
Obwohl das Zimmer einen ziemlich verwüsteten Anblick bot, erfasste Ted nicht sofort, was er sah. Er schaute die vier Personen im Raum an und sagte: »Verzeihung, ich habe mich wohl geirrt. Hier wohnt nicht Miss Roland?«
Er hatte sich gar nicht beim Portier angemeldet, sondern war gleich nach oben gefahren; er erinnerte sich an die Zimmernummer noch von dem Abend her, als er Kathrin hier abgeholt hatte. Immerhin konnte es möglich sein, dass er die Zahlen durcheinanderwarf. Deshalb war er nicht einmal allzu erstaunt, vier wildfremde Leute in dem Zimmer stehen zu sehen.
Er wiederholte seine Frage: »Das ist nicht das Zimmer von Kathrin Roland?«
Patrick fasste sich als Erster. »Nein«, entgegnete er, »das ist unser Zimmer.«
Er war aufs Äußerste angespannt. Der Fremde würde jede Sekunde merken, dass etwas nicht stimmte. Er musste vorher gehen. Dann bliebe ihnen wenigstens eine schnelle Flucht; denn der würde in die Halle gehen, würde sich beim Portier noch einmal nach der Nummer erkundigen, würde feststellen, dass er sich keineswegs geirrt hatte, und möglicherweise sofort Alarm schlagen. Das Hotel konnte leicht zur Falle werden. Sie mussten weg.
Aber genau die entscheidende Sekunde war bereits verstrichen. Ted registrierte, was er zuvor zwar gesehen, aber nicht begriffen hatte. Die heruntergerissenen Sofapolster. Die verschobene Matratze auf dem Bett. Den zerknäulten Läufer. Die aufgerissenen Schubladen mit den heraushängenden Wäschestücken. Die seltsam erstarrte, erschreckte Haltung der vier jungen Leute im Raum. Und noch etwas bemerkte er: Kathrins Handtasche. Patrick hatte sie noch in der Hand und hielt sie wie ein Schild vor sich.
Ted erkannte sie sofort. Sie war ihm, der ein Auge für schöne und elegante Dinge hatte, bereits bei der Party seiner Eltern aufgefallen und dann wieder an dem Abend, als er mit Kathrin ausgegangen war. Er war absolut sicher, dass er sich nicht täuschte.
»Wer sind Sie?«, fragte er. »Was tun Sie hier?«
Chick war mit einem Sprung neben ihm und zerrte ihn ins Zimmer. Er schlug die Tür zu, deren aufgebrochenes Schloss jedoch nicht einschnappte. Ted bemerkte das und versuchte, mit dem Fuß die Tür wieder aufzustoßen. Da traf ihn ein gezielter Faustschlag von Chick am Kinn. Ted stürzte zu Boden und lag wie betäubt da, brachte nicht einmal den Mund auf, um zu schreien.
Chick kniete neben ihm. »Es geht dich einen Scheißdreck an, wer wir sind«, sagte er leise und drohend. »Wer bist du?«
Ted berappelte sich langsam. »Ich bin Ted, ein Freund von Kathrin. Wo ist sie?«
Greg, der jetzt ebenfalls neben Ted kauerte, wollte schon sagen: »Das genau wüssten wir auch gern!« oder etwas Ähnliches, aber im Bruchteil einer Sekunde schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass Ted ihnen noch sehr nützlich sein könnte, und zwar um so mehr, wenn er nicht wüsste, dass auch sie im Dunkeln tappten.
»Deine Kathrin ist in sicherem Gewahrsam«, sagte er daher. »Und ich würde dir raten, ganz brav alles zu tun, was wir dir sagen. Du bringst die Kleine sonst in verdammte Schwierigkeiten, das kann ich dir sagen. Steh auf! Wenn du schreist, wenn du auch nur einen Laut von dir gibst, badet Kathrin es aus. Kapiert?«
Ted nickte langsam. Sein Kopf schmerzte, bei jeder Bewegung war es, als bohre sich ihm ein Nagel durch den Kiefer. Lucy, Patrick und Chick warfen Greg entsetzte Blicke zu. Was tust du?, fragten sie wortlos.
