MONTAG
Ich schrecke vom Klingeln
meines Handys hoch. 5:15 Uhr. Meine Mutter? Als ich das Telefon in
der Hand halte, verstehe ich, dass es nicht klingelt, weil ich
angerufen werde. Sondern weil ich heute früher aufwachen wollte. Um
meinen Mann zu verabschieden, der in einer Viertelstunde ins Taxi
zum Flughafen steigt. Deshalb habe ich gestern Abend die
Weckfunktion aktiviert. Ich schalte das Handy aus und brauche einen
kurzen Moment, um mich zu orientieren. Montag, meine Mutter, das
Krankenhaus, mein Mann, die Dienstreise, mein Kind, der
Kindergarten, der Streik, das Büro. Ich bin überrascht, dass ich
geschlafen habe. In der Nacht vor diesem Tag.
Mein Mann ist schon auf, ich höre ihn im Bad. Ich bleibe im Bett liegen und versuche, wach zu werden. Dabei schlafe ich ein, wache wieder auf, als mein Mann mir einen Kuss auf die Wange gibt. »Das Taxi ist da«, sagt er. »Gute Reise«, murmle ich schlaftrunken. Als Nächstes höre ich meinen Sohn. Es ist 6:40 Uhr. Er klettert zu mir ins Bett. »Gehen wir heute in den Kindergarten?«, fragt er mich. »Nein«, sage ich. Und Guten Morgen. »Wir gehen heute zusammen in mein Büro.« Ich nehme ihn in den Arm. »Aber vorher trinkst du einen warmen Kakao.« Mein Sohn schaut mich an. »Wo ist denn der Papa?« Ich gebe ihm einen Kuss. »Der Papa muss mit dem Flugzeug ins Büro fliegen. Und kommt erst in ein paar Tagen wieder.« Der Kleine nickt. Er fragt, ob mein Mann ihm ein Geschenk mitbringt. Bestimmt, ein großes, sage ich.
Es ist ein fast normaler Morgen: Ich ziehe meinen Sohn an und bereite das Frühstück vor. Wir frühstücken zu zweit. Mein Sohn trödelt mit den Cornflakes. Als ich ihn ermahne, sagt er: »Ich muss telefonieren. Mit dem Büro.« Und hält sich den Löffel wie ein Telefon ans Ohr. »Du sollst nicht telefonieren«, sage ich und gebe ihm einen Kuss auf die Wange.
Ich gehe ins Bad. Unter der Dusche sage ich zehnmal: »Im Kindergarten wird gestreikt. Deshalb ist mein Sohn heute hier bei mir.« Beim Haareföhnen wiederhole ich das noch dreimal.
Ich packe eine DVD, ein Puzzle, einen kleinen Bagger und zwei Kipplaster für meinen Sohn in die Tasche. Pünktlich um 8:15 Uhr verlassen wir die Wohnung. Wir gehen denselben Weg wie jeden Morgen, doch diesmal biegen wir nicht ab, um zum Kindergarten zu laufen, sondern steuern direkt auf die Bushaltestelle zu. »Gehen wir heute in den Kindergarten?«, fragt mein Sohn wieder. »Nein. Der Kindergarten ist heute zu. Wir gehen heute zusammen in mein Büro«, sage ich.
Der Kleine hüpft. Er ist vergnügt und hält meine Hand fest. Mit der anderen Hand trägt er seinen Plüschhasen. Wir haben Zeit, hüpfen ein paar Schritte zusammen und gehen dann ganz langsam weiter. Wir haben so viel Zeit – selbst eine Stocksuche wäre kein Problem. Doch heute interessiert sich mein Sohn nicht für Stöcke.
Um 8:29 Uhr steigen wir in den Bus. Mein Sohn will am Fenster sitzen. Der Bus füllt sich mit jeder Station. Ich sehe Gesichter, die müde sind. Ein Mann versteckt sich hinter einer Zeitung, eine Frau isst hastig eine belegte Semmel. Der Kleine kommentiert die Fahrgäste und das, was er durchs Fenster sieht: einen Krankenwagen, ein Taxi, eine Frau mit einem Kinderwagen, einen Mann auf einem Fahrrad. Der Bus hält am Bürogebäude an. Viele Leute stehen an der Haltestelle. Sie drängen in den Bus, als sich die Türen öffnen. »Dürfen wir bitte erst aussteigen«, sage ich laut und bahne mir einen Weg zur Tür. Den Kleinen habe ich auf den Arm genommen.
Die Ampel ist rot. Mein Sohn drückt auf den Knopf, kurz darauf wird die Ampel grün. Wir gehen über die Straße auf das Bürohaus zu. Am Empfang zeige ich meinen Ausweis und bitte den Pförtner, das Drehkreuz für mich und meinen Sohn zu öffnen. Dann stehen wir an den Aufzügen. »Tika will drücken.« Ich hebe ihn hoch, damit er den Nach-oben-Knopf erreichen kann. Es ist 8:33 Uhr. Eine Frau stellt sich zu uns, ich kenne sie vom Sehen, sie ist aus der Honorarabteilung. »Guten Morgen«, sage ich. Die Frau hält für einen ganz kurzen Moment inne, als sie den Kleinen neben mir sieht. Ich lächle sie an. Premiere: »Im Kindergarten wird gestreikt. Deshalb ist mein Sohn heute hier bei mir.« »Na, dann wünsche ich euch viel Spaß bei Mamas Arbeit«, sagt die Frau und lächelt meinen Sohn an. Der Aufzug kommt, wir steigen ein. Wieder will Tika auf den Knopf drücken. Ich hebe ihn hoch, damit er die Fünfzehn erreichen kann. »Und Sie?«, frage ich die Frau. »Zehnter Stock«, sagt sie freundlich. Tika drückt auch auf die Zehn.
Oben angekommen steuere ich als Erstes auf das Büro des Vorgesetzten zu. Er kommt erst in knapp dreißig Minuten. »Wie immer«, sagt seine Sekretärin. »Dann gebe ich Ihnen schon mal Bescheid«, sage ich. »Im Kindergarten wird gestreikt. Deshalb ist mein Sohn heute hier bei mir.« Ich lege meine Hände auf seine Schultern. Die Sekretärin nickt.
»Wie heißt du denn?«, fragt sie den Kleinen. Er wartet kurz und sagt dann: »Tika.« »Ah, Dietmar. So heißt mein Vater auch.« Sie fragt weiter. »Und wie heißt dein Hase?« Er schweigt. »Magst du was malen? Ich habe großes Papier und ganz dicke Stifte«, sagt sie dann. Er nickt. Sie holt mehrere Bogen DIN-A3-Papier aus einer Schublade und reicht ihm Textmarker in verschiedenen Farben. »Bis später«, sagt sie. »Ja, bis später«, sage ich.
