Der Raum ist von oben bis unten gefliest, in einem hellen, matten Grau, kühl, modern. Die Schränke und die Arbeitsflächen, die Töpfe, die Pfannen und die Schüsseln sind aus glänzendem Edelstahl. In der Mitte steht ein Block aus zwei massiven Gasherden, mit jeweils vier Flammen. Links im Fußboden ist ein Ausguss.

Da sind zwei Frauen, etwa Mitte dreißig. Die eine hat dunkelblonde Locken, wirr hochgesteckt. Sie trägt ein knielanges, offensives Kleid. Sie ist eine von den Frauen, die man sieht, und man muss sofort an Sex denken. Die andere Frau wirkt eher nüchtern. Sie ist groß und schlank, sie hat ihre hellblonden, halblangen Haare zu einem strengen Zopf gebunden, trägt gutgeschnittene Jeans und ein enges dunkles T-Shirt. Sie macht die Ansagen. Sie scheint die zu sein, die sich auskennt.

Die Frau mit den Locken gießt Rotwein in einen großen Topf, in dem Topf liegen zigarettenschachtelgroße Stücke Fleisch. Die Chefin mariniert Koteletts in Öl und Kräutern und schichtet sie in eine Schale. Aus einer beeindruckenden Maschine läuft durch zwei Löcher frisches Hackfleisch in eine große Wanne.

Außer den Frauen ist niemand in der Küche. Die digitale Uhr an der Wand zeigt 3:37.

»Was glaubst du?«, fragt die mit den Locken.

»Um sechs sind wir durch«, sagt die andere und wischt sich mit einem dünnen grauen Handtuch den Schweiß von der Stirn.

Angel Heart

Die Luft in meinem verdammten Büro ist so dick, man könnte sich ein Schiffstau daraus stricken. Es ist übertrieben heiß in Hamburg, seit einer knappen Woche sprengt die Temperatur täglich die Dreißig-Grad-Marke. Und jetzt, über Mittag, legt die alte Stadt da noch mal ein paar Grad drauf.

Ich streiche mir die Haare aus der Stirn und binde sie am Hinterkopf zu einem Knoten. Ich knöpfe mein Hemd ein bisschen weiter auf, schiebe die Ärmel hoch und stelle meinen Tischventilator von zwei auf drei. Dann trinke ich einen Schluck Wasser, zünde mir eine frische Zigarette an und mache weiter. Nächste Woche wird drei Frauenhändlern der Prozess gemacht. Ich bin am Aktenfressen. Die Typen haben Mädchen aus rumänischen Dörfern einen vom Pferd erzählt, von tollen Jobs im Ausland, als Tänzerinnen, Kellnerinnen, Kindermädchen. Als die jungen Frauen dann in Hamburg ankamen, waren sie ihre Pässe los und mussten auf dem Kiez in billigen Hinterhofpuffs anschaffen gehen. Über Jahre haben die Wichser das durchgezogen, bevor wir Wind davon bekommen haben. Das Übliche halt. Irgendwie merken das alle immer viel zu spät, wenn Frauen oder Kinder gequält werden. Das merkt nie einer rechtzeitig. Ich kann es nicht wiedergutmachen, dass wir die Frauen so lange haben hängen lassen. Aber ich werde auf diesen Prozess vorbereitet sein, wie ich noch nie in meinem Leben auf einen Prozess vorbereitet war, das schwöre ich. Vor diesen miesen Arschlöchern wird die unbarmherzigste Staatsanwältin stehen, die je vor ein paar miesen Arschlöchern stand. Die werden sich fühlen wie die drei Streifenhörnchen, wenn ich mit ihnen fertig bin. Die werden den Tag verfluchen, an dem sie die Idee hatten, Menschen zu verschachern.

Die Frauen, die wir in einer dunklen Wohnung in der Kastanienallee fanden, waren wie Sklavinnen gehalten worden. Sie waren alle krank. Die Freier hatten ohne Gummis rangedurft, für dreißig Euro pro Nummer, und jeder von ihnen hat was Nettes dagelassen. Zusätzlich hatten vier von den fünf Frauen Verletzungen im Gesicht und am Körper. Und zwei hatten Kinder, die lebten da mit in der Hölle.

Manchmal verfolgen mich die Gesichter der Toten, die ich so zu sehen bekomme. Aber das hört in der Regel nach zwei, drei Nächten auf. Die Gesichter dieser jungen Frauen besuchen mich inzwischen seit sechs Wochen in meinen Träumen. Der Blick, den sie alle in den Augen hatten. Verängstigt. Entwürdigt. Geprügelt. Und die beiden Kinder. Wie die gekuckt haben. Als würden sie nichts von all dem begreifen und dann doch wieder alles. Soll das jetzt das Leben sein? Dieses schäbige, düstere Kabuff hier?

