XIV
Sie kommen an und sehen nichts von der Stadt, Luise, Sie sehen einfach durch sie hindurch.
Wenige Tage vor Luises Asienreise trafen sie sich zu einem jener Abendessen im Essener Hof, bei dem zwischen den Gängen die Einflussbereiche der Stadt abgesteckt wurden. Luise saß neben einem Bekannten von Werner, der für einige Tage aus New York angereist war, Kiesbert, ihr solltet euch unterhalten, hatte Werner in seiner jovialen, aber bestimmenden Art gesagt, und Luise hatte sich neben seinen alten Freund gesetzt, dessen Atem nach Vergorenem roch.
Wenn Sie nur drei Tage fahren, sollten Sie sich die Stadt gar nicht erst ansehen, das verwirrt nur. Sehen Sie einfach durch alles hindurch, und wenn Sie im Taxi fahren, sehen Sie nicht aus dem Fenster, am besten, Sie dösen ein wenig, dann kommen Sie auch mit der Zeitumstellung besser zurecht.
Väterlich klopfte er ihr auf die Schulter, in seinem Blick war kein Begehren, eher Wohlwollen, er schien ihr sagen zu wollen: Sie machen das schon, oder mehr noch: Passen Sie auf sich auf. Alles an ihm war väterlich, seine Ruhe, sein Appetit, seine Allwissenheit, sein Mundgeruch, sein Leibesumfang.
Der Kellner, den Werner seit Jahren kannte, brachte ihnen den üblichen Wein. Sie lebten in einer Welt, in der alles möglich war, und sie konnten diese Welt einfach gegen eine andere eintauschen, wenn sie ihnen nicht mehr gefiel, so jedenfalls fühlten sie sich, so fühlte sich Werner, so hatte sich auch Kurt, auf seine Art, gefühlt. Und dann betrat, eine Stunde und zwei Gänge später, Krays das Restaurant.
Er setzte sich nicht, sondern blieb vor ihnen stehen, beugte sich vor, die Fäuste auf den Tisch gestützt, er sprach hastig und ließ Luise dabei nicht aus den Augen. Gerade habe er mit seinem Bekannten Winter gesprochen, erklärte Krays. Die Organisation Kleider ohne Not plane eine Kampagne gegen die deutsche Frottee-Industrie, und neben Schermerhorn und der BFAG hätten sie auch Tietjen und Söhne im Visier. Nicht bloß eine kleine Demo, sagte Krays. Plakate, Anzeigen, Petitionen. Am liebsten würden sie uns ganz verbieten.
Aber Krays, beruhigen Sie sich, rief Werner. Was sind das denn für Leute? Die haben doch keinen Einfluss. Das sind Studenten, die es in ihrem Leben zu nichts bringen werden. Die sollten sich lieber um ihren eigenen Kram kümmern als um Dinge, von denen sie nichts verstehen.
Werner, Sie unterschätzen das. Natürlich können sie uns nicht verbieten lassen, aber es könnte teuer für uns werden. Wir haben lange genug hier herumgesessen und Carpaccio in uns hineingeschaufelt, wir können nicht bis in alle Ewigkeit vor uns hin siechen, sonst geht irgendwann alles den Bach runter. Wir müssen etwas unternehmen, solange das noch möglich ist.
Genau das tun wir doch, mein Lieber, wir bewegen uns, erklärte Werner und ließ die Gabel in der Luft kreisen. Er und Kiesbert begannen zu lachen. Es amüsierte sie, wie Krays herumzappelte, ein Fisch, der den falschen Haken geschluckt hatte.
Es reicht nicht mehr, nur mit den Gewerkschaften zu sprechen. Wir müssen auch die NGOs ins Boot holen, sagte Krays. Auch wenn es uns nicht passt.
Ich will sie nicht im Boot haben, und ich brauche sie auch nicht, entgegnete Werner kühl. Sie, Krays, können mit den NGOs gern eine Paddeltour über den Baldeneysee machen, wenn Ihnen danach ist. Ich esse mein Carpaccio. Aber setzen Sie sich zu uns, Krays, hören Sie sich an, was Luise erreicht hat, vielleicht bringt Sie das zur Ruhe.
