
Längst herrschte im Pferdestall auf der Eulenburg atemloses Schweigen. Keiner bewegte sich mehr, alle hörten nur gebannt zu. Als Kathrin eine Pause machte, redete zuerst niemand. Dann sagte Pat langsam: »Das ist stark. Das ist wirklich stark. Alle Achtung, Kathrin, du hast was durchgemacht!«
»Das ist aufregender als alles, was wir bisher erlebt haben«, warf Angie ein.
»Ich weiß nicht«, widersprach Tom, »als Diane auf Teneriffa von diesen skrupellosen und seit Jahren international gesuchten Wilderern geschnappt und entführt war, habe ich das auch als ziemlich aufregend empfunden!«
»Und als ich im Kofferraum eines Autos lag und von diesen ominösen Schatzsuchern verschleppt wurde, habe ich mich ziemlich schummerig gefühlt«, sagte Pat. »Aber trotzdem, das ist eine tolle Geschichte, Kathrin!«
Kathrin war sehr stolz, aber sie sah plötzlich auch etwas angegriffen aus. Sie erlebte in diesen Stunden alles noch einmal und merkte, wie sehr ihr die Dinge damals unter die Haut gegangen waren. Im Nachhinein hatte sie zwar eine Geschichte erlebt, mit der sie überall brillieren konnte, aber während sich die Ereignisse damals überschlugen, hatte sie sich kein bisschen wohlgefühlt. Sie dachte an Mike, der sich zerquält hatte wegen Peggy, und an Ted, den sie so gern für sich gehabt hätte. Es waren interessante Tage gewesen in New York, aber auch traurige, jetzt erst ging ihr auf, dass sie danach nicht mehr ganz die alte Kathrin gewesen war und es nie wieder sein würde. Ein paar Dinge hatten sich gründlich verschoben.
»Wie ging es weiter?«, fragte Diane atemlos. »Wen hast du verständigt? Ich meine, weil du doch jemanden beschaffen musstest, der fließend Englisch spricht.«
»Nun, ich rief natürlich sofort Mike an. Gott sei Dank erwischte ich ihn gerade noch, er war nämlich im Aufbruch zu Peggy. Er sagte, ich solle mich nicht von der Stelle rühren, er komme so schnell wie möglich. Natürlich brachte er noch ein paar Beamte mit. An meinem Telefon wurde eine Fangschaltung installiert, obwohl alle sagten, das nütze wahrscheinlich nichts, weil die Entführer ihre Gespräche sicher unter zwei Minuten halten würden. Das ist nämlich die Zeit, die man mindestens braucht, um den Ort herauszufinden, von dem aus der Anruf getätigt wird.«
»Wissen wir«, sagte Chris. »Das erzählen sie ja wirklich in jedem Krimi.«
»Es wurde auch noch ein zweiter Apparat angeschlossen, damit immer jemand mithören könnte. Ja, und dann kam das Unangenehmste: Jemand musste Teds Eltern verständigen. Zum Glück beschlossen sie, das nicht telefonisch zu tun, sondern einen Beamten hinzuschicken.«
»Du hättest hingehen sollen«, meinte Diane. »In so einem Moment ...«
»Das ging ja nicht, ich musste doch am Telefon bleiben. Für den Fall, dass sie eben mit mir sprechen wollten, oder dass sie Ted mit mir sprechen lassen wollten. Wir saßen alle in meinem Zimmer im Halbkreis um das Telefon herum - Mike, ich, drei Beamte - und warteten ...«
Ted hatte gesagt, zwei Stunden später würde der nächste Anruf erfolgen, und es diente womöglich der Zermürbung des Gegners, dass schließlich fast drei Stunden verstrichen, ehe sich die Entführer wieder meldeten. Mike nahm das Gespräch an, er war auserkoren worden, die Verhandlungen zu führen. Der leitende Sergeant ging an den anderen Apparat.
»Ja?«, sagte Mike.
