SAMSTAG

babywagen.ai6:45 Uhr. Der Wecker klingelt. Aber es ist doch Samstag, denke ich und schalte den Wecker aus. Ich drehe mich auf die andere Seite, schließe die Augen. Dann höre ich Schritte. Mein Sohn legt seine Hand auf meine Wange. »Es ist schon hell«, sagt er. Ich richte mich im Bett auf, nehme ihn in die Arme und lege ihn zwischen meinen schlafenden Mann und mich. Vielleicht gelingt es mir, noch fünfzehn Minuten zu gewinnen, noch ein kleines bisschen liegen zu bleiben. Es gelingt mir, fünf Minuten zu gewinnen. Trotz Kuscheln und Geschichten-im-Flüsterton-erzählen will er nicht mehr im Bett liegen. »Tika ist jetzt wach«, sagt er. »Und Tika möchte einen warmen Kakao.«

Tika zieht mir die Decke weg und versucht, mich aus dem Bett zu schieben. Ich gebe nach und stehe leise auf. Gehe in die Küche und erwärme Milch, verrühre Kakaopulver und fülle die heiße Schokolade in eine Tasse. Der Kleine sitzt am Tisch und strahlt mich an. Ich strahle zurück – obwohl ich müde bin. Er trinkt die Schokolade mit wenigen Schlucken aus. Ich lächle. Schon deutlich weniger verschlafen koche ich mir eine Tasse grünen Tee und gehe damit ins Kinderzimmer. Aus Rücksicht auf meinen Mann schließe ich die Tür und schlage meinem Sohn vor, gemeinsam ein Buch zu lesen.

Um Viertel nach sieben möchte mein Sohn lieber Fangen spielen. Das möchte ich nicht. Ich sage ihm, dass wir leise sein müssen, weil mein Mann noch schläft. Und deshalb spielen wir lieber später Fangen. Nein, sagt mein Kleiner ernsthaft, später muss Tika ins Büro. Ich drücke ihn an mich. »Heute muss niemand ins Büro«, sage ich. Und nehme mir vor, einen weiteren Sportkurs für ihn zu suchen. Ein Kind braucht Bewegung – einmal pro Woche zum Eltern-Kind-Turnen reicht neben dem normalen Rennen und Spielen einfach nicht aus. Statt Fangen können wir eine große Rakete aus Lego bauen, sage ich. Wir bauen die Rakete, sie wird wirklich groß und überragt meinen Sohn. Doch bevor ich die Antenne auf der Spitze fertig habe, haut er die Rakete in Stücke. Er lacht, und ich lache auch.

Ich bitte meinen Sohn, die Lego-Steine aufzuräumen, gehe ins Bad und starte eine Waschmaschine. Dann gehe ich in die Küche und bereite das Frühstück vor. Während das Eierwasser heiß wird, decke ich den Tisch. Mir fällt die junge Kollegin ein. Die schläft jetzt wahrscheinlich noch, in ihrem alten Kinderzimmer im Haus ihrer Eltern. Vielleicht ist sie auch schon wach und will nicht aufstehen, das warme Bett nicht verlassen. Legt die Hand auf ihren Bauch und versucht, eine Veränderung zu spüren. Ich erinnere mich, dass ich das in den ersten Wochen nach dem positiven Schwangerschaftstest sehr oft gemacht habe, nach fühlbaren Bestätigungen getastet, die das abstrakte Ergebnis der Urinauswertung real werden ließen. Vielleicht zieht sich meine Kollegin auch die Decke über den Kopf und weint. Sind die Entscheidungen, die sie zu fällen hat, doch alles andere als leicht: Ja zu einem Baby ohne Partner? Nein zu einer Karriere, die gerade erst begonnen hat?

Gemeinsam mit meinem Kleinen fülle ich Teigstreifen mit Schokocreme und Mandelstücken und forme sie zu Croissants. Als ich die Eier abschrecke, stelle ich mir vor, nicht nur ein Kind wäre hier mit mir in der Küche, sondern zwei. Ob sie viel streiten würden? Ich bin ein Einzelkind und weiß nicht, wie es ist, mit Geschwistern aufzuwachsen. Die Aufmerksamkeit der Eltern zu teilen ist sicher schwer, vor allem für das ältere Kind. Doch mir gefällt die Vorstellung, dass mein Sohn für immer einen Partner hat – oder eine Partnerin. Ob er lieber einen Bruder möchte oder eine Schwester?

Ich schicke den Kleinen ins Schlafzimmer, damit er meinen Mann aufweckt und hole das Telefon aus dem Wohnzimmer. 8:00 Uhr – meine Mutter ist eine Frühaufsteherin und sicher schon seit eineinhalb Stunden wach. Ich wähle ihre Nummer, erreiche sie aber nicht. Vielleicht ist sie einkaufen gegangen. Ich setze mich an den Frühstückstisch. Meine Mutter mag gern frische Semmeln mit Honig. Bei uns gibt es am Samstag fast immer selbst gemachte Croissants und Frühstückseier. Mann und Sohn kommen in die Küche, wir frühstücken. Nach dem Frühstück rufe ich noch einmal bei meiner Mutter an, sage ich zu meinem Mann.

Um 9:50 Uhr verlassen wir zu dritt das Haus und steigen ins Auto. Der Kleine ist aufgeregt und voller Vorfreude – unser Ziel ist ein Märchenpark. Eigentlich wollten wir schon um halb zehn los, aber eine längere Diskussion zwischen mir und meinem Sohn hat die Abreise verzögert. Er wollte unbedingt sein Indianerkostüm anziehen, inklusive Federschmuck. Ich war einverstanden. Nur als er dann darauf bestand, barfuß zu bleiben, war ich nicht mehr einverstanden. »Aber Mama, Indianer haben keine Turnschuhe«, sagte er. Und erklärte mir auch, dass Indianer keine Sandalen, Winterstiefel oder Gummistiefel tragen. Er ließ sich dann zum Glück überzeugen, seine Hausschuhe aus weichem blauem Leder anzuziehen. Jetzt sitzt er auf der Rückbank in seinem Kindersitz und übt sich in Indianersprache: Mokassins und Tomahawk. Ich bin stolz auf mich, dass ich die Schuhkrise ohne Wenn-dann-Pädagogik und ohne die Androhung von Strafen überwunden habe.