Vor wenigen Tagen hatte Luise sich mit Lennart Wenzel getroffen, im selben Restaurant, in dem sie schon einmal gemeinsam zu Abend gegessen hatten. Er war verfrüht erschienen, saß bereits am Tisch, als sie eintraf, sein Anzug in einem stillen, dunklen Blau, gut geschnitten. Er behandelte sie zuvorkommend, rückte ihr den Stuhl zurecht, ob sie eine gute Woche gehabt habe, fragte er und legte sein Mobiltelefon diesmal nicht auf den Tisch. Auch Luise war vornehm gekleidet, ein dekolletiertes Kleid, sie trug feinen Schmuck, und Wenzel hörte ihr aufmerksam zu, faltete die Hände vor sich auf der Tischplatte und nickte zu allem, was sie sagte. Er musste aufmerksam sein, musste ihre Hand nehmen, wenn Luise sie ihm hinhielt, und sie hielt sie ihm hin, Luise hatte begriffen, dass er es sich nicht mehr leisten konnte, unhöflich zu sein. Ihm ging es nicht um das Halbschlingenverfahren, nicht um das Geld, das sie von ihm wollte, ihm ging es nur darum, dass er sein Mandat behielt.
Luise erzählte, wie gut sich das Halbschlingenverfahren für nachhaltige Produktion nutzen ließ, flocht eine Anekdote ein, ein Missgeschick kurz vor einer Flugreise nach Bayreuth. Ihre Sekretärin hatte das Ticket telefonisch gebucht, und als Luise bereits im Taxi zum Flughafen saß, las sie, dass es nach Beyrouth ausgestellt war, sehen Sie, so schnell kann es gehen, und wenn Sie nicht aufpassen, landen Sie im Libanon.
Sie lachte und Lennart Wenzel lachte auch. Luise Tietjen ging es nicht um die Gelder, die sie mit Wenzels Hilfe bekommen würde, sie wollte von ihm die Bestätigung, dass er sie als Frau begehrte. Ihre Mutter hatte sich immer an Luises Misserfolgen bei Männern geweidet. Carola mochte keine Konkurrenz, und eine Tochter, die erwachsen wurde, während die Mutter selbst alterte, drohte eine ernst zu nehmende Konkurrentin zu werden. Aber ihre Mutter irrte sich, dachte Luise, sie war nicht an Krays gebunden, sie saß im besten Restaurant der Stadt, Lennart Wenzel gegenüber, trank Wein mit ihm, sah ihm ins Gesicht, und er wich ihrem Blick nicht aus, auch sie hatte eine Wirkung auf Männer, und Lennart Wenzel hatte keine Wahl.
Am Tag nach dem Abendessen im Essener Hof telefonierte Luise mit einem Vertragspartner in China, Herrn Dao, er sprach ein tanzendes, gewichtslos klingendes Deutsch. Er würde sich um alles kümmern, versprach er. Seine Fürsorge umschloss Luise beinah mütterlich, er wusste, wie jung sie war.
Sie dankte ihm, er versicherte sich noch einmal, ihre Flugnummer richtig notiert zu haben, er würde sich um alles kümmern, doch das würde nichts mehr ändern, die Verträge mit Dhaka waren längst vorbereitet worden.
Luise musste nach China reisen, um mit möglichst geringem Verlust die laufenden Verträge zu lösen, Tietjen und Söhne würde das Land verlassen, das stand fest, und man musste niemanden beschenken, auf den man nicht mehr angewiesen war. Luise war an Auflagen gebunden, sie musste das Geschäftsziel für dieses Jahr erreichen, sie musste einsparen. Der Markt war stärker und größer als sie.