»Wer sind Sie?«
»Ein Freund von Kathrin, Amerikaner. Ich spreche Englisch, wie Sie es verlangt haben. Wer sind Sie?«
»Das ist uninteressant. Die Polizei ist eingeschaltet? Lügen Sie mich nicht an. Ich bin sicher, die Bullen sind dabei!«
Sie hatten beschlossen, mit offenen Karten zu spielen, da alles andere zu unwahrscheinlich gewesen wäre. Daher antwortete Mike: »Natürlich. Kathrin hat die Polizei informiert, nachdem Sie Ihr Zimmer durchsucht hatten. Außerdem wurde ...«
Der Mann am anderen Ende stand unter Zeitdruck, daher unterbrach er Mike sofort: »Sie haben das Heroin?«
»Ja.«
»Wir wollen es haben. Ich werde wieder anrufen und Ihnen genaue Anweisungen für die Übergabe geben. Eines sollen Sie wissen: Ein Versuch Ihrerseits, uns zu hintergehen oder uns eine Falle zu stellen, hat den sofortigen Tod der Geisel zur Folge. Sie sollten das sehr ernst nehmen.«
»Ich nehme das ernst. Aber Sie sollten auch ...«
Ein Klicken in der Leitung. Der Anrufer hatte aufgelegt.
»Scheiße«, sagte der Sergeant. »Das war natürlich zu knapp. Die sind nicht blöd. Nicht feststellbar, woher das Gespräch kam.«
»Sollen wir Beweise verlangen, dass sie Ted tatsächlich haben?«, fragte Mike. »Ich meine, ein Foto oder etwas in der Art.«
Der Sergeant schüttelte den Kopf. »Im Grunde haben wir das durch Teds Gespräch vorhin mit Kathrin. Was hätten wir von weiteren Beweisen? Zeitgewinn, aber ich fürchte, das bringt uns nichts in diesem Fall. Die Frage ist, was tun wir? Gehen wir auf die Forderung ein?«
»Es bleibt uns nichts anderes übrig«, sagte Mike. »Wir können nicht wegen 250 Gramm Heroin ein Menschenleben riskieren. Wir müssen uns auf die Geschichte einlassen.«
Der Sergeant nickte. »Aber wir müssen die dabei hochgehen lassen. Das sind vermutlich professionelle Dealer. Am Ende schnappen wir einen ganzen Rauschgiftring dabei.«
Mike hielt das für nicht sehr wahrscheinlich. »Ich glaube nicht, dass diese Leute übermäßig professionell sind. Ich gebe zu, 250 Gramm Heroin in dieser Qualität sind eine ganze Stange Geld, aber sie sind das Risiko nicht wert, das die eingehen. Profis würden sich nicht in eine Entführungsgeschichte verstricken lassen, um an das Zeug heranzukommen, sie würden sich ärgern und den Stoff im Übrigen abschreiben. Das sind kleinere Kaliber, mit denen wir es zu tun haben. Sie nehmen unvernünftig viel Gefahr auf sich, wobei ich glaube, die sind in etwas hineingeschlittert, was so überhaupt nicht geplant war, und anstatt wenigstens in letzter Sekunde von diesem immer schneller rollenden Wagen abzuspringen, verrennen sie sich noch tiefer in die ganze Geschichte. Nein, meiner Ansicht nach sind die reichlich unbedarft. Was sie keineswegs ungefährlicher macht.«
Dem Sergeant war die Verärgerung über Mikes Worte deutlich anzusehen. Er träumte natürlich insgeheim von einem großen Fang, der ihn in den Augen seiner Vorgesetzten in ein glänzendes Licht tauchen würde. Er mochte keine Unkenrufe hören.
»Wir werden die Übergabe vereiteln, das steht fest«, sagte er. »Bloß - in dieser Hinsicht können wir im Augenblick nichts planen. Wir müssen warten, bis die verdammten Kerle sich wieder melden.«
Sie bestellten beim Roomservice Kaffee für alle und richteten sich auf längeres Warten ein.
Mike erklärte Kathrin leise, was zwischen ihm und dem Sergeant gesprochen worden war und fügte wispernd hinzu: »Der Kerl ist ein Arschloch, das war der schon immer. Hat nur sein eigenes Fortkommen im Auge. Der hofft jetzt auf eine Super-Geschichte, bei der er sich von oben bis unten mit Ruhm bekleckern kann.«
Schweigend tranken sie alle ihren Kaffee. Kathrin merkte, dass Mike sehr nachdenklich und düster vor sich hin starrte.
»Was ist?«, fragte sie.
