MONTAG

babywagen.aiIch stehe am Aufzug und drücke zum dritten Mal auf den Nach-unten-Knopf. 14:50 Uhr. Seit drei Minuten warte ich hier und bombardiere mich mit Fragen: In welcher Geschwindigkeit kann ich fünfzehn Stockwerke nach unten laufen, ausstempeln, über die Straße hetzen, dabei natürlich die Ampel ignorieren, um rechtzeitig die Bushaltestelle zu erreichen? Und dann noch weiter zum Bahnhof, weil der Bus nicht kommt und ich doch die U-Bahn nehmen muss. Selbstverständlich habe ich alle Abfahrtszeiten im Kopf. Um 14:52 Uhr fährt der Bus. Bei normalem Verkehr bringt er mich in sieben Minuten zur Haltestelle am Kindergarten. Um 14:57 Uhr fährt die U-Bahn; sie braucht elf Minuten zur selben Haltestelle. Wie Bus und Bahn hat auch der Kindergarten klar geregelte Zeiten: Komme ich nach 15:30 Uhr an, wird mir mein Kind mit Mütze und Schal von einer Erzieherin entgegengeschoben, die mich auf die vereinbarte Abholzeit hinweist. Ich ziehe die Rüge der Pädagogin in jedem Fall einem weinenden Kind auf der Türschwelle des Kindergartens vor. Und entscheide mich gegen fünfzehn Stockwerke im Treppenhaus. Es gibt überall geregelte Abfahrtszeiten in meinem Großstadtleben – außer bei Aufzügen. Und deswegen stehe ich jetzt immer noch hier.

Aufzüge sind die natürlichen Feinde berufstätiger Mütter. Eine Kindergartenmutter hat mir erzählt, dass sie letzten Winter mehrere Stunden in einem Aufzug verbringen musste. Der Lift war zwischen zwei Stockwerken stecken geblieben – abgeschnitten vom Mobilfunknetz. Als sie endlich von einem Servicetechniker aus dem Aufzug befreit worden war, hatte ihre Schwiegermutter den fünfjährigen Jungen schon vom Kindergarten abgeholt. Die Leitung des Kindergartens hatte eine Viertelstunde gewartet. Weder die Kindergartenmutter noch ihr Mann waren telefonisch zu erreichen. Also wurde die Schwiegermutter, deren Telefonnummer zum Glück bei der Leitung für Notfälle hinterlegt worden war, benachrichtigt. Allerdings wohnte sie eine Stunde Autofahrt entfernt. Im Folgemonat wurden dann die Gebühren angehoben. Die Leitung des Kindergartens bestand darauf, einen einstündigen Sicherheitspuffer zwischen geplanter Abholzeit und realer Abholzeit einzubauen.

Ich will mein Kind nicht später abholen, weder geplant noch real. Ich will es jetzt abholen. 14:52 Uhr. Noch einmal drücke ich auf den Nach-unten-Knopf. Schnell kontrolliere ich meine Tasche. Turnschuhe, Sporthose, die blaue Flasche, gefüllt mit Wasser und Saft, ein Apfel. Eine Brezel werde ich noch kaufen, in der Bäckerei gegenüber vom Kindergarten. Endlich kommt der Aufzug, nach fünf Minuten Wartezeit.

Meine Reise aus der Berufstätigkeit ins Leben mit einem dreijährigen Kind beginnt. Ich habe Glück und komme ohne Zwischenstopp in einem anderen Stockwerk am Bürohausausgang an. Und ich weiß: Den Bus habe ich bereits verpasst. Am U-Bahnhof, den ich im Laufschritt erreiche, muss ich wieder warten. Eine Betriebsstörung hat den normalen Fahrplanablauf verändert. 15:07 Uhr. Die nächste U-Bahn kommt, ich steige ein und bleibe neben den Türen in Fahrtrichtung ganz vorne stehen. Um 15:18 Uhr stürze ich aus dem Abteil. Zwei Stufen auf einmal nehmend renne ich die Treppen hinauf zum Ausgang. Für die Rolltreppe bleibt mir keine Zeit, schließlich muss ich noch eine Brezel kaufen. Die Frau in der Bäckerei lächelt mich mitfühlend an, als ich ihr »Eine Brezel, bitte, wenig Salz« entgegenkeuche und eine Handvoll schweißnasser Münzen auf den Tresen lege. Abgezählt natürlich – dafür hatte ich während der U-Bahn-Fahrt ja Zeit.

Ich komme um 15:25 Uhr im Kindergarten an, mit Schweißflecken unter den Armen und völlig außer Atem. Ich weiß, warum ich bei meinem Büro-Outfit in Sachen Schuhe eher auf »Kann ich damit rennen?« achte und nicht auf »Kann ich mich damit sehen lassen?«. Das Gefühl, zu spät zu sein und rennen zu müssen, ist allgegenwärtig in meinem Leben. Seitdem ich eine Mutter bin. Seitdem ich dieses Handicap habe – ein Kind.

»Meine Mama!« Mein Sohn läuft mir entgegen, in Mütze und Jacke. Weil er im Garten gespielt hat, sagt die Erzieherin. Doch an ihrem Blick erkenne ich, dass sie gedanklich bereits auf dem Heimweg ist. Es sind noch zwei andere Kinder da. Beide werden von ihren Müttern erst um Viertel vor fünf abgeholt. Für ihr Wohl reicht eine Betreuungsperson – die Erzieherin meines Kindes hat jetzt Feierabend.

Ich habe noch nicht Feierabend. Meine Arbeitszeit hat zwar vor fünfundvierzig Minuten geendet, doch es stehen noch einige außerberufliche Termine an: Kinderturnen, Abendessen, Kind ins Bett bringen, Haushalt. Und natürlich Partnerschaftspflege.

Ich bin fünfunddreißig und seit drei Jahren Mutter. Seit zwei Jahren bin ich eine berufstätige Mutter, bin ich eine der Frauen in Deutschland zwischen fünfundzwanzig und neunundvierzig, die Kinder haben und eine Arbeit.* Ich arbeite dreißig Stunden pro Woche in dem Büro, in dem ich vor meinem Muttersein Vollzeit gearbeitet habe, kümmere mich um die interne und externe Firmenkommunikation eines großen Medienhauses, wie es so schön heißt. Nach einem Jahr Elternzeit habe ich meine alte Stelle wieder angetreten. Seitdem reagiere ich auf gut gemeinte Sätze aus dem Familien- und Bekanntenkreis wie »Jede Mutter kennt das Gefühl, vom betrieblichen Informationsfluss ausgeschlossen zu sein« oder »Nach der Babypause sehen sich viele Mütter beruflich in einer Sackgasse« anders als früher: Ich habe die Seiten gewechselt, bin von der Sprechenden zu der geworden, über die gesprochen wird. Noch mehr ärgere ich mich darüber, wenn ich höre, dass ich ja »nur Teilzeit« arbeite. Berufstätige Mutter sein ist ein Fulltime-Job.

