Sie stand auf einer Rolltreppe, die Rolltreppe fuhr nach oben. Sie träumte vor sich hin, dachte an gar nichts. Die Hand, die ihr von hinten unter den Rock fasste, packte fest zu. Es tat richtig weh. Sie schrie den Typen an, als er sich schnell an ihr vorbeidrängte, sie beschimpfte ihn, sie war so wütend. Er rannte die Rolltreppe hoch, oben angekommen drehte er sich zu ihr um und sagte: Was willst du denn, du Fotze. Komm schon her, du Fotze. Ich stech dich ab, du Fotze.

Sie bekam Angst vor ihm und versuchte irgendwie, die Rolltreppe nach unten zu laufen, sie wollte nicht an dem Mann vorbei.

Keiner der anderen Männer auf der Rolltreppe half ihr. Keiner sagte auch nur einen Ton. Manche ließen sie nicht mal durch.

Sonntagsfahrer

Wir sitzen in Klatsches Wohnzimmer im offenen Fenster in der Sonne, wir lassen die Beine nach draußen baumeln, wir trinken warmen, gezuckerten Kaffee und sehen uns den Sonntagmorgen in unserer Straße an.

»Werbespot«, sage ich.

»Reiner Werbespot«, sagt Klatsche. Er hat den Arm um meine Schultern gelegt.

Die Straße ist heute Morgen wirklich wieder wie gemacht für eine gutgelaunte Kaffeereklame. Friedlich, mit genau dem richtigen Schuss Leben. Wäre ich Kaffeekonzernchef, ich würde das hier sofort nehmen. Ich würde ein paar Takte fernsehtaugliche Gitarrenmusik drunterlegen, und dann würde ich ungeschnitten senden.

Die Sonne steht hoch über den Häusern um diese Zeit. Sie gießt ein heimatliches Licht über die Szene.

Der Eisdealer stellt seine runden Eisdielentische und die bunten Stühle raus, und er holt Topf für Topf sein frisch geschlagenes Eis aus der Kühltruhe. Dann trinkt er einen starken, dunklen Kaffee.

Der hübsche Junge vom Gelötemarkt steigt mit Meerwasserlocken aus seinem alten VW-Bus, hinter ihm springen, eins, zwei, drei, die Kinder seiner Freundin aus der offenen Seitentür, seine Freundin klettert hinterher, ihre langen, dunklen Locken sehen aus wie Federn. Die fünf kommen von der Ostsee. Das machen sie oft, einfach mal für eine Nacht an den Strand fahren und unter freiem Himmel schlafen. Er schließt den Laden auf. Nicht, um etwas zu verkaufen, nein. Sonntags machen sie nur auf, um auf der Bank vor dem Laden zu frühstücken. Der andere hübsche Junge vom Gelötemarkt ist inzwischen auch da. Er hat noch ein bisschen dicke Augen, der war wieder lange tanzen, wie so oft, ich hab gehört, dass er ziemlich gut tanzt. Und dann sind da noch zwei Mädchen, die haben wohl im Laden geschlafen, warum auch immer. Sie setzen sich alle zusammen auf die selbstgezimmerte Holzbank vorm Gelötefachmarkt und trinken erst mal Milchkaffee aus großen Gläsern. Ihre Gesichter sehen aus, als wäre es Kakao.

Vorm Kandie Shop treiben sich ein paar Einzelgänger rum. Frühaufsteher, wie der Typ im eleganten Hemd, der dünne Zigarillos raucht und stolz seinen alten Opel Senator bewacht. Der DJ, der zwar letzte Nacht aufgelegt hat, aber trotzdem wie immer um acht hoch ist, entweder, weil er seine Kinder zu Besuch hat, oder einfach, weil es ihm gefällt. Und der Kunsthändler, der mit seinem Hund rausmusste, und dann kann man ja auch gleich draußen bleiben und in Ruhe Zeitung lesen, wenn es schon endlich mal so schön ruhig ist in dieser Straße. Alle drei trinken natürlich Kaffee. Der DJ einen doppelten Espresso, der Senatormann einen verlängerten Espresso, der Kunsthändler einen Cappuccino.

In der Mitte der Straße, in einer sonnigen Parkbucht, schraubt Rocco Malutki an einer alten Schwalbe rum. Die Schwalbe ist ockergelb, und auf dem hinteren linken Kotflügel klebt ein Bild von Fury im Sonnenuntergang.

»Schau mal«, sage ich, »da ist Rocco.«

»Hab ich schon gesehen«, sagt Klatsche.