Mein Telefon klingelt. Der Brückner ist dran.

»Rothenburgsort, Chef«, sagt er, »wir machen uns gerade auf den Weg. Kommen Sie mit?«

Er klingt gehetzt. Der Calabretta ist noch im Urlaub, und die Stelle vom Faller ist bisher nicht neu besetzt worden. Die Kommissare Brückner und Schulle sind alleine. Die haben gerade richtig Stress am Arsch.

»Klar komme ich mit«, sage ich. »Was ist denn los?«

»Leichenteile«, sagt er, »wir wissen noch nichts Genaues.«

»Wo?«

»Am Sperrwerk in der Billwerder Bucht. Sollen wir Sie mitnehmen?«

»Ich bin in fünf Minuten vor der Tür.«

Ich mache den Ventilator aus, schnappe mir meine Kippen, mein Feuerzeug und meine Sonnenbrille und gehe raus. Ich denke darüber nach, ob ich den Calabretta anrufen soll. Leichenteile sind eventuell ein dicker Brocken. Wenn ich ihn anrufe, bricht er seine Ferien ab. Wenn ich ihn nicht anrufe, bin ich erst mal der zuständige Oberbulle. Ich rufe ihn nicht an.

*

Der Brückner hat das Kommando am Tatort übernommen, er stellt die Fragen. Das finde ich gut. Ich rede ja nicht so gerne. Und der Kollege Schulle ist mal eben hinter einem Streifenwagen verschwunden. Ich würde sagen, der wird gerade sein Frühstück wieder los. Ich zünde mir eine Zigarette an.

Die Spurensicherung ist ungefähr zeitgleich mit uns angekommen, die sind noch dabei, den Fundort abzusperren. Gleich scheuchen sie mich weg. Ich stehe auf einem Grünstreifen rum, der zum Wasser führt. Hinter mir steht ein einsames Herrenhaus. Das Haus ist schick renoviert, in einem hellen Gelb gestrichen, und die neuen Fenster glänzen in der Sonne. Der Garten ist eher ein kleiner Park. Ich wusste gar nicht, dass es in der Ecke hier Leute mit Geld gibt. Gleich links steht noch eine kleine Villa, die ist nicht ganz so herrschaftlich, eher zierlich, wie eine Sommerfrische. Aber auch die hat vor nicht allzu langer Zeit einen frischen weißen Anstrich bekommen. Gegenüber liegen Gerümpel und eine verrottende alte Werft, rechts knallt das Sperrwerk in den blauen Himmel. Das Ding sieht ein bisschen aus wie eine Raffinerie, wie eine kleine Fabrik. Es überrascht mich, aber ich finde das alles ganz hübsch. Vielleicht sollte man öfter mal nach Rothenburgsort fahren. Ich muss das mit Klatsche und Carla besprechen. Mir ist heiß.

In ungefähr zwei Metern Entfernung auf einer Kaimauer liegt der schwarze Müllsack, wegen dem wir hier sind. Ich hatte gehofft, dass der Rauch meiner Zigarette den Geruch ein bisschen überlagern würde. Funktioniert leider nicht. Es stinkt bestialisch. Ich muss an die Schlachterei denken, über der ich als Studentin eine Weile gewohnt habe.

»’tschuldigung, Frau Riley, wir müssen hier mal eben absperren. Können Sie da hinten weiterrauchen?«

Ja, ja. Ist ja schon gut.

*

Ich hab mich von zwei uniformierten Kollegen an der Speicherstadt rausschmeißen lassen. Ich hatte das Gefühl, dass am Tatort schon genug Aufruhr ist, und dann kamen noch die Taucher, und dann immer diese Hitze. Da geht man den Leuten doch schnell auf die Nerven, wenn man unnötig wo rumhängt.

Und einer muss ja auch nach dem Faller sehen.