Mein Kind an der Hand gehe ich vom Kindergarten zur U-Bahn. Um 15:42 Uhr steigen wir ein, drei Minuten später wieder aus. Die Sporthalle ist fünf Minuten von der U-Bahn-Station entfernt. Weil mein Sohn gerade nicht laufen möchte, trage ich ihn. Er schmiegt sich in meinen Arm und spielt mit meinen Haaren. Um 15:53 Uhr kommen wir an der Turnhalle an. In der Umkleidekabine ziehe ich ihm Mütze, Jacke, Schuhe, Hose, Socken, Pullover aus und T-Shirt, Turnhose, Socken, Turnschuhe an. Fertig umgezogen trinkt er noch etwas aus der blauen Flasche. Ich ziehe mich auch um: Turnschuhe statt Slipper; die Jacke meines Hosenanzugs hänge ich an einen Garderobenhaken. Mein Portemonnaie und meine Ohrringe sperre ich in einen kleinen Schrank.

Um 15:59 Uhr betreten wir gemeinsam die Turnhalle. Mein Sohn rennt zu einem großen Korb mit bunten Gymnastikbällen. Es geht los: Ballspielen zum Aufwärmen. Dann werden alle Eltern und Kinder gebeten, einen großen Kreis zu bilden. Während ich mit meinem Sohn an der Hand in die Mitte des Kreises hüpfe und wieder zurück, bemerke ich, dass ich einen Anruf auf meinem Handy erhalte: Es vibriert in meiner Hosentasche. Sechsundachtzig Minuten nach Ende meiner heutigen Arbeitszeit ruft das Büro an, genauer gesagt, eine junge Kollegin. Meine Assistentin.

Die junge Kollegin hat mich während meiner Elternzeit vertreten. Seit meiner Rückkehr arbeitet sie mir zu. Wir teilen uns mein Büro; dort, wo früher eine große Zimmerpflanze stand, steht jetzt ihr Schreibtisch. Es war der Wunsch meines Vorgesetzten, dass sie bleibt und mich unterstützt. Mit einer 30-Stunden-Woche arbeite ich Teilzeit und kann das gesamte Pensum nicht mehr wie früher allein erledigen. Ich habe nun die junge Kollegin als Verstärkung, bin eine Teilzeitkraft mit einer Assistentin.

Die junge Kollegin engagiert sich sehr. Sie bleibt häufig länger im Büro als ich, obwohl sie seit meinem Wiedereinstieg keinen befristeten Vollzeitvertrag mehr hat, sondern einen Jahresvertrag auf Teilzeitbasis, der bereits einmal verlängert wurde. Und sie ist an vielen Tagen schon da, wenn ich morgens um 8:40 Uhr das Büro betrete. Ich arbeite gerne mit ihr zusammen, komme gut klar mit ihr. Es gibt kein Konkurrenzdenken zwischen uns, nicht von meiner Seite. Ich fälle die Entscheidungen, hole aber immer ihre Meinung vorher ein. Denn ich finde, dass sie was kann. Sie kommt frisch von der Uni, ist Mitte zwanzig und hat noch nicht viel Betriebserfahrung. Das macht sie mit Ausdauer wieder wett. Sie sagt nie: »Das habe ich aber noch nie gemacht« und hat mich in meiner Elternzeit passabel vertreten, wie mir die anderen aus der Abteilung erzählt haben.

Heute habe ich die junge Kollegin gar nicht gesehen, weil sie an einer Schulung der IT-Abteilung teilgenommen hat. Die Schulung ist jetzt, um 16:11 Uhr, wohl vorbei. Während ich auf beiden Beinen hüpfe, meinen Sohn an der Hand, gehe ich ans Telefon. »Ich bin’s«, sagt die junge Kollegin. Wir sind per Du. »Ist’s gerade ungünstig?«, fragt sie. Sicher hört sie die vierzig Paar Beine, die zeitversetzt mit mir auf dem Turnhallenboden landen. »Geht schon«, sage ich etwas außer Atem.

Sie informiert mich in wenigen Sätzen darüber, dass der Vorgesetzte sie auf eine Präsentation angesprochen hat, die ich am kommenden Tag abgeben soll, und fragt, ob ich dabei Unterstützung benötige. Ich hüpfe weiter und verneine. Dann ist das Telefonat beendet. Ich schiebe das Handy zurück in meine Hosentasche und hebe meinen Kleinen hoch: Wir drehen uns schnell im Kreis, erst links herum, dann rechts herum.

Mein Vorgesetzter ist Anfang fünfzig. Er ist verheiratet, hat zwei Töchter im Teenageralter. Ihre Fotos stehen auf seinem Schreibtisch. An seinem Geburtstag im Juni bringt er jedes Jahr einen vorzüglichen Rhabarber-Baiser-Kuchen mit ins Büro, gebacken von seiner Frau. Einmal im Jahr fährt er für drei Wochen in Urlaub – meistens nach Österreich zum Wandern. Jedes Mal schickt er an seine Sekretärin eine Postkarte mit herzlichen Grüßen an die gesamte Belegschaft. Wir haben ein gutes Arbeitsverhältnis, nicht sehr persönlich, aber freundlich und auch respektvoll. Ich arbeite seit insgesamt sieben Jahren für ihn, die Elternzeit mitgerechnet. Gleich nach Abschluss meines Studiums habe ich in seiner Abteilung angefangen, mich von der Marketingassistentin zur Projektmanagerin hochgearbeitet.

Heute ist mein Vorgesetzter fünf Minuten vor Dienstschluss in mein Büro gekommen. Ich hatte gerade meinen Computer heruntergefahren. Meine Assistentin war nicht da, wegen der IT-Schulung. Also legte der Vorgesetzte die blaue Mappe auf meinen Schreibtisch. »Sie sind ja noch ein bisschen da. Da können Sie das für mich erledigen. Bis morgen, bitte.«

Das, was ich da für meinen Vorgesetzten erledigen soll, lässt sich aber nicht in fünf Minuten erledigen. In der blauen Mappe ist eine Übersicht aller Projekte, die meine Abteilung im vergangenen Jahr durchgeführt hat. Die Übersicht soll dem Vorstand Ende der Woche präsentiert werden. Eine solche Präsentation kann nicht in ein paar Minuten gestrickt werden. Das weiß mein Vorgesetzter, und ich weiß es auch. Trotzdem habe ich nichts gesagt, als er mir die Unterlagen auf den Tisch gelegt hat, sondern nur genickt. Die blaue Mappe steckt jetzt in meiner Tasche, neben der Flasche, der Brezel und dem Apfel.