Wir nehmen jeder einen Schluck aus unseren Kaffeebechern. Wie gut, dass wir hier oben im vierten Stock sind. Da sieht uns von unten keiner. Wir sind raus aus der Reklamenummer.

»Wo hat der Spinner denn so schnell eine Schwalbe her?«, frage ich. »Der ist doch erst seit ein paar Tagen wieder in der Stadt.«

»Die hat er sich organisiert«, sagt Klatsche.

Organisiert. Schon klar.

»Wie findest du das mit Rocco und Carla?«, frage ich.

Er trinkt seinen Kaffee aus, zieht mich an sich und flüstert mir ins Ohr: »Genau richtig.«

Das kitzelt. Ich schiebe ihn weg und sehe ihn an. Dann sehe ich nach oben in den Hamburger Himmel, dann wieder nach unten in unsere Bilderbuchstraße, und dann passiert etwas sehr Merkwürdiges: Ich weiß, wo ich hingehöre.

*

Klatsche und Rocco schrauben wie die Wahnsinnigen an der alten Schwalbe rum. Das Ding ist schwer zum Laufen zu kriegen. Nach zwei Stunden hatte ich keine Lust mehr, zuzuschauen. Irgendwann ist ja auch mal gut mit auf der Straße Kaffee trinken. Ich hab mich auf den Weg zu Carla gemacht, was anderes trinken.

Carla steht in der Küche und rührt eine rosarote Flüssigkeit in einem großen Krug an.

»Himbeerlimonade«, sagt sie.

Sie schmeißt ein paar Eiswürfel und eine Handvoll Blumen in den Krug.

»Wozu die Blumen?«, frage ich.

»Schmeckt bunter.«

Wir gehen nach vorne in den Laden. Ist nicht viel los heute. Die Leute sind wahrscheinlich alle am Strand. Carla nimmt zwei große Gläser aus dem Regal und gießt uns Limonade ein. Ich setze mich an die Theke, sie stellt sich dahinter und fängt an, Geschirr abzuwaschen.

»Was ist mit der Knarre?«, frage ich.

»Der geht’s prima«, sagt sie.

»Hast du die jetzt immer dabei?«

»Dafür hab ich sie gekauft«, sagt sie.

»Und? Fühlst du dich damit besser?«

Sie unterbricht ihren Abwasch.

»Nein«, sagt sie. »Ich fühle mich nicht besser. Mir geht’s beschissen. Ich hab Angst, egal, wo ich bin. Ich hab Angst in meinem Bett, ich hab Angst in meinem Bad, ich hab Angst hier im Café, ich hab Angst auf der Straße. Ich hab Angst, wenn ich alleine bin, und ich hab Angst, wenn ich nicht alleine bin. Ich hab sogar Angst, wenn du bei mir bist. Ich habe das Gefühl, mein ganzes Wesen besteht zu neunzig Prozent aus Angst. Und der Rest ist eine Mischung aus Ekel und Wut.«

»Carla«, sage ich, »ich würde dir so gerne helfen.«

Ich hätte sie so gern beschützt.

»Du kannst mir nicht helfen«, sagt sie, »niemand kann mir helfen.«

»Ich hab in den letzten Tagen manchmal gedacht, dass es dir ein kleines bisschen bessergeht«, sage ich.

»Ich versuch’s mit Tapferkeit«, sagt sie. »Ich will mich nicht unterkriegen lassen. Die Arschlöcher haben mir meine Würde genommen, da unten im Keller.« Sie macht mit dem Abwasch weiter und bricht einer Tasse den Henkel ab. »Aber mein Leben kriegen sie nicht.« Sie atmet tief durch und sieht mich an. Da sind Tränen in ihren Augen.

»Zigarette?«, frage ich.

»Ja«, sagt sie.

»Dann komm.«

Wir gehen raus, setzen uns auf den Gehsteig und rauchen, ich hab den Arm um sie gelegt, und sie erzählt mir von Rocco Malutki. Wobei es im Vergleich zu den Geschichten, die Carla sonst immer mit Männern hat, nicht viel zu erzählen gibt. Es gibt keine Sauftouren, keine wilden Nächte, keine Dramen. Es gab lediglich eine vorsichtige Knutscherei mit Hafenblick, unter einer Plastikpalme. Seitdem sehen sie sich jeden Tag. Er kommt einfach immer so gegen Nachmittag im Café vorbei. Wenn Carla dann am Abend den Laden zuschließt, gehen sie spazieren oder was essen. Und wenn Carla müde wird, bringt er sie nach Hause. Gestern Abend wollte sie nicht alleine sein. Da ist er über Nacht geblieben. Er hat gewartet, bis sie eingeschlafen war, dann hat er sich ins Wohnzimmer verzogen.