Der Faller sitzt da, wo er immer sitzt, seit er sich vor drei Monaten hat pensionieren lassen: unterm Leuchtturm. Der Leuchtturm steht an der Spitze einer kleinen Landzunge im Hafen. Der Faller behauptet, dass er da von morgens bis abends sitzt, weil es Spaß macht. Ich glaube ihm kein Wort. Der sitzt da doch nicht freiwillig. Der Faller hat nie gerne irgendwo rumgesessen. Der Calabretta sagt, der Faller sitzt da, weil er versucht, die letzten dreißig Jahre klar zu kriegen, und ich denke, er hat recht. Der alte Mann muss da sitzen. Sonst würde er nämlich zu Hause rumeiern, in Ruhe Zeitung lesen und den Blümchen in seinem Garten beim Wachsen zusehen. Wie man das eben so macht als Frührentner, wenn man die Schnauze gestrichen voll hat. Und er hat die Schnauze gestrichen voll, das hat er mir bei seiner Pensionierung gesagt. Ach. Was weiß denn ich. Er redet ja auch mit niemandem mehr so richtig.

Ich gehe links am Kaispeicher vorbei. Den kleinen, rot-weiß geringelten Leuchtturm sieht man schon von weitem. Er wirkt immer, als wäre er aus Lego, wie er da so klein und niedlich und irgendwie sinnlos über dem mächtigen Hafenbecken steht und vor all den Containerschiffen, Kränen und fetten Backsteinbauten. Ich glaube, der steht da nur, weil das nett aussieht. Den braucht doch eigentlich kein Mensch. Außer dem Faller, der braucht ihn offensichtlich.

Der Weg zum Leuchtturm ist nicht asphaltiert. Die Hitze hat den Weg staubig gemacht. Gut, dass ich Stiefel anhabe. Fühle mich wie Clint Eastwood persönlich. Vor zwei Wochen, als es tagelang geschüttet hat, war das hier eine hässliche Sumpflandschaft. Da hab ich mich genauso gefühlt. Wie Eastwood natürlich, nicht wie die Sumpflandschaft. Das muss wohl ein Clint-Eastwood-Platz sein: Sieht verloren aus, ist aber ein stabiler Halt zu jeder Tages- und Nachtzeit, und bei jedem Wetter. Vielleicht ist der Faller deshalb ununterbrochen hier. Weil es stark macht, sich wie Clint Eastwood zu fühlen. Mit dem Eastwood-Gefühl im Leib kann man irgendwie eine Menge ab.

Er sitzt auf einem Klappstuhl, trägt ein weißes Hemd und eine graue Anzughose. Sein Sakko hängt über der Stuhllehne, und seinen alten Borsalino hat er gegen einen Strohhut getauscht, wegen der Sonne.

In der Hand hält er eine Angel.

Das ist neu.

»Faller?«

Er dreht den Kopf zu mir, sieht mich an und schiebt mit dem Zeigefinger seinen Hut nach oben, nur um ein paar Zentimeter.

»Was soll der Scheiß mit der Angel?«, frage ich.

Er schaut wieder aufs Wasser.

»Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass Sie hier Fische fangen, alter Mann.«

Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück und seufzt.

»Und wenn Sie was fangen?«, frage ich. »Wo wollen Sie das dann reintun? Ich seh hier keinen Eimer oder so was.«

Der Faller lächelt und sagt: »Ts.«

»Soll ich Ihnen vielleicht ein paar Köder besorgen?«

Er sieht mich an, als hätte ich ihn gefragt, ob ich ihm ein paar Teenienutten auf Koks besorgen soll.

»Das war eine ernstgemeinte Frage«, sage ich, »so wird das nichts mit dem Abendessen.«

Er seufzt noch mal. Dann streckt er seine Hand aus, zieht mich neben sich auf den Boden. Ich setze mich, und er legt mir den Arm um die Schultern. Mein Gott, ist das heiß hier. Ich mach mir ein bisschen Sorgen, dass der Faller einen Hitzschlag kriegen könnte. Vor unserer Nase fährt ein Raddampfer vorbei. Ich muss an Bellehaven denken, die Heimat meines Vaters in den Südstaaten. Da gehören diese blöden Dampfer zum Standardprogramm. Gaukeln den Amerikanern die gute alte Zeit vor. Mir wird auf der Stelle noch heißer.

»Hören Sie auf zu nerven, Chastity«, sagt der Faller. »Das ist hier schon alles so, wie es sein soll.«

»Warum glaube ich Ihnen das nicht?«

Statt zu antworten holt er zwei Roth-Händle aus seiner Brusttasche.

Die Tasche sitzt genau da, wo damals die Kugel durchging.

Mein alter Freund hat so ein verdammtes Glück gehabt. Manchmal wache ich morgens auf und habe das Gefühl, dass der Faller nicht mehr ist. Dass sein Herz das doch nicht geschafft hat. Ich versuche dann, ihn nicht anzurufen. Will ihn ja nicht gleich morgens mit seinem eigenen Tod belästigen.