Ted kam langsam auf die Füße. Er schwankte etwas. Greg umklammerte seinen Arm.
»Du kommst jetzt mit, Ted. Durch das ganze Hotel, hinaus auf die Straße. Du muckst dich nicht!«
Ein Taschenmesser schnappte auf. Greg trat ganz dicht an Ted heran, ließ seine Hand, die das Messer hielt, unter seine Jacke gleiten. Ted spürte die scharfe Klinge an seinen Rippen. Er kannte New York, er kannte die Menschen, die hier lebten. Er zweifelte nicht daran, dass diese Leute Kathrin tatsächlich in ihrer Gewalt hatten. Warum nur, warum?, fragte er sich wieder und wieder. Was hatte Kathrin mit diesen Typen zu tun? War sie ihnen zufällig in die Hände gefallen? War sie ausgekochter, als er gedacht hatte, trieb sie sich in Kreisen herum, von denen er höchstens gehört hatte, mit denen er aber nie in Berührung gekommen war? Was, zum Teufel, war passiert? Und wann war es passiert?
Sie verließen das Zimmer, Greg und Ted vorneweg, Chick, Lucy und Patrick hinterher, verstört und verwirrt.
Ted fragte sich, ob es eine Chance gäbe zu entkommen. Da oben im Zimmer hätte der Kerl ihn abgestochen, ohne mit der Wimper zu zucken, davon musste er ausgehen. Die Frage war, würde er es im Foyer unten, das voller Menschen war, auch riskieren? Im Zweifelsfall würde es für ihn und seine Genossen schwierig werden, die Tür zu erreichen, ohne aufgehalten zu werden. Aber womöglich hatten sie Schusswaffen bei sich, womöglich richteten sie in ihrer Panik ein Blutbad an. Und dann - sie hatten Kathrin. Irgendwo saß sie und wurde bewacht. Was würde mit ihr geschehen, wenn die vier, die er in ihrem Zimmer angetroffen hatte, nicht zurückkehrten?
Sie standen allein im Lift, der langsam nach unten fuhr. Greg hatte Schweißtropfen auf der Stirn. Niemand sagte etwas. Patrick dachte: Greg ist verrückt geworden. Er reitet uns in einen Riesenschlamassel. Was hat er vor?
Im Foyer war es nicht mehr ganz so voll wie vorhin, aber es herrschte noch immer ein lebhaftes Hin und Her. Sie schritten zwischen den Menschen hindurch, als seien sie harmlose Touristen. Ted dachte verzweifelt: Warum merkt denn keiner etwas? Das verdammte Schwein, das neben mir geht, hält mir ein Messer an die Rippen! Sieht das denn niemand?
Sie traten hinaus auf die Straße. Das helle Licht der Wintersonne blendete sie für einen Moment. Ted machte eine unbedachte Bewegung, schon drückte sich ihm das Messer schärfer in die Haut. »Mach dich nicht unglücklich«, zischte Greg.
Am Straßenrand parkte ein kleines rotes Auto. Eine junge Frau saß hinter dem Steuer, eine gewaltige Sonnenbrille verdeckte ihr halbes Gesicht. Als sie die vier mit ihrem Gefangenen kommen sah, ließ sie den Motor an.
Greg öffnete die hintere Tür und stieß Ted auf den Rücksitz.
»Los, rein mit dir!«
Er rutschte gleich hinterher. Chick und Lucy quetschten sich ebenfalls dazu, während sich Patrick auf den Beifahrersitz setzte. Linda, die junge Frau am Steuer, startete sofort. Schon waren sie in den dichten Verkehr auf der Fifth Avenue eingefädelt.
»Wohin fahren wir?«, fragte Ted. Sein Mund schmerzte noch immer höllisch, er konnte den Kiefer kaum bewegen, und seine Stimme klang fremd.
»Shut up!«, entgegnete Greg nur.
Niemand sprach etwas. Aber Ted spürte, dass die anderen ebenso nervös und unsicher waren wie er selbst. Geplant war seine Entführung jedenfalls nicht gewesen. Aber sie würden vor ihm mit Sicherheit nicht darüber sprechen.