»Hört sich gut an«, sage ich.

Sie nickt. »Es stimmt auch nicht, dass ich immer Angst habe.« Sie zieht an ihrer Zigarette. »Wenn Rocco bei mir ist, vergesse ich das manchmal.«

Ich hebe ein paar Steinchen von der Straße auf und lasse sie durch meine Finger rieseln.

»Ich hab mich mit Klatsche vertragen«, sage ich.

Carla grinst mich von der Seite an und hält ihr Glas in die Höhe.

»Prost Limo«, sagt sie.

»Prost.«

Wir rauchen unsere Zigaretten auf, trinken aus und gehen wieder rein.

Ich setze mich noch ein bisschen an die Theke und blättere in der Sonntagszeitung, und dann sitzt da plötzlich diese Frau neben mir, hab ich gar nicht mitgekriegt, dass die reingekommen ist. Sie ist fast so groß wie ich, und weil sie ein Tank-Top trägt, sieht man, dass sie auffällig gut trainiert ist. Das ist eine von diesen Frauen, die unglaublich definierte Arme haben. Ich finde, dass das immer höchst merkwürdig aussieht, aber irgendwie auch sehr anziehend wirkt. Sie hat glatte, hanseatisch blond gesträhnte Haare, die im Nacken zu einem strengen Zopf gebunden sind. Sie sitzt neben mir, liest in der Zeitung von gestern und trinkt eine von Carlas selbstgemachten Limonaden, ich glaube, das ist Apfel. Irgendwoher kenne ich die Frau. Carla lächelt sie an, als sie an ihr vorbeiläuft.

Ah. Jetzt weiß ich. Die Köchin.

Ich hab ja ihre Sendung gesehen. Ich hab zwar nicht mitgekriegt, worum es da genau ging, weil Klatsche mich die ganze Zeit sparsam von der Seite angekuckt hat, und das hat mich dann doch sehr irritiert, aber die Frau hab ich mir gemerkt. Natürlich vor allem wegen des Essens, das sie offensichtlich in der Lage ist zu kochen, aber auch, weil die echt stramm aussieht. Wie ein Offizier im Köchinnenkostüm. Das ist mir schon aufgefallen, als ich sie am Freitag in der Glotze gesehen habe. In echt ist das noch viel heftiger. Sie hat eine Ausstrahlung, als wäre sie dafür geboren, Befehle zu geben. Ich würde sie mir wirklich gerne genauer ansehen, aber ich will nicht aufdringlich sein. Ich versuche, mich wieder auf meine Zeitung zu konzentrieren.

»Sagen Sie mal, Carla, sind Sie okay?«

Die Köchin hat aufgehört zu lesen und sich Carla zugewendet.

Carla sieht sie an, zuckt mit den Schultern.

»Geht so«, sagt sie. Sie nimmt ein Tuch und wischt einmal über die Theke. »Kein Grund, sich Sorgen zu machen.«

Die Köchin nimmt ihr das nicht ab, das kann ich sehen.

»Ich freu mich auf jeden Fall, dass Ihr Café wieder auf ist«, sagt sie.

Carla lächelt nur und antwortet nicht. Die Köchin lächelt zurück und nippt an ihrer Limonade. Sie hat verstanden, dass Carla nicht darüber reden will. Und sie hat bemerkt, dass ich sie unter die Lupe nehme. Sie dreht den Kopf zu mir und sieht mich an.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Oh. Unangenehm. Aber meine Freundin ist auf Zack. Bevor ich anfangen kann, mich blöde durch die Gegend zu entschuldigen, dass ich die arme Frau so anstarre, greift Carla ein und sagt:

»Jules, das ist meine Freundin Chastity. Ich hab ihr von Ihnen erzählt. Sie war neulich nämlich so begeistert von dem Essen im Taste.«

Sie setzt noch ein strahlendes Lächeln drauf, und sofort ist ein dezentes, aber freundliches Band geknüpft, zwischen der Köchin und mir. Sie streckt mir die Hand entgegen.

»Jules Thomsen. Freut mich.«

»Hallo«, sage ich. »Chastity Riley.«

Sie hat einen Händedruck wie ein Zimmermann.

»Was hatten Sie denn auf dem Teller?«, fragt sie.

»Fisch«, sage ich, »den mit den vielen Kräutern. Das war eine tolle Sache.«

»Ah ja«, sagt sie und nickt. »Den macht inzwischen mein Sous-Chef. Ich hab die Fischgerichte fast komplett abgegeben.«

»Haben Sie keine Lust mehr auf Fisch?«, frage ich und komme mir vor wie Reinhold Beckmann.

