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Kathrin war so verwirrt und verstört, dass Mike beschloss, ihr einen kleinen Schluck von seinem Schnaps einzuflößen. Wie immer, wenn er sich nicht im Dienst befand, hatte er seine kleine Flasche bei sich, und im Augenblick war er ja als Privatmann hier. Seine Kollegen, die er informiert hatte, waren gerade dabei, das Zimmer auf Fingerabdrücke zu untersuchen. Mike und Kathrin warteten draußen im Gang, was dem stellvertretenden Hotelmanager überhaupt nicht passte, denn ihm ging es in erster Linie darum, kein Aufhebens um die Sache zu machen. Der Anblick des zitternden jungen Mädchens und des älteren, ziemlich vergammelt aussehenden Mannes im Gang nervte ihn. Zu allem Überfluss zog der Alte auch noch einen Flachmann hervor, aus dem die beiden abwechselnd tranken. Es roch nach Schnaps.

»Bitte, das muss doch nicht hier sein!« Der Manager zitterte vor Nervosität. »Möchten Sie in die Hotelbar gehen? Oder ... wir könnten Ihnen irgendein Zimmer anbieten ...«

»Wir bleiben hier, danke«, sagte Mike bestimmt und wandte sich wieder Kathrin zu.

»Ich verstehe das nicht. Ich verstehe das einfach nicht! Gestern Abend ist mir auf offener Straße fast die Handtasche geklaut worden und jetzt das! Es ist ja so, als ob alle Welt es auf mich abgesehen hätte! Mike, was haben die denn in dem Zimmer gewollt?«

Mike nahm einen Schluck. Er konnte besser denken, wenn er trank, aber das wusste sein Chef glücklicherweise nicht.

»Die Art der Verwüstung lässt nicht unbedingt auf eine Suche nach Juwelen schließen, zumal deine Armbanduhr zurückgeblieben ist, außerdem ein Paar goldene Ohrringe im Bad. Wenn die Täter Schmuck gewollt hätten, wäre dein Zimmer eine denkbar schlechte Wahl gewesen, das Zimmer eines fünfzehnjährigen Mädchens, das eigentlich gar keine so großen Kostbarkeiten besitzen kann. Da gibt es Frauen im Hotel, bei denen es sich mehr lohnt, und unter ihnen leider auch immer noch welche, die es ablehnen, ihre Besitztümer dem Hotelsafe anzuvertrauen. Es könnte also nur ein Zufall sein oder eine Verwechslung, aber wie gesagt, dann hätte man das bisschen Schmuck, das da war, sicher nicht liegen gelassen. Selbst wenn die Täter überstürzt aufbrechen mussten - die Zeit, eine Uhr und ein Paar Ohrringe in die Tasche zu stecken, bleibt allemal. Sie waren auf etwas anderes scharf ... aber was, was, was?«

Sie schwiegen beide ratlos.

»Gestern wurde dir beinahe die Handtasche gestohlen?«, fragte Mike. »Weißt du noch, wo das war?«

»Ja. Direkt vor dem Hotel.«

»Hm. Kann in einem Zusammenhang stehen, muss aber nicht. Handtaschen werden in New York jede Minute gestohlen. Hattest du die Tasche heute dabei? Ich erinnere mich nicht mehr ...«

»Nein. Ein Bekannter riet mir, sie lieber im Hotel zu lassen. Sie war im Zimmer und ist ebenfalls durchsucht worden. Aber da war nichts Besonderes drin, denn mein Geld hab' ich in einem Beutel um den Hals hängen.«

»Und ich wette, dein Geld hätten die auch gar nicht mitgenommen. Die waren auf etwas ganz anderes scharf ... ziemlich scharf, so wie die jeden Millimeter im Raum dreimal umgedreht haben!«

»Ich verstehe nicht, was los ist, Mike. Ich bin ein harmloser Mensch, in nichts verwickelt, was irgendwie ...«