Pünktlich um 17:00 Uhr verlassen mein Sohn und ich die Turnhalle, beide mit hochroten Wangen. Die Schweißflecken unter meinen Armen sind mittlerweile handflächengroß – meine Bürobluse ist eher schick als atmungsaktiv. In der Umkleidekabine gibt es Gedränge; die nächste Turngruppe, Mädchen im Teenageralter, hat sich bereits umgezogen. Es kostet mich zweieinhalb Minuten, Schuhe und Mütze meines Sohnes zu finden, die unter den Kleidern der Teenies vergraben liegen. Mein Kleiner möchte etwas trinken. Und die Brezel essen. Vom Apfel aber nur einen Bissen. Nach mehrmaligem Bitten geht er auch mit mir zur Toilette. Um 17:10 Uhr laufen wir los, Richtung U-Bahn. Der Kleine ist müde, ich trage ihn wieder. Die U-Bahn fährt pünktlich um 17:16 Uhr ab; sie ist übervoll – Rushhour. Eine junge Frau bietet mir ihren Sitzplatz an, dankbar setze ich mich und nehme mein Kind auf den Schoß.

Es kommt nicht oft vor, dass jemand freundlich zu mir ist in der U-Bahn oder im Bus, wenn ich mit meinem Sohn unterwegs bin. Ich kenne eine Menge böser Bemerkungen. Die Leute schimpfen, dass ich gerade dann mit einem Kleinkind einsteigen möchte, wenn die U-Bahn am vollsten ist – und auch noch Platz brauche für Kinderwagen, Buggy oder Laufrad. Es passt ihnen ebenso wenig, dass ein Baby schreit oder ihre »Kuckuck!«-Angebote ignoriert. Und so mancher Fahrer schließt die Bustüren so schnell, dass der Kinderwagen eingeklemmt wird. Dann wird wieder geschimpft – die Fahrgäste wollen nicht warten, vor allem nicht auf eine Mutter mit einem Kind. Ich erzähle immer meinem Mann von diesen Erlebnissen, abends, wenn er heimkommt aus dem Büro. Wir schimpfen dann gemeinsam auf die Rücksichtslosigkeit von Busfahrern und U-Bahn-Fahrgästen.

Nach sechs Minuten und zwei Haltestellen ist unsere U-Bahn-Fahrt vorbei. Wir steigen aus. Mein Sohn geht an meiner Hand die Treppe hinauf und sagt, dass er noch rutschen will. Ich willige nach kurzem Überlegen ein, der Spielplatz liegt auf dem Heimweg. Während mein Sohn rutscht, nehme ich um 17:39 Uhr wieder einen Anruf entgegen. Wieder aus dem Büro. Eine der beiden Grafikerinnen, es ist die jüngere, fragt ein wenig gelangweilt nach der Fotoauswahl für die Bebilderung einer Broschüre. Ich höre, wie sie Kaugummi kaut, während sie sagt, dass der Drucktermin vorverlegt worden ist: Schon morgen, Dienstag, zehn Uhr, ist Annahmeschluss. Der Entwurf ist noch nicht vom Vorgesetzten abgesegnet. Ich entscheide schnell. Ich rufe bei der Druckerei an, um mehr Zeit für das Layout der Broschüre zu haben – die Nummer habe ich in meinem Handy eingespeichert. Glücklicherweise erreiche ich meinen Ansprechpartner und vereinbare einen neuen Annahmeschluss. Morgen um 14:30 Uhr müssen alle Druckunterlagen vorliegen.

Mein Sohn rutscht zum vierten Mal, und ich rufe die Grafikerin wieder an. Sie kaut immer noch Kaugummi. Ich nenne ihr den neuen Termin und bitte, dass sie den Entwurf bis elf am kommenden Morgen fertig macht. Ich nenne ihr noch den Speicherort der von mir ausgewählten Fotos und wünsche einen schönen Feierabend.

Ich schiebe das Handy in meine Tasche und gehe zu meinem Sohn, der gerade die Leiter zur Rutsche hochklettert. Eine Nachbarin kommt auf mich zu. Sie hat beobachtet, dass ich sechs Minuten ohne Unterbrechung telefoniert habe. Wahrscheinlich hat es ihr nicht gefallen. Sie zeigt auf eine kleine Schürfwunde auf der Stirn meines Sohnes, die fast vollständig verheilt ist und fragt, wie das passiert ist. Ich sage, dass mein Sohn vergangene Woche im Kindergarten über einen Ball gestolpert ist. Die Nachbarin ist entsetzt. »Bist du da nicht stinksauer auf die Kindergärtnerinnen gewesen, dass die nicht besser aufpassen?«, will sie wissen. Ich schüttle den Kopf. Sage, dass der Kleine auch stolpern kann, wenn ich genau danebenstehe. Hier sind das Verständnis meiner Nachbarin und auch unser Gespräch beendet. Sie sagt, sie würde ihre Kinder nie weggeben, und lässt mich stehen.

Ich würde mein Kind auch nie weggeben, denke ich, verkneife mir aber jeden Kommentar. Ich winke meinem Sohn, der immer noch rutscht, und klopfe Sand von meiner Hose. Ich treibe den Kleinen sanft an, mit mir nach Hause zu gehen. »Noch einmal rutschen, dann gehen wir heim!«, rufe ich. Er rutscht noch dreimal, dann gehen wir wirklich nach Hause.

Kurz vor sechs kommen wir zu Hause an. Während mein Sohn auf dem Küchenboden einen großen Turm aus Lego baut, schäle ich Kartoffeln für eine schnelle Suppe. Dann räume ich den Wäschetrockner aus und sauge Gang, Küche und Bad – nach jedem Spielplatzbesuch verwandelt sich die Wohnung immer in eine Sandwüste. Um 18:10 Uhr decke ich den Tisch für unser Kind, meinen Mann und mich. Zehn Minuten später ist die Suppe fertig. Mein Sohn haut den Lego-Turm um und verteilt die Bausteine überall auf dem Küchenboden. Er möchte Würstchen in die Suppe. Ich habe aber keine Würstchen gekauft. Er murrt, will lieber erst baden und nicht essen. Ich lasse Badewasser für ihn ein und räume die Lego-Steine auf, einigermaßen widerwillig unterstützt von meinem Sohn. Vergnügt klettert er dann in die Badewanne und spielt mit einem Waschlappen, einer Gummiente und einer leeren Shampooflasche. Ich sitze auf der Wäschekiste neben der Wanne und ermahne ihn, nicht zu sehr herumzuspritzen. Ich erkläre ihm, dass ich nicht genügend Zeit habe, ständig alles sauber zu machen.