Kathrin, die keine große Lust hatte, wieder allein in ihrem Hotelzimmer zu sitzen, ging noch eine ganze Weile im Park spazieren und machte sich erst gegen zwei Uhr am Mittag auf den Rückweg. Sie beschloss, sich eine Weile auszuruhen und dann später noch einmal loszuziehen. Vielleicht sollte sie ins Metropolitan Museum gehen. Sie war zwar mit ihren Eltern schon da gewesen, aber natürlich hatte sie nicht alles gesehen.
An der Rezeption fragte sie, ob es irgendwelche Nachrichten für sie gäbe. Tatsächlich hatten ihre Eltern zweimal angerufen - natürlich! - und außerdem erinnerte sich der Portier, dass zwei Leute nach ihr gefragt hatten.
»Zwei junge Leute«, setzte er noch ergänzend hinzu.
»Zwei junge Leute?« Ob einer von ihnen Ted gewesen war? Es wäre zu schön, um wahr zu sein, aber wen brachte er dann noch mit?
»Zwei Männer?«, fragte sie. »Oder zwei Frauen?«
»Ein Mann und eine Frau.«
»Haben sie nichts hinterlassen?«
Der Portier hob bedauernd die Schultern. »Nein. Überhaupt nichts.«
Verwirrt fuhr Kathrin zum vierten Stock hinauf. Seltsam. Wer fragte schon nach ihr in New York, außer Ted, Jane oder Bob? Aber Jane und Bob konnte man nicht als jung bezeichnen.
Ihre Zimmertür war nur angelehnt. Kathrin vermutete, das Mädchen sei da, um aufzuräumen oder die Minibar aufzufüllen.
»Hallo!«, sagte sie warnend, um niemanden zu erschrecken. Dann trat sie ein und blieb wie angewurzelt stehen.
Ein Schlachtfeld. Ein Bild der Verwüstung. Jemand hatte ihre Sachen durchwühlt, nichts war mehr an seinem Platz. Sie stürzte ans Telefon, wählte Mikes Nummer.»Bitte, Mike, seien Sie zu Hause!«, murmelte sie leise. Nach dreimaligem Klingeln wurde am anderen Ende abgehoben.
»Ja?« Es war Mikes Stimme.
»Mike! Ich bin es, Kathrin. Können Sie ins ›Plaza‹ kommen? Jemand hat meine Zimmertür aufgebrochen und das Zimmer verwüstet. Bitte, kommen Sie schnell!«
»Was, zum Teufel, hast du dir dabei gedacht, Greg?«, fragte Patrick. »Den Kerl einfach zu entführen! Was machen wir denn jetzt mit ihm? Wenn das alles auffliegt, stecken wir bis zum Hals in der Scheiße!«
Sie saßen in dem Kellerraum, von dem aus sie, wenige Stunden zuvor, aufgebrochen waren. Ted war im Nebenzimmer gefangen, wobei der Ausdruck »Zimmer« eigentlich fehl am Platz war: Es handelte sich eher um ein kleines, fensterloses Verlies, das vielleicht ursprünglich einmal als Vorratskammer oder Abstellraum gedacht gewesen war. Normalerweise diente es Lucy zum Schlafen.
Greg sah seine Freunde wütend an. »Ich war der Einzige, der seinen Grips beisammen hatte! Was hätten wir denn tun sollen? Der Typ war doch drauf und dran, Alarm zu schlagen! Und wenn er das getan hätte, wären wir nie wieder aus dem verdammten Hotel herausgekommen. Er musste unschädlich gemacht werden!«
»Ja, und dazu musstest du ihn gleich entführen!«, fauchte Patrick. »Es hätte doch gereicht, ihn zu fesseln und ihm was in den Mund zu stecken! Bis sie ihn gefunden hätten, wären wir längst weg gewesen!«
»Hör zu, euch allen ist es vielleicht scheißegal, was aus dem Stoff wird, den dieses dumme Miststück offenbar noch immer mit sich herumschleppt. Aber mir nicht, versteht ihr? Ich will das Zeug haben, und dieser aufgetakelte Reiche-Leute-Sohn, der jetzt hier nebenan sitzt, wird mir dazu verhelfen. Was denkt ihr, wie schnell die Kleine das Zeug herausrückt, wenn wir ihr sagen, dass wir ihren smarten boyfriend in unserer Gewalt haben!«
»Was meinst du, wie schnell sie die Polizei einschaltet?«, fragte Chick zurück, während Lucy gleichzeitig sagte: »Wir wissen ja gar nicht, wie sie zu dem Jungen steht. Das muss nicht ihr Freund sein!«
»Wir machen ihr schon klar, dass es wesentlich besser ist, die Bullen aus dem Spiel zu lassen«, erwiderte Greg. »Und außerdem ist das garantiert ihr Freund. Der und die Kleine, das ist doch ein und dieselbe Sorte. Das ist genau der Typ, auf den Mädchen wie die abfahren!«
»Aus dieser Geschichte kommen wir nie mehr mit heiler Haut heraus«, prophezeite Patrick düster.