»So harmlos nicht«, unterbrach Mike. »Vor zwei Nächten habe ich dich aus einer ziemlich heiklen Situation herausgeholt, vergiss das nicht. Du scheinst schon ein gewisses Talent zu haben, in unangenehme Lagen hineinzustolpern. Außerdem ... Moment mal ... neulich nachts in dem Park - haben die deinen Namen mitgekriegt, und dass ich dich ins ›Plaza‹ zurückbringen wollte?«

»Ich weiß nicht, das brauchten sie aber auch nicht. Ich habe schon vorher meinen Namen ausposaunt und auch, dass ich im ›Plaza‹ wohne. Sie sollten mir ja sagen, wie ich dorthin komme.«

Mike runzelte die Stirn. »Da könnte natürlich eine Verbindung sein ...«

»Mike«, sagte Kathrin aufgeregt, »etwas habe ich ja vergessen. Als ich vorhin zurückkam, erzählte mir der Portier etwas Merkwürdiges ...«

Und sie berichtete Mike von den zwei jungen Leuten, die sich nach ihr erkundigt haben.

»Irgendwie hat mich das gewundert. Erst dachte ich, es sei Ted, aber wen sollte er dabeihaben?«

»Er könnte natürlich mit einer Bekannten oder einer Freundin unterwegs gewesen sein - auch wenn dir das nicht so ganz passt -, und plötzlich kam ihnen die Idee, sie könnten eigentlich mal bei dir vorbeischauen.«

Kathrin zögerte. »Das glaube ich eigentlich nicht. Ich habe Ted noch gestern Abend bei seinen Eltern gesehen. Er war absolut wütend, hat kaum ein Wort mit mir gewechselt, und wenn, dann hat er mir nur deutlich gemacht, dass er mir diese Geschichte von neulich Abend nie verzeihen wird und mich überhaupt für die blödeste Ziege aller Zeiten hält. Verstehen Sie, die Atmosphäre zwischen uns war so, dass ich mir kaum denken kann, wie er am nächsten Tag ›einfach so vorbeikommen‹ sollte. Er würde höchstens kommen, um sich mit mir auszusprechen, und dazu würde er aber niemanden mitbringen.«

»Hm ... ich teile das auf jeden Fall sofort dem leitenden Beamten mit. Dann muss der Portier befragt werden. Und das Zimmer wird noch einmal gründlich durchsucht. Vielleicht haben die gefunden, was sie suchten - vielleicht aber auch nicht. Dann muss es noch irgendwo sein ... es gibt natürlich noch eine dritte Möglichkeit: Die glauben, du hast etwas, was für sie von großer Bedeutung ist, aber sie irren sich. Du hast es gar nicht. Dann müssten wir herausfinden, warum sie das glauben!«

 

Der Portier, der befürchtete, man wolle ihm unterstellen, er habe fahrlässig oder leichtsinnig gehandelt, reagierte ziemlich gereizt auf die Befragung durch den Beamten, der mit Mike und Kathrin im Schlepptau auftauchte und ihn in ein Nebenzimmer bat.

»Was glauben Sie, was hier heute Mittag los war!«, sagte er heftig. »Zwei meiner Kollegen sind krank, Ersatz war jetzt zwischen Weihnachten und Neujahr nicht zu bekommen. Wir sind an der Rezeption völlig überlastet. Ich kann wirklich nicht noch darauf achten, ob mir jemand möglicherweise auf irgendeine Art verdächtig vorkommt!«

»Sie haben nichts falsch gemacht, und niemand will Ihnen so etwas unterstellen«, mischte sich Mike beschwichtigend ein. »Es ist nur so, dass ...«

Der andere Beamte warf ihm einen scharfen Blick zu. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte er betont höflich, »dann leite ich diese Vernehmung.«

Mike schluckte seinen Ärger hinunter. »Selbstverständlich.«

Der Beamte wandte sich wieder dem Portier zu, der in der Tat erschöpft aussah.

