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Kathrin war tief beeindruckt von dem Restaurant, das Ted für das Abendessen ausgesucht hatte. Es lag in Greenwich Village, dem Viertel von New York, in dem noch immer viele Intellektuelle und Künstler wohnen, war nur mit Chrom und Stahl eingerichtet, und als einzige Dekoration standen ein paar Kübel mit Grünpflanzen entlang den kalkweißen Wänden. Hier verkehrten offensichtlich fast ausschließlich junge Leute, alle ziemlich extravagant gekleidet, manche mit schrill gefärbten Haaren und grell geschminkten Gesichtern. Ein Junge kam auf seinem Skateboard hineingerollt, gefolgt von einer unnahbar dreinblickenden jungen Frau, die ein superkurzes Stretchkleid mit Leopardenmuster trug. Angesichts der vielen tollen Gäste kam sich Kathrin wieder ganz klein und unbedeutend vor, aber Ted schien das nicht zu finden; er schaute nach keinem anderen Mädchen, sondern widmete ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Und Kathrin konnte kaum ihren Blick von ihm losreißen, so gut gefiel er ihr. Er hatte wieder Jeans an, dazu einen schwarzen Rollkragenpullover und darüber ein graues Jackett, das eindeutig teuer aussah. Seine Wangen bedeckte der Schatten von einem Bart, was Kathrin absolut irre fand. Erst hatte sie Angst gehabt, sie sei zu aufwendig angezogen, aber Ted hatte sofort gesagt, sie sähe fantastisch aus, und offenbar fand er alles ganz richtig. Er erzählte von seinem Studium - Geschichte und Politologie - und von seinen letzten Ferien in Kalifornien, auf der Ranch seiner Eltern. Offenbar mochte er Pferde sehr gern und ritt ziemlich gut. Kathrin berichtete von der Eulenburg und von den Pferden dort, wobei sie ihre eigenen reiterlichen Fähigkeiten etwas übertrieb. Sie schilderte die Abenteuer, die sie und ihre Freunde dort erlebt hatten und registrierte dabei erleichtert, dass Ted offenbar mit echtem Interesse zuhörte. Es wäre schrecklich gewesen, wenn er sich mit ihr gelangweilt hätte.

Sie aßen gegrillte Austernpilze und Salat, danach Spaghetti mit verschiedenen Soßen, von denen eine besser schmeckte als die andere, und schließlich ein Tiramisu. Dazu hatte Ted eine Flasche Wein bestellt, die im Eiskübel neben dem Tisch ruhte.

»Einen Cappuccino zum Schluss?«, fragte Ted.

Kathrin nickte. Der Wein zeigte seine Wirkung. Anders als bei dem Champagner am Abend zuvor fühlte sie sich nicht leicht und heiter, sondern eher müde und ein bisschen schwindelig. Natürlich hätte sie sich eher die Zunge abgebissen, als das zugegeben.

Der Kaffee tat ihr gut, es gelang ihr sogar, aufzustehen und zur Toilette zu gehen, ohne dabei zu schwanken, wie sie erst befürchtet hatte. Im Waschraum puderte sie sich die Nase und schminkte ihre Lippen neu. Der Anblick ihres Spiegelbildes gab ihr das Selbstvertrauen zurück. Wie anders man gleich aussah mit roten Lippen und schwarz ummalten Augen und schicken Klamotten! Ted konnte wirklich zu frieden sein.

Sie ließen Teds Sportwagen stehen, wo er war, und gingen ein paar Schritte die Straße entlang. Ted wollte zu einer Diskothek, die sich im Keller ein paar Häuser entfernt befand. Er hielt Kathrin an der Hand, und sie hätte viel mehr Lust gehabt, einfach so allein mit ihm weiter durch New York zu spazieren, aber da waren sie schon an ihrem Ziel angekommen.

Ted sagte: »Ich gehe mal voran!«, und stieg vor ihr her die enge Wendeltreppe hinunter.

Ein gewaltiges Kellergewölbe empfing sie, dazu ohrenbetäubend laute Musik und ein schier undurchdringliches Gewühl von Menschen. Neben dem Geruch von Zigarettenqualm, Aftershaves und Parfüms hing auch ein eigenartig süßlicher Duft in der Luft. Kathrin ahnte, dass es sich dabei wohl um Marihuana handeln musste.