Auf zwanzig Entlassungen hatten Krays und Luise sich in diesem Quartal geeinigt, auch auf sie, Lotte Bender, das heißt, geeinigt hatten Krays und Luise sich in ihrem Fall nicht, Luise hatte ihren Namen auf die Liste gesetzt, ohne Krays in die Entscheidung einzubeziehen. Luise konnte nicht sagen, dass sie sich Lotte Bender ausgeguckt hätte, nein, das nicht, sie mussten entlassen, und Krays’ Liste war nicht überzeugender als ihre, also legte sie einige von seinen und einige von ihren Namen zusammen, darunter auch Bender. Luise hatte Krays gebeten, es Lotte Bender auszurichten, er hatte sich geweigert. Luise hatte es ihm befohlen, aber er hatte sich weiterhin geweigert, und so hatte sie ihm den Brief mit den Worten in die Hand gedrückt, wenn er ihn ihr nicht gebe, würde sie es tun, und ob er das wolle, ob er so hartherzig sei.
China war heiß und grün, die Bäume an der Straße geschmückt mit goldenen und roten Bändern, die ganze Stadt im Taumel, nur an ihren Rändern, auf der anderen Seite des Flusses, torkelten magere Hühner über Lehmstraßen. Ein Telefon stand verlassen auf einem Sims, ein roter Siemensapparat mit Wählscheibe. Auf einem Laster schlief in der Mittagsglut ein Mann zwischen Zuckerrohr und Bananen, es schien, als habe er alle Zeit der Welt. Vermutlich bekam er in der Nacht kein Auge zu, weil die Hütte nicht genügend Platz bot für die ganze Familie, dachte Luise und wandte den Blick ab, was wusste sie schon. Sie hatte nie den Anspruch besessen, die Welt zu verstehen, sie wollte nur nicht in ihr untergehen. Sie würde Geschäfte machen, sie würde investieren und wieder investieren, das war das sicherste Mittel, um lebendig zu bleiben. Wer investierte, war nicht tot.
Hier könnte ein Fabrikgelände entstehen, billiges Land, aber nicht billig genug, zudem mit einer Infrastruktur aus dem vorletzten Jahrhundert. Nein, es hatte keinen Sinn, die letzten billigen Flecken hier waren nicht ohne Grund billig, man hatte ihr das vorab gesagt, nun hatte sie sich ein eigenes Bild gemacht, es war gut, die Tatsachen zu kennen, das verschaffte ihr Respekt. Immerhin war sie beweglich genug, in die entlegenen Ecken der Welt zu reisen, während die Vorstandsmitglieder bei Schermerhorn vom jahrzehntelangen Warten auf die Quartalszahlen dick und aufgedunsen in ihren Ledersesseln saßen und schon beim Öffnen des E-Mail-Programms ins Schnaufen gerieten.
China, natürlich, war vorbei, die Arbeitskräfte kosteten zu viel und das Land nahm sich selbst zu wichtig, eine untragbare Kombination. In der heruntergekommenen Fahrraddroschke ließ Luise sich zum Fähranleger zurückbringen. Auf der anderen Seite sah sie die Türme der Metropole, hier war Provinz, hier waren die sechziger Jahre, und vermutlich kam auch Mao noch ab und an auf eine Zigarette vorbei.
In fünf Jahren oder schon in fünf Monaten würde all das hier unter einer dicken Schicht aus Bürohäusern, Universitätskomplexen und Fabriken verborgen sein. In Zentralchina stellte man Millionenstädte ins Nichts und wartete darauf, dass die Menschen kamen. Natürlich musste man vorsichtig sein, ein florierendes Land verschlang fremdes Kapital. Schermerhorn hatte sich nach Bangladesch verlagert, auch die Tietjens würden nach Bangladesch gehen, was sollten sie noch in China? Luise würde Schermerhorn nicht das Feld überlassen.
Die Fähre legte an, über den wackeligen Steg balancierte Luise zurück an Land. Sie war erleichtert, wieder im westlichen China zu sein, Nachrichten trafen auf ihrem Telefon ein, drüben, auf der anderen Seite des Flusses, hatte sie keinen Empfang gehabt. Sie ging die Nachrichtenliste durch, Krays, Werner, eine Kollegin aus Frankreich, mit der sie zum Abendessen verabredet war, zwei Geschäftspartner aus Bangladesch, die sie treffen würde, wenn sie aus China endlich fortkam. Ihre Sekretärin schickte einen Zeitplan für die nächste Woche, das Interview mit der Zeitung würde endlich stattfinden, Luise war zufrieden. Von ihrem Taxi aus sah sie auf die Werbefilme, die an den großen Kreuzungen gezeigt wurden. Chinesinnen hielten Maggi-Suppen in die Kamera, ein Paar fuhr in einem Kabriolett, ein Glatzkopf verlas Nachrichten. Neben den Bildern liefen Schriftzeichen über den Bildschirm, Luise genoss es, sie nicht zu verstehen, es nahm ihr die Sorge, sich auch um das kümmern zu müssen, was außerhalb ihrer Arbeit geschah.