Gerade, als ich zu einer weiteren Mahnung ansetzen will, sagt er: »Das macht doch die Sofa.«

Mein Sohn hat recht. Ich beschäftige eine Putzfrau, seitdem ich eine berufstätige Mutter bin. Sie heißt nicht wirklich Sofa, sondern Zsófia, ein ungarischer Name, der schwer auszusprechen ist für ein dreijähriges Kind. Die Putzfrau kommt jeden Dienstag und erledigt zwei Stunden lang das, was ich nicht schaffe und mein Mann auch nicht: Bad und Toilette sauber machen, die Bücherregale abstauben, die Böden wischen, ab und zu die Fenster putzen. Am Monatsanfang legt die Putzfrau ihre Rechnung auf den Küchentisch. Ich bezahle immer am selben Tag per Online-Überweisung – weil ich ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber habe. Denn obwohl sie nun schon einige Zeit meine Wohnung putzt, ist das für mich immer noch nicht selbstverständlich. Das fällt mir besonders auf, wenn ich mit anderen darüber spreche.

Ich beteuere dann jedes Mal, dass ich wegen meiner Arbeit nicht mehr genug Zeit für den ganzen Haushalt habe. Auch wenn mein Mann am Wochenende oft einkauft, die Spülmaschine ausräumt und den Müll wegbringt. Ich bin mit Wäsche, Staubsaugen, Einkaufen, Kochen und den anderen täglich zu erledigenden Dingen ganz schön beschäftigt – auch weil ich meinen Sohn nicht vor dem Fernseher parke. Ich verschweige aber konsequent, dass ich nicht nur eine Putzfrau habe, sondern auch meine Büroblusen und die Hemden meines Mannes nicht mehr selbst wasche und bügle. Ich bringe sie in eine Reinigung. Ein Hemd, gewaschen und gebügelt, für 1,60 Euro. Da kann ich nicht mithalten – auch weil mein Ehrgeiz in Sachen messerscharfe Bügelfalten nicht sonderlich ausgeprägt ist.

Ich bin froh, dass ich eine Putzfrau habe. Und ich glaube fest daran, dass ich ihr Leben besser mache, indem ich sie bei uns putzen lasse. Ganz offiziell, mit Rechnung, ohne Umsatzsteuer wegen der Kleinunternehmerregelung. Darauf bestehe ich. Die Steuerkanzlei, die die Einkommensteuererklärungen für meinen Mann und mich erledigt, hat uns darauf hingewiesen, dass es sogar ein finanzieller Vorteil ist, eine Putzfrau zu haben: Ich kann einen Teil der Kosten für sie steuerlich geltend machen. Ebenso wie die Kindergartengebühren. Es beruhigt mich, dass das alles so geregelt ist.

Ich habe der Putzfrau, die ich über die Empfehlung einer Kindergartenmutter gefunden habe, zu Weihnachten Glühwein und Christstollen geschenkt. Ich bin immer sehr freundlich zu ihr – auch wenn wir uns eigentlich so gut wie nichts zu sagen haben. Was hauptsächlich daran liegt, dass sie eben aus Ungarn kommt und ihre Deutschkenntnisse über »Hallo« und »Es ist kalt draußen« kaum hinausgehen. Deswegen und auch, weil ich denke, es ist ihr bestimmt lieber, wenn sie meine Wohnung in Ruhe und ohne Publikum putzen kann, kommt sie morgens, wenn mein Mann schon weg ist und ich mit meinem Sohn zum Kindergarten aufbreche. Ich bin also nie da, wenn sie putzt. Das liegt auch daran, dass ich ihr nicht gerne dabei zusehen möchte, wie sie meine Wohnung putzt. Nicht weil sie putzt, sondern weil ich eben dieses schlechte Gewissen habe. Weil ich es nicht schaffe, selbst zu putzen.

Mein Sohn wringt den nassen Waschlappen am Badewannenrand aus – die Hälfte des Wassers tropft auf den Boden. Ich wische mit einem Handtuch trocken und ermahne ihn, Sofa nicht zu viel Arbeit zu machen.

Eine Bekannte hat kürzlich zu mir gesagt, dass sie keine Putzfrau haben möchte. Sie empfindet eine starke Verbundenheit mit ihrer Wohnung, die sie dadurch am Leben hält, dass sie alles sauber macht. Diese Verbundenheit ist ihr zu wichtig, als dass sie sich beim Wischen und Staubsaugen helfen lassen würde. Ich empfinde wenig Verbundenheit mit meinen fleckigen Armaturen oder meinem sandigen Parkettboden, auch wenn ich sehr gern in meiner Wohnung lebe. Ich meine auch nicht, dass ich es besser könnte, das Putzen – selbst wenn ich die kritischen Stellen besser kenne als eine, die nur einmal pro Woche für zwei Stunden da ist und nicht immer, so wie ich.

Mir ist die Verbundenheit mit meinem Kind wichtiger als die Verbundenheit mit meiner Wohnung. Ich hole meinen Kleinen erst am Nachmittag vom Kindergarten ab. Oft gehen wir dann zum Spielplatz, je nach Jahreszeit zum Schlittenhügel oder ins Schwimmbad. Jeden Montag gehe ich mit ihm zum Turnen. Wir machen Besuche oder setzen uns an den Fluss und werfen Steine ins Wasser. Gegen sieben gibt’s Abendessen, bei dem mein Mann leider nicht immer dabei ist. Danach spielen wir noch, schauen Bücher an oder hören Musik. Oder der Kleine geht in die Badewanne. Wenn er schläft, ist es meistens schon nach acht. Zu spät, um noch Böden zu wischen oder Fenster zu putzen. Und den Samstag zum Putztag zu machen, das widerstrebt mir auch. Ist das Wochenende doch sowieso schon so voll mit Verabredungen, Ausflügen oder Großeinkaufsplänen.

Es gibt also viele Gründe, die dafür sprechen, dass ich eine Putzfrau beschäftige. Und trotzdem habe ich ein schlechtes Gewissen.1

Weil es mir wie ein Systemfehler vorkommt: Für all das, was ich aufgrund meiner Berufstätigkeit nicht mehr machen kann – mein Kind betreuen, das Bad putzen, Blusen bügeln, die Steuererklärung machen –, beschäftige ich jemanden. Und bezahle mit dem Geld, das ich mit meiner Berufstätigkeit verdiene. Nicht mein ganzes Gehalt investiere ich in Putzfrau und Kindergarten. Aber doch einen großen Teil davon.

Kurz vor sieben kommt mein Mann heim – er kommt immer kurz vor sieben, wenn es keinen Stau gibt. Seine Arbeitszeit endet um sechs, mit dem Auto braucht er etwa fünfundvierzig Minuten nach Hause.