»Sie sollen nur meine Fragen beantworten. Wir hätten gern eine Beschreibung dieser Leute, die zu Miss Roland wollten. Zwei Personen sagten Sie?«

»Ja. Ein Mann und eine Frau.«

»Wie sahen Sie aus? Wie alt mögen Sie ungefähr gewesen sein?«

»Sie waren noch relativ jung. Vielleicht um die zwanzig.«

»Haarfarbe? Augenfarbe? Wie waren sie angezogen?«

Der Beamte schoss seine Fragen im Kommandoton ab, und das war offensichtlich nicht die richtige Art, den ohnehin knurrigen Portier zu behandeln. Mike war sicher, dass er viel mehr aus ihm herauskriegen würde. Man müsste dem Mann nur Gelegenheit geben, ein bisschen was von seinen eigenen Problemen zu erzählen, er brauchte etwas Mitgefühl und Verständnis, und danach würde er sich ein Bein ausreißen, um behilflich zu sein. Aber so ...

»Ich weiß nicht, welche Augenfarbe die hatten, keine Ahnung. Die Frau hatte lange, dunkle Haare. Sie war ganz attraktiv, aber sie sah sehr elend aus.«

»Elend? Inwiefern?«

»Na, elend halt. Eingefallene Wangen und so. Sah eben nicht gut aus.«

»Was hatte sie an?«

»Weiß ich nicht mehr. Habe nicht darauf geachtet.«

»Und der Mann? Woran erinnern Sie sich bei ihm?«

»Er wirkte irgendwie ganz ... elegant. Er war gut angezogen.«

»Wie war er angezogen?«

Der Portier machte ein störrisches Gesicht. »Das weiß ich nicht mehr. Ich habe nicht darauf geachtet. Der Gesamteindruck war eben nicht schlecht.«

Der Beamte seufzte. »Diese Leute verlangten Miss Roland zu sprechen, nicht wahr? Und Sie sagten ihnen die Zimmernummer und verwiesen sie auf die Haustelefone.«

»Ja.«

»Dann? Was war dann? Die beiden zogen ab?«

Der Portier runzelte die Stirn. »Nein. Nicht sofort. Ich erinnere mich jetzt ... da kam eine Dame an die Rezeption, sie war eben eingetroffen, und sie erkundigte sich nach unserem Sicherheitsdienst. Wissen Sie, nachdem inzwischen so viele Leute mit ihren persönlichen Leibwächtern hier anreisen und das für uns ein gewisses Problem darzustellen begann, haben wir eigene Kräfte eingestellt, die in allen Stockwerken patrouillieren. Für unsere Gäste ist das eine große Beruhigung, weil die Gefahr von Überfällen und Einbrüchen dadurch natürlich sehr gemindert wird ...«

Der Beamte konnte sich nicht enthalten, zynisch anzumerken: »O ja ... wie man gerade wieder gesehen hat!«

»Jedenfalls - die junge Frau bekam die Frage nach den Sicherheitskräften mit und mischte sich sofort ein. Wollte genau wissen, ob das stimmt, wo sich diese Leute aufhalten und so weiter.«

»Und das hat Sie nicht irritiert? Es kam Ihnen kein bisschen verdächtig vor?«

»Sie machen sich keine Vorstellung davon, wie es hier zuging«, rief der Portier aufgebracht. »Ich hätte zehn Hände haben müssen, um allen Anforderungen gerecht zu werden. Ich ...«

»Sie sagten das bereits«, unterbrach ihn der Beamte. »Sie waren im Stress. Sind Ihnen vielleicht weitere Personen aufgefallen? Komplizen, die sich im Hintergrund hielten?«

»Nein.«

Mike sagte leise zu Kathrin: »Mit der Beschreibung kannst du wahrscheinlich wenig anfangen. Oder erinnerst du dich an jemanden aus dem Park neulich nachts?«

Kathrin zuckte hilflos mit den Schultern. »Nein. Das ist zu wenig. Eine solche Beschreibung trifft auf Hunderttausende zu.«