Die nächste Station ist mein Büro. Die junge Kollegin sitzt bereits an ihrem Schreibtisch. Als wir vor ihr stehen, schaut sie überrascht. »Ja, hallo«, sagt sie. »Wer bist denn du?« Ich stelle ihr meinen Sohn vor und sage dann: »Im Kindergarten wird gestreikt. Deshalb ist mein Sohn heute hier bei mir.« Sie korrigiert mich. »Bei uns.« Dann sagt sie zu ihm, dass sie sich freut über seinen Besuch. Der Kleine sagt nichts. Er hält meine Hand fest und weicht keinen Zentimeter von meiner Seite.
Ich ziehe ihm die Jacke aus und hänge sie neben meine an den Garderobenständer. »Jetzt holen wir mal einen Stuhl für dich«, sage ich und nehme ihn wieder an der Hand. »Und für den Hasen«, sagt er. Wir gehen zur Teeküche. Dort holt sich die ältere Grafikerin einen Kaffee aus dem Automaten. »Guten Morgen«, sage ich. »Im Kindergarten wird gestreikt. Deshalb ist mein Sohn heute hier bei mir.« Die Grafikerin zwinkert ihm zu. »Na, dann wünsche ich euch nicht nur einen guten Morgen, sondern auch einen guten Tag hier«, sagt sie und wendet sich an mein Kind. »Wenn du später Lust hast, mit mir ein paar Fotos anzuschauen, komm vorbei. Ich hab ein paar tolle Bilder von Hubschraubern und Feuerwehrautos.« Er sagt nichts, hält meine Hand fest und drückt den Plüschhasen an seine Brust. »Gute Idee«, sage ich. Dann nehme ich einen Stuhl aus dem Abstellraum hinter der Teeküche. Wir bringen ihn zu zweit in mein Büro: Mein Sohn hält ein Stuhlbein, ich trage den Rest.
In meinem Büro hat die junge Kollegin ein kleines Büfett aufgebaut mit Reiswaffeln, Crackern und Rosinen. »Die habe ich immer in der Tasche«, sagt sie erklärend. »Weil mir dauernd schlecht ist.« Sie lächelt. Ich auch. Das Wochenende hat ihr gutgetan, denke ich. Mein Sohn nimmt sich einen Cracker und setzt sich auf den Stuhl, den ich ihm an meinen Schreibtisch geschoben habe. Neben ihm sitzt der Plüschhase. Er nimmt Papier und Stifte von der Sekretärin und fängt an zu malen. »Ich male ein Bild für die Oma«, sagt er. Ich setze mich auch an den Tisch und drücke ihm einen Kuss auf die Wange. Dann fahre ich meinen Computer hoch. Während ich meinen Posteingang kontrolliere, malt er. Und holt sich noch einen Cracker und eine Handvoll Rosinen.
Ich habe Glück: Heute stehen keine Termine an. Der wichtigste Punkt ist die neue Präsentation, die ich am Freitag auf den Tisch des Vorgesetzten gelegt habe. Wenn er mir die Freigabe gibt, kann ich sie im hausinternen Copyshop vervielfältigen und binden lassen. Die Rechnung an die Druckerei habe ich auch schon weitergeleitet – ein ruhiger Tag also.
Die nächsten zwei Stunden verlaufen problemlos: Ich sortiere einige Angebote von Fotografen, die sich mit ihren Bildern bei mir bewerben. Einige der Fotos zeige ich meinem Sohn, es sind Aufnahmen von Wellen und Palmen, die ihm gut gefallen. Die ältere Grafikerin kommt vorbei und fragt den Kleinen, ob er ihre Fotos von Baggern, Kränen und Lastwägen sehen möchte. Er geht mit und kommt erst zwanzig Minuten später wieder mit ihr zurück. Als ich ihn frage, ob ihm die Fotos gefallen haben, nickt er. »Besonders mochte er ein Bild von einem Bagger, der ein Haus abreißt«, sagt die ältere Grafikerin. Nach dem kleinen Ausflug möchte mein Kind auf meinem Schoß sitzen. Ich nehme einen Anruf der Sekretärin des Vorgesetzten entgegen – Freigabe für die Präsentation.
Zwanzig Kopien der Präsentation werden gebraucht – eigentlich könnte ich das telefonisch im Copyshop bestellen. Aber ich glaube, Kopierapparate und Bindemaschinen könnten meinem Kind gefallen. Wir fahren mit dem Aufzug in den ersten Stock, das Layout der Präsentation habe ich auf einer Flashcard dabei. Es ist nicht viel los im Copyshop. Die zwei Mitarbeiter freuen sich über Abwechslung. Während der eine meinen Auftrag erledigt, hilft der andere meinem Sohn, Bilder aus einer älteren Broschüre auszuschneiden – schon wieder Bagger! – und auf ein weißes Papier aufzukleben. Von der Collage wird dann eine Farbkopie gemacht, die zum Deckblatt seines neuen Malbuchs wird: Vorne drauf Baumaschinen, innen drin leere Blätter in den Farben des Regenbogens. Mein Sohn ist begeistert und besteht darauf, sein neues Malbuch selbst zu tragen. Ich nehme zwei Exemplare der kopierten und gebundenen Präsentation in Empfang, die restlichen Kopien werden per Hauspost direkt ins Büro des Vorgesetzten geliefert. Wir bedanken uns bei den Mitarbeitern des Copyshops. Dann gehen wir zum Aufzug und fahren zurück in den fünfzehnten Stock zu meinem Büro.
Mittagspause, beschließe ich. Aber diesmal richtig! Ich frage die junge Kollegin, ob sie uns zum Italiener begleiten möchte. Sie lehnt ab, meint, Essen sei gerade nicht so gut. Mein Sohn und ich fahren mit dem Aufzug nach unten und laufen zu dem italienischen Restaurant zwei Straßen weiter. Wir sind die Ersten aus meiner Abteilung. Was mich erleichtert. Bis jetzt ist alles wirklich großartig verlaufen. Aber ich brauche eine kleine Pause von meinen Adrenalinschüben.
Wir bestellen Nudeln, Pizzabrot, Salat und Apfelschorle. Der Kellner bringt die Getränke. Tika will auf meinen Schoß. Ich kann ihn verstehen: So viele neue Eindrücke und Gesichter, so viel ist fremd, laut, anders. Er bleibt auf meinem Schoß sitzen, bis das Essen kommt. Dann rutscht er auf seinen Stuhl, den ich mit drei Polstern ausgestattet habe, damit er wenigstens einigermaßen an den Tisch kommt. Denn natürlich gibt es in diesem Restaurant keinen Hochstuhl – es ist ja auch ein typisches Businesslunchlokal.