»Papa! Ich bin im Bad«, ruft der Kleine, als er meinen Mann an der Tür hört, und ich freue mich auch. Mein Mann kommt zu uns ins Bad und geht dann in die Küche. Er wärmt die Suppe auf. Und fragt auch nach Würstchen. »Die Ente sagt, ich soll Suppe essen«, erklärt mein Sohn.

Ich hebe ihn aus der Badewanne und trockne ihn ab. Wir gehen in die Küche, wo mein Mann am Tisch sitzt und Zeitung liest. Zu dritt essen wir die Suppe, und statt Würstchen tunken wir geröstetes Brot ein. Unser Sohn legt als Erster den Löffel zur Seite und steht auf. Er schiebt ein Auto auf dem Küchenboden herum und gähnt.

»Hast du das gelesen?«, fragt mein Mann. »Die Frau, die ihren Arbeitgeber verklagt hat, weil er sie nicht befördert hat: Sie hat den Prozess gewonnen.«** Er legt mir die Zeitung hin, nimmt unser Kind auf den Arm und geht mit ihm aus der Küche. Ich höre sie im Wohnzimmer, sie werfen sich einen Ball zu. Und lachen dabei laut. Ich sehe auf die Uhr, 19:20 Uhr. Ich nehme die Zeitung und beginne zu lesen.

Eine Juristin hat einen Prozess gegen einen großen Konzern gewonnen, der eine offene Stelle in der Personaldirektion nicht ausgeschrieben, sondern einfach mit einem Mann besetzt hat. Mithilfe einer statistischen Rechnung hat sie nachgewiesen, dass das kein Zufall war. Sie wurde als Abteilungsleiterin übergangen, obwohl sie die Qualifikationen einer Personaldirektorin vorweisen kann.

Eigentlich habe ich gerade Feierabend, wenigstens vom Büro. Aber jetzt denke ich zwangsläufig daran, dass auch ich in den letzten Jahren nicht befördert worden bin. Ich kann mir noch nicht mal vorstellen, dass es in den nächsten zehn Jahren geschieht. Weil ich schlecht verhandelt habe.

Kurz vor dem Ende meiner Elternzeit hatte ich einen Termin mit meinem Vorgesetzten vereinbart. Ich wollte alle Punkte, von der exakten Arbeitszeit über meine Gehaltsvorstellungen bis zu den zehn Krankheitstagen2, die mir zustehen, wenn mein Kind krank wird, durchgehen. Und natürlich wollte ich auch meine Perspektiven besprechen. Bevor ich Mutter geworden bin, habe ich die externen und internen Präsentationen unserer Abteilung eigenverantwortlich betreut. Ich habe ein kleines Budget für Grafik, Webdesign und Bildmaterial verwaltet und konnte aus einem Pool freier Mitarbeiter auswählen, wenn ich bei einzelnen Projekten Unterstützung benötigte. Eine Beförderung, mehr Verantwortung und eine Gehaltserhöhung hätten mir schon vor der Elternzeit zugestanden. Doch als ich dem Vorgesetzten von meiner Schwangerschaft erzählte, wollte er diese »Karriereleiterdinge« auf die Zeit nach der Elternzeit verschieben. Schließlich würde ich fast sechzehn Monate nicht arbeiten, meinte er damals, und man müsse erst mal sehen, ob ich wirklich so schnell wiederkäme, wie ich geplant habe.

Ich kam tatsächlich so schnell wieder, wie ich geplant hatte. Doch bis heute bin ich in Sachen Perspektiven und Beförderung nicht weitergekommen.

Obwohl das Verhältnis zu meinem Vorgesetzten immer angenehm gewesen war, verlief das Gespräch kurz vor meinem Wiedereinstieg eher unangenehm. Ich glaube, er hatte mich längst in eine Schublade gesteckt. Zu all den Müttern, die etwas dazuverdienen wollen, für die Kindergartenkosten und die Putzfrau. Die Sorte berufstätige Mütter, die nicht ernsthaft an Karriere interessiert ist, die bis zum Abitur der Kinder in Teilzeitstellen verharrt und damit zufrieden ist. Als es um mein Gehalt ging, sagte er tatsächlich: »Na, Sie müssen Ihre Familie glücklicherweise nicht ernähren. Das macht ja Ihr Mann.« Ich war entsetzt. Natürlich wusste er, dass ich verheiratet bin. Natürlich wusste er, dass mein Mann einen lukrativen Job hat. Und sicher rechnete er damit, dass ich aufgrund unseres guten Arbeitsverhältnisses wegen einer flapsigen Bemerkung keinen Streit vom Zaun brechen würde. Er hatte Recht. Ich lächelte und sagte nichts. Deswegen arbeite ich heute ein Viertel weniger als früher und verdiene auch ein Viertel weniger als früher. Ich habe keine Zuschüsse, keine Extras und keine Fortbildungen vertraglich vereinbaren können. Ich habe keine berufliche Zukunftsvision für mich geschaffen.

Heute hasse ich mich dafür. Weil ich seitdem eine der Frauen bin, die wegen ihrer Zurückhaltung, ihrer Feigheit, ihrer Höflichkeit bei einer Gehaltsverhandlung schlechter abgeschnitten hat als nötig. Davor hat mich auch das Gesetz nicht bewahren können, das Frauen vor Diskriminierung aufgrund ihres Geschlechts schützen soll. Menschen finden immer Möglichkeiten, andere Menschen kleiner zu machen. Weil die anderen Menschen es zulassen.

Mittlerweile ist es 19:30 Uhr. Im Wohnzimmer ist es still geworden. Mein Mann steht am Fenster, unser Kind auf dem Arm. »Tika ist müde«, sagt der Kleine. »Bist du Tika?«, frage ich. Er nickt. Mein Mann lächelt. »Tika klingt irgendwie nach Tiger, sehr geheimnisvoll«, sagt er. Ich lächle auch. »Tika geht jetzt ins Bett«, sage ich.

Der Kleine umarmt meinen Mann noch einmal und springt dann aufs Fensterbrett. Er streckt mir die Arme entgegen und gähnt. Ich hebe ihn hoch und trage ihn in sein Zimmer. Er nimmt drei Bücher aus dem Regal. Damit legt er sich ins Bett und kuschelt sich an seinen Plüschhasen. »Vorlesen!«

Ich lese Geschichten über kurzsichtige Hexen, wundersame Katzen und ein trauriges Schaf vor. Langsam fallen die Augen meines Kleinen zu. Er dreht sich zur Seite und schläft ein: Ich schaue auf die gelbe Uhr: Es ist kurz nach acht.

Meine Mutter hat diese Uhr gebaut. Sie hat bunten Draht verwendet, Messingstücke und Bernsteine. Das Uhrwerk hat sie, unterstützt von meinem Großvater, der Uhrmacher war, zusammengebaut. Ich muss die Uhr alle zwei Tage aufziehen, dann läuft sie ziemlich genau. Mein Sohn mag die gelbe Uhr – gelb wegen des Messings und der Bernsteine.