»Ich dachte nur gerade an Peggy. Sie ist es gewöhnt, dass ich sie jeden Tag besuche. Und nun kann ich heute nicht kommen. Ich mache mir Sorgen um sie.«
»Lassen Sie doch jemand anderen das nächste Gespräch führen«, schlug Kathrin vor, obwohl ihr die Vorstellung, hier allein mit den fremden Beamten zurückzubleiben, alles andere als angenehm war. »Wirklich, Sie müssen nicht meinetwegen ...«
Mike knurrte vor sich hin. »Irgendwie hab ich die Verantwortung für dich in dem Moment übernommen, als ich dich im Central Park vor den Typen gerettet habe, und ich kann sie jetzt nicht einem anderen übertragen. Der Typ bin ich nicht. Ich bleibe an Dingen dran, die ich einmal angefangen habe.«
»Tut mir leid, wenn ich ...«
»Quatsch! Wir sind Freunde, okay? Außerdem solltest du jetzt endlich ›du‹ zu mir sagen. Wir kennen uns ja schon eine Weile!«
»Gerne. Danke, Mike.«
Wieder senkte sich Stille über den Raum. Einer der Beamten kritzelte Strichmännchen auf einen Notizblock, und das Geräusch, das sein Kugelschreiber auf dem Papier verursachte, war der einzige Laut im Raum. Der Sergeant, Jack Morton, stand hin und wieder auf, ging zum Fenster, starrte hinaus und ließ sich dann wieder schwer in seinen Sessel fallen.
»Die haben Nerven«, sagte er schließlich. »So cool sind nur Profis. Ich sage Ihnen, Mike, das sind keine naiven Jungs. Das ist eine total abgebrühte Bande.«
»Wenn es«, erwiderte Mike, »die Leute aus dem Park sind - und davon können wir ja wohl mit ziemlicher Sicherheit ausgehen, dann sind die mir ein ganzes Stück zu jung, um so fürchterlich abgebrüht zu sein. Halbe Kinder!«
»Aber Mike«, Sergeant Morton lächelte überlegen und mitleidig, »was heißt da schon jung! Wir wissen, wie die jungen Leute sind - da gibt es in New York Kinder, die erschlagen mit zwölf Jahren ihre Eltern, weil sie meinen, zu wenig Taschengeld zu bekommen. Abgesehen davon - die Leute aus dem Park können ja auch nur die Spitze des Eisbergs gewesen sein. Wer weiß, wer noch alles dahintersteht!«
Mike schüttelte den Kopf. Er wollte etwas antworten, aber er kam nicht mehr dazu. Vom Flur ertönte eine laute Stimme; eine Stimme, die Kathrin nur zu bekannt vorkam: ihre Mutter.
Sie kam wie eine Furie ins Zimmer, der Beamte vor der Tür versuchte sie noch aufzuhalten, war aber machtlos gegen ihre Energie. Sie stand da, hoch aufgerichtet, sehr elegant in ihrem cremefarbenen Wollmantel und den beigen Wildlederstiefeln.
»Was geht hier vor?«, fragte sie mit scharfer Stimme.
Kathrin seufzte. Ihre Mutter neigte dazu, zu laut und zu heftig aufzutreten, und sie war in solchen Momenten nicht zu stoppen.
»Was soll das? Warum ist hier so viel Polizei? Warum will der Hotelmanager mich sprechen?«
Jetzt tauchte auch Kathrins Vater auf, mit vorwurfsvoller Miene.
»Man hört dich über den ganzen Gang«, sagte er zu seiner Frau. »Sei doch ein bisschen leiser!«
»Ich will wissen, was passiert ist. Hier stimmt doch etwas ganz und gar nicht. Kathrin?«
Unwillkürlich hatten sich alle erhoben. Kathrin ging auf ihre Mutter zu und umarmte sie.
»Hallo, Mami. Hattet ihr einen guten Flug?«
»Ja. Nein. Ziemlich unorganisiert alles. Aber das ist jetzt nicht wichtig. Was, um Himmels willen, soll das?«
»Jetzt setzen Sie sich doch erst einmal«, mischte sich Mike ein, während Kathrin vorstellte: »Mike - meine Eltern.«
Ziemlich verwirrt gaben Herr und Frau Roland Mike die Hand, dann war Kathrins Mutter endlich dazu zu bewegen, sich in einen Sessel zu setzen. Tatsächlich war sie sogar für einen Moment still, was Mike und Kathrin die Chance gab, rasch und sich abwechselnd die Geschichte zu erzählen. Für einen unvorbereiteten Zuhörer klang das natürlich alles kaum glaubhaft. Herr Roland bekam Augen wie Spiegeleier, seine Frau atmete rasch und hörbar.