Er steckt sich beide Zigaretten in den Mund, holt ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche, zündet die Kippen an, gibt mir eine davon und sagt:

»Sie sollten wieder mehr rauchen.«

Ich ziehe an der Roth-Händle und muss husten.

Elendes Kraut.

Wir starren eine Weile aufs Wasser und qualmen. Ich befürchte, mein Gehirn könnte aus Versehen schmelzen, und schnaufe.

»Was gibt’s denn, mein Mädchen?«, fragt er.

Das ist mir schon vor ein paar Wochen aufgefallen: Der Faller und ich kehren so langsam die Reste unserer beruflichen Beziehung zusammen und schieben sie Scherbe für Scherbe zur Seite. Wir werden privater. Er wird väterlicher. Er hat aufgehört, mich Chef zu nennen. Mir gefällt das.

»Wir haben einen Kopf gefunden.«

»Oh«, sagt der Faller.

»Füße und Hände auch.«

»Oh, oh«, sagt der Faller. »Mann oder Frau?«

»Mann«, sage ich, »um die dreißig.«

»Lag das einfach so rum?«

»Nein«, sage ich, »lag alles ordentlich verschnürt in einem Müllsack in der Billwerder Bucht. Und damit das kleine gemeine Paket nicht schwimmt, war einer dieser Steine mit reingepackt, so ein großer, runder, wie heißen die noch …«

»Felsbrocken?«

»Gibt’s da nicht einen speziellen Namen für?«, frage ich. »Findling, oder so?«

»Ein Findling wiegt mehrere Tonnen«, sagt der Faller.

»Okay«, sage ich. »Dann war’s eben ein Felsbrocken.«

»Wie kam das hässliche Paket denn ans Tageslicht?«

»Baggerschiff«, sage ich. »Schlickbeseitigung. Der Baggerführer hat sich gewundert und das Päckchen aufgemacht.«

»Unglücklich«, sagt der Faller. »Wie geht’s dem Mann?«

»Ich glaub, den hat das überhaupt nicht beeindruckt. Der hockte da auf dem Streifenwagen rum, hat seinen Bauch in die Sonne gehalten und Witze übers Wetter gerissen. Schien ein robuster Kollege zu sein. Er hat erzählt, dass er vor ein paar Jahren schon mal eine Frau aus dem Wasser gezogen hat, gleich ums Eck, am Moorfleeter Deich.«

»Wie haben meine Jungs das weggesteckt?«, fragt der Faller.

»Geht so«, sage ich. »Der Schulle hat hinters Auto gekotzt.«

»Calabretta?«

»Ist noch in Neapel«, sage ich, »der kommt erst am Sonntag zurück.«

»Ach ja«, sagt der Faller. Er nimmt seinen Strohhut ab, wischt sich mit dem Handrücken die Schweißperlen weg und setzt ihn wieder auf.

»Ist Ihnen das eigentlich nicht zu heiß hier?«, frage ich.

»Nö«, sagt er.

Der spinnt ja. Aber ich will mich nicht schon wieder mit ihm anlegen. Ich halte die Schnauze und warte, bis ich fertig gegrillt bin. Irgendwann sagt der Faller:

»Leichenteile also. Und sonst?«

»Nichts«, sage ich.

»Sicher?«

»Sicher.«

»Hm«, sagt er. »Ich hatte so ein komisches Gefühl, dass irgendwas nicht stimmt mit Ihnen.«

Ach nee, denke ich.

»Hauptsache, mit Ihnen stimmt alles«, sage ich.

Ich sehe ihn an und versuche, was zu finden, einen Hinweis auf das, was ihn hier die ganze Zeit sitzen lässt. Aber dieses Gesicht, das ich so gut kenne, diese furchige, freundliche Vatervisage mit der großen Nase und den müden Augen unter der Hutkrempe, das ganze liebevolle Arrangement, das lässt nichts raus, nicht für fünf Cent. Ich lasse ihn in Ruhe und schaue wieder aufs Wasser, und er macht das ja sowieso andauernd, und so schauen wir dorthin, wo die Elbe breiter wird und irgendwann bei Cuxhaven ins Meer reinfließt, und während am Horizont zwischen der dunkelroten großen Elbstraße und dem dunkelschwarzen Dock ein paar Möwen der Nachmittagssonne entgegensegeln, schiebt sich links von uns ein Frachter durch die Fahrrinne, fast lautlos und so groß wie ein Parkhaus.