Ted kannte eine Menge Leute hier, vor allem Mädchen, und mit leisem Unbehagen stellte Kathrin fest, dass sie ihn alle anhimmelten. Glücklicherweise schien er nicht die Absicht zu haben, sich mit einer von ihnen länger zu beschäftigen. Er bestellte etwas zu trinken und zündete sich eine Zigarette an. Eine Weile lehnten sie nebeneinander an der Bar, dann fragte Ted, ob sie mit ihm tanzen wolle.

»Natürlich«, sagte Kathrin.

Hoffentlich merkte Ted nicht, dass ihr Herz viel zu laut und zu schnell schlug! Er legte wie selbstverständlich beide Arme um sie und zog sie eng zu sich heran. Madonna sang irgendeinen romantischen Song, zu dem sie sich langsam bewegten. Kathrins Drink hatte süß geschmeckt und wirkte berauschend, die Enge, die Hitze, die Gerüche taten ihr Übriges. Selbst wenn Ted weniger attraktiv gewesen wäre, hätte Kathrin gar nicht anders gekonnt, als sich schwer gegen ihn zu lehnen. Ted wertete ihre Anschmiegsamkeit natürlich anders. Als sie den Kopf hob, um ihn anzusehen - und eigentlich, um ihm zu sagen, dass sie sich lieber setzen wollte -, neigte er sich vor und küsste sie.

Kathrin war so perplex, dass sie im ersten Moment überhaupt nicht reagierte, sondern nur panisch überlegte, was man in solchen Fällen wohl tun musste.

Ted lächelte sie an. »Gefällt's dir nicht?«

»Doch, warum sollte es mir nicht gefallen?«

Sie kam sich vor wie ein kleines Schulmädchen, das verlegen vor sich hin murmelt. Wenn sie sich nicht zusammenriss, hatte Ted bald genug von ihr.

Sie versuchte, ihn selbstsicher anzusehen. »Es gefällt mir sogar außerordentlich gut«, sagte sie herausfordernd.

Ted lächelte wieder, dann küsste er sie ein zweites Mal. Diesmal kam es nicht so überraschend, und Kathrin war geschickter. Sie erwiderte den Kuss und stellte erstaunt fest, dass es nicht besonders schwierig war. Alles ging ganz wie von selbst.

»Du bist sehr süß, Kathrin«, murmelte Ted.

Seine Hand glitt langsam ihren Rücken hinunter. Kathrin fing an, sich ein wenig unbehaglich zu fühlen. Sie wollte, dass er sie küsste, aber sie wollte nicht, dass er sie so anfasste.

Rasch sagte sie: »Ich würde so gern noch etwas trinken!«

Natürlich begriff Ted, dass sie auswich, aber er ging darauf ein und bahnte ihr den Weg zur Bar.

Ich sollte eigentlich nichts trinken, dachte Kathrin, ich hatte wirklich mehr als genug heute!

Aber natürlich konnte sie jetzt nicht mehr zurück.

»Noch einmal dasselbe?«, fragte Ted.

»Ja, bitte.«

Sie trank in kleinen Schlucken und fühlte sich auf einmal ziemlich elend. Ted rauchte noch eine Zigarette, aber er hatte dabei seinen Arm um Kathrins Hüften gelegt. Ab und zu küsste er sie auf die Wange. Kathrin schaute sich um. Die Tatsache, dass ein paar der anwesenden Mädchen sichtlich neidisch zu ihr hinüberblickten, hob ihre Stimmung wieder ein wenig. Er ist wirklich der hübscheste Junge hier, dachte sie stolz.

Als sie ihr Glas leergetrunken hatte, tanzten sie noch einmal. Ted schmuste heftig mit ihr, und Kathrin begann seine Zärtlichkeiten als sehr angenehm zu empfinden. Sie hatte sich an den Schwindel im Kopf gewöhnt und an das Gefühl, zu schweben.