Lucy lachte schrill auf. »Ihr müsstet euch mal sehen! Eure Gesichter! Zum Schreien. Und heute Morgen wart ihr noch absolut sauer, wenn ich es wagte, irgendwelche Bedenken anzumelden. Ihr seid tolle Helden, das muss ich schon sagen!«
»Halt's Maul!«, fuhr Chick sie an. »Und hört auf, Greg fertigzumachen. Er hat wenigstens die Nerven behalten, und er hat mehr Mumm als ihr alle zusammen!«
»Mich macht sowieso keiner fertig«, sagte Greg. »Und ich verteidige mich schon allein. Reiß dir kein Bein aus, Chick!«
Sie konnten ihre Aggressionen kaum noch zurückhalten.
Linda, eine blasse junge Frau mit schwermütigen Augen, fragte: »Wenn wir den Stoff bekommen, was dann?«
Alle sahen sie an. »Wie - was dann?«
»Was machen wir dann mit dem?«
Sie deutete mit einer Kopfbewegung zu der Tür hin, hinter der Ted eingesperrt war.
»Wieso fragst du das?« Patricks Gesicht nahm einen angespannten Ausdruck an.
»Er hat uns alle gesehen«, erklärte Linda. »Er hat jeden Einzelnen von uns lang genug anschauen können, um sich die Gesichter ganz genau einzuprägen. Er kann uns immer und überall sofort identifizieren. Und dieses Mädchen, diese Kathrin, kann seine Aussagen unterstützen. Es war zwar Nacht, als wir sie im Park trafen, aber die Taschenlampen brannten, und manches hat sie sich mit Sicherheit gemerkt. Sie ist eine Gefahr - von dem Moment an, wo wir sie wegen ihres Freundes erpressen. Dann nämlich ist ihr sofort klar, dass nur wir es sein können, und sie liefert der Polizei eine erstklassige Beschreibung. Ich meine, wir kriegen zwar den Stoff, aber danach sind wir nirgendwo in den Staaten mehr sicher, und wahrscheinlich sitzen wir über kurz oder lang alle hinter Gittern.«
»Wenn ich dich richtig verstehe, Linda«, sagte Chick mit einem leisen ironischen Unterton, »dann wärest du dafür, die Zeugen auszuschalten, wie sie im Kino immer sagen. Stimmt's?«
»Ja. Wir haben wohl keine Wahl«, erwiderte Linda hart.
»Das kommt überhaupt nicht in Frage«, widersprach Patrick sofort. »Ich glaube, du merkst nicht, dass wir hier keineswegs in einem Film sind. Was willst du denn tun? Erst diesen Jungen da und dann Kathrin einfach abknallen und in irgendeinem New Yorker Hinterhof liegen lassen? Du hast nicht alle Tassen im Schrank, Linda. Damit will ich um keinen Preis etwas zu tun haben!«
»Ich auch nicht«, stimmte Greg zu.