»Doch«, sagt sie, »aber ich finde, man muss sich konzentrieren. Und ich hab mich fürs Fleisch entschieden.«

»Langweilt Sie das nicht? Immer nur Fleisch?«, frage ich. Oder vielleicht ist es wirklich Reinhold Beckmann, der da fragt. Wenn ich Leute zu ihren Gefühlen befrage, komme ich mir meistens vor wie Reinhold Beckmann.

»Überhaupt nicht«, sagt sie. »Ich hab allein sieben verschiedene Würste im Programm, und jede einzelne ist ein Abenteuer, die Kräuter, die Gewürze …«

Gerade noch wirkte sie so streng. Jetzt, wo sie übers Kochen spricht, wird sie richtig weich.

»Mein Begleiter hatte eine von diesen italienischen Bratwürsten«, sage ich.

»Die Salsiccia mit gebratenen Kartoffeln?«, fragt sie.

»Ja«, sage ich, »genau. Der ist fast wahnsinnig geworden. Er hat gesagt, er hätte noch nie im Leben etwas gegessen, das so geschmeckt hat wie diese Wurst.«

»Sehen Sie«, sagt sie. Sie grinst sich einen. »Was war das für ein Typ, Ihr Begleiter?«

»Ein Anwalt«, sage ich. »Wieso?«

»Es interessiert mich, für wen ich koche. Los, tun Sie mir den Gefallen. Beschreiben Sie ihn.«

»Okay«, sage ich. »Er ist groß, und er ist ziemlich dünn. Er trägt immer Anzüge. Er ist klug, er hat Humor, er hat nicht viel Geld, und er hat ein Herz für die kleinen Leute. Ich glaube, er ist ein guter Mensch.«

»Hm«, sagt sie. Sie wirkt irritiert. »Okay. Das ist selten.« Sie stochert in ihrem fast leeren Limonadenglas.

»Was ist selten?«, frage ich.

»Nette Männer im Taste«, sagt sie.

Das Gefühl hatte ich allerdings auch.

»Das Gefühl hatte ich auch«, sage ich.

»Wollt ihr noch was trinken?« Carla huscht an uns vorbei. Der Laden ist inzwischen doch ganz gut voll geworden.

Ich schüttele den Kopf.

»Nein, danke«, sagt Jules Thomsen. Sie fummelt ein Päckchen Zigaretten aus ihrer Tasche.

»Rauchen Sie?«, fragt sie.

»Selbstverständlich«, sage ich.

Wir rutschen von unseren Barhockern, setzen uns an einen Tisch vor der Tür und rauchen. Die Köchin schaut auf ihre Zigarette.

»Sind Sie gut mit Carla befreundet?«

»Wir sind so was wie eine Familie«, sage ich.

»Was ist passiert?«, fragt sie.

Sie sieht mich an. Sie weiß offensichtlich, dass etwas passiert ist. Sie ist nicht doof, und sie mag Carla. Ich will sie nicht verarschen. Aber ich will auch Carla nicht in den Rücken fallen. Ich antworte nicht.

»Ist es das, was ich denke?«, fragt sie.

»Ich weiß nicht, was Sie denken«, sage ich.

»Dass ihr jemand was getan hat«, sagt sie. »Man kann ihr ansehen, dass jemand brutal war. Als wären da Risse in ihrem Blick.«

Ich sage nichts dazu. Ich ziehe heftig an meiner Zigarette. Ich finde, das ist auch eine Antwort.

»Ich wünschte«, sagt sie, »solche Typen würden die Angst, die sie verbreiten, ein einziges Mal selbst erleben. Nur ein einziges verdammtes Mal. Ich wette, die würden sich in die Hosen scheißen. Vielleicht würden die sogar sterben vor Angst. Gibt’s so was eigentlich? Tod durch Angst?«

*

Der Calabretta wartet vor dem alten Hochbunker am Baumwall auf mich. Als er mich kommen sieht, schiebt er seine Sonnenbrille in die Haare. Seine Augen sind winzig. Ich glaube, er hat die Sonnenbrille heute noch keine Minute nicht aufgehabt. Mein neapolitanischer Kollege sieht müde aus.

»Moin«, sage ich.

»Moin«, sagt der Calabretta.

»Alles klar bei Ihnen?«, frage ich.

Er schiebt sein Kinn vor und zieht die Mundwinkel nach unten. Italienisch für: Weiß nicht. Was soll ich sagen.