Im Hotel richtete man ihr an der Rezeption aus, Herr Dao habe sie sprechen wollen. Sie rief ihn zurück, es war, wie sich herausstellte, nichts Dringendes, nur eine Geste der Gastfreundschaft. Er lud sie zu einer Besichtigung der Textilfabrik bei Nanjing ein, sie sagte unter Einhaltung aller ortsüblichen Höflichkeiten ab. Großes Bedauern auf seiner Seite, aber nein, aber sie sollten, aber wie schade, ihr war es gleich, ob er ihre Ausreden durchschaute oder nicht, sie würde hier bald fort sein.
Danach telefonierte sie mit Krays, der in Essen alles am Laufen hielt. Er nahm in letzter Zeit noch mehr Arbeit auf sich, als sie ihm zugetraut hätte, dabei hatte sie ihm immer viel zugetraut, und nur, weil er gezögert hatte, Lotte Bender die Kündigung mitzuteilen, konnte sie ihm nicht ihr Vertrauen entziehen. Das wäre unprofessionell, und Luise Tietjen wollte über den Dingen stehen. Krays traf Entscheidungen, die sich bewährten, und Luise hielt an ihm fest, weil sie wusste, dass sie keine andere Wahl hatte. Vielleicht würde sie ihm eines Tages einen Antrag machen. Es war ja nicht undenkbar, jemanden zu heiraten, den man nicht liebte, von dem man zumindest nicht sagen würde, dass man ihn liebt. Viel fataler war es, jemanden zu heiraten, für den man Leidenschaft empfand, denn solche Menschen lösten sich auf, kaum war der Ehevertrag unterzeichnet. Da war Krays die bessere Wahl. Krays war das Beste, was ihr bislang passiert war, und weil sie sich Träumereien verbat, ging sie davon aus, dass sie nicht mehr zu erwarten hatte.
Luise wohnte im Jinling, dem besten Hotel der Stadt. Unter ihr eine breite Straße. Weiter südlich das Geschäftsviertel, Shoppingmalls, Luxuskaufhäuser. Gucci, Chanel und Prada sahen an chinesischen Modellen noch besser aus. Am Abend traf sie sich mit Kollegen aus Deutschland, Belgien und Frankreich beim Stammtisch in einer der unzähligen Seitenstraßen hinter der Universität. Es wurde Braten und Sauerkraut gereicht. Das Restaurant hatten zwei Niederländer eröffnet, die verstanden, dass sich das deutsche Essen besser verkaufen würde als das ihrer Heimat, wer wusste hier schon, was die Niederlande waren.
Die anwesenden Deutschen, ein junges Paar und zwei Männer mittleren Alters, pendelten seit Jahren zwischen China und Europa, blieben ein paar Monate hier, ein paar Monate dort, sie arbeiteten für ein großes Unternehmen, das deutsche Haushaltsgeräte für den chinesischen Markt produzierte.
In China sei man ganz verrückt nach deutschen Haushaltsgeräten, da sie langlebiger und nicht so störungsanfällig waren wie die chinesischen, erklärte Keuner, einer der Deutschen, der hier seit drei Jahren festsaß.
Dass Keuner nie wieder nach Deutschland zurückkehren konnte, erzählte sein Kollege ihr hinter vorgehaltener Hand. Sie haben ihn bei uns längst abgeschrieben, flüsterte er Luise zu. Vermutlich weiß auch Keuner selbst, dass er nicht mehr zurückkann, wenn er es auch überspielt. Er hasst China, aber in Deutschland würde er sich nicht mehr zurechtfinden, er würde nicht mehr wissen, wohin mit sich. Hier ist er doch gut aufgehoben, er hat sich eingerichtet mit seinen Hasstiraden und seinen Überlegenheitsgefühlen.