Als Kathrin geendet hatte, schnappte ihre Mutter nach Luft. »Das kann doch wohl nicht wahr sein!«
»Doch. Mami, ich weiß, dir muss das alles etwas komisch vorkommen, aber ...«
»Komisch? Komisch ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort. Warum hast du mir am Telefon nichts gesagt? Ich frage dich, ob alles in Ordnung ist, du sagst jaja, und in Wahrheit steckst du bis über die Ohren in einer ganz und gar haarsträubenden Geschichte um Rauschgift, Entführer und Erpresser!«
»Es ist ja eigentlich erst seit gestern Nacht, dass sich die Ereignisse überschlagen«, verteidigte sich Kathrin. »Seit ich das Heroin in deiner Handtasche fand ...«
»Sachen gibt's!«, murmelte Herr Roland.
Frau Roland zerrte eine Zigarette aus ihrer Handtasche und nickte Sergeant Morton, der herbeisprang, um ihr Feuer zu geben, hoheitsvoll zu.
»Sie haben also Ted? Das kann doch gar nicht wahr sein! Jetzt sind auch noch unsere Freunde in alles mit hineingezogen - und das auf eine so furchtbare Weise. Ich muss die arme Jane sofort anrufen!«
Ihr Griff nach dem Telefonhörer wurde von einem vielstimmigen Schrei unterbrochen.
»Nicht!«
»Der Apparat muss frei bleiben«, erklärte Mike, »weil die Entführer jeden Moment wieder anrufen können.«
Genau in diesem Augenblick läutete es.
Ted hatte kaum noch geschlafen. Alle Knochen taten ihm weh, als er sich aufsetzte. Er hatte Hunger, fühlte sich dreckig und zerknittert, hätte etwas gegeben für eine heiße Dusche. Er fragte sich, ob sie ihn wohl noch einmal ans Telefon holen würden, aber wahrscheinlich wäre das nur dann der Fall, wenn Kathrin niemanden auftriebe, der Englisch sprach, und er wieder übersetzen müsste. Seine Chancen waren gering - äußerst gering. Und selbst wenn sie ihn mit ihr sprechen ließen, welche Informationen sollte er ihr zukommen lassen? Wenn er nur wüsste, wo er sich hier befand! Im Auto gestern hatten sie kurz nach der Abfahrt sein Gesicht auf die Knie gedrückt, damit er den Weg nicht mitverfolgen konnte, und tatsächlich hatte er jegliche Orientierung verloren. Beim Aussteigen hatte er einen Blick auf die Häuser erhascht - trotz Gregs Hand vor seinen Augen -, bei einem der Häuser ragten die beiden obersten Stockwerke nur als ausgebrannte Ruinen in den Himmel. Trotzdem glaubte er nicht, dass sie sich in der Süd-Bronx befanden, eher im East Village, wo auch noch vereinzelt solche schwarz verkohlten Bauten zu sehen waren. Aber wenn er das zu Kathrin sagte, merkten sie es sofort, egal, ob sie Deutsch verstanden oder nicht. Ted hatte Angst, ihren Zorn herauszufordern. Er hatte vorhin gemerkt, wie nervös die Entführer waren; sie befanden sich genau in der Verfassung, in der Kurzschlusshandlungen geschehen.
Während er sich noch den Kopf zerbrach, ging plötzlich die Tür auf und Lucy trat ein.
Sie brachte eine neue Flasche Mineralwasser, außerdem war sie offenbar in einem Coffee-Shop gewesen, um ein Frühstück zu besorgen; sie hatte einen verschlossenen Plastikbecher mit heißem Kaffee dabei, dazu zwei Doughnuts und zwei Croissants.
»Hättest du Würstchen gewollt?«, fragte sie. »Ich war nicht sicher ...«
»Ist schon okay so ... Sag mal, Lucy, habt ihr jetzt eine Verbindung zu irgendjemandem, der Englisch spricht? Oder soll ich noch einmal mit Kathrin reden? Ich meine, wenn ...«
Lucy sah ihn misstrauisch an. »Wir sagen es schon, wenn wir dich brauchen. Jetzt sei ruhig und iss und trink!«
Ted machte sich als Erstes über den Kaffee her. Er war heiß und süß und weckte eine Menge Lebensgeister, von denen er schon geglaubt hatte, sie hätten ihn für immer verlassen.
