Samstag, 10. November

Am Morgen war Claude voller Tatendrang – der gestrige Schock hatte sich verflüchtigt. Gut gelaunt seifte er sich in der Dusche ein, während Mahmout sich anzog. Nach der Rasur mit einem billigen Einwegrasierer, der ihm eine Schramme am Kinn einbrachte, zog er sich an und prüfte den Ladestand des Telefons.

»Jetzt geht es los. Ich muss diesen Nortier beschatten. Weißt du, warum er am heutigen Samstag auch arbeitet?«

»Die haben samstags immer eine Notbesetzung da. Bürgerservice«, antwortete Mahmout und beobachtete Claudes geschäftige Bewegungen, bevor er begierig fragte: »Du nimmst mich doch mit, oder?«

Claude schüttelte den Kopf.

»Nein, zu gefährlich. Bring du mal den Wagen weg, bevor du erwischt wirst, mein Lieber.«

»Sehen wir uns heute?«

Als Claude Mahmouts bange Frage hörte, drehte er sich zu ihm um. Mahmout saß auf dem Bett und biss sich auf die Lippe.

»Wahrscheinlich nicht. Ich werde dir morgen erzählen, wie ich den Kerl zur Polizei geschleift habe.«

In diesem Moment klingelte sein portable. Als Claude die Nummer las, schnellte sein Pulsschlag in die Höhe.

»Julien!«, rief er und verdrückte sich ins Bad, um dem armen Mahmout das Liebesgeflüster zu ersparen. Er beruhigte seinen Liebsten in Bezug auf die Fahndung und berichtete vom Tod seines Vaters. Julien erzählte, dass er verhört worden war, was Claude so peinlich war, dass er gar nicht aufhören konnte, sich dafür zu entschuldigen. Dann hörte er zu seiner Freude, dass Julien ihn sofort besuchen kommen wollte, sobald er eine entsprechende Nachricht erhielt. Nach zehn Minuten beendete er das Gespräch und verließ das Bad. Mahmout musterte sein strahlendes Gesicht, und ein wenig schuldbewusst setzte Claude sofort eine gleichmütige Miene auf.

»War das dein Freund?«

»Ja. Er hat davon gehört.«

»Aha.«

Mahmout stand vom Bett auf. Sie küssten sich ein letztes Mal, sein Freund klammerte sich an ihn. Claude atmete noch einmal den Duft seiner Haare ein, dann schlug er ihm auf die Schulter und sagte: »Setz mich mal am Boulevard Gambetta ab. Ich muss herausfinden, wo Monsieur Nortier wohnt.«

Dies war seine leichteste Übung, doch sie nahm eine gewisse Zeit in Anspruch. Der Boulevard zog sich durch die halbe Innenstadt. Innerhalb von zwei Stunden hatte er, von der Pont Neuf aus, den Beginn des Boulevards abgeschritten und in der ungefähr achten Bäckerei erfahren, dass Monsieur Nortier ganz in der Nähe lebte. Daraufhin schaute Claude sich das kleine Reihenhaus an, das in den fünfziger Jahren erbaut worden war. Es war unauffällig wie sein Bewohner, der nun bei der Arbeit sein musste. Claude griff an die Haustür – sie war zugeschlossen. Drei Namensschilder waren an der Wand angebracht. Er sah sich um. Das Trottoir war leer. Er zog den Dietrich, den er immer in der Jeans stecken hatte, heraus und bohrte so unauffällig wie möglich im Schloss herum. Die Tür öffnete sich und Claude stieg hinauf in den zweiten Stock, wo er der Namen Nortier las. Er klingelte, um sicherzugehen, dass sich niemand in der Wohnung befand. Als er tappende Schritte hörte, wurde ihm heiß und kalt zugleich. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sein Entführer Angehörige haben könnte. Vor seinem geistigen Auge war Nortier eher der einsame Eigenbrötler. Claude zog seinen Personalausweis hervor. In der Tür stand eine ältere Frau, die er für die Mutter hielt.

»Madame Nortier?«

»Ja?«

»Mein Name ist Borichon, ich komme vom Gaswerk. Ich muss nur kurz die Therme kontrollieren.« Er hielt seinen Ausweis in die Höhe, nur ganz kurz, dann steckte er ihn wieder ein.

»Dann kommen Sie.«

»Sie wohnen hier mit zwei Personen, richtig?« Claude tippte aufs Geratewohl und landete einen Treffer.

»Ja, mein Sohn und ich.«

»Hatten Sie Besuch in letzter Zeit?« Er betrachtete die Gastherme, die am hinteren Ende des Flurs eingebaut war, und klappte ein wenig unschlüssig ihre Abdeckung auf.

»Nein.«

»Ist Ihr Sohn nach Feierabend hier, oder ist er auch mal außer Haus?«

»Ja.«

Falsche Fragestellung.

»Er ist öfter außer Haus?«

»Ja, in letzter Zeit. Bin nachts alleine.«

Er hatte die Kinder also nicht hier untergebracht. Doch um sicherzugehen, sagte Claude: »Hm, die Flamme sieht seltsam aus. Können Sie mal in der Küche die Heizung aufdrehen und dort stehenbleiben, bis ich rufe?«

»Ja.«

Madame Nortier machte nicht viele Worte, sie schien ein wenig senil zu sein. Als sie in der Küche verschwunden war, sprang Claude zum nächstgelegenen Zimmer, wahrscheinlich das der Alten, und schaute sich um. Keine Kinder. Im Bad – keine Kinder. Weder im Salon noch im Schlafzimmer. Den Kellerraum des Mehrfamilienhauses schloss er kurzerhand aus. Er war ein denkbar ungeeignetes Versteck für zwei Kinder.

»So ist es gut, Madame, es ist alles in Ordnung.«

Als sie wieder im Flur auftauchte, bedankte er sich.

»Das war’s schon. Der Winter kann kommen.«

Er trat hinaus und atmete auf, als er ein letztes »Ja« hörte.

Claude wanderte langsam zum Fluss, ließ seine Blicke über das Wasser schweifen und blieb am Appartementhaus in der Avenue Carnot hängen, in dem Monsieur Bougier logierte. Zu ihm wollte er als nächstes, um dort noch einmal auf den Busch zu klopfen. Vielleicht hatte er dort mehr Glück als in der Wohnung von Monsieur Nortier. Er schlenderte weiter, bis er zu einem Supermarkt kam. Spontan beschloss er, sich von dem letzten Geld seiner Mutter noch ein frisches T-Shirt zu kaufen, und betrat den Leclerc-Markt. Drinnen schaute er sich um, doch er hatte keine Zeit, sich in der Textilabteilung aufzuhalten, denn Nathalies Vater kam ihm vor die Augen. Er schob einen Einkaufswagen vor sich her. Claude wollte sich nicht zu erkennen geben, sondern begleitete ihn unauffällig durch die Reihen der Regale, während Dosensuppen, Schokoriegel, eingepackte Kuchen und Eis im Wagen landeten. So weit war es also her mit dem Selbstgekochten, dachte Claude. Vor der Kasse ließ Monsieur Bougier den Wagen stehen und wandte sich dem Ständer mit Zeitungen und Magazinen zu. Claude schlich näher und inspizierte die restlichen Einkäufe. Zwischen einer Melone und einem Säckchen Zwiebeln fiel ihm ein roter Haarreif auf, der mit weißen Blümchen geschmückt war. Ein Geschenk für Nathalies Heimkehr? Claude runzelte die Stirn. Dann lugte er um die Ecke und bemerkte, wie Bougier gerade eine pinkfarbene Zeitschrift aus dem untersten Regal griff und an sich nahm. Claude zog sich zurück. Als Bougier bezahlt hatte, ging Claude zum Zeitschriftenregal und betrachtete die Auslage. Pinkfarbene Zeitschriften, hellblaue Zeitschriften, allesamt mit Glitzerschminke und Malstiften bestückt, lockten die jungen Leserinnen mit letzten Meldungen über die Trennung von Johnny Depp und Vanessa Paradis. Claude fragte sich nicht länger, für wen Nathalies Vater Lesestoff und Haarschmuck gekauft hatte. Er tippte Amélies Nummer in sein Telefon.

»Amélie? Wann kannst du hier sein? Es muss schnell gehen.« Im Nu hatten sie einen Treffpunkt vereinbart. An der Total-Tankstelle an der Avenue Carnot stand Claude sich eine halbe Stunde lang die Beine in den Bauch und beobachtete das Treiben vor dem Krankenhaus auf der anderen Straßenseite. Des Öfteren war er wegen kleiner Blessuren dort gewesen, zuletzt nach seiner Brandverletzung während seines letzten Falls. Endlich tauchte Amélies Clio auf der Straße auf. Er winkte sie heran und lotste sie in die Nähe der Waschanlage. Dann setzte er sich auf den Beifahrersitz.

»Was ist denn los, Claude?«

»Ist dir jemand gefolgt?«

»Was?« Sie schaute sich instinktiv um. »Das weiß ich doch nicht. Darauf habe ich gar nicht geachtet.«

»Ist ja auch egal. Sag mal, liest Nathalie gerne Zeitschriften für junge Mädchen?«

»Ja, natürlich. Ich habe ihr in vier Tagen zwei Stück geholt. Weshalb fragst du?«

»Weil dein lieber Schwager Antoine vor einer halben Stunde eine gekauft hat. Und da frage ich mich, für wen.«

Amélie ergriff seine Hand und drückte sie. »Du meinst …«

»Ja, ich meine.« Er wies auf das sechsstöckige Appartementhaus, das sich schräg gegenüber der Tankstelle erhob.

»Nathalie ist dort drin. Er muss sie anfangs versteckt haben, aber ich wette, er hat sie jetzt bei sich.«

»Aber warum nur?«

»Er will Catherine eins auswischen. Das ist mir vielleicht ein Paar: Sie belastet ihn mit falschen Kassenbons, er schnappt ihr das Kind vor der Nase weg. Mon Dieu.«

»Sie hat was?«, fragte Amélie verständnislos. »Der Kassenbon war falsch?«

»Ja. Oder ist Antoine ein Transvestit, der Damenturnschuhe in Größe achtunddreißig trägt? Oder hat Nathalie bereits Hausschuhe in Größe einundvierzig? Ich vermute, Catherine hat zufällig diesen Bon gefunden und ihn uns gebracht.«

Amélies Mund stand offen, dann fasste sie sich an die Stirn. »Das darf nicht wahr sein! Das glaube ich einfach nicht!«

Dann betätigte sie den Türöffner. »Komm, zumindest ihn schnappen wir uns jetzt.«

»Das überlass besser mir«, sagte da eine Männerstimme. Frédéric Lambert war hinter der Waschanlage hervorgekommen und tauchte nun an der Beifahrerseite auf. Amélie drehte sich um. »Frédéric, was tust du denn hier?«

»Los, Claude, raus da.« Lambert ignorierte ihre Frage und riss Claudes Tür auf. Doch Claude beantwortete sie. Lässig stieg er aus, richtete seine Jacke und sagte: »Dein Liebster ist dir klammheimlich gefolgt. Nicht wahr, Frédéric?«

Lambert warf einen Blick auf Amélies verärgertes Gesicht und errötete.

»Ist doch egal, du Schlaumeier«, sagte der Kommissar und packte Claude am Ärmel. »Jetzt steigst du in den Wagen da ein. Ich habe eine Menge Fragen an dich.«

Claude musterte mit gemischten Gefühlen ein Zivilfahrzeug, aus dem ein weiterer Beamter ausgestiegen war.

»Frédéric, wie gemein von dir! Verdammt, das kannst du doch nicht machen!«, rief Amélie und zerrte an Lamberts Arm. Der Kommissar wollte sie besänftigen und ließ Claudes Ärmel los. Dieser Moment reichte aus, um Claudes Entschluss in die Tat umzusetzen. Er stieß Lambert zur Seite, der gegen Amélie prallte, und spurtete über den Hof der Tankstelle zur Straße.

»Rodez!«, rief der Kommissar seinen Inspektor herbei, der die Sachlage aber bereits erkannt hatte und Claude gefolgt war. Claude hetzte über die Straße, ein Wagen hupte, ein anderer legte eine Vollbremsung ein, als Claude vor seiner Motorhaube die Straße überquerte. Die beiden Verfolger schlängelten sich nur mühsam durch den Verkehr, sodass Claude seinen Vorsprung ausbauen konnte. Er hastete zur Einfahrt des Krankenhauses direkt gegenüber, lief durch die Drehtür in die Lobby und orientierte sich kurz. Die Luft roch nach Reiniger und ätherischen Ölen. Er holte sein portable aus der Tasche. In der Ecke glänzte die Tür des Aufzugs. Unter den Blicken der verwunderten Empfangsdame sprang er hinein und drückte auf den Knopf für das Kellergeschoss. Zu seiner Erleichterung setzte sich die Kabine sofort in Bewegung. Hastig wählte er Amélies Nummer, seine Finger sprangen auf der Tastatur umher. Sie meldete sich sofort.

»Claude, wo bist du?«

»Ich komme gleich aus dem Keller des Krankenhauses. Fahr auf den Parkplatz des Appartementhauses, dann steige ich bei dir ein.«

Kling! Ein sanfter Glockenton zeigte ihm an, dass das unterste Geschoss erreicht war: Eine kleine Tiefgarage für Ärzte und Verwaltung, nicht der Leichenkeller, der sich laut Beschilderung jedoch direkt nebenan befand. Glück gehabt, dachte Claude und hastete durch die Reihen der geparkten Autos auf die Ausfahrt zu. Die Tür schloss sich, der Aufzug glitt wieder nach oben, sodass Claude ahnte, dass seine Verfolger ihm dicht auf den Fersen waren. In der Tat hörte er schon Schritte, die eine Treppe hinabliefen. Gebückt lief er weiter. Das Tageslicht der Einfahrt war nicht mehr weit entfernt. Er rannte hinaus und gelangte auf eine Stichstraße. In Sichtweite wogte der Verkehr durch die Avenue Carnot.

»Stehen bleiben!«, hörte er, doch er schaute sich nicht um. Auf der Straße angelangt, lief er weiter und kam nach zwanzig Metern auf den Parkplatz des Wohnhauses, vor dessen Schranke Amélie wartete. Sie ließ den Motor an, Claude warf sich auf den Sitz, und bevor er die Tür schließen konnte, brausten sie davon.