»Magst du noch ein Eis?«, frage ich den Kleinen nach dem Essen. Er nickt. Ich bestelle eine Kugel Schokoladeneis für ihn und einen Espresso für mich. »Wir müssen dann noch mal ins Büro«, sage ich zu ihm. Er nickt wieder. Schaut mich derart ernst an, dass ich eigentlich sofort mit ihm nach Hause rennen möchte, fliehen will aus diesem seltsamen Dasein, in dem Bürotätigkeiten so wichtig sind. Ich ziehe ihn noch einmal auf meinen Schoß und flüstere ihm ins Ohr, dass ich sehr stolz auf ihn bin. Und dass wir es bald geschafft haben im Büro. Er kuschelt sich in meinen Arm. Dann zahle ich. Nach einem kurzen Toilettenbesuch gehen wir Hand in Hand wieder zurück.
Ich lasse ihn das Tempo bestimmen, aber obwohl er könnte, trödelt er nicht. Und hält auch nach keinem Stock Ausschau. Die beiden Grafikerinnen kommen uns auf halber Strecke entgegen. »Na, was könnt ihr uns denn empfehlen?«, fragt die ältere und lächelt. »Die Pasta von der Tageskarte war gut«, sage ich. »Und du«, sagt sie zu meinem Sohn. »Hast du ein Eis gekriegt?« Er nickt. »Gut«, sagt sie. Die junge Grafikerin holt einen Kaugummi aus ihrer Jackentasche und zeigt ihn meinem Sohn. »Magst du den?« Er nimmt den Kaugummi. Sagt nichts. Ich bedanke mich und meine, dass wir uns ja gleich wiedersehen. Dann gehen wir weiter.
Ich erkläre dem Kind, dass die eine Frau eine Tochter hat (die ältere mit den weißen Haaren) und dass die andere immer Kaugummi kaut (die jüngere mit der Brille). Er hört schon zu, wirkt aber in seine eigenen Gedanken vertieft. Vor dem Aufzug hebe ich ihn hoch, damit er auf den Nach-oben-Knopf drücken kann. Und im Aufzug hebe ich ihn noch mal hoch, damit er auf die Fünfzehn drücken kann.
Um 12:55 Uhr kommen wir zurück in mein Büro. Die junge Kollegin sitzt an ihrem Schreibtisch. Immer noch? Schon wieder? Ich frage, ob sie schon Mittagspause gemacht hat. Sie verneint und erklärt, dass sie mit starker Übelkeit kämpft. Ich erinnere mich an die Mittelchen, die ich während meiner Schwangerschaft ausprobiert habe, um mit der sogenannten morning sickness zurechtzukommen. Und erzähle ihr davon, auf eine unaufdringliche Art und Weise. »Sie hat Bauchweh«, erkläre ich meinem Sohn. »Du musst Tee trinken«, sagt er dann zu ihr. Sie lächelt und meint, dass sie es versuchen wird.
»Hast du Lust auf einen Film?«, frage ich den Kleinen. Und bin erleichert, er jubelt. Ich setze ihn auf meinen Stuhl und schiebe eine DVD ins PC-Laufwerk. Während der Film lädt, überprüfe ich noch einmal meinen Posteingang. Eine Mail vom Vorgesetzten ist da. Er lädt mich zu einer Konferenz mit möglichen Kooperationspartnern ein, die am kommenden Morgen um elf stattfindet. Außerdem bittet er mich, mehrere Inhalte vorzubereiten. Wunderbar, denke ich, das schaffe ich gerade noch bis Dienstschluss.
Mein Sohn schaut die DVD an und kaut den Kaugummi, den er von der jüngeren Grafikerin geschenkt bekommen hat. Ich mache mir handschriftlich Notizen für das morgige Meeting und bin überrascht, wie gut das ohne Computer geht. Morgen früh werde ich die Notizen überarbeiten und zu einem kurzen Handout zusammenfassen, das ich dem Vorgesetzten dann vor dem Termin ausdrucke. Dafür veranschlage ich maximal sechzig Minuten – Zeit genug also, wenn ich um 8:40 Uhr ins Büro komme.
Ich merke, wie leicht mir die Arbeit fällt, wie entspannt ich bin, obwohl ich mir gestern Nacht überhaupt nicht vorstellen konnte, begleitet von meinem Sohn im Büro zu sein und zu arbeiten. Doch alles läuft so reibungslos. Er verhält sich wie ein Musterknabe, ist so brav und still, dass ich schon fast Angst habe, was aus ihm herausbricht, wenn wir erst zu Hause sind.
Woran ich überhaupt noch nicht gedacht habe – weil ich es verdrängt habe – ist der Krankenhausbesuch, der heute noch ansteht. Anstatt des Kinderturnens. Ich möchte unbedingt wieder zu meiner Mutter. Sehen, wie es ihr geht. Die Ergebnisse der weiteren Untersuchungen abfragen und mit dem Oberarzt sprechen. Und den Kleinen muss und will ich dabeihaben.
Ich rufe im Krankenhaus an, lasse mich mit der Stroke Unit verbinden. Zuerst frage ich, ob die Schwester mir etwas über die Untersuchungsergebnisse sagen kann. Sie sagt, dass Untersuchungen gemacht wurden. Die Auswertung können aber nur Stationsärztin oder Oberarzt kommentieren. Ich frage, ob der Oberarzt oder die Stationsärztin heute Nachmittag für ein kurzes Gespräch verfügbar seien. »Prinzipiell ja«, sagt die Schwester. »Die Schicht von Frau Doktor endet um fünf, der Herr Professor Doktor ist meistens bis vier da.« Einen Termin kann sie leider nicht vereinbaren. Ich bedanke mich und frage, ob sie das Telefon kurz zu meiner Mutter bringen kann. Ich höre, wie sie aus dem Schwesternzimmer geht, über den Flur läuft und eine Tür öffnet. Dann sagt sie sehr laut den Namen meiner Mutter. Sofort steigt in mir die Sorge hoch – hat sich meine Mutter versteckt? Dann ist die Schwester wieder am Apparat. »Ihre Mutter ist gerade aufgewacht. Ich gebe Sie Ihnen jetzt.«
»Ja?«, sagt meine Mutter, und sie klingt wirklich sehr verschlafen. »Mama, ich bin es. Schlaf ruhig weiter, ich komme später mit dem Kleinen zu dir«, sage ich. »Ist recht«, sagt meine Mutter. Dann ist die Leitung unterbrochen.
Ich atme tief durch.
»Ist was passiert?«, fragt die junge Kollegin. Sie sitzt an ihrem Schreibtisch und hat mein Telefonat natürlich mitbekommen. Mein Sohn starrt auf den Kinderfilm im Computer. »Meine Mutter ist im Krankenhaus«, sage ich. »Oh«, sagt sie. »Was Schlimmes?« Ich schüttle ganz leicht den Kopf. Und schaue zu meinem Sohn, dann wieder zu ihr. Sie nickt, versteht, dass ich vor dem Kind nicht über schlimm oder nicht schlimm in Zusammenhang mit meiner Mutter sprechen möchte.