»Mein Gott, Lucy, kann Kaffee gut sein!«
Sie lächelte. Ted stellte fest, dass sie ein hübsches Lächeln hatte, ein sehr junges, etwas scheues Lächeln; scheu wohl deshalb, weil sie selber verwundert war, dass sie es überhaupt noch konnte. Sie hatte ihre Haare frisch gewaschen und ihnen auf geheimnisvolle Weise einen kupfernen Glanz entlockt, sie trug sie zurückgekämmt und mit einer dicken roten Kordel im Nacken zusammengebunden. Heute ließ sie einen riesigen roten Pullover über den Rock von gestern fallen, ein viel zu großes Stück, Lucy versank darin und wirkte sehr zart, schmal und verletzlich.
»Möchtest du auch ein Croissant?«, fragte Ted.
Lucy schüttelte den Kopf. »Ich esse nie etwas vor abends. Seit meinem ...« Sie unterbrach sich.
Ted sah sie aufmerksam an. »Seit deinem was?«
»Seit meinem Entzug. Ist jetzt ein halbes Jahr her. Mir ist oft noch sehr übel. Eigentlich den ganzen Tag. Abends gibt sich das dann.«
»Du warst heroinabhängig?«
»Ja. Mehr als zwei Jahre lang. Ich habe den Entzug in der letzten Sekunde gemacht. Noch ein paar Wochen, und ich wäre krepiert. Richtig krepiert, verstehst du? Ich wette, du hast noch nie einen Süchtigen gesehen!«
»Nein. Nur auf Bildern und im Fernsehen, und ich denke, das ist nicht dasselbe. Ich habe natürlich auch davon gelesen.«
»Wenn du mich damals erlebt hättest, du hättest dich nur geekelt. Ich war ein Skelett mit einer gelblichen, schrumpeligen Haut darüber. Ich verlor eine Menge Haare, hatte nur noch ein dünnes Gestrüpp auf dem Kopf. Ich kotzte ständig. Ich brauchte nur einen Schluck Wasser zu trinken, schon hab ich ihn wieder rausgekotzt. Ich bin auf den Strich gegangen, um mir Geld für den Stoff zu besorgen ... jetzt bist du schockiert, wie?«
Ted schüttelte den Kopf. »Nein. Das habe ich mir gedacht. Die meisten machen das ja wohl, wenn sie Geld für Stoff brauchen.«
»Ich habe mich selber dafür gehasst. Ich bin mit den ekelhaftesten Kerlen ins Bett gegangen, die du dir vorstellen kannst. Das heißt, du kannst es dir wahrscheinlich nicht vorstellen. Das ist nicht deine Welt!«
»Lucy, du machst einen Fehler, wenn du alle, die nicht so leben wie du, für vollkommen blöd hältst. Es ist nicht meine Welt, okay. Deshalb bin ich aber doch kein ahnungsloser Trottel! Ich kann mir das alles sehr gut vorstellen. Es zählt für dich nicht, wenn sich jemand Dinge anliest oder ihm etwas in der Schule oder in der Universität beigebracht wird, wenn er über das Fernsehen oder über Zeitungsberichte von dem erfährt, was nicht zu seinem unmittelbaren Leben gehört. Aber du unterschätzt, wie eindringlich sich Erkenntnis auch auf diesem Weg vermittelt. Man muss nicht ... man muss nicht durch die Hölle gehen, um zu wissen, dass es sie gibt.«
Lucy starrte ihn an.
»Die Hölle! Ja, wenn es so einfach wäre, wenn es einfach eine Hölle wäre, von Anfang an ... das ist das, was man immer erzählt, und was so verdammt unwahr ist: Nehmt kein Heroin, kein Kokain, raucht kein Hasch, ihr fühlt euch beschissen danach, also lasst gleich die Finger davon ... So ist es nicht, Ted. Du fühlst dich irre gut dabei, das ist die Infamie. So wie ich mich am Schluss fühlte, kurz bevor ich den Entzug gemacht habe, so war ich ja nicht die ganze Zeit. Weißt du, dass man jahrelang regelmäßig Kokain nehmen kann, ohne dass irgendjemand etwas merkt oder sieht? Zuerst mal läufst du nicht als halbe Leiche durch die Gegend. Du läufst herum und bist absolut high. Du willst Spaß haben, und du putschst dich solange auf, bis du ganz fantastisch viel Spaß hast. Du fühlst dich so toll und so stark ...«
»Bis die Wirkung nachlässt«, sagte Ted.