»Stimmt. Irgendwie bringt uns das alles nicht weiter.«

Das schien der Beamte auch so zu sehen. Er entließ den Portier und sagte zu Mike: »Sie sehen selber, in dieser Geschichte ist nichts zu erreichen. Niemand kann anderes als vage Angaben machen. Es nützt nichts. Es gibt ja nicht einmal etwas, wonach wir suchen können, da Miss Roland nichts gestohlen wurde. Es handelt sich hier im Grunde nur um Hausfriedensbruch.«

»Ich mache mir Sorgen um Miss Roland«, entgegnete Mike. Er vergewisserte sich, dass Kathrin ihn offenbar nicht verstand, er sprach schnell und mit hartem Slang. »Ich glaube, dass diese Leute hinter etwas ganz Bestimmtem her waren, und falls sie das nicht gefunden haben, tauchen sie möglicherweise wieder auf. Am helllichten Tag in ein Hotelzimmer einzudringen und es derart zu verwüsten, stellt ein ziemliches Risiko dar, das heißt, diese Leute sind wild entschlossen. Gestern hat man Miss Roland auf offener Straße die Handtasche zu entreißen versucht. Ich vermute ...«

»Aber ich bitte Sie! Handtaschenüberfälle gibt's hier mehr als Sand im Atlantik. Das muss in überhaupt keinem Zusammenhang stehen.«

»Es kann aber. Verstehen Sie, ich möchte nicht, dass dem Mädchen etwas passiert!«

»Was könnte die schon haben, wohinter andere her sind? Ich verstehe ja Ihre Argumentation, aber ich halte sie für ziemlich weit hergeholt. Auf jeden Fall«, er gähnte verstohlen, »auf jeden Fall kann ich im Moment nichts tun. Das sehen Sie ja wohl selber!«

Das sah Mike tatsächlich. Er wandte sich an Kathrin. »Pass auf, du ruhst dich jetzt erst einmal aus. Ich muss weg und nach Peggy sehen, ja? Aber ...«

»Nicht, Mike! Gehen Sie nicht weg!«

»Aber wir können heute Abend zusammen essen, wollte ich gerade hinzufügen. Ich hole dich gegen sieben Uhr hier ab. Einverstanden?«

»Na gut.«

Sie beschloss zu baden. Nach ihrer Erfahrung würde sie das wenigstens etwas beruhigen.

 

Ted sah auf die Uhr. Schon kurz nach sechs, den halben Tag saß er bereits hier. Trotz seiner Nervosität verspürte er Hunger, vor allem aber quälenden Durst. Hatten die vor, ihn hier eintrocknen zu lassen? Gerade als er überlegte, ob er gegen die Tür hämmern und schreien sollte, hörte er, wie draußen der Schlüssel umgedreht wurde. Das langhaarige Mädchen - Lucy hieß sie, so glaubte er mitbekommen zu haben - trat ein. Es hielt eine große Papiertüte in der Hand.

»Wie geht's?«, fragte sie.

Ted zuckte mit den Schultern. »Nicht so toll. Ich weiß nicht, was das alles soll.«

Lucy reichte ihm die Tüte. »Für dich. Du bist sicher hungrig.«

Einen Moment schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, jegliche Nahrungsaufnahme zu verweigern, wenn sie ihm nicht erklärten, weshalb sie ihn hier festhielten, aber dann begriff er, dass er damit nichts erreichen und sich nur selber schaden würde. Er öffnete die Tüte, sie enthielt einen verschlossenen Plastikbecher mit eiskaltem Orangensaft, einen Cheeseburger und eine große Portion Pommes frites. Ted trank die Hälfte des Saftes in einem Zug aus, ehe er in den Cheeseburger biss.

Lucy setzte sich ihm gegenüber auf einen wackeligen Stuhl und sah ihm zu. Ted hob den Kopf, musterte sie eindringlich. Sie sah weniger gut aus als vorhin. Da war sie wenigstens noch einigermaßen anständig angezogen gewesen, aber jetzt wirkte sie vollkommen verschlampt. Ausgeleierte Jeans, ein uralter, fleckiger Wollpullover darüber, ehemals weiße, jetzt grüngraubraune Turnschuhe an den Füßen. Dazu dieser unmögliche Silberschmuck! Ted hasste alles, was billig aussah. Wahrscheinlich hatte sie ihn von irgendwelchen Straßenhändlern, von diesen ewigen Hippies.