Neben Luise saß Mademoiselle Poinette, eine pedantisch aussehende junge Frau. Sie versuchte Luise für eine Kooperation in Shengzuo zu begeistern. Luise stimmte ihren Vorschlägen unverbindlich zu und wusste, dass Mademoiselle bald wieder von der Bildfläche verschwunden sein würde. Zu sagen hatte sie in ihrem Konzern sicher nichts, dafür redete sie zu viel.
Später stieß W.W. zu ihnen. Luise kannte ihn von früher. Als sie klein gewesen war, hatte er neben ihrem Vater in der Geschäftsführung der Firma Tietjen gesessen. Für sie hatte er damals nur aus buschigen Augenbrauen bestanden, und jetzt tauchte er plötzlich wieder auf, ein Gespenst aus einer untergegangenen Zeit. Seine Augenbrauen wucherten immer noch üppig, doch sein restliches Gesicht wirkte gelassen, beinah erhaben, ein Mensch, der wusste, dass er die Aufmerksamkeit auf sich zog. Er versuchte mit ihr zu flirten, was ein wenig albern war, und er unterließ es, als er begriff, wer sie war.
Luise, Sie machen das ja ganz ausgezeichnet, ich höre nur Gutes über die Firma und Sie.
Einen Moment lang fühlte sie sich erhitzt, sie spürte Stolz in sich aufkommen, doch sie bekam sich schnell wieder in den Griff. W.W. wusste, was er tat, Lob machte bestechlich, und wer bestechlich war, wurde angreifbar.
Nun sagen Sie, Ihr Vater ist noch immer in den Staaten? Tatsächlich? Sehen Sie, das gehört sich nicht für einen Mann in seiner Position. Aber es ist, wenn ich so offen sein darf, vermutlich das Beste für die Firma. Jedenfalls sehe ich, dass Sie uns wieder Konkurrenz machen. Das hat die Firma unter Ihrem Vater jahrelang nicht geschafft.
Luise lächelte höflich. W.W. war stärker als sie, stärker als Krays, stärker als sie alle zusammen. Sie konnte nur gewinnen, wenn sie unterhalb seiner Augenhöhe blieb. Wenn er sie unterschätzte, hatte sie möglicherweise eine Chance.
Sehen Sie – er wies mit der Stirn auf die Umsitzenden und senkte seine Stimme –, manche glauben ja nach wie vor, dass hier noch was zu holen ist. Das mag im Prinzip sogar stimmen, nur muss man dafür mehr Geschick mitbringen, als diese Leute hier besitzen. In China grast man nicht mehr so einfach die Rendite ab wie noch vor ein paar Jahren. Aber Sie, Sie sind sicher nur wegen der letzten Abwicklungen hier, so ist es richtig. Na ja, W.W. lachte, Sie hatten auch keine andere Wahl, was? Die Region hier ist für Tietjen und Söhne verbrannte Erde. Genau genommen ist ganz China verbrannte Erde, der Kunde in Deutschland kann doch keine Provinz von der anderen unterscheiden. Sie sollten sich die Sehenswürdigkeiten ansehen, dann bekommen Sie vielleicht einen Überblick. Sie sind ja noch jung.
Er tätschelte ihre Hand, gutmütig beinah und dennoch herablassend.
Sie werden das schon hinbekommen. Werner haben Sie offenbar im Griff. Und die Geschäfte auch. Ihr Vater hat sich hier einen ganz hübschen Skandal geleistet. Ich war erstaunt, wie gut er aus der Sache wieder herausgekommen ist. W.W.s Brauen senkten sich, als wollten sie seine Augen verschlucken und Luise wünschte sich, es möge tatsächlich geschehen und seine ganze gespenstische Präsenz verschwände von diesem Ort.