»Du bist schon ziemlich gut darin, mich zu retten«, sagte Claude.

»Wir sind Bonnie und Clyde, das weißt du doch.«

Die Fahrt ging durch mehrere Kreisverkehre, bis Claude glaubte, in der Nähe des Sozialamtes angekommen zu sein.

»Lass mich dort raus, Amélie.« Er zeigte auf eine Bushaltestelle.

»Du hast Glück gehabt, Claude«, sagte seine Freundin und legte ihm die Hand auf den Schenkel. »Dieser verdammte Frédéric, der kann was erleben, wenn ich ihn wiedersehe. Ich finde das total frech und nicht gerade freundschaftlich. Was meinst du, Claude?«

»Da ist er wohl ins Fettnäpfchen getreten.«

»Ja, weiß Gott«, empörte sie sich und verzog ihren Mund zu einer Schnute. »Ich kann ihm nicht mehr vertrauen, jetzt nicht mehr«, sagte sie noch leise und ließ ihren Kopf hängen.

»Ach, Amélie, und ich bin schuld daran. Es tut mir so leid. Ich hätte dich nicht in die Sache reinziehen sollen.«

»Warum? Ich habe doch dich in die Sache reingezogen, es ist immerhin meine Nichte.«

»Da hast du auch wieder recht«, gab Claude lächelnd zu und stupste sie auf die Nasenspitze.

»Was ist jetzt mit Nathalie? Soll ich allein zu Antoine gehen?«

»Nein, lass mich nur machen. Der Kerl läuft uns nicht weg.«

Amélie seufzte.

»Ach, Claude, ruf mich dann sofort an. Und jetzt raus hier, ich habe ein Hühnchen mit Catherine zu rupfen.«

»Danke, du bist die Beste.«

Claude stieg aus und winkte hinter ihrem Wagen her. Dann wischte er sich über die Stirn. Es war bedeckt heute, aber auch ohne die herbstliche Sonne war er ins Schwitzen gekommen. Er setzte sich in Bewegung und versuchte, die richtige Straße zum Sozialamt zu finden. Als er an einer Telefonzelle vorbeikam, kam ihm eine Idee. Antoine Bougier sollte nicht davonkommen. Lambert war zwar ein Trottel, doch er war an Ort und Stelle. Claude rekapitulierte seine Telefonnummer im Kopf und wählte sie.

»Lambert hier.«

»Salut, Frédéric.«

»Claude, du Arschloch, wo bist du?«

»Das tut nichts zur Sache, aber ich habe einen Einfall, wie du Amélie wieder versöhnen kannst.«

»Versöhnen?« Sogleich wurde seine Stimme zahm wie das Schnurren einer Katze.

»Sie ist total sauer auf dich. Du hast sie hintergangen, sie ausgenutzt, als wäre sie eine Informantin.«

Lambert seufzte. »Es ging nicht anders. Ich habe dir etwas zu sagen.«

»Ich dir auch. Antoine Bougier hat vorhin einen Haarreif, Süßigkeiten und eine von diesen Mädchenzeitschriften gekauft. Was denkst du wohl, für wen?«

Lambert schnappte nach Luft. »Du meinst?«

»Treffer!«

»Und du hast das selbst gesehen?«

»Ja, wir waren im gleichen Supermarkt. Er hat mich nicht bemerkt. Versuch dein Glück mal. Ich bin fest davon überzeugt, dass Nathalie bei ihm ist.«

»Und wenn nicht?«

»Du brichst dir keinen Zacken aus der Krone, wenn du mal auf mich hörst.«

»Na ja … Claude, wegen der Obduktion.«

Seine Haut prickelte plötzlich wie von Nadelstichen.

»Ja?« Er öffnete gespannt den Mund.

»Der Junge ist an einem Asthmaanfall gestorben. Seine Mutter wollte das zu seinen Lebzeiten noch untersuchen lassen – es war noch nicht ganz klar, ob er nur eine langwierige Bronchitis hatte oder etwas Schlimmeres. Er wurde nicht ermordet, hörst du, Claude?«

»Nicht ermordet«, wiederholte Claude mühsam. Dann fragte er: »Und ein Missbrauch?«

»Nein, keine Anzeichen.« Er sah förmlich vor sich, wie Lambert den Kopf schüttelte. Er lehnte sich an die Wand der Telefonkabine und schloss die Augen.

»Gott sei Dank.«

»Denk jetzt nicht, du wärst aus dem Schneider. Du hast wohl noch keine Zeit gehabt, ihn zu missbrauchen, was? Du hast ihn entführt, denk daran. Und ich wüsste gern, wie du das Geld bekommen hast. Ich werde dich kriegen.«

»Du bist ein Idiot, Lambert. Hast du Albert verhört?«

»Ähm …« Mehr kam nicht aus Lamberts Mund heraus.

Claude fauchte: »Na klar. Ich wette, du stehst mit leeren Händen da. Was soll Albert dir auch sagen? Er hat nichts damit zu tun. Heute Abend bringe ich dir den wahren Entführer. Auf einem Silbertablett!«

Wütend warf er den Hörer auf die Gabel und stapfte davon, immer geradeaus, so lange, bis er gar nicht mehr wusste, wo er eigentlich war. Als er zu sich kam, fluchte er und schaute auf seine Uhr. Die Suche nach der Wohnung und die Sache mit Antoine und Lambert hatte gute vier Stunden gedauert, doch nun war er an den Ausgangspunkt zurückgekehrt. Das Sozialamt lag nur eine Straße entfernt. Es war kurz vor Mittag, und durch die Tür strömten Besucher ein und aus. Claude mischte sich unter sie und gelangte in die Lobby. An Schalter sieben saß ganz brav der geisteskranke Täter und beriet eine Frau, die ein Kind auf dem Schoß hatte. Claude kehrte dem Gebäude den Rücken zu – er brauchte nur den Feierabend abzuwarten. Einen Augenblick lang wunderte er sich darüber, dass sich seine Arbeit nun so einfach gestaltete. Wahrscheinlich saß sein Vater im Himmel und schickte die Engel zu ihm hinunter, die sämtliche Hindernisse aus dem Weg räumten. Nein, dachte er dann ein wenig traurig. Nach dieser tollen Nacht mit Mahmout spuckte sein Vater eher Gift und Galle.

Mahmout – er hatte vielleicht noch das Auto, und das benötigte er für die Verfolgung von Nortier, fiel ihm siedend heiß ein. Schnell wählte er die Nummer seines Freundes, doch er hörte nur die Ansage der Mailbox. Was soll das?, fragte er sich. Nun musste er sich tatsächlich auf den Weg zur Esplanade des Clavières machen, um ihn zu sprechen. Claude seufzte und marschierte los. Das Geld für ein Taxi wollte er sich sparen, er hatte Zeit genug bis heute Nachmittag. Nach einer Dreiviertelstunde über staubige Trottoirs und an dreckigen Gossen entlang stand er vor dem kleinen Supermarkt. Er versuchte noch einmal, Mahmout zu erreichen, doch ohne Erfolg. Als ein Gendarm aus dem Haus Nummer zehn kam, reagierte Claude sofort und versteckte sich hinter dem Bäckerstand, an dem er bereits mit Mahmout gestanden hatte. Nichts da mit leichter Arbeit, dachte er. Jetzt haben die Bullen ihn erwischt. Als die Luft wieder rein war, bemerkte er den stämmigen Burschen, der ihn im Schwitzkasten gehabt hatte. Er saß auf der Mauer, die den Parkplatz des Marktes umgab, und ließ den Kopf hängen.

»Salut«, grüßte Claude und trat auf ihn zu.

»Na, du Schwuchtel? Dass du dich noch hierher traust …«

Wieder senkte der junge Mann sein breites Haupt.

»Was ist denn los?«, wollte Claude wissen. »Ich suche Mahmout. Hast du ihn gesehen?«

»Du hast vielleicht Nerven«, knurrte der Bursche. »Hast du es denn noch nicht gehört?«

Die vorwurfsvollen Augen von Mahmouts Kumpel brachten Claudes Herz zum Beben. Was war los mit Mahmout?

»Ich habe nichts gehört. Also spuck’s aus.«

»Mahmout ist tot, mausetot. Ist ins Wasser gegangen, vor zwei Stunden. Hat vorher Streit gehabt mit seiner Familie. Das konnte man bis auf die Straße hören.«

Ins Wasser gegangen? Claude verstand nicht, was der Typ sagte. Er schüttelte den Kopf.

»Ich habe Mahmout doch eben noch …« Nein. Das war vor vier oder fünf Stunden gewesen, jetzt war es ein Uhr. Claude taumelte, hielt sich an einem Auto fest. Der junge Mann schaute ihn verblüfft an.

»Ist dir schlecht? Ist ja auch echt scheiße, das mit Mahmout. Ich habe ihn noch gesehen, wie er rauskam. Ganz verheult sah er aus.«

Nein, nicht Mahmout, nicht sein stolzer Prinz aus dem Orient!

»Das kann nicht sein!«, schrie Claude und trat gegen den Reifen eines kleinen Peugeot.

»Das kann nicht sein«, wiederholte er und zerrte am Kragen des bulligen jungen Mannes. Der stand auf, fasste seine Arme und blickte ihn an wie eine traurige Bulldogge.

»Er war schwul, oder? Also doch. Mann, und das bei dem Alten und dem Bruder, das geht ja gar nicht.«

»Wo ist er?«, fragte Claude.

»Keine Ahnung.«

Claude rannte los, Richtung Süden, dahin, wo der Gardon d’Alès sein Bett hatte – dahin, wo es Mahmout hingezogen hatte. Er wollte immer noch nicht verstehen. Der Gardon war doch nicht tief, dort konnte man doch gar nicht ertrinken, oder? Er dachte an die Regenfälle der letzten Wochen, die den Wasserpegel hatten ansteigen lassen. Der Gardon d’Alès sammelte sein Wasser aus den vielen kleinen Flüssen der Cevennen. Man konnte darin ertrinken. Er konnte ihn nicht mehr retten. Warum hatte Mahmout das getan, gerade jetzt, wo er sich doch sicher war? Aber war er das wirklich? Claude ließ die letzten Minuten ihres gemeinsamen Morgens noch einmal Revue passieren. Er selbst war unternehmungslustig gewesen, Julien hatte angerufen. Mahmout hatte gefragt, ob sie sich heute noch sehen würden. Er war ganz niedergeschlagen gewesen, dachte wahrscheinlich, dass seine Aufgabe nun beendet war und er nicht mehr gebraucht wurde. Er hatte sich nutzlos gefühlt, nein, ausgenutzt. Claude biss sich auf die Lippe. Er hatte alle alleingelassen: seine Mutter, seinen Vater, Mahmout. Er hatte seinen Prinzen alleingelassen, mitten im Sturm der Gefühle, mitten im Aufruhr seiner Seele. Alleingelassen, weil Claude anderes zu tun hatte, nämlich sein Leben zu retten, ein Leben in Anduze, ohne Mahmout. Anstatt dafür zu sorgen, dass Mahmout sich beruhigte, anstatt neue Pläne mit ihm zu schmieden oder ihn mit netten Gleichgesinnten bekannt zu machen, hatte er Mahmouts Zwiespalt nicht erkannt. Nicht seinen Liebeshunger und seine Angst vor den Folgen seines Handelns, die jede Umarmung und jeder Kuss in sich trug.

Mahmout hatte es darauf ankommen lassen: Er wollte sich selbst beweisen, dass er stark und cool war, und hatte sich bei seiner Familie geoutet. Ohne seine Hilfe. Was war er nur für ein Freund? Claude atmete tief ein, weil er das Gefühl hatte, sein Brustkorb müsste jeden Augenblick bersten vor Anspannung. Der Druck hinter seinem Brustbein wollte nicht weichen, als steckte der Schmerz vom Weinen noch in seinem Herzen. Er fühlte sich so schuldig, verschmutzt, dreckig. Zudem stank er wie ein Tier, stellte er fest, als er die Nase in Richtung Achselhöhle führte. Was würde Julien wohl zu seinem Aussehen sagen? Julien – er würde ihn verstehen. Auf der Stelle überfielen ihn die Sehnsucht und der Drang, zu ihm zu gelangen, und er überlegte, wie er am schnellsten an ein Fahrzeug kommen würde. Seine nächste Überlegung war, dass Mahmout den Lieferwagen wahrscheinlich noch nicht wieder in einem stillen Industriegebiet abgestellt hatte. Vielleicht war er mit dem Wagen zum Gardon gefahren, mit dem Wagen, den er ihm zuliebe organisiert hatte.

Als Claude die Altstadt hinter sich ließ, in der er instinktiv an jeder Gasse innegehalten und sich nach einer Polizeistreife umgesehen hatte, gelangte er an die Hauptstraße, die dem Gardon folgte. Ein Teil des Ufers bot überdachte Parkplätze. Er stieg die Treppe zum Uferstreifen hinunter. Seine Schritte hallten von Wand und Dach wider. Er brauchte nicht lange zu suchen – in der Mitte der Fahrzeugreihe stand der weiße Lieferwagen. Nach einem Blick in das Fenster atmete Claude auf: Der Schlüssel steckte. Wieder schaute er sich um. Das Absperrband der Polizei leuchtete nicht weit entfernt. Claude stieg ein und legte seinen Kopf auf das Lenkrad.

* * *

Nachdem Lambert geklingelt hatte, dauerte es geraume Zeit, bis er Schritte hörte. Ungeduldig tippte er mit dem Fuß auf den Teppichboden. Als Antoine Bougier öffnete und die beiden Besucher erkannte, erblasste er zuerst, doch dann fasste er sich.

»Monsieur Lambert, hätten Sie sich doch angemeldet. Bei mir ist gar nicht aufgeräumt.«

»Das macht nichts.«

Bougier machte keine Anstalten, sie hereinzulassen.

»Dürfen wir eintreten? Wir haben Neuigkeiten.«

Da zog Bougier die Augenbrauen hoch und die Tür weit auf.