Lucy machte eine abwiegelnde Handbewegung.
»Gut, wenn die Wirkung nachlässt, ist alles noch ein bisschen öder als vorher. Aber wenn man kein Problem hat, an neuen Stoff heranzukommen ... ich hatte nie Probleme, weil meine Eltern unheimlich großzügig waren mit Taschengeld. Die haben auch nie wissen wollen, wofür ich es ausgebe. Im Central Park bekommst du einen Joint Marihuana für einen Dollar. Damit hab ich angefangen. Es war unheimlich leicht zu kriegen, was ich wollte.«
»Warum hast du Marihuana geraucht?«
»Ich war fünfzehn, da wurde es mir und einer Freundin auf einer Party einfach angeboten. Wir haben es aus Neugier versucht. Wir waren gerade ziemlich frustriert, hatten Ärger in der Schule, mit unseren Eltern lief es auch nicht besonders gut. Das Marihuana machte alles leichter, wir fühlten uns einfach besser. Also haben wir es uns dann immer wieder besorgt.«
»Und irgendwann bist du auf härtere Sachen umgestiegen?«
»Klar, Haschzigaretten. Amphetamine. Ich war wahnsinnig gut drauf - und ich war absolut sicher, jederzeit aufhören zu können. Ich fühlte mich nicht süchtig. Ich dachte, okay, du brauchtest jetzt nichts zu nehmen, aber wenn du etwas nimmst, läuft alles besser. Also hab' ich was genommen.«
»Sie bieten es sogar auf den Schulhöfen an, stimmt's?«
»Ja. Sie bieten es eigentlich überall an, sogar im feinen Philadelphia. In den Ferien waren wir meist auf Long Island, wir haben da ein Haus in den Hamptons. Von dort bin ich oft nach New York gefahren, hab mich im Central Park oder im Washington Square Park mit Stoff eingedeckt. Einmal, in den Sommerferien, hab ich in einer Kneipe in Tribeca gejobbt, da verkehrten reiche Typen, die ziemlich großzügig mit Kokain waren. So kam ich auf Kokain. Ich war siebzehn inzwischen - und zum ersten Mal fing ich an, mich nicht mehr so sicher zu fühlen. Verstehst du, es war ganz komisch: Auf der einen Seite ging es mir blendend, ich hatte wahnsinnig viel Spaß, lernte unheimlich verrückte Typen kennen, mit denen man sich toll amüsieren konnte, und auf der anderen Seite merkte ich, dass ich kaum mehr in der Lage war, in ein Kaufhaus zu gehen, ohne mich vorher aufgeputscht zu haben. Wenn ich nichts nahm, war ich oft wahnsinnig ängstlich, unsicher, irgendwie elend und sehr müde. Ich hatte auch immer häufiger Kopfschmerzen. Ich beschloss, nichts mehr zu nehmen - aber ich fand dann immer eine Ausrede. Entweder es ging um eine Lateinarbeit, die ich auf keinen Fall versieben wollte, oder ich war zu einer Party eingeladen, bei der ich nicht wie ein trauriger Jammerlappen herumhängen wollte. Es war so verführerisch, verstehst du? Ein bisschen Kokain, und das Leben war Klasse.«
»Ich verstehe«, sagte Ted.
»Es hätte dir genauso passieren können, sei sicher.«
Ted schüttelte den Kopf.