Lucy zündete sich eine Zigarette an, nahm einen langen Zug. »Ihr seid total verlogen, wisst ihr das?«
Linda warf ihr einen raschen Blick zu. »Lucy hat hundert Prozent recht. Ihr wollt mit Mord nichts zu tun haben? Wie beeindruckend! Ihr habt tagtäglich mit nichts anderem zu tun, und es kommt auf zwei mehr oder weniger nicht an. Weiß Gott nicht!«
Lucy grinste. »Oder was meint ihr, was ist Handel mit Heroin anderes als Mord?«
»Das ist doch Haarspalterei!«, rief Patrick erregt. »Das Heroin - na, das ist eben ein Markt, der besteht aus Angebot und Nachfrage. Niemand wird zu irgendetwas gezwungen. Es gibt Leute, die wollen Heroin kaufen, und wir geben es ihnen, aber wenn sie nicht mehr wollen, dann lassen sie es eben, und wir sind die Letzten, die ihnen etwas aufdrängen.«
Lucy, der ihr eigener Entzug noch in den Knochen steckte, gab einen verächtlichen Laut von sich. »Gott, Patrick, du redest naiv wie eine alte Tante, deren schlimmste Droge der Kaffee ist! Du hast noch nie an der Nadel gehangen, aber du hast Leute gesehen, die versuchen, davon loszukommen, und du weißt ganz genau, dass die Hölle ein Zuckerschlecken dagegen ist. Du dealst mit einem Zeug, das die Menschen in totale Abhängigkeit bringt und unweigerlich tötet, wenn sie nicht zu den wenigen Glücklichen gehören, die irgendwann einen Therapieplatz bekommen, und selbst da ist der Erfolg noch sehr zweifelhaft. Du weißt auch, dass manchmal schon irgendwelche dummen, kleinen Kids auf den Schulhöfen zu Drogen verführt werden, und die haben schon deshalb keine Wahl, weil sie viel zu blöd sind. Wir sind potenzielle Mörder, ganz egal, wie elegant du darum herumredest!«
»Du kannst auch am Alkohol krepieren oder vom Rauchen Lungenkrebs bekommen«, sagte Patrick. »Jeder Weinhändler, jeder Zigarettenverkäufer wäre dann ja genauso ein potenzieller Mörder!«
»Und wie viele werden krank wegen der fortschreitenden Umweltzerstörung überall? Die Industrie mordet, die Wissenschaftler morden, die Politiker tun es! Wer bleibt schon unschuldig?«
»Versucht nicht, es auf diese Ebene zu ziehen«, erwiderte Linda mit dem kalten Lächeln der Außenseiterin, als die sie sich oft fühlte. Dies war wieder so eine Situation. Sie hätte den scheißvornehmen und scheißgut angezogenen Typen im Nebenraum leicht abgeknallt, keine Frage. Sie müsste nur auf seinen Kaschmirschal starren und auf seine glänzenden Schuhe, dann würde es ihr so leicht fallen wie nichts auf der Welt. Und bei diesem dummen, kleinen Blondchen aus Deutschland hätte sie auch keinerlei Skrupel - nicht, wenn es nun einmal notwendig war. Linda war die Einzige in der Gruppe, die schon in ihrer Kindheit gelernt hatte, Notwendiges zu tun, um das Überleben zu sichern. Ihr Madonnengesicht, die melancholischen Augen waren eine gelungene Täuschung. Linda konnte absolut erbarmungslos sein, wenn sie keine andere Wahl hatte.
Patrick wusste das, und ihm stand der Schweiß auf der Stirn. Er hatte das sichere Gefühl, dass diese ganze Geschichte ihnen allen sehr bald über den Kopf wachsen würde, und er wünschte nur, sie hätten von Anfang an beschlossen, das verdammte Heroin zum Teufel gehen zu lassen. Doch jetzt war es zu spät, sie waren tief verstrickt, und Linda hatte recht: Der junge Mann im Kellerraum nebenan konnte sie alle ohne Schwierigkeiten identifizieren. Wie hatte Greg nur auf den absolut hirnlosen Einfall kommen können, eine Entführung zu inszenieren?
»Wir müssen«, sagte der gerade, »ja nun irgendwann mit Kathrin Verbindung aufnehmen.«
»Bevor sie die Polizei informiert?«, fragte Patrick.