»Neuigkeiten? Da bin ich aber gespannt.«

Er führte die Gäste in den Salon, wo eine Frau mit einem hübschen, dunklen Bubikopf auf dem Sofa saß. Lambert kniff die Augen zusammen. Der Haarreif war vielleicht für diese fremde Frau bestimmt gewesen, doch die Mädchenzeitschrift? Aber was, wenn Claude sich geirrt hatte? Innerlich fluchte er.

»Darf ich Ihnen meine Freundin Corinne vorstellen?«

Die etwa dreißigjährige Frau nickte ihnen zu und stand auf.

»Ich lass euch dann mal alleine.«

Mit einem Kuss verabschiedete Bougier sie an der Wohnungstür. Plötzlich räusperte sich Inspektor Rodez und wies ganz unmerklich mit dem Kopf auf den Boden. Zwischen Sessel und Tischbein eingeklemmt steckte eine halbnackte Barbie-Puppe. Lambert zwinkerte seinem aufmerksamen Mitarbeiter zu.

»Was können Sie mir berichten? Habe Sie Neuigkeiten von Nathalie?«

»Ja. Man hat den vermeintlichen Entführer dabei beobachtet, wie er einen Haarreif und eine Mädchenzeitschrift in einem Supermarkt gekauft hat.«

Antoine Bougier stellte für den Bruchteil einer Sekunde das Atmen ein, doch dann schüttelte er den Kopf.

»Eine seltsame Beobachtung. Wer hat ihn denn gesehen?«

»Claude Bocquillon.«

»Aber der steht doch selbst unter Verdacht.«

Lambert kam zur Sache. »Wir wollen keine Spielchen mehr spielen. Haben Sie den Kassenbon noch?«

Empört riss Bougier die Augen auf.

»Ich glaube, ich höre nicht recht! Sie glauben, ich hätte sie entführt?!«

»Nathalie ist hier, bei Ihnen, vereint mit dem lieben Papa.«

»Das müssen Sie erst beweisen. Haben Sie einen Durchsuchungsbeschluss?«

»Das wird nicht nötig sein«, sagte Lambert trocken. Dann rief er so laut, dass seine Stimme sämtliche Wände zu durchdringen schien: »Nathalie, hier ist die Polizei. Du kannst jetzt ruhig herauskommen. Es passiert dir nichts. Deine Mama möchte dich gern sehen.«

In der Pause, die entstand, war nichts zu hören. Lambert fixierte den Vater mit einem starren Blick, während ihm Schweißperlen auf die Stirn traten. Wenn Claude ihn nun an der Nase herumgeführt hatte? Und wenn die Puppe auf dem Boden von einem früheren Besuch stammte?

»Nathalie!«

Da hörten sie das Klicken eines Türschlosses. Lambert schaute in den Flur, an dessen hinterem Ende sich langsam eine Tür öffnete. Ein Mädchengesicht, umrahmt von dunklen Haaren, lugte durch den Türspalt. Antoine Bougier atmete tief ein und setzte sich auf das Sofa.

»Nathalie, komm ruhig her.«

Da kam das Mädchen herein, schlich um die beiden fremden Männer herum und schmiegte sich in die Arme ihres Vaters.

Lambert betrachtete sie neugierig, als suchte er im Gesicht der Kleinen eine Ähnlichkeit zu ihrer Tante Amélie. Inspektor Rodez zog indes das Telefon hervor, um Bertin Bescheid zu geben. In die Erleichterung über die Aufklärung von Nathalies Verschwinden mischte sich eine plötzliche Wut, und nur die Anwesenheit des Kindes hielt Lambert davon am, dem Vater einen Kinnhaken zu verpassen. Er dachte an die Angst Amélies, an die Tränen der Mutter und an die Sorgen, die Amélie in den letzten Tagen halb verrückt gemacht hatten.

»Warum das alles, Monsieur Bougier?«

Der überführte Vater senkte den Kopf. »Nathalie, geh wieder in dein Zimmer und pack schon mal deine Sachen. Es ist besser, wenn du wieder zu deiner Mama gehst, sonst ist es ja ungerecht, verstehst du?«

»Ja, Papa.«

Als Nathalie den Raum verlassen hatte, wandte Bougier sich wieder den Gästen zu, die sich inzwischen gesetzt hatten.

»Ich war echt sauer auf Catherine«, begann er. »Ständig hatte sie das Kindermädchen da, das auf Nathalie aufpassen sollte. Und dann, als Krönung, erfuhr ich rein zufällig, dass Nathalie bei ihrer Tante ist. Catherine hat sie einfach aus der Schule genommen, um sie für eine Weile woanders unterzubringen und ihre Ruhe zu haben. Halten Sie das etwa für eine gute Idee, Monsieur Lambert?«

»Was ich davon halte, tut nichts zur Sache.«

Bougier nahm diesen Dämpfer hin und fuhr fort.

»Es war eine Kurzschlusshandlung. Ich war wegen einer Bausache in Anduze und hörte von den verschwundenen Jungen. Da hat mich die Wut gepackt. Nathalie dort, wo Kinder entführt werden – und Madame Bougier macht sich ein paar schöne Tage!«

Die Entrüstung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Lambert fühlte sich fast versucht, ihm beizupflichten.

»Da habe ich Nathalie heimlich besucht und sie gebeten, mit mir zu kommen. Ich sagte ihr, ich hätte das mit Catherine abgesprochen. Sie ist mitgekommen. Ich wusste, dass ich Nachforschungen zu erwarten hatte, daher habe ich sie in den ersten eineinhalb Tagen zu ihrer Schulfreundin gebracht. Ich habe ihr erzählt, ich müsse für einen wichtigen Auftrag noch etwas erledigen. Ab dann war sie bei mir, und wir haben viel unternommen. Und jetzt hat sie meine Freundin kennengelernt.«

»Hatten Sie keine Angst, dass die Nachbarn sie sehen könnten?«

Bougier verneinte. »Ich habe gut aufgepasst, sie rein- und rausgeschmuggelt, durch die Tiefgarage.«

Lambert erhob sich, er hatte genug gehört. Vielleicht würde Amélie ihren Zorn vergessen, wenn sie Nathalie in die Arme geschlossen hatte.

»Sie kommen jetzt mit uns nach Anduze. Dort bringen wir Nathalie zu Amélie und Sie zur Gendarmerie. Dann entscheiden wir, was weiter mit ihnen geschieht.«

* * *

Claude hatte kaum die Kraft, sich um den nächsten Schritt zu kümmern, doch es würde niemandem nützen, wenn er jetzt in Untätigkeit versank. Zu Julien zu fahren, erschien ihm plötzlich wie eine feige Flucht. Es musste weitergehen bis zum bitteren Ende.

»Jetzt geht es ihm an den Kragen, Mahmout. Du wirst sehen, ich hatte immer recht mit dem Typen.«

Mahmout hätte nicht gewollt, dass der Kerl entwischte, den er aufgespürt hatte.

»Ich danke dir, Mahmout«, flüsterte Claude und streichelte das Lenkrad, das vorhin noch in den Händen seines Freundes gelegen hatte. Erst ein Vierteljahr war vergangen, seit er um einen anderen getöteten Freund getrauert hatte. Brachte er etwa Unheil über die, die er liebte? Wenn ja, dann wollte er wenigstens versuchen, das Leid des kleinen Jean-Luc zu beenden. Als sein Telefon klingelte, schaute er sich suchend um, er konnte den Klang erst gar nicht zuordnen. Dann griff er in die Tasche. Amélie meldete sich in einem sprudelnden Wortschwall:

»Claude, du hast es geschafft. Nathalie ist hier. Ist das nicht wundervoll? Oh, Claude, ich bin dir so dankbar. Du bist der wundervollste, beste, schönste, klügste …«

»Amélie, hör schon auf«, unterbrach er sie und versuchte zu lächeln. Seine Gesichtsmuskeln schienen eingefroren zu sein.

»Es freut mich, dass es geklappt hat. Hast du dem armen Lambert verziehen?«

Stille. Dann sagte sie: »Nein.«

»Ach komm, Amélie, er wollte dir ja nicht schaden. Er wollte nur den Fall aufklären.«

»Claude, du klingst so komisch. Freust du dich nicht?«

»Doch«, sagte er schwach. »Aber ich darf nicht laut sprechen, ich bin dem Kerl auf der Spur.«

»Ach so. Dann will ich nicht länger stören. Bis bald, Claude.«

»Schöne Grüße an Nathalie.«

Erleichtert steckte er das portable weg. In dieser Hinsicht hatte er also Erfolg gehabt. Er gab sich einen Ruck und startete den Wagen. Er verließ den Parkplatz am Fluss auf der östlichen Seite, um das Absperrband nicht mehr sehen zu müssen. Hinter ihm setzte ein kleiner Citroën aus der Parklücke heraus und schloss sich ihm an.

Zwei Stunden lang stand er in der Nähe des Mitarbeiterparkplatzes, nachdem er von einem Angestellten erfahren hatte, dass Nortier einen Golf besaß. Warum sich so ein patriotischer Katholik einen deutschen Volkswagen zulegte, konnte er nicht nachvollziehen, aber das war alles andere als wichtig. Seine Augen taten weh vom konzentrierten Starren, doch als plötzlich ein dunkelblauer Golf älteren Baujahres in der Einfahrt auftauchte, schnappte er nach Luft und drehte am Schlüssel. Hoffentlich fährt er jetzt nicht nach Hause, dachte Claude. Als Monsieur Nortier den Weg zum Boulevard Gambetta nahm, verdüsterte sich seine Miene. Da er so schnell keinen Parkplatz fand, parkte er kurzerhand in einer Garageneinfahrt in der Hoffnung, dass der Entführer nur eine kurze Mahlzeit einnehmen würde. Tatsächlich kam Nortier nach einer Viertelstunde wieder aus dem Haus und ging, mit einer Plastiktüte beladen, auf seinen Wagen zu. Claude folgte ihm und jauchzte, als der Golf die Straße Richtung Anduze nahm. Sie passierten Saint-Christol-lès-Alès, dann bog Nortier im Dorf Bagard rechts ab und verschwand für einen Moment in den Gassen. Claude riss das Lenkrad herum und versuchte krampfhaft, ihn zu entdecken. Eine Staubwolke verriet ihm, dass ein Wagen die Feldwege nahm, die nach Nordwesten führten. Nun hieß es aufpassen, denn diese Wege waren leer und übersichtlich. Zu seinem Glück zog die Staubwolke hinter dem Fahrzeug her. Als der Golf eine Kurve nahm, konnte Claude ihn deutlich erkennen. Er holte etwas Abstand auf und nutzte den Sichtschutz der Kurven und Baumgruppen, sobald der Golf eine lange Gerade befuhr. Was hatte er in dieser Wildnis zu suchen? Hier gab es doch nichts, nicht einmal Scheunen oder Ställe. Doch als er Nortier auf diese Weise mehrere Kilometer gefolgt war, erkannte er plötzlich von Weitem eine graue Wand. Claude leckte sich über die Lippen, hebelte nervös an der Gangschaltung herum und blieb im Schutz einer Wacholdergruppe stehen. Er stieg kurz aus und lauschte. Das kurze Zwitschern eines Vogels hörte er, doch kein Motorengeräusch. Auch die Staubwolke kam zum Erliegen. Claude atmete auf. Dort war es: das Versteck des Entführers. Er holte sein Telefon hervor und rief Amélie an. Wenn er entdeckt würde, gab es keine Hoffnung mehr für eine schnelle Aufklärung des Falles. Lieber eine Rückversicherung eingehen, dachte er sich und nannte Amélie einen Namen: Luc Nortier.

* * *

Jetzt hätte er ihn beinahe aus den Augen verloren. Gut, dass er diesen Mistkerl gerade noch rechtzeitig auf dem Parkplatz erkannt hatte und ihm aus Alès hinaus gefolgt war, unerkannt, unbeachtet. Der weiße Lieferwagen bog von der Straße nach rechts ab, in ein Dorf. Er konnte folgen. Wohin dieser Idiot wollte, interessierte ihn nicht, wenn er ihn nur bald erwischen würde. Drei Autos, die fast zeitgleich durch dieses Kaff fuhren: der Golf, der Lieferwagen und sein Citroën. Die Bewohner rieben sich bestimmt die Augen, dachte er und grinste. Weiter ging es über Feldwege, deren Asphaltdecke immer maroder wurde. Nach drei Kilometern wandelten sie sich zu Schotterwegen. Die Steinchen sprangen an den Lack und ruinierten ihn. Das sollte dieser Kerl büßen, so wie er für alles büßen musste, was er seiner Familie angetan hatte. Dieser Detektiv glaubte wohl, er wäre ein schlauer Kopf, dabei war er nur ein Angeber, ein Verführer. Er hatte die Tragödie verschuldet, und er würde dafür sterben. Er hatte ihn auf dem Gewissen, er war schuld, er war schuld. Seine Kiefer pressten sich aufeinander, sein Blick wurde düster. Plötzlich trat er auf die Bremse und riss das Fahrzeug an den Wegesrand. Der Lieferwagen hatte angehalten. Der Kerl stieg aus und schaute dem ersten Wagen nach. Da – er schloss das Auto ab und schlug sich in das Gebüsch. Nun gut, was der konnte, das konnte er selbst auch. Wie dämlich dieser Kerl war; er blickte sich nicht einmal um, sondern fixierte eine Scheune, die in einer Senke lag. Rauch stieg aus dem Kamin. Das war zwar seltsam, doch es kümmerte ihn nicht. Er stieg aus dem Citroën und lief geduckt weiter.

* * *

»Luc Nortier aus Alès? Was soll das heißen?«

»Das weiß ich doch nicht. Claude hat gesagt, ich soll dir den Namen weitersagen.«

»Ruf ihn an, Amélie«, befahl Lambert mit strengem Blick. »Ich weiß, dass du die Nummer hast.«

»Nein, Frédéric, ich werde ihn nicht anrufen, weil ich das nämlich schon getan habe. Er hat das Telefon ausgestellt. Er ist dem Täter auf der Spur.«

»Pah, wie denn?«, höhnte Lambert. »Er ist doch schon zu dämlich, um auf seine Fingerabdrücke zu achten.«

Peng! Amélie schlug ihm die Hand ins Gesicht. Ihre Augen blitzten vor Zorn, und sie sah in diesem Moment so hübsch aus, dass er sie nur angaffte. Was Bertin dachte, der in seinem Stuhl am Schreibtisch saß und die Szene amüsiert verfolgte, kümmerte ihn nicht.