»Weißt du«, flüsterte Ted dicht an ihrem Ohr, »ich finde es auf die Dauer hier nicht so sehr gemütlich. Wollen wir gehen?«

Wohin?, hätte Kathrin am liebsten zurückgefragt, aber sie verbiss es sich.

»Ja«, sagte sie betont forsch, »okay, lass uns gehen!«

Es hatte ganz leicht zu schneien begonnen, langsam und sehr sacht segelten die Flocken herunter. Vorhin hatte Kathrin gefroren, aber jetzt spürte sie die eisige Luft kaum mehr. Eng umschlungen ging sie mit Ted zum Auto zurück. Er küsste sie noch ein paarmal unterwegs, und Kathrin, elektrisiert und berauscht von ihren Drinks, fand das Leben wunderbar und einmalig aufregend.

Wenn ich das erzähle, dachte sie, ohne im Moment recht zu wissen, wem sie es erzählen wollte, wenn ich das erzähle, dann platzen sie alle vor Neid!

Beim Fahren ließ Ted seine Hand auf Kathrins Bein liegen. Kathrin kuschelte sich in den Sitz. Sie schaute hinaus in das Schneetreiben, auf vorüberfahrende Autos, auf die Häuser und Geschäfte. Sie glaubte, Ted würde sie in ihr Hotel zurückfahren und vielleicht vorschlagen, dort noch für einen Moment in die Bar zu gehen. Bevor er sich dann verabschiedete, konnten sie eine Verabredung für den nächsten Tag treffen. Er war zweifellos verliebt in sie.

Als Ted das Auto plötzlich anhielt, schaute sich Kathrin verwirrt um.

»Wo sind wir denn? Hier ist doch nicht das ›Plaza‹?«

»Nein«, sagte Ted, »hier ist der Central Park.«

»Das ›Plaza‹ ist doch am Central Park!«

»Wir sind aber auf der anderen Seite. Central Park West.«

»Und warum?«

Kathrin merkte, wie sie ziemlich nervös zu werden begann. Auf der einen Seite die Straße, auf der anderen nur dunkle Büsche, dahinter der unüberschaubare Central Park. Sie begann sich heftig nach ihrem Bett und ihrem Zimmer zu sehnen.

»Warum!« Ted stellte den Motor ab. »Hast du keine Lust, mit mir allein zu sein?«

»Doch. Ich bin nur ... ich bin nur ein bisschen müde ...«

Er wirkte etwas verärgert. »Mein Gott, es ist erst kurz nach elf Uhr! Wirst du um diese Zeit schon müde? Dann bist du in New York fehl am Platz. Hier geht es jetzt erst richtig los!«

Kathrin schwieg gekränkt. Er hätte sie nicht gleich so anzufahren brauchen. Wieder spürte sie seine Lippen auf ihren.

»Mach es doch nicht so kompliziert, Kathrin«, flüsterte er. »Du magst mich doch, oder? Und ich mag dich. Warum sollten wir dann jetzt jeder allein nach Hause gehen?«

Seine Küsse wurden intensiver, seine Hände schienen überall an ihrem Körper zu sein. Kathrin presste sich in ihren Sitz, als wolle sie rückwärts ausweichen. Was hatte er vor? Sie fand die ganze Sache nicht mehr aufregend, sondern nur noch beängstigend.

»Nicht, Ted«, sagte sie nervös, als es ihr endlich gelang, zwischen seinen Küssen Atem zu holen und sprechen zu können. »Ich würde jetzt wirklich gern ins Hotel gehen.«

Sie wusste nicht, dass sie damit Teds Eitelkeit einen schweren Schlag versetzte, denn die meisten Mädchen, die er kannte, hätten sich darum gerissen, eine solche Situation zu erleben.

»Was ist denn los mit dir, verdammt noch mal?«, fragte er wütend. »Du tust so, als wäre ich irgendein grässlicher Typ, vor dem man am besten wegläuft! Hat dir das deine Mami eingeschärft: Lass dich nicht von fremden Männern in fremden Autos küssen!«

»Nein, hat sie nicht.«

»Du benimmst dich aber so! Wie ein dummes kleines Mädchen, das von nichts eine Ahnung hat!«

Kathrin schluckte. »Ich habe auch von nichts eine Ahnung«, murmelte sie.