Ich verteile eine Runde Bonbons und freue mich, heute viel Zeit für unsere Familie zu haben. Ohne Blick in den Kalender, Anrufe vom Büro, Broschüren und Präsentationen. Ohne auf den Aufzug zu warten, zum Bus zu rennen, die U-Bahn zu verpassen. Ohne den Spagat der Vereinbarkeit – ohne dieses Wort »Vereinbarkeit«. Und ohne Nachrichten. Im Auto hören wir das Märchen von den drei kleinen Schweinchen auf CD.

Ich tauche gern in die Fantasiewelt unseres Sohnes ein. Er fragt viel nach, etwa warum jedes der Schweinchen ein eigenes Haus baut, ob sie dafür einen Bagger brauchen und einen Kran und ob sie gelbe Bauhelme beim Hausbau tragen. Und ob der Wolf von den drei kleinen Schweinchen derselbe ist wie der, den er im Zoo gesehen hat.

Ich hoffe, dass ihn der Märchenpark nicht enttäuscht. Denn natürlich ist hier die Fantasiewelt in Steinfiguren und Plastik gegossen. Neben Szenen aus den Grimm’schen Märchen und verschiedenen Fahrgeschäften gibt es Imbissbuden und ein Restaurant an einem großen Spielplatz inklusive Rutschenparadies. Wir haben auch einen Picknickrucksack dabei, den mein Mann nach dem Frühstück gepackt hat. Er hat wie jeden Samstag schmutzige Hemden und Blusen zur Reinigung gebracht und war anschließend in der Bäckerei: Es gibt belegte Semmeln, drei Butterbrezeln, Obst, Wasser für meinen Mann und mich und Saftschorle in der blauen Flasche für unser Kind.

Mein Mann hat den Kleinen zum Einkaufen mitgenommen, sodass ich eine halbe Stunde für mich hatte. Ich habe die Wäsche aus der Maschine geholt und in den Trockner gesteckt. Dann habe ich die Post geöffnet, die sich seit Tagen ungelesen auf dem Küchentisch gestapelt hat: Rechnungen, Werbung und der Elternbrief29, der mir vom Stadtjugendamt alle paar Monate zugeschickt wird. Diesmal ist die Rede vom Bewegungsdrang der drei- bis vierjährigen Kinder. Mit dem Hinweis, Kinderturnen und Ähnliches sei nur ein zusätzliches Angebot für Kinder – sie müssten auf den Spielplatz, auf Wiesen und in Parks, auch bei Schmuddelwetter, um sich richtig austoben zu können. Und: Bei Spielen mit vollem Körpereinsatz sind besonders die Väter tolle Herausforderer!

Immer wenn ich solche Erziehungsratgeber lese, werde ich unsicher. Soll ich das mit dem Kinderturnen sein lassen, weil es pädagogisch gesehen das Falsche für meinen Sohn ist? Ich habe ja den Eindruck, dass es ihm gefällt. Und wollte gerne neben dem Kinderturnen noch etwas anderes für ihn finden. Außerdem macht es auch mir Spaß. Mehr als immer nur auf dem Spielplatz herumzuhängen – Wiesen gibt es in der Stadt nicht. Und statt in den Park voller Hundekot auf dem Rasen und rastenden Senioren auf den Bänken, die uns mit strengen Blicken und Bemerkungen über Kinder und Lautstärke aufregen, gehe ich lieber ab und zu an den Fluss mit meinem Sohn. Da ist das Toben zwar gefährlich, aber wir sind naturverbunden, und vielleicht stärkt das Steine-ins-Wasser-Werfen ja die Muskulatur.

Nach der Unsicherheit kommt dann der Zorn. Dass nur ein Vater richtig toben kann, stimmt einfach nicht. Und bei uns ergibt sich ein Vater-Sohn-Toben auch nicht jeden Tag. Abends, vor dem Schlafengehen, ja, da spielen die beiden schon oft. Mein Mann bringt den Kleinen auch oft ins Bett. Dabei wird aber nicht immer mit vollem Körpereinsatz gespielt. Ich mag solche Rollenzuteilungen einfach nicht. Ich kann auch rennen. Und Bälle werfen. Und hüpfen. Ebenso wie mein Mann kuscheln kann.

Nach einer Dreiviertelstunde Fahrt erreichen wir den Parkplatz des Märchenparks. Die Sonne scheint. Tika, mein kleiner Indianer, zieht bereitwillig die Turnschuhe an und den Federschmuck aus. Mein Mann kauft ein Familienticket für 45,00 Euro: Wir können bis sechs im Märchenpark bleiben und dürfen so viel fahren, wie wir wollen: mit Schneewittchens gläserner Achterbahn, der Pferdchen-Eisenbahn, der Bergwerkbahn der Sieben Zwerge, vier verschiedenen Karussells mit Wolf und Geißlein, Gänsen und Liesl und anderen Figuren.