»Wenn du nicht auf der Stelle ermittelst, wer dieser Luc Nortier ist, dann kannst du was erleben!«

»Du drohst mir? Womit denn?«, blaffte der Kommissar. Natürlich hatte er vor zu ermitteln, doch dass Claude ihn aus weiter Ferne dermaßen dirigierte, kratzte an seiner Berufsehre. »Du glaubst doch nicht wirklich, dass Claude etwas gefunden hat, was wir nicht gefunden hätten.«

»Doch, das glaube ich«, erwiderte Amélie energisch.

»Ich auch.« Leutnant Bertin mischte sich in das Gespräch ein.

»Sie kennen ihn, Monsieur le commissaire. Claude sagt uns nicht immer alles, was er weiß. Ich finde auch, dass es nicht schlecht wäre, mehr über diesen Nortier herauszufinden.«

»Nein!«, brüllte Lambert. »Das lasse ich mir nicht bieten. Niemand macht mir Vorschriften! Wo kämen wir denn hin?«

»Du neidischer Ignorant!«, rief Amélie. Lambert trat vorsichtshalber einen Schritt zurück. Bertin räusperte sich.

»Nun, Monsieur Lambert, Sie erinnern sich an die Flucht von Claude, nicht wahr? Ich glaube, ich weiß, wer ihm damals geholfen hat. Und Sie wissen es auch. Es sähe nicht gut aus, wenn Ihr Vorgesetzter erfahren würde, dass Sie Kenntnis von einer wichtigen Zeugin gehabt, diese aber nicht vernommen haben«, sagte Bertin trocken und schüttelte seinen Kugelschreiber, dessen Mine leer war. Amélie errötete. Lambert durchbohrte den Gendarm mit einem eisigen Blick, dann schaute er zu Amélie.

»Du hast mich nicht im Bericht erwähnt?«, fragte sie leise.

»Nein«, gab er zurück. Seine drohenden Augenbrauen glitten allmählich wieder in ihre ursprüngliche Lage zurück. Anfangs war ihm der Name Nortier als eine falsche Spur erschienen, die Claude für ihn gelegt hatte, um ihn zu verwirren. Doch was, wenn Claude wirklich auf etwas Wichtiges gestoßen war? Er hob ausladend seine Hände.

»Also gut, dann finden wir jetzt alles über diesen Nortier heraus. Ihr habt gewonnen. Ist ja schon gut, ich mache ja schon.«

Mit stapfenden Schritten eilte er in das benachbarte Büro und gab seinem Inspektor die Anweisung, das Unterste von Monsieur Nortier zuoberst zu kehren. Als dieser nach wenigen Augenblicken von der Führerscheinstelle die Auskunft erhielt, dass es nur einen Luc Nortier in Alès gab, befahl Lambert, der sich zu seiner eigenen Überraschung ein wenig erleichtert fühlte, zur Abwechslung jemand anderen verdächtigen zu können:

»Nimm dir drei Männer mit. Fahrt zu seiner Wohnung. Befragt die Angehörigen. Durchsucht seine Papiere, es ist Gefahr im Verzug. Befragt die Nachbarn und Kollegen. In einer Stunde will ich die ersten Berichte haben!«

»Geht doch«, brummte Bertin und zwinkerte Amélie zu. Sie hörten Lamberts Stimme durch die angelehnte Tür. Er beendete gerade seine Ansprache, kehrte ins Büro zurück und zog Amélie zu sich heran.

»Und jetzt nimmst du das mit dem Ignoranten zurück!«, bellte er. Leutnant Bertin sprang auf, rückte seine Uniformjacke zurecht und tat so, als wäre es verdammt wichtig, nun einen Rundgang durch die Stadt zu machen. Dieser Streit erinnerte ihn zu sehr an seine Frau; er hatte mehr als genug davon mitbekommen.

»Warum sollte ich das tun?«, wehrte sich Amélie, als beide allein waren.

»Weil du mich gern hast!«

»Ach, nur wegen dieser einen Nacht, als du deine Hände nicht bei dir lassen konntest?«

»Ich habe nicht feststellen können, dass dich das gelangweilt hat«, gab Lambert zurück. In ihrer Wut begannen Amélies Lippen zu zittern. Er hätte sie zu gern geküsst. Er erinnerte sich an ihre genüsslich geschlossenen Augen, an ihren zierlichen, aber wundervoll proportionierten Körper. In jener Nacht hatte er das getan, wovor er bei ihrer letzten Begegnung im Sommer zurückgeschreckt war.

»Du hast mich nur ausgenutzt, damit ich dich zu Claude führe!«

Lamberts Hände fuhren durch die Luft. »Na klar, ich schlafe mit dir, um Claude zu erwischen. Weißt du was? Ich hatte in jener Nacht die Schnauze voll von Claude. Ich war bei dir, weil … weil …«

Amélie stemmte die Hände in die Hüften. »Sprich dich ruhig aus.«

»Weil du eine tolle Frau bist, Amélie.« Lamberts Hundeblick hatte noch jede Frau herumgekriegt, doch Amélie widersetzte sich hartnäckig.

»Du kannst Claude nicht leiden!«, behauptete sie.

»Das ist nicht wahr. Ich war total geschockt, als die Nachricht wegen der Fingerabdrücke kam. Aber ich wäre ein schlechter Polizist, wenn ich nicht alles versucht hätte, ihn zu stellen. Was hätte ich denn tun sollen? Die Sache musste doch geklärt werden, und Claude war derjenige, der nicht kooperativ war. Warum kriege ich jetzt einen auf den Deckel?«

»Weil du ihm nicht vertraut hast.« Amélie strich sich über die Stirn. Sie wirkte erschöpft

»Bei der Sachlage? Das durfte ich nicht. Warum verstehst du das nicht?«

»Sachlage! Er ist dein Freund.«

»Das musst du ihm sagen, nicht mir!«

Amélie sackte etwas zusammen. »Ach Frédéric, lass es.« Ihre Augen irrten durch das Büro. Lambert spürte ihre innere Zerrissenheit so schmerzhaft, als hätte eine Axt sein Herz gespalten. Er schlang seine Arme um sie. Sie ließ es geschehen.

»Amélie, meine Liebste. Ich gehe jetzt und hoffe zutiefst, dass Claude auf der richtigen Spur ist. D’accord?« Das war nicht einmal gelogen.

»D’accord«, flüsterte sie.

* * *

Die Scheune lag verlassen im letzten Licht des Nachmittags. Nichts rührte sich weit und breit, nur ein Raubvogel zog seine Bahn über dem wilden Buschwerk. Claude schaute sich um, denn er dachte, in der Ferne noch eine Staubwolke gesehen zu haben. Kein Laut war zu hören. Er zog einen weiten Kreis um das Gebäude. Es hatte nur ein einfaches Fenster mit einem Holzrahmen. Niemand würde ihn bemerken, wenn er näher schlich. Er beruhigte seine Atmung und ging im Schutz der Büsche auf die Scheune zu. Immer wieder blickte er sich um. War dort nicht das Knacken eines Zweiges zu hören? Ein Summen erfüllte die Luft und wurde immer lauter. Ein Ultraleichtflieger brummte über ihn hinweg auf der Flucht vor den Regenwolken, die am Himmel hingen. Claude sah ihm nach, bis er nach Westen verschwunden war, und ging weiter. Die Mauer der Scheune war nicht mehr weit entfernt. Schnell rannte er darauf zu und drückte sich an die hellbraunen Steine. An der südlichen Seite war eine kleine Tür in das größere Holztor eingelassen. Er fragte sich, ob er nicht lieber direkt die Polizei anrufen sollte und befühlte bereits das portable in seiner Hosentasche, das er ausgeschaltet hatte, damit der Klingelton ihn nicht verraten konnte. Er zögerte. Er hatte noch keinen Beweis, dass der kleine Jean-Luc hier war. Wahrscheinlich würde es ausreichen, wenn er nur einen kurzen Blick ins Innere warf. Gerade wollte er weiterhuschen, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung bemerkte. Er drehte sich herum und riss seine Arme hoch, um den Schatten abzuwehren, der sich über ihm erhob. Dann sauste etwas auf seinem Kopf nieder. Er ging in die Knie und merkte kaum noch, wie er auf dem Boden aufschlug.

* * *

»Jetzt habe ich dich.«

Luc Nortier stand breitbeinig über seinem Opfer und atmete heftig. In seiner Hand hielt er noch den Stein, der an einer Seite Blutspuren trug. Er kniete sich neben den reglosen Körper. Der Puls des Detektivs schlug ganz normal, gleich würde er wieder aufwachen. Schnell holte Nortier ein altes Seil aus der Scheune. Im Vorbeigehen rief er dem noch geknebelten Jungen zu: »Der Herr hat mir ein Zeichen gegeben! Ich soll die Rache vollstrecken, so hat er es mir aufgetragen.« Die flehenden Blicke des Kindes kümmerten ihn nicht, so erregt war er von der Entdeckung, die er vorhin beim Wasserlassen in den Büschen gemacht hatte. Claude Bocquillon höchstpersönlich in seinen Händen – das konnte nur ein Zeichen Gottes sein. Claude war eine Opfergabe, und er würde ihn opfern, so wie Abraham seinen Sohn Isaak aus Liebe zu Gott geopfert hätte. Doch im Unterschied zu Abraham würde Gott ihm nicht Einhalt gebieten und ihm stattdessen einen Widder schicken. Obwohl die Vorstellung, dass sich ein Schaf in den Büschen der wilden, grünen Garrigue verfangen hatte, um dargebracht zu werden, sehr reizvoll war. Unwillkürlich hielt er Ausschau, doch kein Tier befand sich im Umkreis der Scheune. Nachdem er sein eigentliches Opfer verschnürt und geknebelt hatte, richtete er sich auf und betrachtete erfreut sein Werk. Bocquillon bewegte sich, seine Augenlider flatterten. Als er die Augen aufschlug, versuchte er, sich zu orientieren – dann begriff er seine Lage.

»Claude Bocquillon, mein verehrter Verwandter.«

* * *

Claude stöhnte vor Schmerz und schaute sich um. Der Knebel schmeckte scheußlich, und er glaubte, eine Schwellung an seinem Schädel zu spüren. In die Falle gegangen, dachte er und ließ den Kopf wieder sinken. Auf dem Lehmboden leuchteten einige frische Blutstropfen. Was hatte Nortier da gesagt? Verwandter?

»Du wunderst dich, warum ich dich so anrede. Oder vielleicht weißt du ja auch, wer ich bin.«

»Hm hmm.«

»Ich hätte dich gar nicht knebeln brauchen. Es wird dich niemand hören.«

Nortier beugte sich zu ihm hinunter und knotete das Tuch los, das sich in Claudes Mund drückte. Claude leckte sich die Lippen und starrte in das runde Gesicht von Luc Nortier: Die grünen Augen flackerten triumphierend, überragt von gleichförmigen Augenbrauen. Die Nase war gerade, doch sein Mund war bitter verzerrt und sein Kinn ein wenig flach.

»Was meinen Sie damit, Nortier?«

»Du kannst mich ruhig duzen, Claude, wir sind ja schließlich blutsverwandt.«

»Wir beide? Niemals. Das wüsste ich.«

»Ach, du weißt es nicht.«

Eine Weile nagte Nortier an seinen Fingernägeln, dann setzte er sich auf einen Baumstumpf neben der Scheune, während Claude in seiner unbequemen Lage verharren musste. Immer wieder fragte er sich, ob Jean-Luc Corbusier sich nur wenige Schritte von ihm entfernt befand.

»Sagt dir der Name Raoul Prisuc nichts?«

Da stieg eine Erinnerung auf. Er kannte den Namen. Gastprofessor, brillant, Menschenkenner – Professor Tallier hatte von ihm gesprochen!

»Ja, den kenne ich. Das ist ein Theologe, nicht wahr? Und er ist gestorben.«

»Richtig. Sein Tod gehörte zu Gottes Plan. Das habe ich erst im Nachhinein verstanden.«

»Plan? Der Plan, unschuldige Kinder zu entführen und Geld zu erpressen?«

»Pah! Geld! Was bedeutet mir Geld? Nur ein Ersatz für entgangenes Geld. Für das, was du mir gestohlen hast.«

Claudes brummender Schädel hemmte seine Denkfähigkeit.

»Entschuldige, aber ich komme nicht mehr mit. Würdest du mir das vielleicht erklären?«

Nortier stand auf und ging auf und ab. Claude prüfte währenddessen den Sitz seiner Fesseln, die leider so stramm waren, dass er sich nicht selbst befreien konnte. Noch nicht, tröstete er sich.

»Onkel Raoul aus Montpellier – ja, das war ein guter Mensch.«

Mit einem Mal wurde Claudes Mund trocken wie Schmirgelpapier. Raoul aus Montpellier? War das etwa … Was hatte seine Mutter erzählt?

»Wer ist Raoul? Sag es mir endlich! Was habe ich damit zu tun?«

»Raoul Prisuc ist – oh, pardon – war dein Vater. Wusstest du das wirklich nicht?«

Claude war überrascht und blieb stumm. Raoul aus Montpellier, der kluge Geliebte seiner Mutter. Dieser Mann erhielt auf einmal ein Gesicht, als hätte Gott dem Namen Leben eingehaucht. Alles bekam einen Sinn, und plötzlich fühlte er einen gewissen Stolz in sich. Er war der Sohn eines bekannten Theologen. Das war gleichzeitig jedoch auch so bizarr, dass er den Kopf schüttelte.

»Und er war auch dein Onkel?«

»Ja. Ich war sein einziger Neffe, sein einziger Angehöriger überhaupt. Und als er starb, hoffte ich, einiges an Mitteln zu erhalten, um ein gottgefälliges Leben führen zu können. Doch er hat den Großteil seines Vermögens karitativen Einrichtungen vermacht. Mir hinterließ er nur einen Betrag von zehntausend Euro. Und dir, mein lieber Verwandter, dir hinterließ er sechzigtausend Euro. Hast du den Brief des Testamentsvollstreckers noch nicht bekommen?«

Nortiers Stimme war immer leiser und schneidender geworden. Er sah aus wie ein Frettchen, das vor einem Kaninchenbau lauert. Als Claude kurz die Augen schloss, kam Nortier zu ihm und trat ihm gegen den Schenkel, bevor er sich wieder setzte.