»Was schaust du mich so an?«, fragte Lucy.

»Nur so. Ich habe darüber nachgedacht, warum Sie ... ach, nichts.«

»Sag es doch.«

»Nein.«

Schweigend verspeiste er sein Essen, trank den Saft und sagte: »Ich habe immer noch Durst.«

»Ich hol dir nachher eine Flasche Wasser.«

»Das wäre sehr freundlich.«

»Das wäre sehr freundlich«, äffte sie ihn nach. Dann schwenkte sie provozierend den Schlüssel. »Glaub übrigens nicht, du könntest mich überwältigen und entkommen. Chick und Greg sind draußen.«

»So etwas dachte ich mir schon. Ich hätte nicht versucht zu fliehen, bestimmt nicht.«

»Du gehörst nicht zu denen, die etwas riskieren, was? Ich wette, du hast dein ganzes bisheriges Leben total angepasst verbracht und hast den großen Leuten nach dem Mund geredet!«

»Ich verhalte mich vernünftig, das ist alles. Es wäre völlig unvernünftig zu versuchen, davonzulaufen und dabei womöglich abgeknallt zu werden. Es ist mir egal, was Sie von mir denken, Lucy. Ich will diese Geschichte überleben, das ist alles. Ich will hier herauskommen und dann keinen von Ihnen jemals wiedersehen.«

»Von uns hat auch keiner Lust, dich wiederzusehen. Ich jedenfalls bestimmt nicht.«

Ted machte ein unbewegtes Gesicht, aber bei sich dachte er: Irgendetwas findest du aber an mir, du Schlampe. Natürlich hasst du meine schönen Kleider, meinen guten Haarschnitt, mein teures Rasierwasser und mein gepflegtes Gesicht. Aber es fasziniert dich auch. Eigentlich wärest du auch gern so. Du würdest gern Eindruck auf mich machen. Ich wette, du würdest dir wünschen, dass ich dich hübsch finde!

»Hoffentlich«, sagte Lucy, »kannst du heute Nacht gut schlafen. Ich meine, ohne vorher dein Gesicht einzucremen und ein Haarnetz anzulegen, um deine hübsche Frisur nicht in Unordnung zu bringen!«

Ted blieb gelassen. »Ich würde mich nur gern waschen. Und meine Zähne putzen. Falls das möglich wäre.«

»Mal sehen.« Lucy stand auf, nahm ihm die leere Tüte ab. »Ich denke an das Mineralwasser nachher.«

Sie ging zur Tür.

»Lucy?«

»Ja?«

»Warum bin ich hier? Wo ist Kathrin? Was bedeutet das alles? Was wollt ihr?«

»Das erfährst du noch früh genug«, erwiderte Lucy und verließ das Zimmer.

 

Kathrin hatte sich gerade für das Abendessen mit Mike umgezogen, als das Telefon klingelte. Es war Jane, Teds Mutter.

»Hallo, Kathrin. Ich hoffe, ich störe dich nicht. Weißt du, ich mache mir ein bisschen Sorgen. Ted ist heute früh fortgegangen und bis jetzt nicht wiedergekommen. Es ist nicht seine Art, uns nicht zu sagen, wenn es länger dauert. Er ist nicht zufällig bei dir?«

»Nein. Ich habe nichts von ihm gehört und ihn nicht gesehen.«

»Ja ... merkwürdig. Ich habe schon einige seiner Freunde und Bekannten angerufen, aber niemand weiß etwas. Er hat sein Auto mitgenommen. Vielleicht macht er einen Ausflug. Im Grunde ist er alt genug, eigene Wege zu gehen.«