Mein Sohn zeigt auf einen großen Holzindianer. »Siehst du, Mama. Keine Turnschuhe«, sagt er. Und lacht. Weil er mir ansieht, dass ich eine weitere Schuhkrise befürchte. »Du Schlingel«, sage ich und lache auch. Mir fällt ein, dass ich zu Hause vergessen habe, noch einmal bei meiner Mutter anzurufen. Ich nehme das Handy und wähle ihre Nummer, erreiche sie aber nicht. Und dann ist das Zeitfenster für mögliche Telefonate auch schon geschlossen. »Du sollst nicht telefonieren«, sagt mein Sohn und zieht mich an der Hand zu einem Karussell. Ich besteige den bösen Wolf. Der Kleine klettert auf ein Geißlein, mein Mann holt den Fotoapparat aus dem Rucksack. Fünf Runden später gehen wir weiter zu einer kleinen Achterbahn. Diesmal ist mein Mann an der Reihe. Gemeinsam mit dem Kleinen klettert er in eine Gondel. Ich winke den beiden zu und setze mich auf eine Holzbank. Ein herrlicher Frühlingstag, die Bäume blühen, ich kann Flieder riechen, Amseln hören und nackte Frauenbeine unter kurzen Röcken sehen.

Eine sichtlich Schwangere geht mit einem vielleicht vierjährigen Kind an mir vorbei. Das Kind zieht an der Hand der Mutter, sie kommt aufgrund ihrer Leibesfülle kaum hinterher. Meine Gedanken kreisen wieder um ein zweites Kind. Was wäre dann mit der Arbeit? All die mühsam errungenen Strukturen – würden die auch zwei Kindern standhalten? Immerhin, in Sachen Kita könnte ich den Vorteil des Geschwisterkindes geltend machen. Mir würde eine neue Suche erspart bleiben.

Vielleicht bin ich ja schon schwanger. Ich klicke in meinem Handy zum Kalender, um zu sehen, wann meine letzte Blutung war. Vor drei Wochen. Aber möglich wäre es ja trotzdem. Ich stelle mir vor, wie mein Vorgesetzter auf die Nachricht reagieren würde. Mit einem »Das habe ich kommen sehen«? Oder vielleicht ein »Ich bin froh, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, das Sie ermuntert, Kinder zu bekommen«? Es fällt mir schwer, ihn einzuschätzen, und sicher wird sich seine Reaktion auch danach richten, ob die junge Kollegin ihr Kind behält oder nicht. Mir hat mein Chef beim letzten Mal gratuliert, damals vor fast vier Jahren. Aber er war trotzdem relativ kurz angebunden, hat unser Gespräch ziemlich schnell beendet und mich auf spätere Termine vertröstet. Vielleicht weil er geschockt war. Vielleicht weil er selbst Bedenkzeit haben wollte.

Neben dem »B« für »Blutung« steht in meinem Kalender auch eine Notiz »Elternzeit«. Das hatte ich völlig vergessen – vor drei Wochen ist meine Elternzeit abgelaufen!

Unser Sohn rennt begeistert auf mich zu. Die erste Achterbahnfahrt seines Lebens hat ihm so gut gefallen, dass er gleich noch mal fahren will. Und dann noch mal. Zuerst wieder mit meinem Mann, dann mit mir. Ich bleibe auf der Bank sitzen und erhole mich von dem kleinen Schock: Meine Elternzeit ist abgelaufen.

Ich bin die erste Frau in meiner Abteilung, die nach einer Entbindung wieder zurück an ihren alten Platz gekommen ist – es gibt überhaupt wenig Mütter im Büro, und die, die es gibt, haben große Kinder wie die ältere Grafikerin. Ich bin nicht nur die Erste, die wiedergekommen ist, ich bin auch die Erste, die die Familienteilzeit, die mir ja arbeitsrechtlich zusteht, in Anspruch genommen hat.30 Immerhin das habe ich vor der Geburt meines Sohnes mit meinem Vorgesetzten vereinbaren können: dass ich zwölf Monate nicht komme und dann vierundzwanzig Monate verkürzt arbeite.

Im ersten Abschnitt meiner Elternzeit habe ich Elterngeld erhalten. Ich habe drei Jahre lang Kündigungsschutz genossen. Seit einem Monat ist dieser rechtlich geschützte Zeitraum aber vorüber, wie ich gerade festgestellt habe. Unser Sohn ist vor gut drei Wochen drei Jahre alt geworden. Deshalb muss ich dringend ein Gespräch mit meinem Vorgesetzten über eine eventuelle Neuausrichtung meiner Stelle führen. Der Vorgesetzte kann mich verpflichten, wieder auf Vollzeit zu gehen. Denn wie heißt es so schön im Familien-Wegweiser des Familienministeriums31: Wurde die Arbeitszeit während der Elternzeit reduziert, gilt nach deren Ende wieder die frühere Arbeitszeit.

Ob der Vorgesetzte auch »Elternzeit« in seinem Kalender stehen hat, kombiniert mit meinem Namen? Sicher hat er solche Termine automatisch auf Wiedervorlage. Und vielleicht hat er mich deswegen so kritisiert vorgestern, als Warm-up für ein unangenehmes Gespräch.

Da kommen Mann und Sohn zurück. Der Kleine ist immer noch aufgeregt wegen der Achterbahnfahrt. Er will jetzt unbedingt mit mir fahren. Ich frage meinen Mann, ob die Achterbahn gut für Loopinggreenhorns sei. »Keine Loopings, keine schnellen Kurven. Du musst keine Angst haben«, sagt er. Also setze ich mich neben meinen Sohn in Schneewittchens gläserne Achterbahn. Die Wagen haben in Anlehnung an Schneewittchens Glassarg durchsichtige Wände und Böden. Wir können meinen Mann von oben sehen. Er sitzt auf der Bank und winkt. Er hat recht, keine Loopings, keine schnellen Kurven. Eine gute Kinderachterbahn. Und eine gute Achterbahn für ängstliche Mütter wie mich.