»Hörst du? Du hast mir meinen Anteil geraubt. Da musste ich doch etwas tun! Gottes Plan ist, die Protestanten wieder in den Schoß der Kirche zurückzuführen. Diese Calvinisten, die sich immer dem wahren Glauben widersetzt haben. Die vor dreihundert Jahren so viele Katholiken getötet haben, dass sich die Gardons vom Blut rot färbten. Und heute? Heute steht in Anduze der größte protestantische temple Frankreichs. Nieder mit ihm! Heute werden eure Kämpfer als Helden dargestellt, und die dummen Touristen können auf den Bühnen der Rebellenhochburgen ihre angeblichen Heldentaten verfolgen.«

Rebellenhochburg Saint-Jean-du-Gard und Mialet, ein hübscher Gedanke, fand Claude, doch dann kniff er die Augen zusammen. »Wenn du schon dabei bist: Euer glorreicher König Ludwig hat uns die Soldaten auf den Hals gehetzt. Ihr habt doch die Flüsse rot gefärbt mit unserem Blut.«

»Das war gut und richtig. Ich folge nur Gottes Plan, das musst du verstehen. Das ist nicht persönlich gemeint. Obwohl du schwul bist, und ich mag keine Schwulen.«

Seine Stimme wurde wieder salbungsvoll und mitleidig. Claude wartete die ganze Zeit darauf, dass nun Virenque auf ihn steigen und ihm ins Ohr maunzen würde. Es wurde allmählich Zeit, aus diesem bescheuerten Albtraum aufzuwachen. Dass er hier lag und mit einem Verrückten über den Kamisardenkrieg diskutierte, war mehr als abstrus.

»Gut, du willst also die Protestanten bekehren. Wie denn? Wo willst du da anfangen?«

Da begann Nortier, eifrig auf ihn einzusprechen. Er wirkte wie ein Lehrer, der begierig war, sein Wissen loszuwerden.

»Also, zuerst einmal sollten die Jungen gute Messdiener werden und später studieren. Die Messen werden katholisch abgehalten, und die Kirche wird abgerissen. Die Geschäftemacherei mit protestantischen Touristen muss aufhören – man muss ihnen die Einreise verweigern. Die Infiltration dieser Störenfriede muss unterbunden werden.«

Ganz wie Tallier es vorausgesagt hatte, fiel Claude ein. Nortiers Gesicht leuchtete vor Entzücken. Der Mann war völlig übergeschnappt. Immer weiter redete er, doch Claude konnte seinem Gefasel nur entnehmen, dass er nie geplant hatte, den Jungen etwas anzutun.

»Sag mal, wie war das mit Marcel Lebout?«, unterbrach er den Redefluss des Entführers. Nortier sank ein wenig in sich zusammen.

»Gott sei seiner Seele gnädig. Er hat geweint und gehustet, immer wieder gehustet. Und dann ist er blau geworden und konnte nicht mehr atmen. Ich habe ihn nach draußen gebracht, damit er besser Luft bekommt, aber es hat nicht geholfen. Er starb qualvoll, und ich habe für ihn gebetet.«

Nortier schien aufrichtig betrübt zu sein, doch Claude konnte kein Mitleid für ihn empfinden. Erneut zerrte er unauffällig an seinen Fesseln, aber sie gaben nicht nach.

»Und wie hast du das mit meinen Fingerabdrücken gemacht? War das auch Gottes Plan?«

»Natürlich. Ich habe gesehen, wie du Bonbonpapier in den Mülleimer geworfen hast. Das habe ich wieder herausgeholt, um es irgendwann gegen dich zu verwenden. Es war eine göttliche Eingebung. Dann starb der Junge. Als du am nächsten Tag unterwegs warst, bin ich in deine Wohnung gegangen. Du siehst, es passte alles.«

»Ja, wirklich großartig«, sagte Claude monoton. Lambert würde ihm niemals glauben.

»Was hast du jetzt vor?«

»Gott ein Opfer bringen. Du wirst sterben und in die Herrlichkeit Gottes gelangen, damit du weißt, wovon ich spreche. Oder wäre es dir lieber, wenn ich dich der Polizei ausliefere und du in einem Gefängnis verreckst?«

»Ja.«

Nortier ignorierte Claudes Antwort. Er sprang auf und zog ihn an den Füßen an der Scheune entlang bis zu einem angebauten Schuppen. Er öffnete die klapperige Holztür, schob sein Opfer hinein und kündigte an: »Ich werde jetzt einen geeigneten Ort suchen. So wie Abraham. Ein schöner Felsblock, der dein Blut auffangen wird.«

»Hast du denn ein Messer? Ist es auch scharf genug? Ich habe keine Lust, dass du lange an mir herumschnippelst.«

Nortier lächelte und nickte. »Was meinst du denn, wie ich das Kalb geschlachtet habe, das ich dem Bauern gestohlen habe?«

Claude schluckte, als Nortier ihm wieder den Knebel anlegte. Dann ließ er ihn allein.

* * *

In Alès angekommen, stieg Kommissar Lambert aus seinem Sportwagen aus. Inspektor Rodez erwartete ihn bereits an der Tür eines Hauses am Boulevard Gambetta. Der dichte Berufsverkehr war vorüber, nur hin und wieder kam ein Fahrzeug vorbeigefahren. Lambert überquerte die Straße und sah seinen Beamten in heller Aufregung.

»Das ist der Hammer, Chef. Wie sind Sie bloß auf diesen Kerl gekommen?«

Lambert verschwieg ihm die Quelle seiner Informationen und trat wortlos, aber neugierig in die Wohnung ein. Im Salon saß auf einem Sofa eine alte Frau. Ihre Hände fuhren zittrig in ihrem Schoß umher.

»Hier, Chef!« Rodez überreichte ihm einen Stapel Briefpapier mit dem Wasserzeichen aus Issy-les-Moulineaux und einige andere Universitätsunterlagen.

»Treffer!«, rief Lambert. Für einen Moment wurden seine Knie schwach. Mit aller Kraft hielt er sich auf den Beinen und versuchte, die nagenden Gewissensbisse gegenüber Claude zu verdrängen. Amélie hatte recht gehabt – er hätte Claude vertrauen sollen. Wie hatte er das nur herausgefunden?

»Hier sind Unterlagen über seine Studienzeit in Issy. Er war ein Studienabbrecher.«

Lambert schaute Rodez verwundert an. »Habt ihr denn nicht auch die Listen der Studienabbrecher von der Uni angefordert?«

Der Inspektor wurde puterrot. »Nein, wir … wir dachten, Sie wollten nur die normalen Abgänger.«

Lambert seufzte. Eine Panne, wie sie peinlicher nicht sein könnte. Doch dann bemühte sich Rodez, den Patzer wieder auszugleichen.

»Wir haben einen Grundbucheintrag über eine Scheune in der Nähe von Bagard gefunden, Chef.«

Lambert horchte auf. Ein ideales Versteck für entführte Kinder.

»Ruf Verstärkung. Wir fahren hin.«

* * *

Als Nortier den Schuppen verlassen hatte, wurde Claude rege. Er verrenkte sich fast den Nacken, um in der beginnenden Dunkelheit etwas Nützliches zu entdecken, womit er sich befreien konnte. Rostige Eisenteile lagen in einer Ecke, Überreste einer Egge oder einer Ringelwalze, die in früheren Tagen vielleicht ihren Dienst hier versehen hatte. Heutzutage wurde diese Wildnis nicht mehr bewirtschaftet. Da fiel sein Blick auf eine alte Sense, die ihm vielversprechend aussah. Er bewegte seine Beine, robbte mit aller Kraft auf die Klinge zu und versuchte, sich zu drehen, sodass seine Hände sie ergreifen konnten. Endlich gelang es ihm, die Klinge zu packen und die Fesseln an ihr zu reiben, aber sie rutschte immer wieder fort. Ein leichter Regen setzte ein und trommelte auf das Wellblechdach. Eine geschätzte Viertelstunde lang arbeitete Claude daran, den Strick zu durchtrennen. Er hätte gern geflucht, doch der Knebel drückte so sehr, dass er ständig das Gefühl hatte, würgen zu müssen. Die Vorstellung, am eigenen Erbrochenen zu ersticken, ängstigte ihn. Wieder schaute er sich um, jedoch gab es nichts mehr zu entdecken. Plötzlich hörte er einen Zweig knacken. Ein Schatten huschte vorbei.

»Hmm, hmmm!«, machte Claude und freute sich unbändig, als eine fremde Gestalt die Tür öffnete und aus der Dunkelheit auftauchte.

»Los, du Drecksack, steh auf!« Ein Fuß traf ihn. Verwundert strengte er seine Augen an, und als er im fahlen Licht mit einem Mal Karim, Mahmouts Bruder, erkannte, wusste er nicht, ob er sich freuen oder fürchten sollte.

»Du wirst ja so blass, du Schwuchtel. Machst du dir gleich in die Hose? Nein? Das solltest du aber!«

Karim packte ihn an den Armen und zerrte ihn hoch. Seine Haare waren feucht, er roch nach Regen und Erde. Mit einer schnellen Bewegung griff er in die Hosentasche. Etwas Metallisches klackte – ein Messer. Claude brach der Schweiß aus. Ihm fiel ein, dass arabische Jungs oft nicht gerade zögerlich mit Waffen waren. Jeden Moment erwartete er einen Stich ins Herz. Doch als Karim sich bückte und seine Füße befreite, wartete er gespannt ab. Karim schob ihn zur Tür hinaus. Der Regen hörte auf. Nur noch hin und wieder fegte der Wind einen nieselnden Hauch über Claudes Wange.

»Hmm!« Claude versuchte, Karim begreiflich zu machen, dass er unbedingt mit ihm sprechen wollte.

»Halt’s Maul! Du hast genug angerichtet mit deinen schönen Worten. Du hast Mahmout auf dem Gewissen. Du hast Schande über unsere Familie gebracht. Dafür wirst du sterben.«

Claude hörte ihm die Erregung an, doch auch in ihm stieg plötzlich die Wut hoch. Er wollte ihn anspucken, ihn anschreien und sagen, dass er und seine bigotte Familie Mahmout getötet hatten. Claude stolperte voran, Karim trieb ihn mit pieksenden Stichen vor sich her. Als sie an einem Baum angelangt waren, blieb Claude stehen und rieb sein Kinn an der Rinde. Der Knebel verrutschte nicht, seine Mühe war vergebens. Tropfen fielen auf sein Haar, und das Blut, das auf seiner Haut klebte, verflüssigte sich und lief ihm in die Augen. Er konnte sich nicht einmal das Gesicht abwischen mit den auf dem Rücken gefesselten Händen.

»Geh weiter!«

»Halt! Wo wollt ihr denn hin?«

Auf dem Schotterweg kam ihnen Luc Nortier entgegen. Ein Revolver glänzte in seiner Hand.

»Bleibt stehen! Das Ding hier ist zwar alt, aber es funktioniert noch ganz gut!«

Karim erstarrte zur Salzsäule. Claude stand zwischen ihm und Nortier und wusste nicht recht, auf wessen Seite er sich schlagen sollte. Beide Varianten erschienen ihm wenig vertrauenerweckend.

»Sieh an, ein Muselmane. Nimm deine Hände hoch! Wolltest du mir meinen Verwandten entführen?«

»Das geht dich einen Scheißdreck an«, spuckte Karim aus, hob aber die Arme und ließ das Messer fallen.

»Vielleicht erklärt Claude es mir.«

Mit diesen Worten riss Nortier mit einer Hand am Knebel, sodass Claude stolperte und so nah an ihn herankam, dass er sein Rasierwasser riechen konnte. Doch zumindest war der Knebel nun lose. Claude spuckte ihn aus und konnte sprechen.

»Karim«, sagte er heiser und drehte sich zu dem jungen Mann um.

»Ich will nichts von dir hören, du Wichser!«

»Karim, du bist ein Arschloch. Du hast Mahmout doch in den Tod getrieben. Du und dein ignoranter Vater.«

»Hör auf! Wenn du nicht gewesen wärst, dann …«

Claude trat ganz nah an ihn heran, doch Karim gab sich nicht die Blöße, zurückzuweichen. »Dann wäre irgendwann eben ein anderer gekommen. Mahmout konnte dem nicht entfliehen. Das kann niemand. Oder kannst du dir etwa vorstellen, deinen Trieben nach schönen Frauen zu entkommen?«

»Was hat das denn damit zu tun?«

»Entschuldige, mein lieber Luc«, sagte Claude und wandte sich kurz zu Nortier um. »Aber das muss ich erst klären.«

Dessen Augen glitzerten amüsiert. Claude wandte sich wieder an Karim.

»Stell dir mal vor, die ganze Welt wäre nur mit Schwulen und Lesben bevölkert. Und du, mit deiner Vorliebe für Weiber, stündest ganz allein da und müsstest dir heimlich ein Mädchen suchen, heimlich mit ihr irgendwo Liebe machen, immer in Angst, deine Familie könnte etwas merken. Könntest du das?«

»Du spinnst ja!«

»Das finde ich auch, mein lieber Claude. Gott hat das schon richtig gemacht mit Männlein und Weiblein«, mischte Nortier sich ein.

»Ach, deswegen wohnst du auch noch bei Mama, nicht wahr?«, sagte Claude gehässig. Da schlug Nortier zu, aus dem Stand heraus. Die Faust traf Claude am Kinn, und er ging in die Knie.

»Halt deinen Mund.«

Nortier schaute zu Claude, dann zu Karim, der den Blick mit deutlicher Verachtung zurückgab. Claude hockte auf dem Boden und grinste in sich hinein. Bestimmt würde er gleich aufwachen. Er, der protestantische Schwule, sprach mit einem orthodoxen Araber und einem katholischen Fundamentalisten über die richtige Art und Weise der Liebe. Plötzlich spitzten sich seine Ohren, ganz instinktiv. Auch Nortier drehte sich um. Motorengeräusche waren zu hören.