»Hast du es schon gehört?«, fragt sie dann. »Der Generalsekretär der Liberalen ist dafür, das Elterngeld abzuschaffen. Weil er findet, dass die Politik keine Familienplanung machen sollte. Er möchte das durch die Abschaffung eingesparte Geld lieber in den Ausbau der Kinderbetreuung investieren.«38 Ich seufze. Sie fährt fort. »Die konservative Familienministerin ist aber dagegen, sie will am Elterngeld festhalten.«39 Ich seufze noch einmal. Wer weiß, wie lange noch. Bundestagsabgeordnete dürfen kein Elterngeld beantragen und nicht in Elternzeit gehen. Dann können sie es auch abschaffen. Eine neue Form von Solidarität, denke ich bitter.
Wenn tatsächlich irgendjemand in der Politik geglaubt hat, allein wegen des Elterngeldes würden die Leute ab Stichtag der Einführung reihenweise Kinder zeugen, ist das so naiv, dass es schon wieder lustig ist. Bei einer Zeugungsentscheidung gibt es immer noch ein paar Dinge, die nicht durch den Bundestag reguliert werden können.
Ich kann mir gut vorstellen, wie dieses neoliberale Gerede eines Politikers meiner jungen Kollegin zu schaffen macht. Gerade sie, die so viel Unsicherheit um sich herum sieht – Job, verheirateter Kindsvater, alleinerziehend –, hätte wenigstens an einer Stelle Gewissheit gebraucht. Also halte ich dagegen: »Es gehört zur Jobbeschreibung eines Spitzenpolitikers, zu reden. Und das, was geredet wird, wird dann durch die Medien noch mal so aufbereitet, dass uns allen die Ohren schlackern. Wahrscheinlich schreibt die Familienministerin bald ein Buch über ihre Schwangerschaft, um zu beweisen, dass es gar kein Problem ist, ein Kind zu bekommen und sofort nach der Geburt wieder zu arbeiten.« Die junge Kollegin lacht kurz. »Ich kann mich noch daran erinnern, wie die Familienministerin gesagt hat, sie wünscht sich, dass mehr Leute auf ehrenamtlicher Basis Alten und Kranken vorsingen würden.«40
»Dabei geht es gar nicht ums Singen«, sage ich. »Irgendjemand muss sich um unsere Alten und Kranken kümmern, wenn wir es nicht können. Und das hat wiederum mit der Zukunft von Frauen auf dem Arbeitsmarkt zu tun.« Ich sage ihr, dass die ganzen Bemühungen in Sachen Frauenförderung und Verständnis für die Doppelbelastung von berufstätigen Müttern ziemlich schnell zum Erliegen kommen werden, wenn unser Arbeitsmarkt noch mehr geöffnet wird. Gerade im Pflegebereich werden bei uns Fachkräfte gesucht – gute Chancen für qualifizierte Frauen. Trotz des Handicaps Kind. Wenn aber aus anderen Ländern qualifizierte Leute zu uns kommen, die erstens keine Handicaps haben und zweitens womöglich noch viel billiger sind als wir, dann ist es wieder vorbei mit der Frauenförderung.
Sie schaut mich entsetzt an. »Es geht also gar nicht um die Erschaffung einer besseren Welt?« »Nein«, sage ich. »Es geht wie immer ums Geld.« »Das macht mich echt fertig«, sagt sie. Sie greift zu einer Reiswaffel, beißt ab und kaut langsam, fast schon meditativ. »Muss es aber nicht. Es liegt ja an dir, was du aus deinem Leben machst. Und wie du mit Angeboten, zum Beispiel aus der Politik, umgehst.« Ich möchte sie ermuntern, mehr darüber nachzudenken, was sie selbst will, und sich nicht von ihren Ängsten und den vielen Was-wäre-Wenns leiten zu lassen. »Angst ist bei den meisten Entscheidungen eine schlechte Ratgeberin«, sage ich. »Aber auf wen soll ich dann hören?«, fragt die junge Kollegin. »Auf dich selbst«, sage ich. Sie sagt nichts. Gesprächspause, denke ich, vielleicht auch besser so.
Ich beobachte meinen Sohn. Er scheint unsere Unterhaltung zwar wahrgenommen, aber nicht verfolgt zu haben. Ihn interessiert sein Kinderfilm mehr. »Magst du was trinken?«, frage ich ihn. Er schüttelt den Kopf und schaut weiter auf den Bildschirm. Ich gönne ihm die Erholung. Den Film haben wir schon sehr oft zusammen angesehen, er ist wie ein Stück Zuhause für ihn.
Inzwischen ist es 14:01 Uhr. Meine handschriftlichen Aufzeichnungen für das morgige Treffen habe ich so gut wie abgeschlossen. Ich lese noch einmal durch, was ich aufgeschrieben habe, und markiere einige Punkte farbig.
Meine Gedanken kreisen um das Gespräch mit der jungen Kollegin. Ich habe mich auch viel von Angst leiten lassen. Versucht, mich abzusichern, kein Risiko einzugehen, lieber Kompromisse zu machen, als etwas zu wagen. Aus Vernunftgründen vielleicht. Oder aus Bequemlichkeit. Das ärgert mich sehr. Klar, als mein Mann und ich überlegt haben, wie es wäre, ein Kind zu bekommen, haben wir auch über diese Dinge gesprochen, Elterngeld, Elternzeit, ökonomische Sicherheiten. Doch dass wir unser Kind deshalb bekommen haben, weil es dafür Geld vom Staat gegeben hat, das geht mir zu weit.
Ich will mein Leben nicht nach den Vorgaben von Politikerinnen und Politikern ausrichten, ebenso wenig wie ich meinem Vorgesetzten einen zu großen Einfluss auf mein Denken und Handeln einräumen möchte. Diese Leute kommen und gehen. Ich aber bleibe. Natürlich ist es in meinem Interesse, wenn die Bundesregierung versucht, ein Umfeld zu schaffen, das mir Möglichkeiten und Chancen bietet. Ich will aber trotzdem eigene Entscheidungen fällen.
Mein Telefon läutet. Die Sekretärin des Vorgesetzten fragt, ob es noch geht, dass ich kurz komme. Der Vorgesetzte möchte etwas mit mir besprechen, was etwa zwanzig Minuten dauert. Sie kennt meine Arbeitszeiten und weiß, dass ich um Punkt 14:45 Uhr gehen muss. Und sie weiß, dass Termine beim Vorgesetzten selten in fünf Minuten erledigt sind. Ich bin froh, dass sie so rücksichtsvoll ist, und willige ein. Erkläre meinem Sohn, was ich zu tun habe, und sehe meine Kollegin fragend an. Als sie nickt, sage ich, dass ich gleich wieder da bin. Dass ich nur ein paar Türen weiter bin. »Du sollst nicht weggehen«, sagt er. Dann schaut er weiter auf den Bildschirm. Der Film läuft noch etwa zwanzig Minuten. Das müsste reichen, denke ich mir, stehe auf und gehe aus dem Raum. Er protestiert nicht.