»Ihm ist bestimmt nichts passiert.«

»Du hast recht!« Jane lachte, aber das klang ziemlich gezwungen. »Er würde sich ganz schön ärgern, wenn er wüsste, dass ich hinter ihm her telefoniere. Wie geht es dir? Hast du etwas vor heute Abend?«

»Ich bin zum Essen verabredet.«

»Ahhh ...« Es vergingen ein paar Sekunden, in denen Jane mit dem Wunsch rang, Kathrin nach dieser Verabredung näher zu fragen, und mit ihrer Scheu, sich in die Angelegenheit junger Leute einzumischen. Schließlich - da sie vor Kathrins Mutter die Verantwortung übernommen hatte - fragte sie zögernd: »Ich weiß, es geht mich nichts an, aber ... du bist mit einem Mann verabredet?«

»Ja ...«

»Ah ... kenne ich ihn? Ist es ein Bekannter von Ted?«

»Nein, aber meine Eltern kennen ihn.« Eine Notlüge, fand Kathrin.

»Na schön. Du bist ja vernünftig? Du lässt dich nach dem Essen ins Hotel zurückbringen, ja?«

»Natürlich«, sagte Kathrin etwas verärgert. Sie versprach, dass sie sich melden würde, wenn sie etwas von Ted hörte, und legte auf.

Es klingelte gleich darauf wieder, und diesmal war es Mike, der sagte, er sei unten im Foyer und warte auf sie. Kathrin verließ das Zimmer. Kaum war sie draußen, klingelte es ein drittes Mal, aber das hörte sie nicht mehr. Diesmal waren es Teds Entführer. Sie stießen gewissermaßen auf taube Ohren.

 

Mike trank ziemlich viel, stellte Kathrin an diesem Abend fest. Sie saßen in einem chinesischen Restaurant, aber Mike aß nur wenig, bestellte sich dafür einen Wein nach dem anderen. Er sah sehr müde aus.

»Der Tierarzt meint, dass Peggy nicht mehr richtig auf die Beine kommt, selbst wenn sie am Leben bleibt«, berichtete er. »Ihr Herz ist nicht gut, behauptet er. Weißt du, ich will auf keinen Fall, dass sie sich quält. Aber ich will auch nicht voreilig sein. Vielleicht braucht sie nur Ruhe und Entspannung, dann berappelt sie sich wieder.«

»Sie sah doch gesund und kräftig aus neulich«, meinte Kathrin. »Ich glaube, Sie müssen sich nicht zu viele Sorgen machen!«

Mike nickte, aber sein Gesicht wirkte ganz zerknittert vor lauter Sorgen. Kathrin spürte, dass Peggy mehr für ihn bedeutete als ein Tier, das er liebte, sie war ein Lebewesen, das ihn noch nie enttäuscht hatte in seinem Leben, wie so viele andere. Kathrin erkannte in Mikes Augen einen Ausdruck der Traurigkeit, der nicht nur von seiner derzeitigen Angst um Peggy herrührte. Die Dinge, die sein Gemüt verdunkelten, lagen tiefer.

Nach dem Essen gingen sie noch in eine Bar, die Mike auch sonst häufig besuchte. Es gefiel Kathrin dort nicht besonders gut, sie fand die Einrichtung ziemlich schäbig, das Publikum ein wenig gewöhnlich. Es verkehrten eine Reihe Polizisten dort, die Mike kannten und ihn ansprachen; im Nu waren sie alle in eine angeregte Unterhaltung verwickelt, von der Kathrin nur die Hälfte verstand. Sie fing an, sich vernachlässigt und gelangweilt zu fühlen, schob ihr Glas hin und her, spielte mit dem Untersetzer, kippelte mit dem Barhocker. Neben ihr saß ein junges Paar, das heftig miteinander stritt. Die Frau war blond und hübsch, hatte aber die Mundwinkel nach unten gezogen und wirkte äußerst verdrießlich. Ihr Begleiter sah ein bisschen aus wie Ted. Beide passten überhaupt nicht in diese Kneipe, und ganz offensichtlich hatten sie sich auch nur deshalb hierher verirrt, weil es ihnen in ihrer ganzen Frustration schon völlig gleichgültig war, wo sie ihren Alkohol in sich hineinschütteten.