Der Vormittag vergeht schnell. Mein Sohn reitet auf allen drei kleinen Schweinchen, fährt mit einer Dampflok und lacht mit uns über die Mützen der sieben Zwerge. Dann machen wir auf einer Bank Brotzeit und essen belegte Semmeln und Apfelstücke. Ich versuche noch einmal, meine Mutter zu erreichen. Sie geht nicht ans Telefon. Ich finde wieder einen Grund dafür, diesmal stelle ich sie mir auf einem langen Spaziergang am Fluss vor. Vielleicht mit ihrer Nachbarin. Oder einer Theaterbekanntschaft. Doch eigentlich glaube ich das gar nicht. Stattdessen ist mir längst klar, dass etwas passiert sein muss. Ich schiebe diese ganzen Erklärungen vor, die das Leben meiner Mutter zu einer farbenprächtigen Bilderbuchidylle machen, um mir nichts Schlimmes ausmalen zu müssen. Dabei wächst das Gefühl, dass das, was passiert ist, etwas sehr Schlimmes ist, mit jeder Minute, die ich sie nicht erreiche.

»Tika will Ach-Bahn fahren!« Mein Sohn zieht an meiner Hand. Ich schiebe das Handy in die Tasche und die Gedanken an meine Mutter beiseite.

13:00 Uhr – der Kleine will Pommes essen. Mit Ketchup. Wir gehen zum Restaurant in der Mitte des Märchenparks und setzen uns an einen Terrassentisch. Wir sind in einem Kindervergnügungspark, deswegen gibt es hier nicht nur einen Hochstuhl für kleine Kinder, sondern zehn. Der Tisch ist bunt und die Speisekarte absolut kinderfreundlich: drei verschiedene Menüs, und es darf kombiniert werden. Dafür bleiben die Bedürfnisse der Eltern, nein, der salat- und rohkostinteressierten Mütter, ein wenig auf der Strecke. Es gibt Schnitzel mit Pommes, Bratwürste mit Kraut oder Nudeln mit roter Sauce. Mein Mann bestellt das Schnitzel und ein Bier dazu, darauf hat er sich schon den ganzen Morgen gefreut. Ich nehme die Bratwürste, der Kleine bleibt bei Pommes.

Nach einer weiteren Runde auf der Ach-Bahn will unser Sohn im Märchenparkshop noch ein Spielzeug kaufen. Es ist inzwischen 15:12 Uhr. Wir einigen uns auf eine Bilderbuchvariante von Die drei kleinen Schweinchen mit Happyend für alle Schweine im Steinhaus. Vor dem Bücherregal des Ladens treffe ich eine frühere Kollegin, die Vorgängerin der jüngeren Grafikerin. Sie ist mit ihrer Tochter im Märchenpark; ihr Mann trainiert eine Jugend-Handballmannschaft und konnte nicht mitkommen, weil heute ein Spiel ist. »Wie alt bist du denn?«, frage ich die Kleine. »Fünf«, sagt sie. »Im Sommer.« Ich staune. »Dann bist du seit fünf Jahren raus aus dem Büro«, sage ich zu der früheren Kollegin. Sie nickt. »Arbeitest du wieder? Denn zu uns bist du ja nicht zurückgekommen.« Sie sagt, dass sie halbtags Kleinanzeigen layoutet. Ein Job, der sie kreativ überhaupt nicht fordert, ihr aber völlig ausreicht. Kurz nach der Geburt schon war ihr klar geworden, dass sie überhaupt keine Lust mehr auf ihre alte Stelle hatte. »Diese ewigen Präsentationen und Broschüren, die die meisten doch eh ungelesen in den Müll werfen«, sagt sie. »Abends kam ich heim, oft total fertig vom Layouten. Und ich konnte meinem Mann nicht mal sagen, um was es inhaltlich ging. Weil ich immer nur darauf geachtet habe, dass die Bildunterschriften einzeilig waren und der Text unter den Bildern in einem vorbildlichen Flattersatz aufgebaut war: eine Zeile kurz, eine Zeile lang. Eine Zeile kurz, eine Zeile lang.« Sie schüttelt den Kopf. »Und dann gab’s jedes Mal so einen Stress wegen eines Tippfehlers oder eines falschen Bildes … Ist das immer noch so?«, fragt sie dann ein wenig neugierig. »Ja. Leider. Eine Broschüre, eine Präsentation in dieser Woche«, sage ich. »Ein Tippfehler, ein veraltetes Logo: Es gab viel Ärger.« Die frühere Kollegin lacht. Und meint, sie könne sich schon vorstellen, wie der Chef erst rumgemäkelt hat und dann hinterher voll des Lobes war. Ich lache auch. Obwohl es ganz schön wehtut, das zu hören. Denn natürlich hat sie recht.

Wir verabschieden uns, ich gehe mit Mann und Kind zurück zum Parkplatz. Plötzlich stampft mein Sohn mit dem Fuß auf. »Sie ist tot!«, ruft er. »Wer ist tot?«, frage ich mit einigem Entsetzen. Er zeigt auf eine Ameise, die neben seinem Fuß auf dem Boden liegt. Ich frage vorsichtig weiter, ob er weiß, dass die Ameise nun nicht mehr weglaufen kann. Und dass ich sie auch nicht mehr reparieren kann. Weder der Papa mit seinem Werkzeugkasten noch der Kinderarzt könnten helfen. Der Kleine nickt. Und sagt noch einmal: »Sie ist tot!«

Ich bin überrascht, dass er neuerdings keine Ameisen mag. Und dass er vom Totmachen spricht. Sicher hat er das aus dem Kindergarten, sagt mein Mann. Ich nehme mir vor, mit dem Kleinen über Sterben und Tod zu sprechen. Vielleicht finde ich ein Bilderbuch als Grundlage. Wieder fällt mir meine Mutter ein. Ich schiebe den Gedanken schnell weg.