Chick schüttelte den Kopf. »Schaffen wir gar nicht. Die schreit Zeter und Mordio in dem Moment, in dem sie ihr Zimmer betritt, die aufgebrochene Tür bemerkt und das Chaos sieht. Sie informiert noch in derselben Sekunde den Portier, das kann ich euch versichern, und damit ist die Maschinerie in Gang gesetzt. Vorher aber erwischen wir sie nicht. Das heißt, die Bullen sind auf jeden Fall mit dabei, und wir können uns Zeit lassen. Warten wir bis zum Abend. Dann versuchen wir, das Mäuschen anzurufen.«
Ted hatte sich nebenan auf das Bett gesetzt, und nachdem er ein paar Minuten lang versucht hatte zu verstehen, was im Nebenraum gesprochen wurde, wurde ihm klar, dass die Wände hier unten zu dick waren, um anderes als undefinierbare Laute durchdringen zu lassen. Eine Stahltür verschloss das Verlies. An der Decke hing an einem Kabel eine elektrische Birne, die ein zuckendes Licht gab, wahrscheinlich ein Wackelkontakt.
Ted grübelte noch immer. Weshalb man ihn mitgenommen hatte, war klar: Er war im falschen Moment aufgekreuzt und hätte sie alle in Gefahr bringen können. Aber was hatten sie bei Kathrin gesucht? Bei diesem dummen Schaf, das doch nichts haben konnte, was für diese Leute von Interesse war? Er versuchte noch einmal, das Bild des durchwühlten Zimmers zu rekonstruieren, und erinnerte sich genau daran, dass Kathrins Armbanduhr auf dem Nachttisch gelegen hatte. An Wertgegenständen waren sie also nicht interessiert gewesen, und um Juwelen zu finden, schaut man auch nicht unter dem Teppich nach.
Er spürte, das waren keine Profis. Nicht cool genug, nicht erfahren, nicht routiniert. Als er, das Messer an den Rippen, das Zimmer hatte verlassen müssen, war er sich so hilflos vorgekommen, dass er gar nicht hatte nachdenken können, sonst hätte er bestimmt anders reagiert. Später, im Auto, hatte er die Gesichter besser gesehen. Keiner von denen wollte töten - mit Ausnahme der langhaarigen Flower-Power-Tante am Steuer vielleicht. Die schien vor nichts zurückzuschrecken. Die anderen sahen aus, als hätten sie sich in ein Spiel verirrt, dessen Regeln sie nicht kannten. Sie kamen mit Sicherheit nicht aus jenen Elendsvierteln New Yorks, in denen die Babys schon mit der Muttermilch faule Tricks einsaugen. Eher handelte es sich hier um Sprösslinge guter Familien. So wie sie miteinander umgingen und sprachen, hatte Gewalt nicht zu ihrem Alltag gehört. Aber gerade das konnte sie gefährlich machen. Deshalb hatte Ted auch, als sie aus dem Auto stiegen und ihn in den Keller führten, keinen Versuch gemacht zu entkommen. Profis töten schnell und kalt und aus Berechnung, Amateure töten möglicherweise genauso schnell, bloß nicht kalt und berechnend, sondern mit rasendem Puls und weil ihnen die Nerven versagen. Dieser Typ, den sie »Greg« nannten, hätte ihm das Messer blitzschnell in die Rippen gestoßen, einfach nur aus Schreck.
Ted quälte sich mit der Frage herum, ob diese Leute Kathrin wirklich gefangen hielten. Hier im Keller, in dem Vorraum, den er durchquert hatte, und in dem Verlies, in dem er jetzt saß, war sie jedenfalls nicht. Es gab auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass sie hier gewesen war. Nicht die kleinste Spur.
Irgendetwas suchen die, dachte Ted, irgendetwas wollen die ganz dringend. Wenn Kathrin noch frei ist, und wenn sie hat, was die wollen, dann werden sie mich benutzen, um an diese Sache heranzukommen. Guter Gott, warum nur musste ich dieses kleine Mädchen aus Deutschland kennenlernen? Und welcher Teufel hat mich geritten, mich auch noch mit ihr zu verabreden? Jetzt sitze ich hier ganz schön in der Scheiße.
Ted fand das Leben im Moment ziemlich ungerecht.
