Eine Weile, wenn sie abends nach Hause kam, stellte sich der hässliche kleine Mann auf der anderen Seite der Straße an sein Fenster, ließ die Hosen runter und wedelte sich einen von der Palme. Erst hatte er es im Dunkeln gemacht, dann im Licht, inzwischen hampelte er manchmal sogar komplett nackt am Fenster rum. Es ging ihr tierisch auf den Wecker. Sie wollte ihre Ruhe haben und auch mal wieder aus dem Fenster schauen. Deshalb rief sie irgendwann die Polizei an. Die Frau von der Sitte kam auch schnell vorbei. Schaute sich das alles genau an. Sie sah den Wichser sogar in Aktion, zwei Frauen sind besser als eine, dachte der sich wohl.

Ich muss Ihnen leider raten, den Mann nicht anzuzeigen, sagte die Polizistin. Der kriegt vielleicht ein paar hundert Euro Geldstrafe, sagte sie, mehr nicht. Und er wird wissen, von wem die Anzeige kommt. Da kann ich nicht für Ihre Sicherheit garantieren.

Was soll ich machen?, fragte sie.

Sie müssen das wohl aushalten, sagte die Polizistin.

Wie einst Lili Marleen

Ich stehe im Gerichtssaal, der Tag war lang und zäh und wieder so verdammt schwül, diese blöden Verteidiger sind mir mit ihren weinerlichen Plädoyers auf die Nerven gegangen, und jetzt verkündet der Richter sein Urteil, und ich bin kurz davor zu randalieren. Zweieinhalb Jahre. Wenn die Arschköpfe sich im Knast nicht ganz doof anstellen, sitzen sie nächstes Jahr an Weihnachten wieder zu Hause unterm Baum. Das hätte ich im Leben nicht gedacht, dass die Verteidigung mit ihrem Geseiher durchkommt. Von wegen Ersttäter mit echt schlimmer Kindheit. Diese schreckliche Armut. Und organisiert war der Mädchenhandel schon mal gleich gar nicht, die Jungs sind doch Cousins. Die haben sich nur gegenseitig geholfen. Man muss doch von irgendwas leben. Ich kotze.

Und die beiden Täter stehen zwischen ihren Anwälten und feixen sich einen auf ihre Muschistrafe. Wäre ich eins von den Opfern, ich würde den ganzen Laden anzünden.

Ich muss hier raus.

Draußen auf der Straße hole ich Luft, rauche eine Zigarette in drei Zügen und mache mein Telefon an. Fünf Anrufe in Abwesenheit. Einer von Klatsche, vier vom Calabretta. Und eine Nachricht auf der Mailbox:

»Riley, rufen Sie zurück, sobald es geht. Wir haben einen Hinweis. Und der gilt ausnahmsweise sogar mal.«

Ich rufe den Calabretta an, er geht sofort ran.

»Hey«, sage ich, »schießen Sie los.«

»Heute Mittag hat sich einer auf dem Kommissariat in der Lerchenstraße gemeldet. In der Nacht, in der Dejan Pantelic verschwunden ist, will er gesehen haben, wie eine Frau einen Mann zusammengetreten hat. Und so, wie er den Mann beschrieben hat, könnte das tatsächlich Pantelic gewesen sein.«

»Kann er die Frau beschreiben?«

»Jo«, sagt der Calabretta.

»Nicht schlecht«, sage ich. »Warum meldet sich der Typ erst jetzt?«, frage ich.

»Ist ’n ziemlicher Freak«, sagt er. »Der Kollege Schulle nimmt ihn schon eine ganze Weile in die Mangel. Der Typ läuft dieser Frau wohl seit Wochen oder sogar Monaten hinterher. Scheint eine Art Stalker zu sein. Und hat wahrscheinlich Schiss, dass wir ihm deshalb was am Zeug flicken können.«

»Verstehe«, sage ich und winke mir ein Taxi ran. »Dann mal bis gleich.«

*

»Wo sind die beiden?«, frage ich.

Der Calabretta steht auf dem Flur vor den Verhörräumen am Fenster und raucht.

»Auf der Fünf«, sagt er.

Ich klopfe an die zweite Tür von links, zähle bis drei und gehe rein.