Ich habe noch nie eine Uhr gebaut; ich weiß auch gar nicht, wie so etwas geht. Die Liste der Dinge, die ich nicht selbst machen kann, ist lang. Manches davon habe ich nie gelernt, für einiges fehlt mir die Zeit. Vieles davon betrifft auch mein Kind: Ich bastle keine fantasievollen Handpuppen. Ich gehe mit meinem Sohn in den Zoo, verbringe aber nie einen Tag mit ihm auf einem Bauernhof. Und ich backe nur Blechkuchen. Ich kenne Mütter, die die aufwändigsten Indianergewänder und Tierverkleidungen für ihre Kinder nähen. Die abfällig über Freibäder reden – weil der Besuch eines Weihers mitten im Wald pädagogisch sinnvoller ist, wegen der Natur und damit kein Chlorwasser an die empfindliche Kinderhaut kommt. Diese Mütter backen mehrstöckige Geburtstagskuchen, wahre Kunstwerke in Form von Zügen, Piratenschiffen, Märchenschlössern, erstklassig mit weißer oder brauner Bioschokolade überzogen, auf der vegane Smarties in Reih und Glied kleben. Sie fördern ihre Kinder von früh bis spät – mit Bambinischwimmen, musikalischer Früherziehung, kreativem Kindertanz und English Lessons for Toddlers. Die wenigsten dieser Mütter sind berufstätig. Ihre Kinder geben sie frühestens zum Kindergarten aus der Hand, am liebsten erst im Jahr vor der Einschulung. Im schlimmsten Fall entwickeln sie sich zu Hockey-Moms à la Sarah Palin – allerdings in der Regel ohne die problematische politische Orientierung.

Eine dieser Mütter ist die Nachbarin, die mich heute Nachmittag auf dem Spielplatz angesprochen hat. Sie hat zwei Kinder, fünf und dreizehn Jahre alt. Sie hat ihr Studium nicht abgeschlossen. Sie hat nie in ihrem Beruf gearbeitet – und sie hat es auch nicht vor, wie sie mir mal gesagt hat. Weil ja dann ihre Kinder auf der Strecke blieben. Dass sie meine Berufstätigkeit missbilligt, zeigt sie ziemlich offen.

Ich schaue wieder auf die gelbe Uhr – gleich Viertel nach acht. Ich sitze immer noch am Bett meines Kindes, lausche seinen Atemzügen und fühle mich müde. Zu gerne würde ich jetzt auch einschlafen, mich neben den Kleinen legen und einfach die Augen schließen. Doch da steckt ja noch eine Mappe in meiner Tasche – Büroarbeit. Von wegen Feierabend. Also stehe ich auf und gehe in die Küche. Mein Mann hat aufgeräumt, die Spülmaschine angeschaltet und liest Zeitung.

»Wie kam er denn auf Tika?«, frage ich. »Dreijährigenfantasie«, sagt er. »Mir gefällt’s.« »Mir auch«, sage ich. Dann schenke ich uns ein Glas Wein ein. »Wie kann ich etwas, für das ich normalerweise drei Stunden brauche, in dreißig Minuten fertig kriegen?«, frage ich meinen Mann. Er nimmt mich in die Arme. »Indem du es einfach machst.«

Ich bin geübt darin, zu wenig Zeit für eine Aufgabe zu haben. Mein üblicher Trick ist es, voll auf Effizienz zu setzen. Ich vermeide Dinge wie ein kurzes Gespräch am Kaffeeautomaten mit einer Kollegin ebenso wie allzu ausschweifende Eingangsfloskeln bei Telefonaten. Doch hier, zu Hause, habe ich keinen Kaffeeautomaten, sondern eine Wohnküche. In der ich nicht auf eine Kollegin treffe, sondern auf meinen Mann. Mit dem ich gerne lange Gespräche führe.

Es ist erstaunlich: Ich habe nicht nur ein Berufsleben und ein Mutterleben, sondern auch ein Privatleben. Ich führe eine glückliche Beziehung, schon seit Jahren. Die aber auch gepflegt werden möchte. Die mit eigenen Bedürfnissen daherkommt. Das lasse ich aber meistens unter den Tisch fallen. Ich lebe mein Traumleben. Gemeinsam mit einem Partner, der mich versteht, und einem Kind, das ich mir immer gewünscht habe. Ich habe einen Beruf, der mich interessiert. Doch meistens fehlt mir die Zeit, mich wirklich über all das zu freuen. An manchen Tagen vergesse ich fast, dass ich glücklich bin, in meiner Beziehung und mit meinem Kind. Ich vergesse es, weil ich so atemlos bin. Und gehetzt.

Es ist 20:25 Uhr. Ich lege mein Handy neben den Laptop und hole die blaue Mappe aus meiner Tasche. Ich gehe die einzelnen Seiten durch und beginne, die Präsentation für meinen Vorgesetzten zusammenzustellen. Als ich um 23:35 Uhr ins Bett gehe, liegt mein Mann schon auf seiner Seite und schläft. Ich lege mich dazu, kann aber nicht einschlafen, obwohl ich sehr müde bin. Ich bin unruhig, gehe mit geschlossenen Augen die Seiten der Präsentation noch einmal durch.

Ich wälze mich hin und her. 23:45 Uhr. Vor siebzehn Stunden bin ich vom Klingeln des Weckers aufgewacht, sehr müde, weil die Nacht von Sonntag auf Montag vom Husten meines Sohnes durchbrochen worden war. Weil ich am frühen Abend schon müde war, bin ich kurz nach neun schlafen gegangen. Meine Schicht am Bett des Kleinen begann dann um Mitternacht: Um kurz nach zwölf, um Viertel nach zwei und um halb fünf habe ich gestreichelt, Hustensaft gegeben oder einen Schluck Wasser. Trotzdem habe ich ihn heute pünktlich im Kindergarten verabschiedet – mit schlechtem Gewissen wegen des Hustens. Doch ich muss gut haushalten mit den Tagen, die ich wegen meines kranken Kindes zu Hause bleiben kann. Es sind nur zehn.

Im letzten Jahr, dem ersten Berufsjahr nach der Elternzeit, haben diese zehn Tage ausgereicht. Ich bin an insgesamt acht Tagen völlig ohne schlechtes Gewissen zu Hause geblieben und habe mich ausschließlich meinem kranken Kind gewidmet: einmal wegen Bindehautentzündung, zweimal wegen Magen-Darm-Infekt. Ich habe mich vor dem Besuch des Kinderarztes vom Büro abgemeldet und danach noch einmal, das Handy ausgeschaltet und auch keine E-Mails gelesen. Ich war nur daran interessiert, meinem Sohn das Kranksein so angenehm wie möglich zu gestalten. Und ihn gesund zu pflegen. Zum Glück bin ich selbst in den letzten zwei Jahren nicht krank geworden, von kleinen Erkältungen mal abgesehen. Paracetamol sei Dank habe ich es bislang immer geschafft zu funktionieren. Und mich am Wochenende, unterstützt von meinem Mann, erholt.