Ted, der sich inzwischen auf seinen Sitz zurückgezogen hatte, lachte etwas verächtlich. »Kann ich mir kaum vorstellen.«

»Doch. Du ... du bist der erste Junge, der mich geküsst hat ...«

In der Dunkelheit konnte sie sein Gesicht kaum erkennen, aber sie spürte, dass er sie entgeistert anstarrte.

»Das gibt's doch nicht!«, sagte er schließlich.

Kathrin war inzwischen alles egal. »Ja, das gibt's!«, erwiderte sie heftig. »Weil ich nämlich gar nicht achtzehn bin! Ich bin fünfzehn!«

»Fünfzehn? Und da lassen sie dich in der Aufmachung herumlaufen?«

»Ich hab niemanden gefragt!«

»Und warum, zum Teufel, behauptest du, du bist achtzehn?«

»Weil du sonst nicht mit mir ausgegangen wärst.«

»Allerdings nicht. Fünfzehn! Mein Gott, du bist ja noch ein richtiges Baby«

»Ich bin kein Baby! Und die drei Jahre, die machen doch keinen Unterschied.«

Ted lachte wieder, diesmal klang es ziemlich zynisch.

»Nein, natürlich nicht! Die spielen nicht die geringste Rolle. Sie könnten mich nur ins Gefängnis bringen. Was glaubst du, wie viele arglose Männer auf diese Nummer schon reingefallen sind? Ich hatte nur nie gedacht, dass ich auch so blöd sein könnte!«

Kathrin fühlte sich hundeelend. Ihr war übel vom Alkohol, und es deprimierte sie zutiefst, dass der Abend, der so schön begonnen hatte, ein so unerfreuliches Ende finden musste. Ted, der schöne, elegante Ted, würde sie ins Hotel bringen und sich dann nie wieder blicken lassen. Sie spürte deutlich, dass er ernsthaft wütend war.

»Wolltest du nur deshalb mit mir weggehen?«, fragte sie leise. »Um hinterher ...«

»Quatsch.« Ein Streichholz flammte auf, Ted zündete sich eine Zigarette an. »Das ist schon okay. Aber ich hasse es auf den Tod, wenn ich angelogen werde. Verstehst du? Du hattest überhaupt keinen Grund, irgendwelche Dinge zu erfinden!«

»Ich dachte, du sprichst wahrscheinlich kein Wort mit mir, wenn du weißt, dass ich noch so jung bin! Ich dachte ...«

»Du hättest ein bisschen gründlicher nachdenken sollen, Kathrin. Es war doch klar, dass ich es herausfinden würde. Und dass ich sauer sein würde, damit musstest du auch rechnen.«

»Bist du es denn? Ich meine, bist du wirklich so böse auf mich?«

»Ja. Aber wir brauchen darüber nicht zu reden. Nicht mehr. Ich bring dich jetzt in dein Hotel, und dann fahre ich noch mal ins Village und amüsiere mich. Ich will noch was haben von dem Abend.«

Kathrin brach in Tränen aus. Damit konnte Ted nun überhaupt nichts anfangen.

»Du benimmst dich wirklich wie ein Baby!«, fuhr er sie an. »Hör bloß auf zu heulen, das ist wirklich das Letzte, was ich jetzt noch brauchen kann!«

Kathrin schluchzte heftig auf, sie war gekränkt und verletzt. Mit zittrigen Fingern öffnete sie die Wagentür und stolperte hinaus. Hinter sich hörte sie Teds Stimme: »Was soll denn das nun? Komm sofort zurück! Verdammt noch mal, Kathrin, bleib stehen!«