Der Typ ist ein schmächtiges Würstchen, vielleicht Anfang, Mitte zwanzig. Er hat raspelkurze dunkle Fusselhaare, seine weiße Kopfhaut schimmert an vielen Stellen durch. Auf seiner pickligen Stirn glitzern Schweißperlen. Er trägt ein schwarzes Kapuzenshirt, eine billige dünne Jeans und knautschige graue Schuhe. Er kaut auf seiner Unterlippe und sieht mich nicht an, als ich reinkomme.

»Das ist Frau Riley«, sagt der Schulle, »die Staatsanwältin.«

Der Fusselkopf brummt was Unverständliches und schaut jetzt doch zu mir rüber. Er wirft einen zudringlichen Blick auf mein Hemd.

Der soll bloß aufpassen. Ich bin in einer schlechten Verfassung, es könnte passieren, dass mich das dringende Bedürfnis überkommt, einfach mal jemandem eine zu ballern.

»Also«, sagt der Schulle, »noch mal jetzt. Sie haben nicht nur gesehen, wie die Frau den Mann mit einem Tritt ins Gesicht zu Boden befördert hat, sondern da war auch noch eine zweite Frau. Habe ich das richtig verstanden?«

Der Fusselkopf rutscht tiefer in seinen Stuhl, verschränkt die Arme vor der Brust und sagt:

»Als der Typ sich nicht mehr geregt hat, hat die Elli telefoniert. Und dann kam noch ’ne Tusse. Die kam mit ’nem dicken Auto angebraust.«

Ich setze mich auf einen Stuhl in eine dunkle Ecke und verhalte mich ruhig.

»Was war das für ein Auto?«, fragt der Schulle.

»Saab Kombi.«

»Farbe?«

»Dunkel«, sagt er.

»Und dann?«

»Dann bin ich einen trinken gegangen.«

Der Schulle haut sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.

»Das ist nicht Ihr Ernst«, sagt er.

Der Fusselkopf schaut ihn an.

»Kann ich ’ne Kippe haben?«

»Nein«, sagt der Schulle. »Hier wird nicht geraucht.«

»Kann ich gehen?«

Wir können ihn nicht festhalten. Das bisschen Stalking, das wir ihm unterstellen könnten, reicht auf keinen Fall, es gibt ja nicht mal eine Anzeige. Das weiß der Fusselkopf aber nicht so genau. Und der Schulle tut das, was ich auch tun würde. Er sagt:

»Das kommt drauf an.«

»Worauf?«

Der Fusselkopf verzieht sein Gesicht, und jetzt sieht er aus wie ein hässliches kleines Tier.

»Darauf, ob Sie uns noch eine halbe Stunde Ihrer Zeit schenken«, sagt der Schulle, »und unseren Spezialisten dabei helfen, zwei Phantombilder zu erstellen.«

»Warum?«

»Weil die Frau Staatsanwältin hier und ich dann so viel zu tun haben«, sagt der Schulle, »dass wir vermutlich vergessen werden, Ermittlungen gegen Sie wegen Stalking einzuleiten.« Er beugt sich ein Stück zu ihm rüber und senkt die Stimme. »Sie kennen ja sicher die aktuelle Gesetzeslage.«

Der Fusselkopf kaut wieder auf seiner Unterlippe. Ich glaube, er ist sehr dumm.

»Okay«, sagt er.

»Sehr gut«, sagt der Schulle und lächelt, »das ist sehr klug von Ihnen.«

Guter Bulle.

Ich stehe auf und verdrücke mich möglichst unauffällig nach draußen. Der Calabretta steht immer noch am Fenster und raucht. Ich gehe zu ihm rüber und zünde mir auch eine an.

»Sieht so aus, als hätten wir mehr Glück als Verstand«, sage ich.

Der Calabretta nickt. Er wirkt, als wäre ihm ein ganzer Kipplaster voller Steine vom Herzen gefallen.

»In spätestens einer Stunde haben wir zwei Phantombilder für die Fahndung und endlich was in der Hand, womit wir arbeiten können.«

Er nimmt einen tiefen Zug von seiner Zigarette.