23:55 Uhr. Ich drehe mich von der einen auf die andere Seite und betrachte meinen schlafenden Mann. Er hat zwei Monate Elternzeit genommen, als ich wieder angefangen habe zu arbeiten. In dieser Zeit hatte unser Sohn die Hand-Fuß-Mund-Krankheit und eine Erkältung. Diese ewigen Krankheiten. Es ist noch nicht mal Mai, und ich musste schon neun Tage wegen diverser Erkältungen mit meinem kranken Kind zu Hause bleiben. Neben weiteren Erkältungen werden irgendwann trotz aller Impfungen auch die großen Kinderkrankheiten kommen: Windpocken, Röteln, Mumps, Scharlach – hoffentlich nicht alle in diesem Jahr. Da werden meine zehn Tage nicht ausreichen, allein bei Windpocken rechne ich mit vierzehn Tagen Quarantäne. Und meine Urlaubstage sind natürlich auch schon verplant.

Mein Mann atmet schwer. Vielleicht träumt er. In diesem Jahr muss er sein Kontingent an Kinderbetreuungstagen anbrechen. Das hat er bisher noch nicht gemacht, weil er sagt, es würde mir leichter fallen, einen Tag oder zwei nicht ins Büro zu gehen. Ich habe ihm bislang zugestimmt, bin mir aber inzwischen nicht mehr sicher, ob er wirklich Recht hat. Tatsächlich arbeite ich dreißig Stunden in der Woche und er vierzig. Verbringe ich einen Tag am Krankenbett meines Sohnes, versäume ich sechs Stunden Arbeitszeit, bei ihm wären es acht Stunden. Plus Mittagspause, die er in der Betriebskantine verbringt. Er verpasst faktisch pro Tag 8,75 Stunden Bürozeit, wenn er unser krankes Kind pflegt.

Mitternacht. Ich drehe mich auf den Rücken. In nicht mal sieben Stunden klingelt der Wecker. Diese Woche gibt es keine Frühtermine, hat mein Mann beim Abendessen gesagt. Ich bin froh, weil Meetings um acht sehr viel Unruhe in einen normalen Tagesablauf bringen. Das habe ich in den letzten Wochen gemerkt, als mein Mann häufig zu Terminen sehr früh am Morgen musste. Seine Firma, ein großer Automobilkonzern, steht kurz vor der Fertigstellung einer neuen Limousine. Deshalb war mein Mann in der vergangenen Woche bei zwei Acht-Uhr-Terminen und einem Businesslunch mit seinem Abteilungsleiter.

Mein Magen knurrt. Was habe ich heute gegessen? Kartoffelsuppe am Abend, Frühstück und das Pausenbrot am Schreibtisch. Zwischendurch eine Banane. Da es in meiner Firma keine Kantine gibt, fällt ein tägliches Mittagessengehen für mich aus. Weder zeitlich – die meisten besuchen ein italienisches Restaurant, das zwei Straßen entfernt ist, sie sind mit Hin- und Rückweg etwa eine Stunde außer Haus – noch finanziell. Trotz wechselnder Mittagstischangebote kostet ein warmes Gericht plus Getränk in diesem Restaurant um die 13,00 Euro. Es gibt Betriebe, die das Mittagessen ihrer Angestellten bezuschussen, ebenso wie sie Fahrtgeld zahlen oder Werkswohnungen stellen. Ich weiß nicht, ob das in meiner Firma üblich ist. Ich weiß nur, dass ich keinen Mittagessenzuschuss bekomme. Weil ich schlecht verhandelt habe.

Mein Magen beruhigt sich wieder. Ich überdenke kurz meinen Tag. Einiges kann ich abhaken: das Telefonat mit der Putzfrau auf dem Weg ins Büro, meine Arbeit. Ich war rechtzeitig im Kindergarten und pünktlich mit dem Kleinen beim Turnunterricht. Eine Kartoffelsuppe zu kochen habe ich auch geschafft. Leider ohne Würstchen. Die Präsentation für meinen Vorgesetzten habe ich zusammengestellt, während mein Mann lange mit einem alten Schulfreund telefoniert und eine Talkshow im Fernsehen angesehen hat. Nichts ist liegen geblieben. Sogar den Wäschetrockner habe ich ausgeräumt.

Worauf ich aber gar nicht stolz bin, ist, dass ich den ganzen Tag so atemlos war. Dass ich den Kleinen ständig angetrieben habe, am Morgen auf dem Weg in den Kindergarten, am Nachmittag zum Turnen und danach wieder nach Hause. Dass ich meinem Mann ständig ins Wort gefallen bin, beim Frühstück, zwischendurch am Telefon und auch am Abend. Mein Mann sagt, dass es ihn ärgert, wenn ich ihn unterbreche und seine Sätze vervollständige. Vor allem wenn ich in die falsche Richtung komplettiere. Ich glaube aber, dass es Zeit spart, nicht zu ausführlich zu sein, sondern abzukürzen.

Oft fühle ich mich, als wäre ich nur eine Abkürzung meines wahren Ich. So als würde ich aus vielen farbigen Mosaiksteinen bestehen, hätte aber aus Zeitgründen auf einige verzichtet, sodass jetzt Teile von mir fehlen. Dieses Gefühl übertrage ich dann auf mein Umfeld, und natürlich bekommen mein Mann und unser Kind am meisten davon mit.

Ich drehe mich wieder zur Seite. 0:10 Uhr. Immer noch kein Schlaf möglich. Dabei ist doch jetzt Zeit dafür, Zeit, die mir so oft fehlt. Ich kann mich nicht erinnern, immer schon unter Zeitnot gelitten zu haben. Langsam gesprochen habe ich wohl nie. Aber es gibt Kinderfotos von mir, auf denen ich im Garten sitze und nichts Erkennbares tue. Und dabei nicht unglücklich aussehe. Auch als Studentin habe ich oft aus dem Fenster der Institutsbibliothek gesehen, einfach nur um des Rausschauens willen. So etwas kann ich mir heute nicht mehr vorstellen. Wenn ich im Bus sitze, jeden Tag insgesamt eine Viertelstunde zwischen Büro und Kindergarten, gehe ich meinen Terminkalender durch, führe Telefonate oder vereinbare Arzttermine – das geht ja alles mit dem Handy. An manchen Tagen trinke ich auch einen Cappuccino, den ich mir in der Bäckerei gegenüber vom Kindergarten geholt habe. War der Morgen so hektisch, dass keine Zeit für ein Frühstück geblieben ist, esse ich ein Croissant im Bus. Und aus dem Fenster schaue ich nur, um zu sehen, ob es regnet und ich dem Kleinen Gummistiefel und Regenjacke anziehen muss.