Das macht man nicht, erklärte er, Schmiergelder sind immer eine hässliche Sache, und bei hässlichen Sachen lässt man sich nicht erwischen. Er hat uns ein Geschäft weggeschnappt, aber im Endeffekt haben wir profitiert, so sind wir früher nach Bangladesch gekommen. Sie wissen sicherlich, wie es in der Fabrik zuging, in der er produzieren ließ. Da hätte nur mal ein Journalist genauer hinschauen müssen. Wenn ich mich recht erinnere, hat sich dort einer der Arbeiter sogar in den Tod gestürzt. Kommt vor, natürlich. Ihr Vater will von alldem nichts gewusst haben. Und wissen Sie was, ich nehme es ihm mittlerweile sogar ab, er war doch arg mitgenommen am Ende.
W.W. griff nach Luises Glas und trank die letzten Schlucke daraus.
Wissen Sie, dass es Ihre Firma eigentlich gar nicht mehr geben sollte? Es war alles vorbereitet für die Übernahme durch Schermerhorn, und dann ist Kurt nach Amerika, und wir haben ihn nicht mehr zu fassen gekriegt. Er konnte den Gedanken wohl nicht ertragen, sich von Schermerhorn schlucken zu lassen. Und wissen Sie was? Ich verstehe ihn. Ich würde Ihren Vater im Zweifelsfall sogar schützen. Alte Bekannte lässt man nicht vor die Hunde gehen. Ich habe meine Prinzipien. Und Ihr Vater hatte sie auch. Er hat nur den Überblick verloren. So was passiert. So was kann gefährlich werden, aber es passiert. Und was ist mit diesem Herrn Krays?
Krays?, wiederholte Luise mechanisch, das Gespräch war von ihr weggerückt. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, dass die Firma von Schermerhorn geschluckt werden sollte. Sie dachte an Werner und daran, dass es ihm gelungen war, ihr das zu verheimlichen, und sie fragte sich, ob sie ihren Onkel unterschätzte.
Verständiger Mensch, Ihr Herr Krays, sagte W.W. Ich habe einige Male mit ihm gesprochen. Ich glaube, Sie können zusammen wirklich etwas auf die Beine stellen. Sie machen gute Arbeit, Luise. Ich würde gerne sagen, dass Ihr Vater stolz auf Sie wäre, aber das bezweifle ich leider. Sie sind viel zu gut für ihn.
W.W. verabschiedete sich früher als der Rest der Gruppe, auch Luise wäre gern schon gegangen, wollte aber als Jüngste in der Runde kein Aufsehen erregen. So saß sie noch fast zwei Stunden still zwischen ihren Kollegen und beantwortete unauffällig die Nachrichten auf ihrem Mobiltelefon.
Hinter unserem Rücken lachen sie uns aus, erklärte Luises Nachbar, der nach W.W.s Abschied zu ihr aufgerückt war. Er stieß sein Knie wie zufällig gegen ihres, sie war zu müde, um ihn zurechtzuweisen.
Was China stark macht, erklärte einer, das sind die Menschen, die treten als Masse auf. Nicht so wie bei uns. In Europa will jeder sein eigenes Leben erfinden.
Lass die Chinesen erst mal den Individualismus entdecken. Dann läuft hier alles aus dem Ruder.
Das wird nicht geschehen, wegen Konfuzius, behauptete ein Deutscher.
Sie werden uns überholen, ganz gewiss, sagte ein Franzose.
Sie haben uns längst überholt, stellte ein Belgier fest.
Sie können ganz Europa aufkaufen, wenn sie nur wollen. Und über kurz oder lang werden wir darum betteln, dass sie es tun.
Ich lasse mir mein Haus nicht von denen wegkaufen, erklärte Keuner, der schon seit Jahren sein Haus in Deutschland nicht mehr betreten hatte. Sein Gesicht hatte sich im Verlauf des Abends rot verfärbt, er pochte mehrmals mit dem Bierglas auf den Tisch, legte dann, mit einem ernsten, fast heroischen Gesichtsausdruck, den Kopf zurück und trank das Glas leer.