Er setzt sich in Bewegung, schaut andeutungsweise nach links und rechts und marschiert über die rote Ampel. Ich stolpere hinterher. Er ist zackig unterwegs.

»Was ist los?«, frage ich, wir sind schon fast an der Kehrwiederspitze. »Schlecht geschlafen?«

»Überhaupt nicht geschlafen«, sagt er.

»Warum das denn?«, frage ich.

»Ich hab mir die letzten beiden Nächte um die Ohren gehauen. Auf dem Kiez und in der Sternschanze.«

Ich wusste nicht, dass der Calabretta noch so exzessiv ausgeht. Ich dachte immer, der ist anders als ich. Ich dachte, der ist erwachsener.

»Neue Freundin?«, frage ich.

»Quatsch«, sagt er. »Wann hatte ich denn zum letzten Mal eine Freundin?«

Stimmt. Mit den Frauen klappt’s nicht beim Calabretta. Dabei ist er ein wirklich attraktiver Typ. Ist wohl die typische Bullenkrankheit. Zu viel Arbeit, zu harte Arbeit, zu unberechenbar. Da hat keine Bock drauf.

»Da ist so ’ne Art Todesengel unterwegs«, sagt er. »Da rennt vermutlich eine Frau durch die Nacht und killt Männer. Und wir haben immer noch keine Ahnung, wo wir ansetzen sollen. Das macht mich wahnsinnig.«

»Wie kommen Sie darauf, dass das eine Frau ist?«

»Wir haben diese Locke, die wir an Dejan Pantelics Kopf gefunden haben«, sagt er. »Und ich hab’s im Gefühl.«

Irgendwie haben das alle im Gefühl. Ich weiß nicht.

»Ich bin die Ausgehmeilen rauf und runter getigert«, sagt er, »ich war in jeder beschissenen Kneipe, in jedem Club. Ich hatte gehofft, dass mir irgendwas oder irgendjemand auffällt.«

»Und?«, frage ich.

»Nichts«, sagt er. »Es ist zum Kotzen. Ich weiß nicht mehr weiter.«

Ich hab diesmal auch keinen Schimmer, wo’s langgeht, aber das Merkwürdige ist, dass mir auch das herzlich egal ist. Dass wir keinerlei Ermittlungserfolg vorweisen können, berührt mich genauso wenig wie die Tatsache, dass schon drei Männer gestorben sind.

Ich kann mir das nicht erklären. Das passt einfach nicht zu mir. Wie auch immer. Ich sollte mich langsam mal am Riemen reißen. Wir müssen demnächst ein paar Ergebnisse präsentieren. Der Oberstaatsanwalt wird langsam zappelig. Die Presse sowieso. Die schlachten das inzwischen seit über einer Woche aus und kommen mit den verwegensten Dingern rüber. Knochensägenmassaker. Körperfresser. Hamburg, Stadt der Wasserleichen.

Der Calabretta stratzt durch die Speicherstadt, als hätte er einen Dynamo im Arsch. Er will zum Faller.

»Tut mir leid«, sage ich.

»Was tut Ihnen leid?«, fragt er.

»Dass ich keine Hilfe bin.«

»Ist ja auch nicht Ihr Job, mir zu helfen«, sagt er. »Es reicht, wenn Sie mir Anweisungen geben. Sie sind mein Chef. Sie sind die Herrin des Verfahrens. Oder?«

Der Calabretta ist nicht nur müde. Der Calabretta ist sauer auf mich. Und das zu Recht.

»Vielleicht ist es nicht mein Job«, sage ich, »aber ich finde, es ist meine Aufgabe. Das war beim Faller so, und das war bisher auch bei uns beiden so. Können wir mal ein bisschen langsamer gehen?«

Der Calabretta rennt so, dass ich kaum reden kann.

»Oh. Ja. Klar.« Er haut die Bremse rein und klingt schon wieder sanfter. Der Calabretta ist so ein netter Typ, der kann nicht mal anständig sauer sein. »Machen Sie sich mal keine Vorwürfe.«

»Ich mach mir aber Vorwürfe«, sage ich, »ich weiß auch nicht, woran das liegt, dass ich nicht heißlaufe bei dieser Geschichte. Mal ganz ehrlich: Ist doch ein geiler Fall. Ich müsste Tag und Nacht mit Ihnen unterwegs sein.«

»Aber?«, fragt der Calabretta.

»Es juckt mich nicht«, sage ich.

»Warum nicht? Es werden unschuldige Menschen getötet. Sie sind doch hier der Gerechtigkeitsfanatiker von uns beiden.«

»Eben«, sage ich.

