gibt es diese Verantwortungs- und Anerkennungsstudie. Das heißt aber nicht, dass mein Mann den Ergebnissen dieser Studien entspricht. Ich gähne. Und bitte meinen Mann, die erste Schicht am Krankenbett zu übernehmen. Auf dem Weg ins Bad komme ich an meiner Tasche vorbei: Das inzwischen ziemlich zerdrückte Schokoladencroissant werfe ich mit der angebissenen Brezel in den Abfall. Und den Zettel, der heute im Garderobenfach meines Sohns gelegen hat, lese ich beim Zähneputzen.

Es ist eine Ankündigung: Am nächsten Montag ist der Kindergarten wegen eines Streiks geschlossen. Es geht um höhere Löhne für Erziehungsarbeit, etwas, das, so die Formulierung der Kindergartenleitung, sicher alle Eltern nachvollziehen und gutheißen können. Für den Ausfalltag wird um Verständnis gebeten.

Ich spucke Zahnpastaschaum ins Waschbecken. Gegen elf schaue ich noch einmal nach meinem Sohn und gehe dann ins Bett. Ich schlafe sofort ein.

*** Für die Bezeichnung »Latte-macchiato-Mutter« zeichnet die Berliner Journalistin Simone Schmollack verantwortlich, die für die taz arbeitet. Und dass Latte-macchiato-Mütter auch außerhalb von Berlin, Prenzlauer Berg, keine Lobby haben in Deutschland, ja sogar in der Literatur abgewatscht werden, zeigt die Erzählung Carlottas Spaß von Ulrike Draesner, erschienen 2011 im Erzählband Richtig liegen – Geschichten in Paaren.

**** Die Studie Effects of Union Type on Division of Household Labor: Do Cohabiting Men Really Perform More Housework? der Soziologin Shannon Davis u. a. von 2007 zeigt, dass verheiratete Männer weniger im Haushalt helfen als Männer, die mit ihrer Partnerin ohne Trauschein zusammenleben. Das gilt auch für die Paare, die sich Hausarbeit vor der Ehe noch gleichberechtigt aufgeteilt haben.