»Nein. Ich hätte immer zu viel Angst gehabt, nicht mehr loszukommen. Ich habe zu viel darüber gelesen. Ich hätte nie geglaubt, nicht süchtig zu werden.«
Lucy zuckte mit den Schultern. »Na ja, jedenfalls vertraute ich mich schließlich meiner Mutter an, und das war ein ganz idiotischer Fehler. Ich hätte wissen müssen, dass ich auf sie nicht bauen kann. Es war bescheuert von mir zu denken, sie würde mich in die Arme nehmen und sagen, dass sie mir helfen - und bei all dem die Ruhe bewahren wolle. Statt dessen wurde sie völlig hysterisch. Als Erstes sagte sie: Hast du es Dad erzählt? Erzähl es Dad auf keinen Fall! Das war ihre größte Sorge. Daddy steckte schließlich bis über beide Ohren im Berufsstress, weil er sich so unheimlich abmühte, immer mehr Kohle herbeizuschaffen, und mit seinem Herzen hatte er schon Probleme. Meine Mutter drehte von da an immer durch, wenn sie merkte, dass ich wieder was genommen hatte, und sie hatte eine panische Angst, Dad könnte es auch merken. Sie raffte sich auf und ging mit mir zur Drogenberatung, aber die belaberten mich nur, und es änderte sich überhaupt nichts. Dann starb mein Vater an einem Infarkt, und Mum war ein noch größeres Nervenbündel als vorher. Einmal, als mir das Geld ausgegangen war, gab sie mir welches, weil ich unheimlich dringend Kokain brauchte, aber dann bekam sie fast einen Nervenzusammenbruch und einen Weinkrampf und schrie mich an, ich würde in der Gosse landen und vor meinem dreißigsten Lebensjahr tot sein. Irgendwann hielt ich das ganze Theater nicht mehr aus. Ich lief weg und ging nach New York.«
»Und hier bist du dann irgendwann auf Heroin umgestiegen.«
»Ja. Ich habe in Kneipen gejobbt und dabei einen Mann kennengelernt, mit dem ich dann ein halbes Jahr lang befreundet war. Er war heroinabhängig, hat mir dann mal eine Spritze gegeben, als ich nichts anderes hatte, dann noch eine und noch eine ... als er schließlich an einer Überdosis starb, war ich bereits abhängig von dem Stoff. Mein Geld reichte vorn und hinten nicht, also ging ich ein paar Mal mit den Gästen in der Kneipe, in der ich jobbte, ins Bett, gegen Geld. Ich tat es dann öfter, immer öfter. Ich kam wahnsinnig runter. Es ging dann plötzlich ziemlich schnell. Ich konnte jeden Tag sehen, wie ich mehr verfiel.«
»Wie hast du es geschafft, wieder auf die Füße zu kommen?«
»Durch Chick. Er dealte damals, aber mir verkaufte er nichts, er fand mich eines Nachts im Grand Central, wo ich in einer Ecke zusammengebrochen war. Ich hatte kein Geld, keinen Stoff, und ich wollte sterben. Chick nahm mich mit zu sich und besorgte einen Therapieplatz für mich. Ein Wunder, wenn man bedenkt, wie wenig solche Plätze es gibt. Er half mir, den Entzug durchzuhalten. Das war nun wirklich die Hölle. Ich hab so furchtbare Schmerzen gehabt, Krämpfe, wie du sie dir überhaupt nicht vorstellen kannst. Ich hatte Fieber und entsetzliche Halluzinationen. Ich habe die Pfleger angebettelt um eine Spritze, und zeitweise wäre ich bereit gewesen zu töten, um an Stoff zu kommen. Wenn Chick mir nicht jeden Tag gesagt hätte, dass ich es schaffe, dass es sich lohnt für mich, dass ich mein Leben nicht wegwerfen soll, ich wäre wahrscheinlich aus dem Fenster gesprungen. Es war schrecklich. Ich wünsche es meinem schlimmsten Feind nicht.«
»Bist du mit Chick befreundet?«, fragte Ted.
Lucy schüttelte den Kopf.
»Nicht mehr als mit den anderen. Wir hatten keine Beziehung damals, wenn du das meinst. Er tat es einfach so für mich. Keine Ahnung, warum.«
Ted sah sie an.
»Warum handelt ihr mit Heroin?«, fragte er unvermittelt. »Warum du? Du bereicherst dich am Elend von Menschen, die abhängig sind und Hilfe brauchen. Du treibst sie immer tiefer in ihren Teufelskreis hinein, anstatt etwas dafür zu tun, sie dort herauszuholen.«
Lucys Augen wurden schmal.
»Was weißt du schon davon?«
»Deine Freunde haben mir inzwischen mitgeteilt, warum ich hier festgehalten werde. Es geht um Heroin, das aus mir schleierhaften Gründen in den Besitz von Kathrin Roland gekommen ist, und das ihr jetzt unbedingt zurückhaben wollt. Daraus schließe ich, dass ihr euch alle in der Branche bewegt, in der dieser Chick schon war, als er dich traf: Ihr handelt mit Rauschgift. Wo ist das soziale Gewissen, Lucy, von dem du gesprochen hast? Was du tust, widerspricht all deinen Idealen.«
»Du hast von nichts eine Ahnung«, sagte Lucy wieder, »von überhaupt nichts!«
Sie kramte eine Zigarette hervor, rauchte hastig und hüllte sich in Schweigen.