Rückfahrt. Auf halber Strecke halten wir an einer Eisdiele an, der Kleine isst Schokoladeneis, mein Mann und ich trinken Eiskaffee. 15:30 Uhr – wir hätten noch zweieinhalb Stunden im Märchenpark bleiben können. Aber ich bin sicher, dass es so schon mehr als genug war, für die ganze Familie. Ich überschlage kurz, was uns der heutige Ausflug gekostet hat: Eintritt, Mittagessen, Bilderbuch, Eis. Macht insgesamt 92,00 Euro, Benzin und Brotzeit nicht mitgerechnet. So ein Familientag ist ganz schön teuer.

Muss das sein?, frage ich mich. Natürlich ist mein Sohn froh, wenn er Märchenpark, Pommes, Buch und Eis an einem Tag bekommt. Und ist er froh, sind wir es auch. Trotzdem komme ich mir gerade vor wie die reiche Tante, die mit teuren Mitbringseln über die Tatsache hinwegtrösten will, dass sie nie Zeit hat für ihren Neffen. Die dem Kind zu Weihnachten ein Fahrrad und zu Ostern einen Skikurs schenkt, aber nie eine halbe Stunde neben seinem Bett sitzt und etwas vorliest. Weil sie ja auch nie da ist. Bin ich so eine Tante, obwohl ich doch die Mutter bin und den ganzen Tag renne und hetze, um den Bedürfnissen meines Kindes gerecht zu werden? Halt, das ist ein Denkfehler: Es sind nicht die Bedürfnisse meines Kindes, die mich rennen lassen, es sind meine eigenen. Und wahrscheinlich ist »Bedürfnis« auch nicht das richtige Wort. »Verpflichtung« trifft es besser.

Ich will arbeiten gehen. Ich muss es gar nicht. Das Gehalt meines Mannes würde ausreichen, wenn wir an manchen Stellen – Stichwort Familientag – ein wenig aufs Geld schauen würden. Aber ich will arbeiten gehen, und zwar auch deshalb, weil ich meine eigene Unabhängigkeit bewahren möchte. Haushaltsgeld zu bekommen, Quittungen zu sammeln und mit dem Mann größere Anschaffungen zu besprechen finde ich entsetzlich.

Während ich meinen Gedanken nachgehe, liest mein Mann unserem Sohn das neue Bilderbuch vor und versucht, es vor Eisflecken zu schützen.

Die Kindergartenmutter, deren Sohn diese Woche mit uns auf dem Spielplatz war, hat mir auf dem Elternabend erzählt, sie musste ihren Mann am Ende des Winters bitten, ihr Geld zu geben. Ihr Sohn brauchte dringend einen neuen Anorak. Die Frau arbeitet Teilzeit in einer Autovermietungsfirma und hat da viel Stress, sie ist wie ich eine der Rennerinnen und Hetzerinnen. Und sie kommt für die meisten Anschaffungen der beiden Kinder auf. Dass sie am Ende des Winters kein Geld für eine Jacke hatte, lag an einer hohen Zahnarztrechnung. Eigentlich keine große Sache. Doch ihr Mann reagierte komisch, meckerte, dass die Kinder ständig neue Kleider brauchen würden und dass das eine Geldverschwendung sei, Anfang Februar noch Wintersachen zu kaufen. Das hat mich fürchterlich geärgert, so die Kindergartenmutter. Dass ihr Mann ihr den unterschwelligen Vorwurf gemacht hat, sie sei schuld daran, dass ihr Sohn im Februar plötzlich längere Arme und einen längeren Oberkörper hat als im Dezember. Als hätte sie ihn mit Kraftfutter schnell größer werden lassen.

Ich habe ihren Ärger gut verstanden und das auch gesagt. Da hat sie dann dagegengehalten und gemeint, natürlich würde ihr Mann sonst auch zahlen, sie hätten so eine Aufteilung, dass er alles, was mit der Wohnung zu tun hat, zahlt, und sie alles, was für die Kinder anfällt. Und dass das sonst auch gut funktionieren würde, nur eben nicht in diesem Fall.

Eine grauenhafte Vorstellung, in einer solchen Abhängigkeit zu sein. Ich glaube, daran würde meine Ehe kaputt gehen. Ich war schon in den ersten Monaten nach der Geburt wahnsinnig genervt, kein Geld zu haben und auf das Elterngeld so lange warten zu müssen. Ich kam mir vor wie eine Schmarotzerin, die Geld haben will, ohne etwas dafür zu leisten.

Mein Mann beginnt eine Diskussion mit meinem Sohn, der unbedingt auch einen Eiskaffee haben möchte, nachdem er von seinem probieren durfte. Ich sende böse Blicke zu meinem Mann, da ich Kaffeegetränke nicht passend finde für einen Dreijährigen. Und dazu gibt es noch Gejammer von meinem Sohn. Er versucht jetzt, mich davon zu überzeugen, dass ein Eiskaffee für ihn etwas Gutes wäre. Ich wähle die Flucht und sage, dass ich zur Toilette muss.

Als ich mir die Hände wasche, betrachte ich mich prüfend im Spiegel. Bin ich jetzt mehr ich selbst als gestern Mittag im Büro auf dem Weg von der Honorarabteilung in mein Büro? Oder spiele ich wieder eine Rolle? Meine Schulfreundin hat mich vor kurzem gefragt, ob ich lieber ein Mädchen bekommen hätte als einen Sohn. Spontan habe ich gesagt, ich wäre zufrieden, wie es ist, und hätte nie tauschen wollen. Doch in mir klang die Frage noch länger nach, so lange, dass ich meine Freundin ein paar Tage später angerufen und eine erweiterte Antwort gegeben habe.