»Herr, dein Wille geschehe«, sagte Nortier und richtete energisch die Waffe auf Karim und Claude.

»Los jetzt, den Hang hinauf!«

»Was ist hier überhaupt los?«, fragte Karim.

»Endlich fragst du«, sagte Claude. »Dieser Kerl hat einen entführten Jungen in der Scheune. Ich habe vorhin die Bullen gerufen.«

»Ruhe jetzt!«, schrie Nortier und gab einen Schuss in die Luft ab, sodass sie alle, inklusive dem Schützen, zusammenzuckten. Claude und Karim setzten sich auf eine Geste hin in Bewegung.

»Schneller! Lass die Hände oben!«

Nach einer Weile hörten sie nichts mehr außer dem Wind, der die letzten Regenwolken auseinandertrieb. Nortier grinste.

»Das war wohl falscher Alarm. Niemand wird uns dort oben finden.«

Claude wurde es kalt und heiß zugleich. Was hatte Amélie nur angestellt? Nein, korrigierte er sich. An Amélie lag es nicht – es war bestimmt Lambert, der sich zierte, um ihn verrecken zu lassen. Sie gingen weiter, stiegen fünf Minuten lang eine Anhöhe hinauf, die nur von gekrümmten Kiefern und Steineichen bedeckt war. Schaudernd bemerkte Claude, dass die hellen Steine, die ihren Weg säumten, immer größer wurden. In der Ferne leuchteten die Lichter der Dörfer.

»Komm nicht auf dumme Gedanken, mein ausländischer Freund. Die Pistole hat noch genug Kugeln.«

Karim warf Claude einen verärgerten Blick zu, als sei er für seine unglückselige Lage verantwortlich.

»Was haben Sie mit mir vor, Monsieur?«, fragte er.

»Karim«, antwortete Claude freundlich. »Monsieur Nortier ist ein guter Christenmensch. Er will die Zeit der Kreuzzüge wieder aufleben lassen.«

»Still, Claude! Es ist nicht nett, alles zu verraten«, sagte Nortier trocken.

Selbst in der vorangeschrittenen Dämmerung sah Claude, dass Karim blass wurde. So hatte er sich seinen Racheakt wohl kaum vorgestellt.

»Stehen bleiben! Karim oder wie du heißt, komm her und leg dich auf den Bauch.«

Karim trat einige Schritte auf den Entführer zu. Selten hatte Claude ein so finsteres Gesicht gesehen wie das des jungen Algeriers, der den kleineren Nortier verächtlich anschaute.

»Los!«

Als Karim sich nicht von der Stelle bewegte, richtete Nortier die Waffe auf Karims Bein.

»Soll ich dafür sorgen, dass du vor mir im Staub kriechst?«

Karims Lippen begannen zu zittern. Langsam kniete er sich hin, dann trat Nortier ihm in den Rücken, sodass er auf den steinigen Boden stürzte. Das Knie auf den Körper gerammt, legte Nortier die Waffe ab und holte ein dünnes Seil aus seiner Hosentasche. Schnell fesselte er Karim an den Händen, doch irgendetwas kam Claude ungewöhnlich vor. Da bemerkte er, dass Karim die Handgelenke so aufeinanderlegte, dass die Fessel sich zwangsläufig lockern würde, sobald man die Gelenke flach aufeinanderdrehte. Nortier befestigte das Seil, ohne dass ihm etwas auffiel. Claude dachte nach – jetzt hieß es Zeit schinden. Es stand zwar zu befürchten, dass Karims Maßnahme nichts einbringen würde, doch Claude hatte die Autos nicht vergessen, die sie gehört hatten. Lambert musste doch allmählich eintreffen. Er hatte genug Zeit gehabt, herauszufinden, wer Nortier ist. Für einen Augenblick verfluchte er sich selbst, weil er Amélie nichts von der Scheune erzählt hatte. Verdammte Überheblichkeit. Nortier war inzwischen aufgestanden und befahl: »Hinter die Büsche dort!«

Karim rappelte sich auf. Sie marschierten los und drängten sich durch das Buschwerk, bis sie auf einen kleinen, freien Platz kamen, in dessen Mitte ein großer Felsblock thronte. Nortier tätschelte den kalten Stein.

»Bist du zufrieden mit meinem Opferblock?«

Claude warf einen Blick auf die raue, löcherige Oberfläche. »Wie willst du das anstellen? Klär mich mal auf, wie so eine Opferung vonstatten geht.«

Doch seine Taktik ging nicht auf.

»Dazu haben wir keine Zeit. Karim, geh einige Schritte weiter, sodass ich dich sehen kann.«

Nortier schubste Claude zum Felsen hin, der ihm bis an die Hüften reichte.

»Und du, Claude, hast jetzt Zeit, zu beten.«

»Mir fällt gerade nichts Passendes ein. Du kannst mir sicher aushelfen.«

»Dann fahre ohne Gebet zur Hölle!«, schnaufte Nortier.

»He, du hast doch gesagt, ich solle Gottes Herrlichkeit sehen. Da muss ich doch erst beichten, oder? Sag mal, bist du denn kein Priester geworden bei so einem klugen Onkel?«

»Ich war auf dem Weg.«

»Du warst auf dieser Uni in Issy-les-Moulineaux, nicht wahr?«, fragte Claude und warf einen kurzen Blick auf Karim, der seine Arme verdächtig bewegte.

»In Issy, ja«, sann Nortier. »Ich habe den Abschluss nicht gemacht, doch nun werde ich alles nachholen, was ich versäumt habe.«

»Warum nicht? Warst du nicht schlau genug?«

Nortier schrak auf. »Das geht dich nichts an!«

Da drehten sie beide erneut ihre Köpfe. Wieder war Motorengeräusch zu hören – dieses Mal näher als vorhin.

»Sie kommen«, sagte Claude gehässig.

»Bis sie uns gefunden haben, bist du tot, du Dieb und gottloser Schwuler.«

Nortier stieß Claude gegen den Felsen, holte ein Futteral aus seiner Jackentasche und zog eine scharfe Klinge, die einem Angelmesser ähnelte, heraus.

»Knie dich hin!«

»Nein!«

Da fuhr ein stechender Schmerz durch Claudes Unterschenkel. Er schrie auf und fühlte, wie sein Hosenbein feucht wurde. Mit einem Ruck fiel er auf die Knie und lehnte sich mit der Stirn an den Stein, denn er fühlte, wie ihm die Sinne schwanden.

»Ja, so ist es gut. Bleib so.«

Als Nortier ihm in die Haare griff und seinen Kopf nach hinten riss, brüllte Claude auf. Er spürte das Blut durch seine Adern rauschen. Eine glühende Welle der Kraft strömte durch seinen Körper. Er stieß Nortier mit dem Arm an, sodass der seinen Kopf für einen Moment fahren ließ. Claude wollte aufstehen, doch sein rechtes Bein fühlte sich an wie ein schlapper Fleischklumpen. Das Blut lief an seiner Wade hinab. Nortier drückte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen ihn und ergriff erneut seinen Schopf. Claude gurgelte seine Angst hinaus. Das kalte Messer an seiner Kehle versetzte ihn in eine Starre, in der sich nur seine Blase bemerkbar machte. Verdammt, er würde doch jetzt nicht in die Hose machen! Das Brummen der Fahrzeuge näherte sich. Claude schrie erneut, als Nortier das Messer noch einmal fester packte, um besser schneiden zu können. Plötzlich hörte er einen Schrei, dann spürte er den Aufprall eines Körpers, der ihn noch enger an den Felsen quetschte. Er schöpfte Hoffnung und schaute auf. Nortier wurde herumgerissen. Karim stand wie ein rächender Engel vor ihm und versetzte ihm einen Kinnhaken, der Nortier um die eigene Achse drehte, bevor er zusammensackte und zu Boden fiel. Das Messer flog durch die Luft und landete aufrecht und federnd in der feuchten Erde. Im Nu hatte Karim es ergriffen und ging auf Claude zu. In seinen Augen loderte Hass. Claude flüsterte: »Nein, Karim, das kannst du nicht machen.«

Der junge Mann baute sich vor ihm auf, schwer atmend, mit verzerrter Miene.

»Warum sollte ich das nicht machen?« Er beugte sich zu Claude hinab. Sie schwiegen, während ihre Blicke miteinander kämpften. Claudes Herz raste, als wäre er einen Marathon gelaufen. Er schluckte seine Angst hinunter. Als eine sanfte Windböe über seine Haut strich, wich seine Furcht. Er konnte nichts mehr tun; sein Leben lag in Karims Hand. Bald war es vorbei. Er seufzte auf. Die Wolken hatten sich endgültig aufgelöst, und die ersten Sterne waren aufgegangen. Und mit einem Mal betrachtete Claude Karim vor dem hellen Nachthimmel aus einem neuen Blickwinkel: der feste Mund, die gerade Nase, die Mandelaugen …

»Du siehst ihm ähnlich«, sagte er und fühlte, wie sein Kinn zitterte. Da verzog Karim das Gesicht und biss sich so fest auf die Lippe, dass Claude dachte, das Blut müsste gleich aus ihr herausspritzen. Er glaubte, es plötzlich erkennen zu können: Ganz tief in Karims braunen Augen verborgen, glomm die Trauer um Mahmout auf. Karim wich zurück, ließ das Messer fallen und schluchzte. Dann rannte er fort. Claude hörte betroffen, wie er sich durch die Büsche schlug. Kleine Felsbrocken polterten den Abhang hinunter. Nur einen Augenblick später war er fort, verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Endlich näherten sich die Fahrzeuge. Lambert hatte wohl die ganze Mannschaft mitgebracht. Claude rollte sich auf dem Boden zusammen wie ein verwundeter Hund, obwohl er die Verletzung kaum noch spürte. Er war nur so müde, dass er auf der Stelle hätte schlafen können. Es war vorbei, er hatte den Fall aufgeklärt. Nortier gab wieder Geräusche von sich, doch es kümmerte ihn nicht mehr. Er lag neben dem Felsen, verwirrt und erleichtert zugleich. Als er Rufe vernahm, hob er den Kopf an und antwortete: »Hier, Frédéric, hier oben!«

»Claude!«

Nie war er so froh gewesen, Lamberts Stimme zu hören. Kurz darauf blendeten ihn die Lichtkegel von großen Taschenlampen. Claudes Augen tränten.

* * *

Lambert hielt Claude am Arm fest, als er aus dem Auto aussteigen und in die Scheune laufen wollte, wo sich bereits alle Mitarbeiter um den Jungen scharrten. Jean-Luc Corbusiers helle Stimme war zu hören. Sie klang zittrig, aber klar und rein.

»Wohin willst du?«, fragte der Kommissar.

Claude wehrte ihn ab.

»Glaubst du, ich will verschwinden? Der Junge hat doch Angst. Mich kennt er wahrscheinlich, aber nicht eure Leute.«

»Ich vermute, du würdest ihm im Moment mehr Angst einjagen als meine Männer – so, wie du aussiehst.«

Claude fasste sich an den Kopf. Seine Finger färbten sich rot.

»Ach ja«, sagte er. In der verbundenen Wade pochte es.

»Du hast das Bein zu stramm abgebunden. Du solltest einen Druckverband machen, keinen Knebel«, beschwerte er sich.

»Das kommt davon, wenn man sich nicht tragen lassen will, sondern selbst den Berg runterstolpert. Du wirst nicht dran sterben. Gleich ist der Notarzt vor Ort.«

Lambert konnte immer noch nicht glauben, dass einerseits der Fall aufgeklärt war und andererseits Claude sich mit diesem Verdienst rühmen konnte. Er drückte ihn wieder in den Beifahrersitz und holte noch einmal die mit antiseptischen Tüchern und Mullbinden gefüllte Tasche hervor.

Claude war so erschöpft, dass er sich nicht gegen die erneute medizinische Behandlung wehrte. Lambert tupfte auf seinen Haaren herum, was sich wie pieksende Nadelstiche anfühlte. Kleine, blutige Tücher landeten einfach auf dem Boden.

»Ist nur eine Platzwunde.«

»Du musst es ja wissen, Herr Doktor. Ich fühle mich, als hätte ich einen Elefantenschädel.«

Lambert packte eine Rolle Mullbinden aus und umwickelte Claudes Kopf. Claude hielt still, linste nur hin und wieder in Lamberts Gesicht. Dünne Fältchen zogen sich um dessen Augen. Ihre Blicke trafen sich, der Kommissar lächelte unmerklich, und Claude wandte sich ab. Währenddessen war ein Bulli eingetroffen, der technisches Gerät herbeischaffte. Die Männer stellten Scheinwerfer auf. In der Ferne brummte ein Stromaggregat.

»Hat sich der Kerl dir gegenüber schon geäußert?«

»Ja. Das Motiv ist religiöser Natur, ganz so, wie ich es vermutet hatte. Und stell dir vor: Er ist der Neffe meines leiblichen Vaters.«

»Mein Beileid übrigens. Tut mir wirklich leid, das mit deinem alten Herrn.«

»Danke«, sagte Claude verwundert. »Aber ich meine nicht meinen Vater, sondern meinen Erzeuger. Er ist auch gestorben und hat mir Geld hinterlassen – mehr als seinem Neffen. Da ist Nortier durchgeknallt und hat die falschen Spuren zu mir gelegt.«

»Ach! Dann gibt es also doch jemanden, der dich so sehr hasst, dass er dir etwas unterjubeln wollte. Auf das Verhör bin ich gespannt. Er sagte noch etwas von einem Araber, der ihn niedergeschlagen hatte. Und einen Schuss habe ich gehört.«

»Ach, der Araber, der ist mir gefolgt«, sagte Claude und versuchte, verlegen auszusehen. »Weißt du, ich schuldete ihm noch Geld. Der hat gedacht, ich wollte mich aus dem Staub machen.«

»Und darum schlägt der Araber Nortier nieder und nicht dich«, sagte Lambert mit vorwurfsvollem Bick. »Ich hatte gehofft, dass du mich nicht mehr verarschst.«

»Nein, das tu ich nicht. Der Araber hat was gegen Schwule …«

»Das wundert mich nicht.«

»Ach«, zischte Claude mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Jetzt lass mich doch ausreden. Wir haben uns gestritten, und Nortier hat uns dabei überrascht. Er wollte mich dem lieben Gott opfern, mit dem Angelmesser, das ihr gefunden habt. Da hat der Araber sich befreit und Nortier eins auf die Nase gegeben. Ich verdanke ihm praktisch mein Leben.«

Lambert schaute immer noch skeptisch drein.