Als mein Sohn noch kleiner war, erst ein paar Monate alt, war das anders. Da stand ich oft am Fenster mit ihm, so wie mein Mann heute Abend. Ich hielt mein Baby fest im Arm und erzählte ihm, was ich sah, dort draußen, auf der anderen Seite der Glasscheibe. Himmel, Wolken, Bäume, Häuser. Manchmal habe ich auch etwas erzählt, das ich mir spontan ausgedacht habe: dass ein Drache vorbeifliegt oder ein Heißluftballon. Das mache ich heute fast gar nicht mehr. Obwohl ich meinem Sohn auch jetzt noch ausgedachte Geschichten erzähle. Aber eben nur ab und zu.

Und es gibt nach wie vor Momente, in denen ich tagträume. An Sonnentagen, auf dem Spielplatz, da gelingt es mir. In den Minuten, in denen der Kleine zufrieden im Sand gräbt, stelle ich mir gerne vor, wie gut ich mich fühlen werde, wenn ich endlich Ferien habe. Urlaub am Meer. Mit viel Sandstrand. Da kann mein Sohn in Badehose graben. Immer wenn ich mich durch meinen Handykalender klicke, bleibe ich bei dem Monat mit den Ferien hängen. Zwei Wochen Elba. Die ganze Familie.

0:15 Uhr. Ich drehe mich noch einmal auf die andere Seite und betrachte wieder meinen schlafenden Mann. Aus dem Kinderzimmer höre ich Husten. Ich lausche, doch mein Sohn beruhigt sich von allein. Ich bin froh. Eine zweite Nacht wie die vergangene würde mich ganz schön fertigmachen. Obwohl man ihn mir wohl nicht ansieht, den dauernden Schlafmangel. Ein Kollege hat mich erst letzte Woche angesprochen, am Morgen nach einem sonnigen Nachmittag auf dem Spielplatz: »Du hast ja richtig Farbe. Urlaub to go oder was?« Ich habe einfach nur freundlich gelächelt. Denn wie Urlaub kommt es mir nicht vor, wenn ich mit meinem Kleinen auf dem Spielplatz bin. Aber auch nicht wie Arbeit. Sie sind schwer zu beschreiben, diese beiden Gefühle, die ich gleichzeitig empfinde. Einmal ist es sehr schön, wie die Zeit verrinnt. Ich bin mit meinem Sohn zusammen und muss gerade mal nirgendwo hinrennen. Laufe nicht Gefahr, zu spät zu kommen. Andererseits erscheint mir die Zeit auf dem Spielplatz auch als Zeitverschwendung. Was könnte ich alles erledigen in diesen Stunden: Diese E-Mail beantworten, jenes Angebot überdenken oder einfach nur in Ruhe die Wäsche zusammenlegen. Keines der beiden Gefühle überwiegt. Deshalb stört es mich auch, wenn mein Handy klingelt. Ich beantworte aber trotzdem jeden Anruf. Das Handy klingelt fast immer am Nachmittag: Die junge Kollegin braucht meine Meinung, eine Grafikerin fragt nach einem Entwurf, die Sekretärin des Vorgesetzten möchte einen Termin abstimmen. Eigentlich endet meine Arbeitszeit jeden Tag um 14:45 Uhr. Wenn ich später auf dem Spielplatz eine Frage beantworte, werde ich dafür nicht extra bezahlt. Und doch gehen meine Kolleginnen und Kollegen ganz selbstverständlich davon aus, dass ich verfügbar bin. Dass ich weiterarbeite, nachdem ich das Büro verlassen habe. Ohne Bezahlung. Auch hier habe ich schlecht verhandelt.

Es tröstet mich nicht, dass andere Frauen ebenfalls schlecht verhandeln – auch nicht, wenn es die sind, die kein Kind haben. Die junge Kollegin hat mir neulich von ihrem Einstellungsgespräch erzählt. Besonders in Erinnerung ist ihr der Satz »Sie haben also Germanistik studiert« geblieben. Damit hat unser Vorgesetzter die Gehaltsverhandlung eingeläutet. Dass sie Germanistik studiert und ihr Studium mit einem Bachelor beendet hat, steht auch in ihrem Lebenslauf. Was der Vorgesetzte nicht ausgesprochen, aber durchaus gemeint hat, so die junge Kollegin, ist: Und Sie wollen sich in einer Marketingabteilung bewerben. Als Bücherwurm. Also hat sie sich beim nächsten Punkt beeilt. Als der Vorgesetzte sagte, in ihrem Lebenslauf würden keine Kinder erwähnt, hat sie genickt und gesagt, sie sei Single. Ohne Kinder. Und so solle es bleiben.

Auch wenn unser Vorgesetzter selbst zwei Töchter hat, sind die Kinder seiner Angestellten für ihn doch hauptsächlich unbequem. Bei mir beispielsweise: Jeden Tag kann es sein, dass ich ausfalle. Besonders Kindergartenkinder werden ständig krank – eine Erkältung hier, ein Magen-Darm-Infekt da. Ich kann keine Überstunden machen. Ich muss jeden Tag pünktlich ausstempeln, kann meine Arbeitszeit kaum um ein paar Minuten überziehen. Ich stehe für außerplanmäßige Termine nicht zur Verfügung. Und wenn mein Sohn dann zur Schule geht, kommen auch noch zwölf Wochen Schulferien auf meine Handicap-Liste.

All das weiß der Vorgesetzte. Auch wenn er es mir niemals vorwerfen würde. Ich gehe jeden Tag mit einem schlechten Gewissen ins Büro, weil ich nicht genügend Dankbarkeit zeige für ein Unternehmen, das mir doch so viel zugesteht. Ich drehe mich ein letztes Mal auf die andere Seite. Um 0:20 Uhr schließe ich die Augen und denke noch: Hoffentlich hustet Tika nicht mehr.

* Nachzulesen in einer Studie zur Erwerbstätigenquote, veröffentlicht von Statista: 72 Prozent der Mütter im Alter von fünfundzwanzig bis neunundvierzig Jahren mit Kindern unter fünfundzwanzig Jahren haben in Deutschland im Jahr 2009 gearbeitet.

** Wegen Diskriminierung hat sich eine Mitarbeiterin der Verwertungsgesellschaft Gema eine Entschädigung in Höhe von 20.000 Euro erstritten. Sie fühlte sich bei einer Beförderung wegen ihres Geschlechts übergangen und klagte aufgrund des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes. Den Beweis für die Benachteiligung erbrachte sie mithilfe der Statistik.