Die Sekretärin telefoniert und bedeutet mir mit einer Handbewegung, in das Zimmer des Vorgesetzten gehen. Ich klopfe an die angelehnte Tür und trete ein. »Ah, die junge Mutter«, begrüßt mich der Vorgesetzte. »Sie haben Ihr Kind heute ins Büro gebracht. Wie kommt’s, dass ich davon erst jetzt und nicht von Ihnen erfahre?« Ich erkläre, dass ich aufgrund eines angekündigten Streiks im Kindergarten keine andere Betreuungsmöglichkeit gesehen habe. Dass ich seiner Sekretärin heute Morgen Bescheid gegeben habe – noch bevor er im Büro war. Und dass sich bei mir niemand über die Anwesenheit des Kindes beschwert hat. »Im Gegenteil«, sage ich. »Die Kolleginnen und Kollegen reagieren ausnehmend positiv auf meinen Sohn.« Der Vorgesetzte lächelt. »Das freut mich«, sagt er. Und fragt, wie lange der Streik im Kindergarten denn dauert. Ob ich noch ein, zwei Tage unbezahlten Urlaub brauche. Er würde mich gerne unterstützen.
Ich bin überrascht. Und frage mich, ob es eine Falle ist, ob er das E für Elternzeit in seinem Kalender gefunden hat und mir ein Bein stellen möchte. Sei wachsam, sage ich zu mir. Und nutze diesmal deine Chance.
Ich bedanke mich für sein Angebot. Sage, dass ich darauf zurückkommen werde, wenn es eng wird. Da der Streik im Kindergarten aber befristet ist und morgen alles wieder wie gewohnt laufen wird, brauche ich keinen unbezahlten Urlaub. Ich füge »vorerst« hinzu – schließlich hat meine Mutter gerade einen Schlaganfall gehabt. Was mein Vorgesetzter aber nicht weiß.
»Ich hätte da noch ein anderes Thema«, sage ich dann. »Vergangenen Monat ist mein Sohn drei Jahre alt geworden. Damit ist der Zeitraum, den Sie mit mir für meine Elternzeit, also die Kombination aus Elterngeld und Teilzeitarbeit, vereinbart haben, abgelaufen. Ich möchte gerne mit Ihnen über meine Zukunft sprechen.«
Jetzt ist er überrascht. Meine Befürchtung, dass er mir eine Falle stellen wollte, weil ich keinen Kündigungsschutz mehr genieße, scheint sich nicht zu bewahrheiten. »Das hatte ich gar nicht auf dem Schirm«, sagt er und wählt die Nummer seiner Sekretärin. Er bittet sie, meine Akte zu holen. »Haben Sie sich denn schon Gedanken gemacht, wie Sie hier in Zukunft arbeiten möchten?«, fragt er. Die Sekretärin kommt mit einer roten Mappe ins Zimmer, auf der mein Name steht. Sie legt die Mappe auf den Tisch und geht wieder raus. Der Vorgesetzte blättert in den Unterlagen. Es fällt mir schwer, nachzudenken – obwohl ich weiß, dass es jetzt besonders wichtig ist, mich nicht über den Tisch ziehen zu lassen. Ich werde erst mal zu nichts Ja sagen, nehme ich mir vor.
»Tatsächlich«, sagt der Vorgesetzte. »Ihre Elternzeit ist vorbei. Wir müssen einen neuen Vertrag machen.« Nun sieht er mich an. »Sind Sie denn an einer Veränderung interessiert? Oder sind Sie wieder schwanger?« Ich will nur die erste Frage beantworten. »Ich bin grundsätzlich immer an Veränderungen interessiert, wenn sie mir guttun.« Und mit dem Wohl der Firma in Einklang zu bringen sind, füge ich nach einer kurzen Pause hinzu. »Was können Sie mir denn anbieten?«, frage ich dann. Ihm den Ball zuspielen, fragen, nicht rechtfertigen.
»Also, auf jeden Fall möchte ich Sie nicht verlieren«, sagt er. Dann holt er aus, meint, dass er mich weder unter- noch überfordern will. Und dass er die vielen Sorgen, die eine junge Mutter, eine junge Familie umtreiben, aus eigener Erfahrung kennt. Und dass es ihn ja nichts angeht, ob ich noch mehr Kinder möchte. »Ich bin mit Ihnen und Ihrer Arbeit zufrieden und würde es gerne sehen, wenn Sie weiter für mich arbeiten«, sagt er.
»Können Sie sich vorstellen, mir mehr Verantwortung zu übergeben?«, frage ich. »Prinzipiell ja«, sagt er. Er lobt meine Zuverlässigkeit und dass ich immer weiß, wie ich Aufträge zu seiner Zufriedenheit erledigen kann. Was denn in den letzten Jahren in Sachen Weiterbildung geschehen ist, will er dann wissen und blättert in der roten Mappe. »Nicht sehr viel«, sage ich. Und dass ich daran Interesse hätte – weitere Qualifikationen zu erlangen, sei ja auch im Sinne der Firma.
»Diese junge Mitarbeiterin«, sagt er, »ist die gut?« Ich wittere erneut eine Falle, und zwar eine für sie und für mich. Ich sage, dass die Zusammenarbeit mit meiner Assistentin angenehm verläuft, dass sie selbstständig und zuverlässig die Aufgaben erfüllt, die anstehen. Dass sie mir zuarbeitet und mich unterstützt. »Aha«, sagt er. Ich bin mir nicht sicher, ob ich gut geantwortet habe. Also hole ich weiter aus. »Es ist natürlich anders als früher, als ich noch Vollzeit gearbeitet habe und alle Aufgaben allein erledigt habe. Ich sage anders, nicht schlechter. Ich kann mir aber gut vorstellen, einzelne Projekte vollständig an meine Assistentin abzugeben, um so die Möglichkeit zu haben, mich anderen, langfristigeren, komplexeren Dingen zuzuwenden.« Ich hole tief Luft. »Ich schlage Folgendes vor: Wir vereinbaren einen Termin in der nächsten oder übernächsten Woche, und ich werde Ihnen konkrete Ideen für meine Zukunft vorlegen. Und Sie mir.«
»Einverstanden«, sagt der Vorgesetzte. Es klopft an der Tür. Die Sekretärin kommt herein und schaut mich an. »Ihr Sohn«, beginnt sie, da läuft der Kleine an ihr vorbei auf mich zu. Die junge Kollegin folgt ihm. »Mama, ich hab dich gesucht«, sagt mein Sohn. »Er wollte unbedingt zu dir«, sagt die junge Kollegin und lächelt unsicher. Ich nehme den Kleinen auf den Arm und stelle ihn dem Vorgesetzten vor. »Wir haben ja alles besprochen, wegen des Termins meldet sich meine Sekretärin«, sagt er. Er wendet sich an den Kleinen. »Na, du kleiner Mann – hältst hier gleich drei Frauen auf Trab?« Er streichelt ihm über den Kopf und fragt: »Wie heißt du denn?« – »Tika«, sagt mein Sohn. »Aha«, sagt mein Vorgesetzter und nickt mir zu. Termin beendet.