»Und dir natürlich«, setzte Claude eins drauf.

»Du sagst mir nicht zufällig den Namen dieses Zeugen?«

»Nein.«

Der Kommissar schüttelte mit resignierter Miene den Kopf. Dann ging er zu seinen Beamten, wuschelte Jean-Luc durch das Haar und legte ihm fürsorglich die Hand auf die Schulter.

Luc Nortier saß inzwischen mit Handschellen in einem Streifenwagen und warf einen überheblichen Blick zu Claude hinüber. Es lief ihm unvermittelt kalt den Rücken hinunter. Nortier würde niemals aufhören, sich die Welt so zurechtzureden, dass alles in Gottes Plan passte. Wahrscheinlich war der Aufenthalt im Gefängnis eine Prüfung, ähnlich wie bei Hiob. Ihm wurde schwindelig, also hob er die Beine behutsam ins Auto und drehte die Rückenlehne des Sitzes flach. Lambert kam zu ihm zurück.

»Himmel! Ich war gerade in der Scheune. Den Mann hat es erwischt, der ist wirklich schräg drauf. Überall Kruzifixe und sogar ein Tabernakel.« Als Lambert merkte, dass Claude ihm nur mit halbem Ohr zuhörte, sagte er: »Mein Inspektor wird dich und den Jungen zurückbringen. Ich habe Amélie Bescheid gesagt, dass du kommst. Willst du bestimmt nicht ins Krankenhaus?«

Claude winkte ab. »Nein, der Notarzt kann mir ja gleich ein Antibiotikum und eine Spritze gegen die Schmerzen geben. Ich will nur noch nach Hause.«

Nach einem Moment des Überlegens sagte Lambert: »Ich war ein echter Blödmann, nicht wahr?«

»Wenn das jetzt deine Entschuldigung ist, nehme ich sie nicht an.«

»Claude«, sagte Lambert. »Ich weiß, dass du mir das nicht verzeihen wirst. Aber ich konnte nicht anders. Ich stehe dazu, auch wenn es im Nachhinein betrachtet nicht richtig war. Die Beweise waren da. Was hättest du an meiner Stelle gemacht?«

Claude überlegte nicht lange, denn er hatte keine Lust, mit Lambert über die Schuldfrage zu streiten. »Ich weiß es nicht.«

»Es tut mir aufrichtig leid.«

»Jetzt hör auf, Frédéric. Du bist wie ein Pickel an meinem Hintern, mein halbes Leben lang schon.«

Lambert grinste. »Dann hast du aber wirklich Geduld mit mir. Ich hätte den Pickel schon längst wegoperiert.«

»Du bist eben ein Weichei«, murmelte Claude und schloss die Augen.

* * *

Es wurde dreiundzwanzig Uhr, ehe Claude und Jean-Luc, mit dem er einige tröstende Worte gewechselt hatte, am Place Notre-Dame eintrafen. Die gesamte Nachbarschaft war auf den Beinen, als der Streifenwagen anhielt. Die Hauslampen strahlten hell, die Fenster waren erleuchtet. Die hintere Tür des Autos wurde von den Anduzern geöffnet. Man machte Madame Corbusier Platz, die auf ihren Sohn zulief, ihn in den Arm nahm und küsste. Man schaute ihnen nach, als sie weinend auf die Haustür zugingen. Doktor Certon wartete mit seinem Arztköfferchen in der Hand auf den Jungen, um ihn durch die Nacht zu begleiten. Amélie drängte sich durch die Menschenmassen und rief: »Claude, da bist du ja!«

Claude wollte nicht aussteigen. Er hatte auf der Fahrt gehört, dass man seine Fensterscheiben eingeworfen hatte, und immer noch schwebten ihm die Fäuste der erbosten Anduzer vor Augen, die ihn gemeinsam mit den Polizisten verfolgt hatten. Doch er konnte nicht ewig in diesem Schneckenhaus sitzen bleiben. Als er ausstieg, wich die Menge zurück. Manche betrachtete ihn und sein aufgeschnittenes Hosenbein neugierig, andere wandten beschämt ihre Gesichter ab. Da kam Leutnant Bertin, der keinerlei Schwierigkeiten hatte, sich seinen Weg zu bahnen. Er nickte dem Fahrer zu, der sich wieder ans Steuer setzte und langsam durch eine Gasse davonfuhr, die so schmal war, dass die Außenspiegel an den Wänden entlangschrammten. Bertin blieb vor Claude stehen und schaute ihn streng an. Claude holte tief Luft und gab den Blick trotzig zurück. Da streckte Bertin seine Hand aus. Claude ergriff sie, schließlich war er gut erzogen. Der Gendarm schüttelte sie, dann zog er Claude an seine Brust und klopfte ihm auf den Rücken. Plötzlich begann ein Mann, der in der Nähe stand, zu klatschen. Eine Frau stimmte ein, und weitere Anduzer hoben ihre Hände, um zu applaudieren. Claude schluckte und blickte in lächelnde Gesichter, die ihm zunickten.

Um dem Aufruhr seiner Gefühle Herr zu werden, flüsterte Claude Bertin zu: »Denk daran, du schuldest mir vier Monate lang Informationen.«

»Vergiss es«, murmelte Bertin und grinste unschuldig, als er ihn aus seinem Griff entließ und zum Wohnhaus begleitete. Beide betrachteten das klare Brunnenwasser, das ins Becken plätscherte, und schauten sich in schweigendem Einvernehmen noch einmal kurz an. Madame Barjac auf dem Treppenabsatz führte das Spitzentaschentüchlein an ihre Augen. Claude humpelte hinauf und umarmte seine gutmütige Nachbarin, einfach so.

»Hör nicht auf das Klatschen, Claude«, mahnte sie leise und küsste ihn auf die Wange. »Die werfen bald wieder den ersten Stein, so falsch, wie sie sind.«

»Ich weiß«, lächelte Claude. Hier war jemand, der ihn verstand.

»Hast Besuch, mein Junge.«

»Julien, nicht wahr?«

Er sah, wie die Anduzer sich zu Gruppen zusammenfanden und noch eine Weile plauderten, bevor sie sich entfernten. Claude konnte ihnen nicht böse sein. Sie waren Menschen, die sich irren konnten, genau wie er. Leutnant Bertin äußerte einen Gutenachtgruß und verschwand. Madame Barjac tätschelte ihm die Hand und zog sich in ihre Wohnung zurück.

»Ich habe Julien angerufen«, sagte da Amélie, die noch nicht gegangen war. Claude zog seine Freundin fest an sich. Die Nase in ihren Haaren verborgen, lehnte er sich an sie. Die Hausbeleuchtungen erloschen, eine nach der anderen. Mit dem typischen Klappern, das von den Hauswänden widerhallte, wurden die Fensterläden von Jean-Lucs Zimmer aufgestoßen, um dort zu lüften. Das Licht ging an.

»Ich dachte nämlich, dass er dich am besten wieder aufmuntern kann. Du bist bestimmt ziemlich fertig«, sagte Amélie.

»Und wie. Morgen werde ich dir alles erzählen«, sagte Claude und zog die Nase hoch. »Von Nortier und von … Mahmout.«

»Wer ist das denn?«

»Ein Freund.«

Amélie küsste ihm auf die Wangen. »Schlaf gut.« Er nickte. Ja, er würde schlafen und aus dem Albtraum aufwachen. Er freute sich. Nachdem Amélies schlanke Gestalt in der Dunkelheit verschwunden war, stieg er die Treppe hinauf. Julien öffnete ihm, nur mit einer Jeans bekleidet.

»Salut, Claude.«

Virenque spazierte heraus und schmiegte sich an Juliens Beine, den Schwanz hoch erhoben.

»Na, das ist typisch«, schimpfte Claude. »Kaum bin ich mal zwei Tage nicht da, schmeißt er sich dem erstbesten Typen an den Hals.«

»Und wem schmeißt du dich an den Hals?« Julien breitete seine Arme aus, und Claude tauchte in eine tröstliche Umarmung ein. Nun konnte er sich entspannen und über alles nachdenken, was ihm an diesem Tag zugestoßen war.

»Na, wann kommst du endlich zu mir nach Nîmes?«, flüsterte Julien und knabberte an seinem Ohrläppchen.

»Gar nicht«, antwortete Claude selig. Er drückte sich an seinen Freund. Seine Hände strichen über einen glatten Rücken, er roch Juliens Eau de Toilette und er spürte … seinen knurrenden Magen.

»Ich habe Hunger. Hast du gekocht?« Er bückte sich und hob Virenque auf den Arm, der ihm einen zärtlichen Kopfstoß verpasste.

»Natürlich. Aber du musst sofort dein Bein hochlegen. Am besten, wir essen im Bett.« Julien schloss die Tür.

* * *

Amélie wanderte durch die Gassen zurück in Richtung Brücke, um zu ihrer Wohnung zu gelangen, die am anderen Flussufer lag. Mit einem Lächeln auf den Lippen summte sie vor sich hin. Als sie am Plan de Brie vorbeikam, sah sie im Licht der Straßenlaternen einen Mann auf der Bank vor der Kirche sitzen. Es war Lambert, der sein schweres Haupt mit den Händen stützte. Amélie blieb stehen. Ihre Empfindungen für ihn waren verworren. Es war ja nicht so, dass Frédéric nur stur und nachtragend war. Nein, er konnte auch sanft und liebevoll sein. In ihrer gemeinsamen Nacht hatte er seine Qualitäten im Bett gezeigt, und Amélie war vollauf zufrieden gewesen. Sie ging weiter. Ihre Absätze klapperten auf den Pflastersteinen, sodass Lambert den Kopf hob. Als er sie erkannte, sprang er freudig überrascht auf, was Amélies Herz zum Klopfen brachte. Wie sollte es mit ihnen weitergehen? Eine Fernbeziehung wie zwischen Julien und Claude?

»Salut, Frédéric.«

Er legte die Hand auf ihren Arm.

»Salut, Amélie. Warst du noch bei Claude?«

Sie nickte. Nach einem Moment drückenden Schweigens fragte sie: »Bald wirst du wieder fahren, nicht wahr?«

»Morgen früh. Die Vernehmung wird in Nîmes fortgesetzt. Meine Männer packen schon zusammen.« Er wies auf das Bistro.

»Amélie, ich weiß nicht, wie es mit uns … du weißt schon.«

»Was möchtest du denn gern, Frédéric?«

Er hob den Kopf und blickte in die nackten Zweige der Platanen.

»Ich will dich öfter sehen. Darf ich dich besuchen kommen? Ich meine, wenn du mir nicht mehr böse bist. Bist du mir noch böse?«

Amélie umfasste mit einer Hand seine Hüfte, ihre Finger krochen hinter den Gürtel seiner Jeans.

»Ich war echt sauer auf dich.«

Lambert seufzte. »Du magst Claude lieber als mich. Wenn du könntest, wärst du bei ihm, nicht wahr?«

»Vermutlich«, gab Amélie zu und strich mit dem Zeigefinger über sein weiches Hemd. »Aber das kann ich abhaken.«

»Ich will nicht nur ein Ersatz sein, Amélie.«

Sie schaute ihn traurig an. »Dann lass uns noch ein wenig warten, Frédéric. Ich glaube gar nicht, dass du mich noch mal besuchen wirst. Du wirst mich vergessen wie damals im Sommer auch.«

»Nach dieser Nacht, Liebste?« Er küsste sie sacht auf die Schläfe und drückte sie an sich. »Ich werde wiederkommen, das verspreche ich dir.«

Sie nickte, und als sie sich fröstelnd zusammenzog, rieb er ihre Arme, denn sie trug nur eine legere, dünne Jacke.

»Darf ich heute Nacht bei dir bleiben, Amélie? Ich könnte dich wärmen.«

Die Vorstellung, dass nun fast alles wieder gut war, tröstete sie. Nathalie war wieder bei ihrer Mutter, die hoch und heilig versprochen hatte, sich mit ihrem Ehemann, der bald wegen Vortäuschung einer Straftat angeklagt werden würde, zu einigen. Jean-Luc Corbusier war in Sicherheit und Claude – nun, was Claude gerade tat, das wusste sie. Sie brauchte sich nur noch um sich selbst zu kümmern.

»Ja, Fredy.«

Er atmete auf, schaute auf seine Uhr und dann zum Eingang der Gendarmerie. »Ich sperre den Kerl jetzt weg, und dann mache ich Schluss. Ich bin in einer halben Stunde bei dir, ja?«

»Bis gleich. Du hast ja einen Schlüssel.«

Sie lächelte, als er aufgeregt wie ein kleiner Junge zur Eingangstür lief.

* * *

»Kommen Sie herein«, sagte Professor Tallier. »Ich habe Sie schon erwartet.«

»Wie das?« Claude betrat die Wohnung des Theologen mit einer innerlichen Erleichterung. Lange hatte er überlegt, ob dieser Besuch nötig war oder nicht.

»Ich weiß nicht. Nennen Sie es den Sinn eines Theologen oder so.« Das Lächeln brachte Talliers hageres Gesicht zum Leuchten.

»Ach, so viel ist verworren in mir, da kommt es auf diese Frage auch nicht mehr an.«

Claude lehnte den abendlichen Rotwein nicht ab. Nur ein Glas, hatte er sich eigentlich vorgenommen. Aber vielleicht auch mehr, er konnte ja mit dem Taxi heimfahren. Schließlich hatte er nun Geld wie Heu. Der verspätete Brief des Testamentsvollstreckers hatte sich in seinem für zwei Tage verwaisten Briefkasten befunden. Die gemischten Gefühle über den Geldsegen hatten ihn seitdem nicht mehr losgelassen. Immer noch irrte er planlos in seiner Wohnung und auch in der Stadt umher, trotz der klärenden Aussage auf dem Revier, trotz Juliens Zärtlichkeit und Amélies Trost. In seinem Inneren zwickte und zwackte es so sehr, dass er es nicht mehr ausgehalten hatte und hergekommen war. Ein neutraler Beobachter würde ihm guttun.