Ich bin sogar ziemlich froh, einen Sohn zu haben, genau diesen Sohn zu haben. Weil er mir eine Welt eröffnet, die mir sonst verborgen gewesen wäre. Als Kind habe ich mich nie für die wilden Dinge interessiert, ich habe selten getobt, Sport hat mich nicht begeistert, ich war eher ängstlich als abenteuerlustig. Volksfeste waren für mich kein Anziehungspunkt, da ich vor den meisten Fahrgeschäften einen Heidenrespekt hatte. Mein Sohn ist genau das Gegenteil: Ja, er mag auch Lesen und Malen – hier ist er dann mein Kind – und hilft auch gerne beim Kochen. Aber er springt auch gern auf dem Spielplatz vom Klettergerüst in den Sand. Er will rennen, mit Bällen werfen und ins Wasser hüpfen. Dadurch entdecke ich Dinge, die ich nicht kannte, oder von denen ich dachte, sie wären nichts für mich. Inzwischen gehe ich gerne ins Schwimmbad. Ich bin sogar Achterbahn gefahren mit meinem Sohn, heute, im Märchenpark. Was nicht mal mein Mann weiß: Es war auch für mich die erste Achterbahnfahrt meines Lebens. Und ich hatte Spaß dabei.

Trotzdem muss ich mir eingestehen, dass ich diesen Familientag geplant habe, um mich von einem schlechten Gewissen freizukaufen. Wie viel sogenannte Qualitätszeit habe ich mit meinem Sohn in dieser Woche gehabt? Ich habe ihn fortwährend angetrieben, schnell in den Kindergarten, nach Hause, zum Turnen, zum Spielplatz, wieder nach Hause zu gehen. Weil für ein Gehen in seiner Geschwindigkeit eigentlich nie Zeit ist – der gestrige Morgen, an dem ich aufgrund seiner Stocksuche zu spät zum Jour fixe kam, ist mir gut in Erinnerung. Auf dem Spielplatz, zu Hause und sogar an dem Tag, an dem er krank war, habe ich nicht nur viel mit dem Büro telefoniert, sondern auch ständig daran gedacht. Und abends war ich froh, wenn er endlich eingeschlafen war. Damit ich ihn »los war«, keine fünf Stunden, nachdem ich ihn vom Kindergarten abgeholt hatte. Und warum er sich neuerdings Tika nennt, habe ich immer noch nicht herausgefunden.

Es gibt Studien32, die belegen, dass voll berufstätige Mütter weniger Zeit mit ihren Kindern verbringen als die, die nicht arbeiten. Mütter, die nicht oder Teilzeit arbeiten, sind mehr mit ihren Kindern zusammen. Dass dieses mehr aber zwangsläufig besser bedeutet, ist nicht gesagt. Schließlich gibt es auch Untersuchungen, die bestätigen, dass Kinder nicht unter Fremdbetreuung wie Kindergarten oder Kinderkrippe leiden.33 Dem Kind geht’s also nicht schlecht – aber was sagen die Studien über den emotionalen Zustand der berufstätigen Mutter? Die sich zerrissen fühlt, weil sie zwischen ihrem Mutterleben und ihrem Berufsleben hin- und herspringt. Von ihrem Eheleben mal ganz abgesehen, das ja meistens an letzter Stelle steht. Und da ist es wieder, mein schlechtes Gewissen.

Ich gehe zurück zu Mann und Kind und aktualisiere dabei meine Top 5: Ich bin eine schlechte Mutter, weil …

… ich mein Kind immer antreibe,

… ich mein Kind meinem Terminkalender unterordne,

… ich fast ständig versuche, mein Kind aus meinem Leben wegzuorganisieren,

… ich nicht wirklich bereit bin, mich meinem Kind zu widmen,

… Haushalt und Büro mir wichtiger als mein Kind sind.

Ich könnte diese Liste problemlos zu einer Top 100 ausbauen. Mein armes Kind.

Aber wenn ich meinen Mann da sehe mit unserem Kleinen, wie sie lachen und sich gegenseitig mit Eis füttern, denke ich mir, dass ich doch auf jeden Fall etwas richtig gemacht habe: Unser Sohn ist glücklich. Ob ich nun eine erfolgreiche Mutter oder eine gute Mutter oder einfach nur eine Mutter bin – er ist glücklich. Und das macht mich auch glücklich. Ich setze mich zu den beiden, schlürfe den Rest meines Eiskaffees und gebe zuerst meinem Sohn, dann meinem Mann einen kalten, klebrigen Kuss auf die Wange. »Ich bin froh, dass ich euch habe«, sage ich. Sie nicken und geben mir kalte, klebrige Küsse zurück.

Ich versuche noch einmal, meine Mutter zu erreichen. Sie geht nicht ans Telefon. Es ist etwas passiert. Auf dem Heimweg singen wir alle drei lautstark. Die Texte denken wir uns selbst aus. Das Lieblingslied unseres Sohnes: »Das La-la-lama hat eine al-te Mama. Ihr Haar ist weiß, sie isst gern Eis.«

Um 17:33 Uhr sind wir zu Hause. Tika möchte die Häuser der drei kleinen Schweinchen aus Lego nachbauen. Ich baue mit, mein Mann bereitet das Abendessen vor und hilft dann auch beim Hausbau. Das Strohhaus wird rot-weiß, das Holzhaus gelb, und das Steinhaus hat keine Fenster. Zum Abendessen gibt es Spaghetti Bolognese und Salat. Unser Sohn liebt Nudeln mit roter Sauce, aber Salat mag er keinen. Gemeinsam räumen wir nach dem Essen die Küche auf. Dann bringt mein Mann unseren müden Sohn ins Bett. Ich räume den Wäschetrockner aus und versuche noch einmal, meine Mutter zu erreichen. Sie geht nicht ans Telefon.

19:47 Uhr. Zwei Abende hintereinander ausgehen – das sieht meiner Mutter nicht ähnlich. Ich setze mich an den Küchentisch. Es ist etwas passiert.