Ich verabschiede mich und gehe mit Kind und Kollegin zurück in mein Büro. Im Gang kommt uns der Kollege aus der IT-Abteilung entgegen, den ich letzte Woche so zurechtgewiesen habe. »Das nenne ich wahre Vereinbarkeit von Beruf und Familie«, sagt er. »Kindergarten und Büro auf einem Stockwerk.«
Kurz stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn meine Firma ein Eltern-Kind-Zimmer hätte. Dann wären Tage wie dieser deutlich stressfreier für mich. Es wäre zwar trotzdem eine Ausnahme, mein Kind mit ins Büro zu nehmen, aber es gäbe wenigstens einen Raum mit Spielsachen, die Möglichkeit, eine Kinderbetreuung zu kontaktieren. Und vor allem eine gewisse Normalität – hätten mehr Kolleginnen und Kollegen kleine Kinder, würde sich so eine Einrichtung wirklich lohnen.
14:36 Uhr. Ich packe DVD, Stifte, Bilder, das neue Heft aus dem Firmencopyshop und den Plüschhasen in meine Tasche. »Wir besuchen jetzt die Oma im Krankenhaus«, sage ich zu meinem Sohn. »Juhu«, ruft er. Er ist froh, das Büro verlassen zu können und die Oma zu treffen. Mir geht es ähnlich. Bis auf den Ort unseres Treffens – das Krankenhaus.
Wir verabschieden uns von meiner Kollegin. Dann fahren wir mit dem Aufzug nach unten und gehen zur Bushaltestelle. Die Ampel ist grün. Wir müssen nicht hetzen, sondern kommen in gemächlichem Tempo an der Haltestelle an. Der Bus fährt vor. Wir finden zwei Sitzplätze. Am Bahnhof müssen wir aussteigen, um mit einem anderen Bus zum Krankenhaus zu kommen. Ich bin froh, dass wir nicht lange auf den anderen Bus warten müssen, denn ich fühle mich ganz schön erledigt. Es ist erst Montag, und der Tag war so anstrengend wie eine ganze Woche. Mein Sohn zählt auf, was er vom Busfenster aus sehen kann: einen Lastwagen, einen Mann, der einen Fahrradanhänger schiebt, einen großen Kran.
Auf dem Weg von der Bushaltestelle zum Haupteingang des Krankenhauses gehen wir am Krankenhausgarten vorbei. »Da sind aber viele Omas«, sagt der Kleine. Er hat Recht. Bestimmt zehn ältere Frauen in Bademänteln sitzen dort, einige im Rollstuhl. Sie genießen die Frühlingssonne, manche mit ihrem Besuch. »Gehen wir mit der Oma auch in den Garten?« »Ich glaube nicht«, sage ich. »Die Oma ist noch recht krank.«
Während der Busfahrt habe ich überlegt, wie ich ihm erklären soll, was mit meiner Mutter passiert ist. Wie macht man einem Dreijährigen klar, dass seine Großmutter einen Schlaganfall erlitten hat? Dass sie ihn vielleicht nicht mehr erkennt, dass sie Probleme hat mit dem Sprechen, dass sie in einem Bett liegt, an Instrumente angeschlossen ist, die ihre Lebensfunktionen überwachen. Ich habe beschlossen, ihn nicht mit Details und Erklärungen vorzubereiten. Sondern ihm einfach zu erklären, was er sieht und wonach er fragt.
Vor der Station 3a schalte ich das Handy aus. Die Tür ist geschlossen. Ich klingle. Eine Schwester kommt. »Ist das Ihr Kind?«, fragt sie. Ich bejahe. »Wir wollen meine Mutter besuchen.« Ich nehme meinen Sohn an die Hand. »Dann ist es in Ordnung«, sagt sie, »wir möchten sicherstellen, dass nur Angehörige die Patienten besuchen. Einfach, um für ein wenig Ruhe zu sorgen, was hier auf der neurologischen Station sehr wichtig ist.« Sie weist mich darauf hin, dass ich das Kind nicht unbeaufsichtigt lassen darf. »Das werde ich nicht«, sage ich.
Ich spüre, wie mein Sohn meine Hand umklammert. »Wo ist die Oma?«, fragt er. Ich nehme ihn auf den Arm, klopfe an ihre Zimmertür und öffne die Tür.
Meine Mutter liegt wie gestern im Bett am Fenster, sie liegt auf der Seite, mit dem Rücken zur Tür. Das Bett daneben ist immer noch leer. »Überraschung«, sage ich. »Oma!«, ruft mein Sohn. Meine Mutter dreht sich zu uns und lächelt. Es scheint ihr besser zu gehen, denke ich, ihre Bewegungen wirken sicherer. Ich sehe auch, dass keine Kabel mehr aus ihrem Nachthemd kommen, nur noch der Venenkatheter und der Clip sind an der linken Hand.
Ich setze mich auf ihr Bett und nehme den Kleinen auf meinen Schoß. Er traut sich nicht, meine Mutter zu umarmen, wie er es sonst tut. »Wie geht es dir denn heute?«, frage ich und nehme ihre rechte Hand. »Ganz gut, Herzchen«, sagt sie. Ihre Augen sind wach. »Hast du ein Aua?«, will mein Sohn wissen. Und streichelt ihre Hand, die in meiner Hand liegt. »Nein, nein, mir tut gar nichts weh«, sagt sie. »Ich bin nur recht müde. Und in meinem Kopf ist etwas komisch, deswegen bin ich hier in dem Krankenhaus.« Ich bin überrascht, wie klar sie ist. Und wie gut sie ihren Zustand beschreiben kann.
»Weißt du«, sage ich zu meinem Sohn, »hier im Krankenhaus gibt es sehr viele Ärzte. Und Ärztinnen. Die können rausfinden, was den Kopf von der Oma komisch macht. Und dann können sie der Oma helfen.« Er nickt. Meine Mutter auch. Wenn nur alles so einfach wäre.
»Wir haben dir was mitgebracht«, sage ich. »Ein Bild.« Ich hole das Bild aus meiner Tasche und gebe es meinem Sohn. »Ich habe im Büro ein Bild für dich gemalt«, sagt er und überreicht es meiner Mutter. Sie sieht es genau an. Dann sagt sie: »Da musst du mir aber jetzt helfen. Mein Kopf ist so komisch, dass ich nicht erkennen kann, was du gemalt hast.« Ich lache. Das Bild ist natürlich nicht gegenständlich, sondern zeigt bunte Striche in mehreren Farben und ein paar Punkte: die Zeichnung eines Dreijährigen. Auch ich kann nicht wirklich erkennen, was er gemalt hat, kann es nur erahnen. Und tippe auf Fluss und Steine. »Das ist der Fluss.« Mein Sohn deutet auf die Striche. »Und das sind die Steine.« Er deutet auf die Punkte. »Ah«, sagt meine Mutter. »Jetzt erkenne ich es auch.« Sie atmet hörbar aus, unser Besuch freut sie und strengt sie gleichzeitig an.