Ach ihr Deutschen, rief ein Franzose vom anderen Ende des Tisches herüber, ihr wollt nie was hergeben. Am liebsten hättet ihr auch euren Kaiser Wilhelm nicht hergegeben, ihr hängt doch immer noch an ihm.
Aber la grande nation!, rief der Deutsche und fügte etwas in einem Gemisch aus Deutsch und Französisch hinzu, das niemand verstand, und vermutlich war es auch besser so.
Stumpf und trunken hackte die kleine Gesellschaft aufeinander ein. Luise bestellte einen Rotwein und stieß mit sich selbst auf die Runde an. Es war gut, eine Konkurrenz zu haben, die sich beständig um sich drehte. Es ging darum, zu überleben, und Luise wusste, dass man dabei am besten unauffällig blieb und sich den Gegebenheiten fügte. Man musste sich in das Spiel hineinwerfen, anstatt ängstlich an seinem Abgrund zu stehen.
Aber was heißt das für uns, fragte ein junger Franzose. Soll man nun schnell aus diesem Land raus oder soll man bleiben?
Das weißt du nicht?, fragte einer der Belgier belustigt. Dann hoffe ich, dass deine Firma es weiß. Wenn ihr keinen Plan habt, wie mit China umzugehen ist, dann seid ihr weg, schneller als du glaubst, nicht nur aus China. Also wenn ihr das nicht wisst –
Kennt ihr noch den alten Sowjetwitz?, unterbrach ihn sein Kollege. Die Russen landen auf dem Mond und malen ihn rot an. Was machen die Amerikaner? Sie schicken zwei Astronauten hinterher und lassen mit weißer Farbe Coca-Cola daraufschreiben.
Die Amis haben doch gar kein Geld mehr für so viel Farbe, warf Luises Nachbar ein.
Und was machen die Chinesen?
Die Chinesen bauen den Mond nach, malen ihn rot an, schreiben Coca-Cola drauf und verkaufen ihn zum halben Preis.
Einige Belgier lachten, ein Franzose orderte die Rechnung.
Draußen hing die Luft stickig und dumpf in den Straßen. Während die kleine Gruppe über eine Prachtstraße lief, unterhielten sie sich über die europäische Krise, die natürlich ihre jeweilige Firma nicht im Geringsten tangierte.
Man müsse Europa als Familie verstehen, erklärte Mademoiselle Poinette vehement. In einer Familie halte man zusammen.
In einer Familie betrügt man aber auch nicht, wandte Keuner ein.
Betrug? Was meinen Sie damit? Ich wüsste nichts von einem Betrug. Ich sehe nur, dass jemand seine Angelegenheiten nicht so geregelt bekommt, wie er es sollte. In einer Familie hält man zusammen, auch in schlechten Zeiten, beharrte Mademoiselle.
Luise ging zwischen ihnen, ohne etwas zu sagen. Der Vergleich war natürlich unsinnig, so naiv konnte niemand sein. Familien hielten nur zusammen, wenn sie keine andere Wahl hatten. Es gab Eltern, die ihre Kinder enterbten, es gab Kinder, die sich mit ihren Geschwistern noch um den letzten Löffel aus dem Tafelsilber stritten. Es gab Erbschaftskriege, es gab Intrigen, es gab schwarze Schafe und verlorene Söhne. Wenn Europa eine Familie war, dann gute Nacht.
»Wir müssen handeln.«
Vor einem Jahr übernahm Luise Tietjen die Geschäftsführung des Frotteeunternehmens Tietjen und Söhne. Einen ersten Coup konnte sie bereits landen: Ihre Firma wird exklusiver Zulieferer von Bloomingdale’s New York.
Linkes Bild: Erfahrung, frischer Wind und ihre Liebe zur Familientradition. Luise Tietjen im Gespräch mit der Rheinischen Post. Rechtes Bild: Schweres Erbe. Ihr Vater Kurt Tietjen im Landgericht Essen.
RP: Frau Tietjen, Sie sind mit siebenundzwanzig Jahren die jüngste Geschäftsführerin auf dem deutschen Textilmarkt. Fühlen Sie sich der Aufgabe gewachsen?