Der Calabretta bleibt stehen und sieht mich an.

»Was? Eben?«

»Ich habe das Gefühl«, sage ich, »dass die nicht unschuldig sind.«

»Also bitte«, sagt der Calabretta. »Was soll das denn?«

Ich zucke mit den Schultern.

»Ist so ein Gefühl.«

»Das ist ein Scheiß«, sagt er und knufft mich in den Oberarm, »so ein Schwachsinn.«

Das mag ich so am Calabretta. Er behandelt mich nie wie eine Staatsanwältin. Er behandelt mich so, wie er jede andere Bekloppte auch behandeln würde.

Wir gehen weiter, ich zünde mir eine Zigarette an. Es ist mehr als ein Gefühl. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die toten Männer nicht unschuldig waren. Ich glaube, die haben was gemacht, und dafür haben sie mit dem Leben bezahlt. Deshalb finde ich es nicht tragisch, dass sie tot sind. Und ich glaube, der Calabretta versteht das nicht.

»Was machen denn unsere Mädchenhändler so?«, fragt er.

»Morgen gibt’s die Plädoyers«, sage ich. »Und dann sind die Typen hoffentlich für ein paar Jahre weg vom Fenster. Alles andere wäre ein verdammtes Wunder.«

»Gut gemacht«, sagt er.

»Selber«, sage ich.

Wir laufen am Kaispeicher vorbei. Da hinten ist der Leuchtturm. Nur der Faller, der ist nicht mehr da.

*

»Ein Mann ohne Bauch ist ein verdammter Krüppel«, hat der Calabretta gesagt und sich auf den kleinen Ring über seinem Gürtel geklopft, und dann haben wir beschlossen, dass wir in die Kleine Pause gehen, Currywurst Pommes essen.

Die Kleine Pause ist die Art von Imbiss, die es eigentlich nur noch im Fernsehen gibt. Fast rund um die Uhr auf, mit einer Unterbrechung zwischen fünf und sechs Uhr morgens, und mit Stammgästen, die sich die Schichten teilen. Mindestens zwei sind immer da, es gibt also permanent was zu klönen und zu beschnacken. Die Damen vom Grill sehen super aus, jede ist ihre eigene Marke. Die eine zum Beispiel trumpft seit Jahren mit den wildesten Haarfarben auf. Blau, Lila, Rot, gestreift, da war schon alles dabei. Und so sitzen wir jetzt schön an der polierten Achtziger-Jahre-Theke, trinken Alsterwasser vom Fass und lassen uns beschimpfen. Die Beschimpfung durch die Chefinnen gehört in der Kleinen Pause dazu. Wer sich gut beträgt, wird liebevoll beschimpft, wer sich nicht benehmen kann, wird richtig beschimpft und fliegt raus. Ich habe den Verdacht, das ewige Ausschimpfen der Gäste ist im Grunde fürsorglich gemeint. Als müsste man die Leute auf Sankt Pauli ihr ganzes Leben lang erziehen, damit sie auch ja anständig bleiben und keinen Mist bauen.

»Wir kriegen noch zweimal Currywurst Pommes«, sagt der Calabretta in Richtung Theke und reckt den Finger in die Luft. Es dauert ihm zu lange.

»Das wollen wir doch erst mal sehen. Ihr zwei verhungert schon nicht. Nä, mein Dickerchen?«

Der Calabretta nimmt einen großen Schluck von seinem Alsterwasser und versucht, nicht beleidigt zu sein. Er weiß, dass er dann sofort noch eine hinterher kriegt.

»Wie war’s eigentlich in Neapel?«, frage ich. »Sie haben noch gar nichts erzählt.«

»Das war schön«, sagt er, und sofort schwimmt ein eigentümlicher Glanz in seinen Augen. Das ist nicht immer so, wenn der Calabretta von Italien erzählt. Das scheint irgendwie tagesformabhängig zu sein. Es gibt Tage, da ist Italien einfach nur ein verkommener Haufen Dreck, mafiaverseucht, korrupt, weinerlich. Und es gibt Tage, an denen ist Italien das gelobte Land, die verlorene Heimat, die große Sehnsucht. Heute ist offensichtlich einer von den sentimentalen Tagen.

»Hätten wir Pizza essen gehen sollen?«, frage ich.

»Die wäre wahrscheinlich schneller auf dem Tisch gewesen«, sagt er. Er tut brummig und schaut aus dem Fenster. Heißt in Calabrettasprache: Lass mich mal kurz. So viel weiß ich inzwischen über meinen Kollegen. Vielleicht ist genau das die Schwelle zur Freundschaft. Wenn man lernt, die Codes des anderen zu entschlüsseln.