»Ich konnte doch nicht ahnen, dass du gerade an diesem Abend das andere Jackett anziehen würdest«, sagte die Blonde mit tränenerstickter Stimme, »sonst hätte ich die Tabletten nicht in die Tasche von dem anderen getan. Mein Gott, ich verstehe nicht, wieso du ...«

»Und ich verstehe nicht, warum du mir nicht sagst, wo die Tabletten sind, wenn du doch siehst, dass ich das andere Jackett anziehe!«

»Vielleicht könntest du dich auch einmal allein um deine Scheißtabletten kümmern! Ich bin nicht dein Kindermädchen, oder?«

»Du weißt genau, was passiert, wenn ich mein Asthma bekomme und dann keine Tabletten habe!« Nun klang die Stimme des Mannes äußerst quengelig. »Das kann absolut lebensgefährlich werden, aber das interessiert dich natürlich nicht. Du nimmst das alles auf die leichte Schulter!«

Die beiden sprachen ein sehr klares Englisch - offenbar handelte es sich um Engländer, nicht um Amerikaner - und Kathrin konnte beinahe alles verstehen.

Aus welchem Quatsch die Leute streiten!, dachte sie.

»Immerhin hast du kein Asthma gekriegt!«, sagte die Blonde nun. »Also verstehe ich nicht, warum du jetzt solchen Terror machen musst!«

»Natürlich verstehst du das nicht! Du verstehst überhaupt nichts, was andere Menschen betrifft.

Weißt du auch, warum? Weil deine Gedanken zwölf Stunden am Tag nur um dich kreisen. Um deine Probleme, die überhaupt keine sind, um deine ganzen eingebildeten Sorgen, um deine ...«

Die junge Frau stand auf und verließ wortlos das Lokal. Der Mann starrte ihr einen Moment lang fassungslos hinterher, dann warf er ein paar Dollarnoten auf den Tisch und lief ihr nach. Kathrin schüttelte den Kopf. Nur weil er ein anderes Jackett anzieht als sonst! Und deswegen haben sie jetzt diesen Trouble! Komisch, wie oft irgendwelche Kleinigkeiten Lawinen auslösen!

Sie fühlte sich an irgendetwas erinnert, was mit ihr selber zu tun hatte, aber es dauerte eine ganze Weile, bis sie darauf kam. Hätte sie sich nicht so schrecklich gelangweilt, hätte sie vermutlich nicht einmal darüber nachgegrübelt.

Die Handtasche. Sie hatte an dem Abend, den sie mit Ted verbrachte, nicht ihre eigene Tasche benutzt, sondern die ihrer Mutter, und die stand auch wieder in dem Zimmer ihrer Eltern. Jemand hatte versucht, ihr die Tasche auf offener Straße zu entreißen. Jemand hatte ihr Hotelzimmer durchsucht. Wie hatte Mike gesagt? »Da kann ein Zusammenhang bestehen ...« Und noch etwas: »Vielleicht haben die gefunden, was sie gesucht haben - vielleicht aber auch nicht ...«

Sie wandte sich an Mike, der noch immer in das Gespräch mit einem Exkollegen vertieft war, und zupfte ihn am Ärmel. »Mike! Mir ist gerade etwas eingefallen, was vielleicht wichtig ist ...«

Mike drehte sich etwas unwillig um. »Was ist denn?«

»Mike ... wir haben doch überlegt, was die Leute gesucht haben, die mein Zimmer durchwühlten ... und Sie meinten, es könnte da eine Verbindung zu den Leuten geben, mit denen ich diesen Zusammenstoß im Central Park hatte. Wissen Sie, die ganze Zeit habe ich nicht daran gedacht, aber - ich hatte an dem Abend mit Ted überhaupt nicht meine Handtasche dabei. Ich hatte die meiner Mutter!«