»Haben Sie eigentlich was vom Faller gehört?«, fragt er. »Ich mach mir ein bisschen Gedanken, weil er gestern Abend nicht am Leuchtturm war.«

»Nein«, sage ich, »ich hab nichts gehört. Ich glaube aber auch nicht, dass irgendwas ist.«

Ich hole mein Telefon raus und rufe den Faller an. Es klingelt sechsmal, dann geht seine Frau ran.

»Hallo?«

»Chastity Riley«, sage ich, »ist Ihr Mann da?«

»Er ist im Garten«, sagt sie. »Er wollte ja schon seit Monaten unsere Rosen schneiden, und jetzt macht er das endlich, ach, ich freu mich so …«

Ich lasse sie reden, halte die Hand vor mein Telefon und sage zum Calabretta:

»Es ist doch was. Er schneidet Rosen.«

Der Calabretta legt die Stirn in Falten.

»Soll ich meinen Mann für Sie an den Apparat holen?«, fragt Frau Faller. Sie klingt aufgekratzt. Wie ein junges Mädchen. Sie freut sich richtig.

»Nein«, sage ich, »nein, nein. Ist nicht so wichtig.«

*

Später, als Klatsche und ich auf meinem Balkon sitzen, auf dem warmen Beton, mit dem Rücken an die Balkontür gelehnt und den Füßen im Efeu vertäut, zähle ich die Funzeln am Himmel. Ich zähle schon eine ganze Weile. Ist gut für die Nerven. Klatsche singt Lili Marleen. Klatsche singt ziemlich schlecht, aber das ist ihm egal. Und mir gefällt es sogar, wie er singt. Es kratzt so schön in den Ohren. Er sagt, Lili Marleen singt er nur für mich. Weil der Song angeblich so gut zu mir passt. Ein bisschen deutsch, ein bisschen amerikanisch, ein bisschen Frau, ein bisschen Soldat, ein bisschen Blume, ein bisschen Bier.

Bei »Laterne« und Funzel Nummer hundertsiebenundzwanzig höre ich auf zu zählen. Ist gut jetzt. Ich löse mich vom Nachthimmel, rutsche ein Stück näher an Klatsche ran und schaue mir unsere Straße an. Es ist Montagabend, alle liegen in sauer vom Wochenende, und es war dann doch wieder schwül heute. Nichts los da unten. Zwei Mädels hängen vorm Plattenladen rum und zwei vor dem schlechten Thai-Imbiss. Vorm Gelötemarkt knutscht ein Pärchen. Vor unserer Haustür höre ich zwei Typen reden, aber ich kann nicht verstehen, was sie sagen. Ich glaube, es geht um Flugzeuge. Mehr passiert nicht. Es ist, als wäre die Stadt im Laufe des Tages in eine Art Wärmezeitlupe gefallen, das passiert abends oft zurzeit, und jetzt lohnt es sich auch für niemanden mehr, da noch rauszukommen. Die Blätter an den Bäumen winken nur ganz, ganz langsam, die Lichterketten vor den Läden und Cafés glimmen nur leise, sogar die gammeligen Jugendstilfassaden haben aufgehört zu bröckeln, und ich glaube, ich habe den ganzen Abend noch keine Mücke gesehen. Niemand hat Interesse daran, sich groß zu bewegen. Wer heute arbeiten musste, hat den ganzen Tag geschwitzt und sich dann in der lauwarmen Dusche vergessen. Wer nicht arbeiten musste, lag schon seit heute Morgen am Elbstrand herum und bleibt natürlich auch dort liegen, wenn die Dämmerung kommt. Dann wird der Strand ja erst richtig schön.

Klatsche zündet sich eine Zigarette an.

»Gib mir auch eine«, sage ich.

»Die ist doch für uns beide«, sagt er, küsst mich und bläst mir Rauch in die Lunge.

Dann legt sich wie eine blausamtene Decke die Nacht auf unsere Scheitel, und wir schlafen ein. Vier Stockwerke über unserer Straße glittern wir einfach weg, und ich vergesse alles. Ich vergesse die Köpfe und die Hände und die Füße in den Müllsäcken. Ich vergesse den toten reichen Sohn und seinen kalten Vater. Ich vergesse die Mädchenhändler und die Mädchen. Ich vergesse sogar, was man Carla angetan hat. Ich vergesse den ganzen blöden Scheiß, bis zum Morgengrauen.