Als unser Essen kommt, sind seine Augen wieder trocken. Er kann mich wieder anschauen.

»Ich war nur drei Tage in Neapel, hab ein paar Freunde getroffen«, sagt er und piekt ein Stück Currywurst auf. »Dann war ich bei meiner Familie. Ich wollte eigentlich nur zum Mittagessen hinfahren. Aber dann bin ich doch dageblieben.«

Ich meine, die Verwandten vom Calabretta wohnen in gefährlicher Nähe zum Vesuv.

»Die wohnen am Vulkan, oder?«, frage ich.

»Richtig«, sagt er. »In einem kleinen Dorf. Da wächst der Wein von den Dächern, und es riecht den ganzen Tag nach Muschelsoße.«

»Ist das nicht ein bisschen gefährlich«, sage ich, »so nah am Vesuv zu wohnen?«

»Wenn der Vesuv ausbricht, explodiert er«, sagt der Calabretta. »Da ist das völlig egal, ob man neben dem Krater sitzt oder auf einer schicken Terrasse in Sorrent. Wenn der Vesuv ausbricht, fliegt die ganze Küste in die Luft. Das Ding hat eine Sprengkraft, die ist absolut tödlich.«

»Oh«, sage ich.

»Aber so ist das im Leben«, sagt er. »Die schönsten Orte sind oft die gefährlichsten.«

Ich hab das Gefühl, jetzt meint er nicht den Vulkan.

»Jetzt meinen Sie aber nicht den Vulkan, oder?«

Er schaufelt sich einen Berg Pommes in den Mund, kaut und schaut wieder aus dem Fenster. Draußen ist Wind aufgezogen. Die Bäume werfen unmotiviert ein paar Blätter ab. Der Calabretta sieht mich wieder an.

»Ich war nach vielen Jahren mal wieder am Grab meines Onkels. Er war zwei Jahre jünger als ich jetzt bin, als sie ihn beerdigen mussten. Ich hätte nicht gedacht, dass mich das so umhaut. Deshalb musste ich dann auch im Dorf bleiben. Bei meiner Tante Giuseppina. Das kann doch so schnell gehen, und schon kommt der Tod, und dann hat man keine Familie mehr.«

Ich weiß, mein Freund, ich weiß.

»Woran ist Ihr Onkel gestorben?«, frage ich.

»Camorra«, sagt er. »Peppino hatte sich mit der Camorra angelegt. Er war Carabiniere, und er hat seinen Job ernst genommen. Da haben die Wichser ihn umgelegt. Sie haben ihn vor San Domenico Maggiore erschossen und da liegen lassen. Vor einer Kirche, verstehen Sie? Die haben aus meinem toten Onkel eine Botschaft gemacht: Lasst uns in Ruhe, sonst geht’s euch wie dem da.«

Er schiebt sich wieder einen Berg Pommes in den Mund und gleich ein großes Stück Currywurst hinterher. Er kann kaum kauen, so voll sind seine Backen.

Ich hab mich immer gefragt, warum der Calabretta so durch und durch Bulle ist, warum er sich manchmal so verbeißt und nie lockerlassen kann. Jetzt weiß ich, warum. Und ich glaube, er neigt zum Kummerspeck.

Ich schiebe meinen Teller weg und schiebe auch seinen zur Seite, dann lege ich meine Hände auf seine Unterarme und drücke fest zu. Ich würde ihm am liebsten sagen, wie gern ich ihn hab und wie gut es ist, mit ihm zusammenzuarbeiten und nicht mit jemand anders, aber das geht natürlich nicht. Stattdessen sage ich:

»Noch ein Bier?«

Er lacht und kaut und nickt, und dann muss ich auch lachen. Ich lasse seine Unterarme los, hebe die Hand und bestelle zwei Bier.

»Ihr verfluchten Saufnasen«, sagt die Rothaarige, die gestern noch pink war.

»Wissen Sie was«, sagt der Calabretta, als er endlich seinen dicken Klops Fast Food runtergeschluckt hat, »es gibt da in Neapel etwas, das sollten Sie sich eines Tages mal ansehen.«

»Was denn?«, frage ich.

Ich weiß beim besten Willen nicht, was ich mir bei den Itakern ansehen sollte.