»Bist du heute wieder untersucht worden?«, frage ich. Sie bestätigt das, sagt aber nicht mehr. Ich verstehe. Details, Ergebnisse, Prognosen – all das muss ich bei der Stationsärztin erfragen. Ich sehe, dass sie immer noch das Nachthemd trägt, das ich ihr gestern angezogen habe. »Brauchst du irgendwas?«, frage ich sie. »Ich könnte dir helfen, ein frisches Nachthemd anzuziehen.« Sie sieht mich an, sagt aber nichts. »Soll ich lieber die Schwester darum bitten?« Sie nickt. »Mach ich«, sage ich.
Ich verbiete mir die Selbstzerfleischung, ihr gestern vielleicht nicht sanft genug geholfen oder so entsetzt gewirkt zu haben, dass meine Mutter meine Hilfe lieber nicht mehr in Anspruch nehmen möchte. Sie will einfach gerade nicht, dass ich ihr ein frisches Nachthemd anziehe, denke ich.
Auf dem Nachttisch steht ein Tablett mit einem Stück Käsekuchen und einem Apfel. »Hast du Lust auf Kuchen?«, frage ich meine Mutter. Sie nickt. Ich setze meinen Sohn auf den Stuhl, der neben dem Bett steht und schiebe das Tablett zum Bett. Mit der Gabel zerkleinere ich den Kuchen. Ich drücke ihr die Gabel in die rechte Hand und breite die Serviette so aus, dass sie herunterfallende Brösel auffängt. Meine Mutter sticht in ein Kuchenstück und schiebt es sich langsam in den Mund. Feuerprobe bestanden, denke ich. Sie kann wieder allein essen.
»Magst du ein Stück Apfel?«, frage ich meinen Sohn. Er will. Also schäle ich den Apfel mit dem Messer, das auch auf dem Tablett liegt, und schneide ihn in Spalten. Er nimmt ein Stück, meine Mutter schüttelt den Kopf und isst weiter Käsekuchen. Sie hat sich sehr unter Kontrolle, isst zwar langsam, kleckert aber nicht. Ich bin erleichtert.
Als Apfel und Käsekuchen aufgegessen sind, kommt die Schwester. Ich frage, ob die Stationsärztin da ist und ob ich mit dem Oberarzt sprechen kann. Der Herr Doktor ist schon weg, sagt die Schwester, und die Frau Doktor ist gerade nicht zu sprechen. Ich schlucke meine schlechte Laune runter und berufe mich nicht auf das Telefonat, das ich vor zwei Stunden mit ihr oder ihrer Kollegin geführt habe, in der mir zugesichert wurde, dass sowohl Frau Doktor als auch Herr Professor Doktor am Nachmittag im Krankenhaus sind. Sondern frage stattdessen, ob ich morgen früh mit der Stationsärztin oder dem Oberarzt telefonieren kann. »Von halb neun bis elf ist Visite«, sagt die Schwester und nimmt das Tablett. »Eins noch«, sage ich, als sie gerade die Tür öffnet. Die Schwester dreht sich zu mir um. »Können Sie meiner Mutter vor dem Schlafengehen helfen, ein frisches Nachthemd und frische Unterwäsche anzuziehen? Ich lege die Sachen hier auf den Stuhl.« Die Schwester nickt und geht raus. »Wer war das?«, fragt mein Sohn. »Das war die Schwester«, sage ich und erkläre ihm, dass es in einem Krankenhaus viele Schwestern gibt, die sich um die Kranken kümmern.
Ich weiß nicht, wie spät es ist, aber mein Gefühl sagt mir, dass es jetzt reicht. Sowohl meiner Mutter als auch meinem Sohn. »Wir gehen nach Hause«, sage ich. »Ich ruf dich morgen früh an.« Meine Mutter nickt. Sie wirkt müde, so als könnte sie die Augen nur noch schwer offen halten. Wir verabschieden uns. Ich nehme den Kleinen an die Hand und gehe zur Tür. Als ich mich noch einmal umdrehe, sehe ich, dass ihre Augen bereits geschlossen sind. Gut, wenn sie schlafen kann, denke ich mir.
Wir verlassen die Stroke Unit, gehen zum Haupteingang und von dort zur Bushaltestelle. Mein Sohn hält immer noch meine Hand. Ich spüre, dass er meine Nähe gerade besonders braucht, dass ihn der Besuch angestrengt hat. Und vielleicht auch ein wenig verstört. Krankenhäuser sind keine Spielplätze, denke ich und erinnere mich an die Szene in der Krankenhauscafeteria. Nein. Sind sie nicht. Trotzdem bin ich froh, dass er dabei war. Für ihn, für meine Mutter und auch für mich.
Wir haben Glück, der Bus kommt gleich. Als wir sitzen, hole ich ein paar Kekse aus meiner Tasche. »Magst du?«, frage ich den Kleinen. Es sind seine Lieblingskekse. Er isst einen Keks und sagt dann: »Gehen wir jetzt nach Hause?« Ich streichle seine Wange. »Ja«, sage ich. »Jetzt gehen wir nach Hause.« Auf dem Heimweg machen wir noch Zwischenstopps bei der Apotheke und im Supermarkt.
Wir kommen um 16:55 Uhr zu Hause an, waschen uns gründlich die Hände und essen in der Küche noch mehr Kekse und Apfelstücke. Dann spielen wir Verstecken. Später beschließen wir, eine Karottensuppe zu machen. »Tika liebt Karotten«, sagt mein Sohn und hilft mir beim Schälen – er hält den Sparschäler, ich die Karotten. Ich schäle noch ein Stück Ingwer, dann steht die Suppe auf dem Herd. Gemeinsam decken wir den Tisch. »Wann kommt der Papa?«, fragt mein Sohn. Ich knie mich zu ihm auf den Boden und nehme ihn in die Arme. »Der Papa ist doch mit dem Flugzeug weggeflogen. Er kommt bald wieder, aber noch nicht heute«, sage ich. »Morgen?«, fragt der Kleine. »Überüberüberüberübermorgen«, sage ich.
Während die Suppe kocht, lese ich ihm die Geschichte von der kurzsichtigen Hexe vor. »Ihr Kopf ist komisch«, erklärt er mir. »Wie bei der Oma.« Ich nicke. »Aber jetzt geht es der Hexe wieder gut. Und der Oma wird es auch wieder besser gehen, ganz bald schon.« Eigentlich mag ich keine Durchhalteparolen. Aber an dieser Stelle erscheint es mir angebracht, meinem Kind Mut zu machen.