Seine Wagentür schlug zu, offenbar war er auch ausgestiegen. Sie hörte ihn kräftig und anhaltend amerikanisch fluchen. Kathrin tauchte zwischen den Büschen unter. Die Kälte, die sie vorhin kaum gespürt hatte, brannte nun schmerzhaft auf ihrer Haut, drang durch ihren Mantel und die dünnen Kleider und schien ihre Knochen zu umklammern. In der dünnen Schneeschicht, die den Boden bedeckte, weichten ihre Schuhe sofort auf, außerdem machten die hohen Absätze das Laufen auf so unebener Erde entsetzlich schwierig. Kathrin stolperte mehr als einmal, außerdem schlugen ihr Zweige und Äste ins Gesicht. Noch einmal hörte sie Teds Stimme: »Bleib sofort stehen! Du bist wahnsinnig, wenn du in den Park rennst! Kathrin, du kannst was erleben, wenn ich dich zwischen die Finger kriege!«

Aber seine Stimme klang schon leiser, er lief in die falsche Richtung. Kathrin rannte einfach weiter, weg von der Straße und tiefer in den Park hinein. Wie totenstill und einsam es hier war! Sie war einmal mit ihrer Mutter durch den Central Park spaziert, am helllichten Tag, und er war voller Menschen gewesen, Jogger und Spaziergänger und Leute, die ihre Hunde ausführten. Jetzt jedoch sah sie niemanden. Sie musste die finsterste Ecke erwischt haben, denn hier standen nicht einmal Laternen, die ein wenig Licht gespendet hätten. Schattenhaft tauchten Bäume und Büsche aus der Dunkelheit auf, bedeckt mit einer feinen, pulvrigen Schicht aus Schnee.

Schon nach kürzester Zeit hatte Kathrin jegliche Orientierung verloren. Sie wusste nicht mehr, aus welcher Richtung sie gekommen war noch in welche sie lief. Sie wusste, um zu ihrem Hotel zu gelangen, müsste sie den Central Park genau durchqueren, um auf der Ostseite wieder herauszukommen. Aber wo war Osten? Wenn sie wenigstens irgendeine Straße erreichen könnte, welche auch immer, Hauptsache, es wären Autos dort und Menschen. Ihre Zähne schlugen hörbar aufeinander vor Kälte und Furcht. Sie wäre jetzt sogar froh gewesen, Ted in die Arme zu laufen, obwohl er sie so abscheulich behandelt hatte und außer sich war vor Wut - nun, nachdem sie weggelaufen war, sicher noch mehr als vorher. Aber wenigstens wäre sie dann in Sicherheit.

Sie stolperte und fiel hin, blieb ein paar Sekunden im nassen Schnee sitzen, um zu verschnaufen, und fing wieder an zu weinen. Sie würde nie mehr aus diesem schrecklichen Park herausfinden, jedenfalls nicht in dieser Nacht, und wenn sie nicht unter Räuber und Mörder fiele, würde sie erfrieren.

»Lieber Gott, hilf mir«, jammerte sie leise.

Sie wusste, sie durfte nicht hier sitzen bleiben, es war verlockend, aber es könnte tödlich sein. Also raffte sie sich auf, widerstand der Versuchung, die hochhackigen Schuhe von den schmerzenden Füßen zu streifen. Sie hatte von erfrorenen Zehen gelesen, von den Soldaten im Krieg, denen man den Fuß oder sogar das halbe Bein hatte abnehmen müssen. Nicht auszudenken, wenn ihr dasselbe zustieße.

Kathrin irrte weiter umher, und bald hatte sie keine Ahnung mehr, wie viel Zeit inzwischen vergangen war. Der Park wurde immer dunkler und bedrohlicher.

Als sie wieder einmal keuchend stehen blieb, leicht zusammengekrümmt, denn ihre Seiten stachen schmerzhaft, meinte sie, Stimmen zu vernehmen. Lauschend hob sie den Kopf. Hatte sie schon Halluzinationen, oder waren da tatsächlich irgendwo Menschen in der Finsternis? Nein, sie irrte sich nicht. Da waren Menschen, und sie unterhielten sich. Jetzt lachte jemand. In ihrer Angst vor der Dunkelheit und gepeinigt von der eisigen Kälte, dachte Kathrin nicht darüber nach, dass Menschen um diese Zeit und in diesem Park nicht unbedingt eine Rettung seien, dass es möglicherweise besser wäre, sich vor ihnen zu verstecken, als zu ihnen hinzulaufen.

Mit letzter Kraft rief sie: »Hallo! Hört ihr mich? Hört mich jemand?«

 

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