»Es gibt da eine Kapelle«, sagt er, »ein unscheinbares Ding, findet man nur ganz schwer. In dieser Kapelle liegt ein Marmorjesus. Vom Kreuz genommen, er hat’s hinter sich, jetzt liegt er da. Der liegt da so friedlich, das beruhigt einen unwahrscheinlich, den anzusehen. Der Jesus ist von Kopf bis Fuß mit einem Schleier bedeckt.«

Ein toter Mann aus Stein mit einem Schleier aus Stein. Das ist ja wohl nicht unbedingt was Besonderes in einer Kirche.

»Das ist ja wohl nichts Besonderes«, sage ich.

»Richtig«, sagt der Calabretta. »Aber das Verrückte ist, dass ich diese Figur schon so oft gesehen habe, und jedes Mal muss ich sie wieder anfassen. Weil ich einfach nicht glauben kann, dass der Schleier aus Marmor ist. Der ist so fein und so luftig, der sieht aus, als würde er sich bewegen. Ich hab in meinem ganzen Leben noch nie einen Stein gesehen, der so wenig wie ein Stein aussieht.«

»Und?«, frage ich. »Was hat das jetzt mit mir zu tun?«

»Mit Ihnen ist es genau andersrum«, sagt er. »Ich hab einfach noch nie jemanden gesehen, der so sehr nach einem Stein aussieht und so wenig einer ist. Ich schwöre Ihnen, Riley, wüssten die Leute davon, sie würden Sie auch ausstellen.«

Ich lehne mich zurück und verschränke die Arme vor der Brust. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.

»Wie wär’s mit einem Eis?«, fragt der Calabretta und grinst mich so feist an, dass ich nicht anders kann als zurückzugrinsen.

Ich versetze ihm unter dem Tisch einen leichten Tritt, dann stehen wir auf, zahlen, hören uns an, dass wir elende Tagediebe sind, gehen vor die Tür und zur Eisdiele nebenan, holen uns da jeder zwei Kugeln Amarenakirsche und legen uns in die Liegestühle, die auf dem Gehsteig stehen.

Der Calabretta kuckt sich die windigen Baumkronen über unseren Köpfen an. Es weht ein richtig laues Lüftchen. Irgendwie ist es nicht mehr so heiß. Die Schwüle ist ein bisschen raus aus der Atmosphäre.

»Also«, sagt er, »was ist jetzt?«

»Was ist womit?«

»Mit unseren toten Männern«, sagt er. »Wo machen wir weiter? Der alte Faller war uns ja keine große Hilfe.«

»Gibt’s vielleicht irgendwas, woran wir noch gar nicht gedacht haben?«, frage ich. »Die ganz andere Lösung? Eine Ecke, in die wir mit unseren Ermittlungen nicht reinkommen? So eine Art toten Winkel?«

Der Calabretta schaut mich an. Er sieht aus, als würde er etwas sagen wollen, als läge ihm was auf der Zunge, eine Idee, ein Anfang, irgendwas. Aber dann sackt er zusammen, atmet schwer aus und sagt:

»Ich weiß es nicht. Ich bin so müde.«

Es klackert neben mir, und dann kommt eine Frau die drei Stufen aus der Eisdiele runter auf den Gehsteig. Ihre schwarzen Locken sehen aus, als ob sie unter der Farbe schon sehr grau sind, und so sieht auch ihr Gesicht aus, aber die Frisur ist auf eine trotzige Art jugendlich mit einer rosa Klemme am Hinterkopf zusammengesteckt. Zu diesem rührenden Frisurversuch trägt sie einen zipfeligen weißen Spitzenrock, so ein wildes Ding mit Zacken am Saum. Auf ihre Jeansjacke sind haufenweise Pailletten gestickt. Totenköpfe, Blumen, Herzen, Tränen. Sie hat diese bizarren Stoffturnschuhe an, die zwar einerseits Turnschuhe sind, andererseits aber echt hohe, dünne Absätze haben. Gummistöckelschuhe. Dabei kann sie kaum gehen. Sie kommt auf zwei Krücken aus der Eisdiele. Die Frau braucht eigentlich einen Rollstuhl. Ich brauche einen Augenblick, bis ich begreife: Ihr Rollstuhl steht gegenüber. Sie steigt doch tatsächlich in dieses dicke silberne S-Klasse-Coupé, das da schon die ganze Zeit in zweiter Reihe parkt. Das ist eine richtig fette Zuhälter-Schleuder, voll verchromt und verfelgt, mit allem Pipapo. Nur am linken hinteren Kotflügel, da rostet eine gigantische Beule. Die Frau klettert umständlich in ihren Benz, lässt den Motor an und braust davon. Die Karre hört sich an wie ein Panzer.

»So viel steht fest«, sage ich, »die war’s auf jeden Fall nicht.«