Mein Mann kommt rein und schließt die Küchentür. »Kind schläft«, sagt er. »Lust auf ein Glas Wein?« Ich nicke. Und sage, dass ich meine Mutter wieder nicht erreicht habe. »Da muss was passiert sein«, wiederhole ich meine Gedanken. Mein Mann fragt, was ich machen will. Ich bin unschlüssig. Zwar habe ich einen Schlüssel zur Wohnung meiner Mutter. Aber abends möchte ich da nicht einfach auftauchen – vielleicht ist sie ja nicht allein und geht deshalb nicht ans Telefon.

»Deine Mutter ist verliebt?«, fragt mein Mann, nachdem ich ihm meine Überlegungen dargelegt habe. Es klingt nicht spöttisch, nur fragend. Ich sage, dass ich über das sogenannte Privatleben meiner Mutter nicht gut Bescheid weiß. Mein Vater ist seit über einem Jahr tot, die letzten Monate lag er nur im Bett und musste rund um die Uhr betreut werden. Das hat meine Mutter gemacht, und sie hat nie darüber geklagt. Ich habe sie nie gefragt, ob es da vielleicht jemanden gibt, und sie hat auch nie etwas erwähnt.

»Ich fahre morgen früh zu ihr. Gegen acht. Wenn sie dann nicht zu Hause ist, läute ich bei ihrer Nachbarin.« Mein Mann nickt. Guter Plan, sagt er.

»Brauchst du eigentlich noch was für deine Amerika-Reise?«, frage ich. Ich will nicht weiter über meine Mutter reden. Mein Mann holt seinen Laptop. Er zeigt mir die Internetseite des Hotels, in dem er in der nächsten Woche untergebracht ist. Dann zeigt er mir Bilder des Autos, das vorgestellt wird. Zuerst sehe ich das Auto von außen, dann von innen – mein Mann ist stolz auf das Design, das er mit entwickelt hat. »Schau, statt eines Aschenbechers haben wir einen Kleenex-Spender eingebaut. Und hier gibt es einen Getränkehalter in variabler Größe: passend für Wasserflaschen und für Milchflaschen.«

Ich staune. Wie die Details unseres Lebens in die Arbeit meines Mannes einfließen. Wir suchen ständig ein Taschentuch im Auto. Und haben scheußliche, eingetrocknete Milchflecken auf den Polstern unserer Autositze. »Wie wäre es mit einem wasserdichten Überzug für den Beifahrersitz«, sage ich. »Optional fürs Handschuhfach. Weißt du noch, wie wir auf dem Weg in den Urlaub zum ersten Mal im Auto wickeln mussten? Ich hatte solche Angst vor der vollen Windel. Und vor den Leuten, die uns auf dem Parkplatz an der Autobahnraststelle beobachtet haben.« Mein Mann lacht. Und notiert meine Idee.

Ich hole ein paar Käsecracker und schenke noch mal Wein nach. Qualitätszeit mit meinem Mann – die darf auch nicht immer zu kurz kommen, denke ich. Ich muss wirklich noch einen Babysitter finden. Damit wir mal wieder ins Kino gehen können. Oder ein Glas Wein trinken – mal nicht am Küchentisch.

Da klingelt das Telefon. Meine Mutter, denke ich, und gehe ins Wohnzimmer. Das Telefon liegt auf dem Sofa. Ich sehe auf die Uhr. 21:20 Uhr. Da bist du ja, sage ich in den Hörer. Doch die Anruferin ist nicht meine Mutter, sondern die Nachbarin meiner Mutter. Sie hat den ganzen Tag versucht, mich zu erreichen. Während ich noch erkläre, dass wir keinen Anrufbeantworter haben, steigt in mir die Angst hoch. Ganz sicher, es ist etwas passiert mit meiner Mutter.

Gestern Abend war sie mit meiner Mutter im Stadttheater, sagt die Nachbarin. Und in der Pause hat meine Mutter gesagt, dass sie sich nicht wohl fühlt. Dass sie plötzlich nicht mehr richtig sehen kann. Sie sind dann mit einem Taxi heimgefahren. Im Taxi schon ist meine Mutter seltsam gewesen. »Ich hab sie kaum verstanden, so undeutlich hat sie gesprochen«, sagt die Nachbarin. »Zu Hause hab ich ihr dann auf der Treppe geholfen, sie konnte das eine Bein nicht mehr abwinkeln. Und hat es vor ihrer Wohnungstür auch nicht geschafft, den Schlüssel ins Schloss zu stecken.« Schlaganfall, schießt es mir durch den Kopf. Nein! »Ich hatte kein gutes Gefühl«, sagt die Nachbarin, »und da hab ich einen Krankenwagen gerufen. Ihre Mutter liegt jetzt im Städtischen Krankenhaus.«

Die Nachbarin sagt, sie hat heute Vormittag im Städtischen Krankenhaus angerufen, aber man wollte ihr nichts sagen. Weil sie ja nur die Nachbarin ist und keine Verwandte. Deswegen weiß sie nichts Genaueres. Ich sage ihr, dass ich sofort im Krankenhaus anrufe. Und ihr dann Bescheid gebe.

Ich notiere die Telefonnummer der Nachbarin und die des Städtischen Krankenhauses. Schnell wähle ich die Nummer der Telefonzentrale und frage nach meiner Mutter. Sie ist gestern Abend eingeliefert worden, sage ich und wiederhole ihren Namen. Ich werde mit Station 3a verbunden: Neurologie. Stroke Unit. Schlaganfall, denke ich wieder. Es dauert ein bisschen, bis ich die Nachtschwester am Telefon habe. Tiefe Nacht im Krankenhaus. Die Schwester bestätigt, dass meine Mutter auf ihrer Station liegt. Sie ist gestern Abend mit Verdacht auf Schlaganfall eingeliefert worden. Jetzt schläft sie, sagt die Schwester.