Er erzählte Tallier von seinen Erlebnissen und fasste die Ermittlungen in groben Zügen zusammen. Er berichtete ausführlich von seiner Beziehung zu Mahmout, was ihm schwer fiel. Der Professor hörte zu, die Arme auf die Sessellehne gestützt, die Finger aneinandergelegt, sodass Claude den Eindruck hatte, sich in einer therapeutischen Sitzung zu befinden. Da ging ihm auf, dass die Kirche lange Zeit genau diese therapeutischen Aufgaben wahrgenommen hatte, bevor sich die Glaubenshaltung der Menschen wandelte und sie mit ihren Depressionen nicht mehr bei der Beichte, sondern in weltlichen psychologischen Einrichtungen Hilfe suchten. Ein interessanter Gedanke, fand Claude.

»Ich habe kein gutes Gefühl, Monsieur Tallier. Dieses Geld, es klebt Blut daran. Ich kann es verdammt gut gebrauchen, aber diesem Geld ist Marcel Lebout zum Opfer gefallen, und zwei Familien haben Angst und Schrecken erlebt. Und auch Mahmout – wenn ich ihm nie begegnet wäre, dann …«

Er konnte nicht weitersprechen. Mahmout, sein schöner Prinz, er würde nie wieder seine Mandelaugen auf ihn richten. Wenn er ihn nie kennengelernt hätte, würde Mahmout noch eine Weile in seliger Jungenhaftigkeit durchs Leben gehen.

Tallier nickte. »Claude, ich kann das gut verstehen. Ich kann Ihnen nur Wege aufzeigen, entscheiden müssen Sie selbst. Sie können das Geld ablehnen und es den nachfolgenden Erben zukommen lassen. Sie können es annehmen und damit viel Gutes bewirken. Ich denke da an soziale Einrichtungen, die sich zum Beispiel um Integration oder um die Jugendarbeitslosigkeit kümmern.«

»Ob das ausreicht? Ich meine, einfach Geld spenden und die Sache ist gut?«

»Die Sache wird vielleicht nie gut sein. Es ist ja auch zu traurig, was geschehen ist. Aber Sie werden lernen, damit zu leben. Das Leben ist ein großes Behältnis. Darin sind viele gute und viele schlechte Erinnerungen. Und diese leiten unsere nächsten Schritte. Man kann nicht alles ignorieren, ja, nicht einmal vergessen. Man ist für etwas Schlimmes verantwortlich, aber man wird trotzdem nicht daran zugrunde gehen, wenn man sich bemüht, das Behältnis im Gleichgewicht zu halten.«

Tallier hatte sich vorgebeugt und schaute ihn mit grauen Augen eindringlich an. Claudes Zweifel begann, sich zu verflüchtigen. Es war doch alles so einfach, das hatte er gerade gehört. Warum stellte er sich überhaupt so weinerlich an? Er seufzte und ließ den Kopf hängen.

Der Priester fuhr fort: »Ich kann jetzt schlecht sagen: Ego te absolvo. Das würde Ihnen nicht helfen. Aber all ihre Freunde und Verwandten haben das bereits gesagt. Sagen Sie es jetzt zu sich selbst, und warten Sie ab. Die Zeit ist auf Gottes Seite.«

»Also … Ego me absolvo«, sagte Claude.

»Gute klassische Bildung hat doch etwas für sich«, grinste Tallier. Claude lachte auf und reckte sich. Ja, dieser Besuch war sinnvoll gewesen. Ob Jean-Luc Corbusier auch einen solchen Beichtvater hatte? Der Junge hatte einiges durchgemacht, was sein Behältnis für eine ganze Zeit lang ins Ungleichgewicht bringen würde.

Claude sah den Priester offen an. Er erschien ihm mit einem Mal wie ein Relikt aus vergangener Zeit.

»Finden Sie es nicht traurig, dass eine zweitausend Jahre alte Kultur so einfach den Bach runtergeht? Überall Kirchenschließungen, Diskussionen und Kinder, die nicht einmal das Vaterunser kennen, geschweige denn können.«

Talliers Ausdruck verdunkelte sich. »Ja, es ist frustrierend. Bedenken Sie, welche Kräfte allein vor achthundert Jahren freigesetzt wurden. Die prächtigen Kathedralen, die entstanden sind, das Netzwerk der kirchlichen Einrichtungen, die Klosterkultur, die nun darniederliegt. Aber andererseits …« Tallier wiegte seinen Kopf. »Warum sollte Gott auch immer das Gleiche wollen? Sicher experimentiert er gern herum.«

»Ja, das scheint mir auch so.« Ein alter Mann mit Rauschebart, der die Weltkugel in einem Reagenzglas über einen Bunsenbrenner hält und gespannt die Entwicklung abwartet – immerhin ist Zeit relativ. Vielleicht war die Welt innerhalb weniger Sekunden über der blauen Flamme entstanden.

Da fiel Claude auf, dass die Möglichkeiten, sich die Welt schönzureden, unendlich waren, und er fühlte sich bereits wie Luc Nortier, der beharrlich an seiner eigenen Theorie festhielt.

Tallier las seine Gedanken. »Jeder kann sich in seinem Leben entscheiden. Ob eine Entscheidung richtig war, sehen wir erst an den Ergebnissen.«

»Aber Mahmout – er hat auch die richtige Entscheidung getroffen, und nun ist er tot. Warum ist er so bestraft worden?«

»Er hat folgerichtig gehandelt. Sie, Claude, waren sein Katalysator. Durch Sie hat er begriffen, was für ihn wichtig ist. Was seinen Selbstmord anbelangt – vielleicht war dies die falsche Entscheidung. Er hätte ja auch kämpfen können.«

»Ich habe ihn zu früh kennengelernt. Wäre er gefestigter gewesen, wäre er noch am Leben.«

»Sie haben Mahmout etwas gegeben, das er gesucht hat. Sie können das auch mit anderen Menschen machen.«

»Damit mein Behältnis wieder im Gleichgewicht ist.«

Tallier lächelte. »Genau so.«

Claude schaute durch das dunkle Fenster hinaus. Im Garten beleuchtete eine Außenlampe die blütenlosen Sträucher und Büsche. Er stand auf.

»Danke, Professor. Ich lasse mir alles noch einmal durch den Kopf gehen.«

»Gern geschehen, Claude. Besuchen Sie bald wieder einen alten Mann wie mich.«

Tallier brachte ihn zur Wohnungstür. Claude drehte sich noch einmal zu ihm um.

»Bei euch Katholiken gibt es ja Buße und Reue. Habe ich wohl genug bereut und Buße getan?«

»Ego te absolvo a peccatis tuis in nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti.«

Tallier zeichnete mit ruhigen Handbewegungen ein Kreuzzeichen vor seinem Gesicht.

»Amen«, sagte Claude und lächelte. Und als ob der leise Windhauch der segnenden Hand seinen Kummer hinweggefegt hätte, stieg er mit leichterem Herzen als zuvor die Treppe hinab und ging durch die nächtlichen Straße des Dorfes.

Er zog in Erwägung, zu konvertieren.

* * *

»Nein, Mama, das war ein Scherz!«, rief Claude und streckte seine Hände beruhigend nach seiner Mutter aus, die ihrerseits die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hatte, als Claude ihr von der katholischen Lehrstunde berichtete.

»Keine Sorge, ich bin und bleibe Protestant.«

»Ich dachte auch schon«, sagte Madame Bocquillon. »Bei dir weiß man ja nie, was in deinem Gehirn gerade so vorgeht.«

Claude grinste und schlug die nächste Seite eines improvisierten Fotoalbums um. Sie saßen am Küchentisch in Ribaute. Ihre Köpfe berührten sich fast, als sie die Bilder betrachteten. »Und dort ist er auf dem Petersplatz in Rom.«

»Woher hast du diese Mappe?«

»Die habe ich gestern angelegt. Der Testamentsvollstrecker hat mir einige Dinge geschickt, die Raoul extra für mich aufbewahrt hatte.«

Sie zog die Nase hoch und wischte sich eine Träne aus den Augen. Claude beugte sich wieder über das Foto, das einen schlanken Mann mittleren Alters zeigte, der fröhlich in die Kamera winkte. Beim Lächeln entblößte er gleichmäßige Zähne. Sein Gesicht war ebenmäßig, die dunklen Haare trug er kurz geschnitten.

»Er sieht nett aus. Habe ich dir das schon gesagt?«

»Ja, das hast du.«

»Aber Vater war früher auch ein hübscher Kerl, nicht wahr?«

Madame Bocquillon nickte und lächelte. »Ja. Meine Freundinnen haben mich beneidet. Wir haben immer gut zusammengepasst, obwohl er ein wenig schweigsam war.«

Das konnte Claude bestätigen. Seine Eltern waren immer liebevoll miteinander umgegangen. Seine Mutter hatte aber auch viel damit zu tun gehabt, besänftigend auf ihren Mann einzuwirken, wenn die Luft zwischen ihm und Claude mal wieder geladen war.

»Da hast du ja eigentlich Glück gehabt mit deinen Männern.«

Überrascht schaute sie ihn an. »Ja, wenn man es so sieht. Und du? Wie geht es dir?«

»Ganz gut. Morgen fahre ich mit Julien zum Friedhof in Alès. Ich werde Mahmout ein schönes Grabmal kaufen. Karim kommt auch. Endlich spricht er mit mir.« Er hatte vier Versuche benötigt, bis Karim auf ihn eingegangen war.

»Was willst du ihm sagen?«

Das wusste Claude noch nicht so genau, doch es war ihm ein Bedürfnis, bis zum Kern der Sache vorzudringen. Er hatte in jener Nacht erkannt, dass Karim seine Trauer hinter unbändigen Rachegefühlen versteckte. Er musste betroffen sein vom Tod seines Bruders; er fühlte sich womöglich genauso schuldig wie Claude selbst.

»Vielleicht kann ich ihm klarmachen, dass wir Schwulen keine ansteckende Krankheit haben.«

Seine Mutter tätschelte ihm den Arm.

»Das ist schön. Und wie hast du dich wegen des Geldes entschieden?«

»Ich werde es zu drei Vierteln spenden. Es gibt da so einen Verein, der sich um Schwule mit Migrationshintergrund kümmert. Den finde ich nicht schlecht.« Claude hatte eine Weile suchen müssen, bis er eine Einrichtung gefunden hatte, die seinen Vorstellungen entsprach. Er hoffte, dass er damit etwas Nachhaltiges bewirken konnte, etwas, das von Mahmout in der Vergangenheit aus in die Zukunft ging.

»Und mit dem Rest?«, fragte seine Mutter neugierig. Claude rieb sich die Hände voller Vorfreude.

»Der kleine Jean-Luc bekommt den besten Therapeuten von ganz Nîmes. Das habe ich schon geklärt. Und ich fahre mit Julien im Frühling nach Paris.«

»Bon, gute Idee. Da wolltest du immer schon mal hin.«

»Wann ist Vaters Beerdigung?«, fragte Claude und schlug die Mappe zu. Er wollte gar nicht so viel von seinem leiblichen Vater wissen. Schließlich steckte genug von ihm in ihm selbst: die Zähne zum Beispiel und die Form seines Mundes. Er war eine gelungene Mischung, fand er.

»In drei Tagen. Flabert hat die Texte und Lieder schon mit mir abgesprochen. Aber ich muss dich jetzt allein lassen. Ich fahre eben zum Friedhof und schaue mir die Gruft an. Da muss bestimmt frischer Kies hin. Es soll ja alles ordentlich sein.«

Die Gruft auf dem Friedhof am Rand von Ribaute war seit etwa zwei Jahren im Besitz der Familie. Claude hatte immer den Kopf über so viel Voraussicht geschüttelt, doch nun erfüllte sie ihren Zweck. Madame Bocquillon stand auf und strich ihm ausgiebig über das Haar.

»Soll ich dir helfen, den Kies zu holen?«, fragte er und genoss den wohligen Schauer, sich wie ein kleiner Junge fühlen zu dürfen.

»Nein, das macht Jean.«

Claude wurde misstrauisch, als seine Mutter auf die Uhr schaute und ihre Jacke von der Stuhllehne nahm. Sie schob die Gardine am Küchenfenster beiseite und schaute hinaus.

»Schließ ab, wenn du heimradelst.«

»Ja, Mama. Wer ist denn Jean? Ein Nachbar, den ich nicht kenne?«

»Nein.« Sie warf ihm eine Kusshand zu und verließ die Küche durch die Terrassentür. Ein Auto näherte sich von der Einfahrt her. Claude sprang auf und ging ans Fenster, um den unbekannte Besucher zu inspizieren. Der Wagen war rückwärts vorgefahren, sodass Madame Bocquillon nur noch auf der Beifahrerseite einsteigen musste, was sie behände und elegant tat. Eine Männerhand legte sich kurz auf ihr Knie. Claude glaubte zu träumen. Am Steuer saß …

»Jean!«, schrie Claude und riss die Tür auf. Draußen sah er nur noch, wie Gendarm Bertin ihm im Rückspiegel zuwinkte.

»Du verdammter Kerl!« Claude drohte mit der Faust. Der Wagen verschwand in der Einfahrt und nahm auf der Route de la Draille Fahrt auf. Fassungslos blieb Claude stehen. Ein frischer Wind fuhr durch die Zweige der Lindenbäume. Die Böe erfasste ihn und zerzauste sein Haar. Er lehnte sich an die rauen Bruchsteine der Hauswand. Ganz still stand er dort und hörte, wie der Wind ihn auslachte: »Das geschieht dir ganz recht, Claude Bocquillon. Jetzt bekommst du bald noch einen Stiefvater dazu.« Er vernahm ganz deutlich das Flüstern in den schwankenden Ästen.

»Was soll’s«, antwortete Claude und schaute in den Himmel. Die graue Wolkendecke riss auf, und hin und wieder schimmerte das Blau des Himmels hervor.

»Ihr Väter da oben, das muss euch nicht gefallen, aber so schlimm ist es auch wieder nicht.«

Dann begann er zu kichern. Schließlich prustete er und lachte, bis die Tränen über seine Wangen liefen.