Mike, schon etwas bierselig und konzentriert auf das Gespräch mit seinem Freund, brauchte einige Sekunden, um die Zusammenhänge zu begreifen. »Ja, aber ...«

»Mike, diese beiden Taschen sehen völlig gleich aus. Wenn die etwas gesucht haben, was in meiner Handtasche ist, dann konnten sie es vielleicht nicht finden - weil es womöglich in der meiner Mutter ist - verstehen Sie?«

Mike rutschte von seinem Hocker. »Kapiert. Okay, Kathrin, wir fahren zu dir ins Hotel und sehen in der Tasche deiner Mutter nach. Kann sein, wir finden wirklich etwas.«

 

Die Tasche lag noch immer auf dem Sessel, auf den Kathrin sie an jenem schrecklichen Abend hatte fallen lassen. Kathrin, die das Zimmer vor Mike betreten hatte, griff sofort danach und kippte sie einfach aus. Puderdose, mehrere Lippenstifte, eine Flasche Haarspray, ein paar Fotos, ein Schlüsselbund fielen heraus. Und, zu Kathrins großer Überraschung, ein dicker grüner Plüschfrosch.

»Das ist ja komisch«, sagte sie erstaunt. »Wo kommt der denn her?«

Mike war herangetreten und besah sich den bunten Haufen auf dem Sessel. »Wo kommt wer her?«, fragte er.

»Der Frosch! Der gehört nicht mir. Ich habe ihn noch nie gesehen! Ob mir Ted den in die Tasche gesteckt hat? Als Geschenk, meine ich. Bevor wir uns so gestritten haben!«

Mike nahm den Frosch in die Hand.

»Ganz schön schwer. Ich habe da eine Idee ... Wahrscheinlich hast du ein verdammt heißes Zeug mit dir herumgetragen ... Hast du ein Messer? Oder eine Schere?«

Kathrin lief in ihr Bad hinüber und brachte eine kleine Nagelschere. Mike hatte den Frosch inzwischen hin und her gewendet und am Bauch die Naht entdeckt.

»Sehr sauber nachgenäht«, meinte er.

Er griff nach dem Obstteller, der auf dem Tisch stand, legte das Obst daneben und hielt den Frosch über den Teller, während er ganz vorsichtig die Naht auftrennte.

Kathrin sah ihm atemlos zu. »Was erwarten Sie zu finden?«, fragte sie.

Mike erwiderte nichts. Der Bauch des Frosches klaffte nun auseinander. Kathrin konnte das feine weiße Pulver erkennen, mit dem er gefüllt war.

»Was ist das?«

»Heroin, wenn mich nicht alles täuscht. Und zwar mindestens zweihundert Gramm.«

»Ist das viel wert?«

»Das kommt auf die Reinheit an. Aber dieser Frosch hier ist jedenfalls eine ganze Menge wert. Kein Wunder, dass die so scharf auf deine Handtasche waren!«

»Sie haben das gleich gedacht, nicht? Als Sie dieses Tier sahen!«

»Ja. Eine ziemlich übliche Methode, Heroin ins Land zu bringen. Eingenäht in Stofftiere. Wenn du mich fragst - das waren mit Sicherheit die Typen aus dem Park. Die hatten den Frosch bei sich und wussten natürlich, sie sind dran, wenn der bei ihnen gefunden wird. Also haben sie ihn blitzschnell in deine Handtasche gesteckt, darauf hoffend, dass die nicht durchsucht wird. Die Rechnung wäre ja auch beinahe aufgegangen. Kathrin, wie gut, dass dir die Geschichte mit den vertauschten Taschen noch eingefallen ist!«

»Durch einen komischen Zufall«, entgegnete Kathrin und dachte an das Gespräch des zerstrittenen Paares in der Kneipe. »Was machen wir jetzt?«

»Tja«, sagte Mike langsam, »ich fürchte, wir müssen meine Kollegen noch einmal bemühen. Speziell die von der Drogenfahndung.«

 

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