Wie geht es ihr denn?, frage ich. Sie schläft, wiederholt die Schwester, mehr kann sie gerade nicht sagen. Als sie um 20 Uhr ihre Schicht angetreten hat, war meine Mutter bereits eingeschlafen. In ihrer Krankenakte steht, dass sie Blutverdünner bekommt und heute eine Kernspintomographie gemacht wurde. Das war schon die zweite. Die erste wurde gestern Abend gleich nach der Einlieferung gemacht. Weitere Untersuchungen sind für Montag angesetzt. »Morgen gegen neun ist Visite«, sagt die Schwester. »Da können Sie die Stationsärztin nach Details fragen.« Ich bedanke mich und hinterlasse meine Telefonnummer. Dann lege ich auf und setze mich auf den Boden. Merke erst, dass ich weine, als mein Mann ins Wohnzimmer kommt und fragt, was los ist.

Er nimmt mich in die Arme und streichelt meinen Rücken, meinen Kopf. Ich schluchze und versuche, ihm zu sagen, was passiert ist. Doch das geht nicht, weil es mich so schüttelt vor lauter Weinen. Es dauert einige Minuten, bis ich mich so weit beruhigt habe, dass ich normal sprechen kann.

»Meine Mutter hatte einen Schlaganfall«, sage ich. Ich erzähle vom Telefonat mit der Nachbarin. Und vom Telefonat mit dem Krankenhaus. Und dass ich es nicht gewusst habe, dass ich zwar ein schlechtes Gefühl hatte, dass ich aber nicht ahnen konnte, dass ich am Donnerstag schon dachte, dass sie schlecht aussieht, dass ich mir da schon Vorwürfe gemacht habe, weil ich sie als Babysitterin herbestellt hatte. Hier unterbricht mich mein Mann. »Schhhtt«, sagt er. Und dass ein Schlaganfall nicht durch ein paar ruhige Stunden mit einem Enkelkind verursacht wird. »Ich rufe jetzt die Nachbarin an und bringe sie auf den neuesten Stand«, sagt er.

Er nimmt das Telefon und geht damit in die Küche. 21:45 Uhr. Ich starre auf die Uhr und sehe, wie die Sekunden verrinnen. Um 21:47 Uhr kommt mein Mann mit einem Glas Wasser wieder ins Wohnzimmer. »Sie schickt schöne Grüße«, sagt er und reicht mir das Glas. »Sie schaut nach der Post und gießt die Blumen deiner Mutter. Du musst dich wegen der Wohnung erst mal um nichts kümmern.«

»Am liebsten würde ich gleich zu meiner Mutter fahren«, sage ich. »Aber wahrscheinlich ist das keine gute Idee.« »Du fährst morgen früh hin«, sagt mein Mann. »Dann ist sie wach. Das ist besser, für sie und für dich. Außerdem kannst du dann mit den Ärzten sprechen.« Schlaganfall, denke ich. Halbseitige Lähmung. Verlust der Sprache. Verlust der Bewegungsfähigkeit. Verlust der Identität. Pflegefall. Tod. »Ich weiß«, sagt er, »Schlaganfall klingt schlimm. Aber vielleicht erholt sie sich wieder. Mit Medikamenten und Reha. Deine Mutter ist ja noch nicht so alt.« Sie ist achtundsechzig, denke ich. Sie hat ein Jahr lang meinen Vater gepflegt, der vom Krebs zerfressen wurde und am Schluss nur noch sterben wollte. Aber sie hatte nie irgendwas. Meine Mutter ist schlank, sie hat nie geraucht, sie passt beim Essen auf und trinkt kaum Alkohol.

Ich muss irgendwas tun, sage ich. Mein Mann holt seinen Laptop aus der Küche. »Vielleicht hilft es dir, wenn wir uns etwas informieren«, sagt er. Wir sitzen auf dem Boden vor dem Sofa und lesen gemeinsam, was das Internet über das Thema Schlaganfall weiß.

Wir finden sehr viele Informationen. Schlaganfall. Stroke. Häufig eine Durchblutungsstörung im Gehirn. Nach Krebs und Herzinfarkt die häufigste Todesursache in Deutschland. Bessere Heilungschancen bei schnellem Handeln, weil durch Medikamente mögliche Blutgerinnsel im Gehirn aufgelöst werden können und somit keine dauerhaften Schäden verusacht werden. Viele Folgestörungen: Lähmungen, Probleme beim Sprechen, beim Sehen, beim Erkennen von Gegenständen und ihrer Funktion. Aber auch erstaunliche Regenerationsmöglichkeiten des Gehirns. Rückkehr in einen selbstbestimmten Alltag.

»Lass uns den Computer ausschalten«, sage ich zu meinem Mann. So viele Informationen. Woher kam das Blutgerinnsel? Hätte es verhindert werden können? Liegt das in der Familie? Bin ich erblich belastet, und ist mein Sohn es vielleicht auch? Wird sie mich erkennen, weiß sie, was passiert ist? Wer bezahlt eine Reha, und hat sie eine Patientenverfügung unterschrieben? Ich bin aufgewühlt, habe viele Fragen und sehe durch die vielen Informationen eher pessimistisch in die Zukunft.

Ich gehe ins Kinderzimmer und schaue nach meinem Sohn. Er schläft. Viertel vor zwölf. Ich gehe ins Bad, ziehe mich aus und putze meine Zähne. Dann lege ich mich ins Bett. Schließe die Augen. Öffne die Augen. An Schlaf ist nicht zu denken. Versuch, dich zu entspannen, sagt mein Mann. Er hat recht. Ich werde Kraft brauchen – für meine Mutter, für mich. Und meinen Kleinen. Wie soll ich ihm nur erklären, was passiert ist?