Wir essen Suppe. Der Kleine gähnt. Nach der Suppe gibt es noch ein bisschen Joghurt. Ich räume schnell die Küche auf, während mein Sohn auf dem Küchenboden sitzt und mit Autos spielt. Er gähnt wieder. »Wollen wir Fotos anschauen?«, frage ich. Wir gehen ins Wohnzimmer und setzen uns mit zwei Alben aufs Sofa. Im einen sind Bilder von meiner Kindheit, im anderen Bilder von meiner Hochzeit, meiner Schwangerschaft und den ersten Monaten nach der Geburt meines Sohnes. Es sind seine Lieblingsalben, die er oft ansehen will.
Um 19:02 Uhr sage ich ihm, dass jetzt Schlafenszeit ist. Er ist einverstanden. Ich gehe in die Küche und bereite den Kakao vor. Dann rufe ich ihn, doch er kommt nicht. Hat er sich versteckt? Ich gehe durch die Wohnung und suche ihn. Aus dem Bad höre ich ein leises »Piep«. Da sitzt er, in der Dusche, hinter dem Duschvorhang und strahlt. »Gefunden!«, rufe ich. Er lacht und will auf meinen Arm. Ich drücke ihn an mich und fühle mich gut. Erstaunlich komplett, gar nicht zerstückelt oder gehetzt wie sonst.
Kakao, Schlafanzug, Zähneputzen, und schon liegt er im Bett. Er möchte seinen Plüschhasen haben. Ich hole ihn aus meiner Tasche. Dann will er noch mal das Buch mit der kurzsichtigen Hexe lesen. An derselben Stelle wie zuvor sagt er, dass der Kopf der Hexe komisch sei. Ich stimme ihm zu. Und sage diesmal nichts von der Oma und ihrem komischen Kopf. Nach dem Buch mache ich das Licht aus. Mein Sohn nimmt meine Hand und drückt sie noch einmal. Dann schläft er ein, den Hasen im Arm. Ich bleibe lange bei ihm sitzen, halte seine Hand und beobachte ihn beim Schlafen. Er atmet ruhig, liegt auf der Seite.
Ich bin sehr stolz auf ihn. Es war ein wirklich schwerer Tag mit schwierigen Situationen. Erst das Büro, dann das Krankenhaus, Orte, an denen er noch nie zuvor war. Meine Anspannung hat er sicher auch gespürt.
Ist das jetzt eine positive Form der Vereinbarkeit, frage ich mich, wenn ein Kind so gut mitspielt? Und dann wächst in mir auch schon das schlechte Gewissen. Was habe ich ihm da nur zugemutet, ihn zur Arbeit mitzuschleppen. Doch so schlecht schien es ihm dort nicht gefallen zu haben. Außerdem hat er jetzt eine Vorstellung von dem, was ich mache, während er im Kindergarten ist. Meine Arbeit ist jetzt für ihn verknüpft mit einem Ort und mit Gesichtern. Das finde ich gut.
Und dass ich ihn mit ins Krankenhaus genommen habe, das werfe ich mir auch nicht vor. Er wird schon kein Bündel an Krankheiten mit auf die Stroke Unit gebracht haben. Oder mitgenommen haben. Ich hoffe natürlich, dass er an keinem Treppengeländer mit bösen Keimen in Berührung gekommen ist, die ihn krank machen. Dass er seine Großmutter auch mal schwach und krank gesehen hat, hilft ihm vielleicht, damit zurechtzukommen, wenn sie sich von dem Schlaganfall nicht mehr wirklich erholt. Oder eines Tages stirbt.
Das Telefon läutet. Leise stehe ich auf und gehe ins Wohnzimmer. Es ist mein Mann. Flugzeug gelandet, er wartet auf sein Gepäck. Er will noch ins Hotel und kurz Essen gehen, bevor die Vorbesprechungen für die Präsentation der Familienlimousine beginnen. »Aber«, sagt er, »erzähl du, wie es bei dir gelaufen ist.«
»Im Büro ist alles gut gegangen«, sage ich und erzähle dann noch von meinem Gespräch mit dem Vorgesetzten. »Du hast mir gar nicht gesagt, dass die Elternzeit rum ist«, sagt mein Mann. »Ich hab’s vergessen«, sage ich. »Weil es dann doch nicht so wichtig war.« Eigentlich wollte ich am Samstagabend mit ihm darüber sprechen. Aber dann kam ja alles anders. »Und im Krankenhaus?«, fragt mein Mann. »Eigentlich nichts Neues«, sage ich, und dass ich morgen versuchen werde, Ärztin oder Arzt ans Telefon zu bekommen. »Wenigstens ist morgen der Kindergarten wieder auf«, sagt mein Mann. Er gähnt, und ich sage, er soll jetzt was essen und sich wenn möglich etwas ausruhen.
Ich bleibe auf dem Sofa sitzen, das Telefon noch in der Hand. Mein Mann fehlt mir. Es ist schwer, Pläne in die Tat umzusetzen, wenn man allein ist.
Ich überlege, was diese Woche ansteht. Morgen zunächst das Gespräch mit der Stationsärztin und/oder dem Oberarzt. Ich nehme mir vor, um acht im Krankenhaus anzurufen. Und dann muss ich mich um eine neue Putzfrau kümmern. Ich suche die letzte Abrechnung von Zsófia, an der ein Post-it-Zettel klebt. Mit einer Handynummer von Borbála, ihrer Freundin, die auch putzt. Der Vorname klingt ungarisch. Ich schaue auf die Uhr. 19:54 Uhr. Da kann ich ja noch eine SMS schicken. Kaum abgeschickt, bekomme ich Antwort. Borbála weiß schon Bescheid – von Zsófia – und kommt gerne vorbei. Sie schlägt Donnerstag vor, zum Kennenlernen auch fünfzehn Minuten früher. Also um acht, schreibe ich zurück und bestätige den Termin. Das war ja unkompliziert. Bleibt noch eins: ein neuer Babysitter. Ich werde mich demnächst auf dem Spielplatz mit ein paar Müttern austauschen.
Dann reicht es mir mit der To-do-Liste und den Pflichten. Heute Abend habe ich noch etwas geplant, was auf keiner Liste steht. Ich hole meine Nähmaschine aus dem Flurschrank. Ein altes Modell, und ich bin lausig im Handarbeiten. Was mir aber egal ist. Ich will ein kleines Kissen nähen und mit Lavendelblüten füllen – dafür reichen meine Fähigkeiten. Frühlingsduft für den Kleiderschrank. Ein Geruch, der mich an meine Mutter erinnert. Den Lavendel habe ich in der Apotheke gekauft, als Stoff nehme ich ein rot-weiß kariertes Geschirrtuch. Während ich den Stoff schneide, bügle, abstecke und nähe, merke ich, dass ich mich gut fühle. Das war ein anstrengender Tag heute, nicht nur für meinen Sohn, sondern auch für mich, für die ganze Familie. Vielleicht war der Tag ein Anfang.
In jedem Fall war es ein guter Tag.