Tietjen: Ich bin mit dem Geschäft aufgewachsen, habe das Handwerk von der Krippe auf gelernt. Ich habe mich schon immer für die Abläufe in unserer Firma interessiert. Natürlich hätten wir problemlos eine andere Person für den Posten gewinnen können. Fakt aber ist, dass die jetzige Besetzung für das Unternehmen ideal ist. Wir wollen, dass unsere Produkte wieder für eine junge Zielgruppe attraktiv werden, dafür ist es wichtig, dass auch die Firmenleitung jung besetzt ist. Zudem gibt es neue ökonomische und insbesondere ökologische Herausforderungen, auf die, wie ich glaube, meine Generation schneller reagieren kann. Mein Onkel und ich hielten es für wichtig, auch in der Leitungsebene zu zeigen: Wir sind ein junges Unternehmen mit starken Traditionen.
RP: Nachhaltigkeit, der bewusste Umgang mit Ressourcen und das kritische Hinterfragen von Arbeitsbedingungen ist Teil Ihrer neuen Strategie. Wie macht sich das bemerkbar?
Tietjen: Nachhaltigkeit und Wertebewusstsein lässt sich für uns nicht mehr vom Begriff der Qualität trennen. Wir wollen sicher sein, dass Kleidung in einer nachhaltigen Weise produziert wird. Wir kümmern uns um soziale Probleme ebenso wie um Umweltaspekte – das liegt uns sehr am Herzen. Alle Unternehmen sollten sich verantwortlich fühlen und nachhaltig handeln. Die ökologischen Probleme sind weltweit einfach zu groß, wir müssen handeln.
RP: Wie reagieren Sie auf Veränderungen des Marktes?
Tietjen: Wir verstehen uns als Scharnier zwischen Markt und Konsument. Die steigenden Baumwollpreise beispielsweise haben wir nicht an unsere Kunden weitergegeben. Wir haben selbstverständlich alles dafür getan, ein attraktives Preisniveau für unsere Produkte beizubehalten. Der Kunde kann nicht der Leidtragende von Teuerungen auf dem Rohstoffmarkt sein, da muss es andere Lösungen geben.
RP: Beeinflussen die steigenden Baumwollpreise die Art und Weise, wie Sie Textilien produzieren lassen? Experimentieren Sie mit anderen natürlichen Materialien und verwenden Sie mehr Kunststofffasern als bisher?
Tietjen: Wir investieren immer mehr in nachhaltige Materialien. Aber allein wegen des Baumwollpreises werden wir nicht auf andere Materialien umsteigen. Wenn der Kunde Baumwolle will, dann wird er Baumwolle bekommen.
RP: Welche Lösungen haben Sie?
Tietjen: Das Tietjen’sche Halbschlingenverfahren, das wir bereits verwenden und permanent auf den neuesten Stand bringen. Dieses Verfahren stellt sich bereits jetzt als absoluter Marktvorteil heraus.
RP: Ist dies auch einer der Gründe, weshalb sich eine der bekanntesten amerikanischen Kaufhausketten für eine Kooperation mit Tietjen Frottee entschieden hat?
Tietjen: Sicherlich war die Halbschlinge ein Pluspunkt für uns. Aber die Firma Tietjen hat weit mehr zu bieten: Mut zur Innovation, Wertarbeit und eine einhundertjährige Tradition. Erfahrung und frischer Wind, dafür steht Tietjen Frottee heute.
RP: Frau Tietjen, Ihr Vater ist in der Vergangenheit durch gerichtliche Prozesse in Erscheinung getreten, in denen er gegen die eigene Firma vorging. Als Unternehmer blieb er hingegen blass. Konnten Sie von einem solchen Mann lernen?
Tietjen: Selbstverständlich. Mein Vater hat das Unternehmen durch eine schwierige Periode hindurch geführt. Er war stets bemüht, das Richtige für die Firma zu tun. Er hat nicht immer die richtigen Entscheidungen getroffen, das gebe ich zu. Aber nur so lässt sich das Bewusstsein für die Gefahren des Marktes schärfen. Ich verdanke meinem Vater sehr viel.
RP: Frau Tietjen, ich danke Ihnen für das Gespräch.