Mittwoch, 7. November

»Das wird auch Zeit«, frotzelte Frédéric Lambert, der aussah, als käme er aus einem Wellnessurlaub. Sein Bürstenhaar war exakt ausgerichtet, sein eckiges Kinn war glattrasiert, und das Hemd duftete nach Waschmittel. Claude, der wegen des nächtlichen Telefonats mit Julien erst spät aus dem Bett gekommen war, fühlte sich völlig verwahrlost, obwohl er sich nach dem Aufstehen wie immer sorgfältig zurechtgemacht hatte.

»Bonjour«, murmelte er und schaute sich um. Im Vorraum, in dem sonst nur Brigadier Joberton residierte, saßen zwei weitere Männer an einem neuen Schreibtisch und telefonierten, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

»Du hast eine beeindruckende Truppe aufgefahren«, sagte Claude und warf sich im Büro des Leutnants Bertin auf einen Stuhl.

»Klar, gerade weil es auch um Amélie geht. Wenn ich den Kerl erwische, wird es ihm schlecht ergehen.«

Frédérics mächtige Kiefer pressten sich zusammen. Claude konnte förmlich hören, wie seine Zähne knirschten, und lächelte über den martialischen Gesichtsausdruck.

»Bon, Fredy, zeig es ihm. Was gibt es zu besprechen?«

Lambert setzte sich auf einen Bürostuhl und rollte zu ihm heran, einen Stapel Blätter in den Händen.

»Sieh mal hier, das sind die Absolventen der Priesterschule Issy bei Paris. Von dort kommt nämlich das Papier, das der Täter in die Kirche gelegt hatte.«

»Interessant, also wirklich ein fanatischer Katholik.«

»Wir dürfen nichts außer Acht lassen. Schau dir mal bitte die Personenliste an und such die heraus, die im Umkreis von fünfzig Kilometern wohnen. Es sind ja nur wenige Zettel. Selbst eine renommierte Priesterschule hat heutzutage kaum noch Zulauf. Die Kollegen jagen die Namen auch durch den Zentralcomputer. Vielleicht erwischen wir einen, der schon mal auffällig geworden ist.«

Claude seufzte und betrachtete den Stoß Papiere vor ihm auf dem Tisch. Schreibtischarbeit – das hatte ihm gerade noch gefehlt. Doch tapfer zog er die Papiere an sich heran und hielt Ausschau nach einem Lineal, das er unter die Adresszeilen legen konnte.

»Was ist eigentlich mit den Spürhunden, Frédéric?«

»Die sind gestern Abend gelaufen, aber nach zehn Metern war Schluss. Nathalie ist nicht weggelaufen, sie ist vermutlich in ein Auto gestiegen. Auch die Spuren der Jungen sind mitten in der Stadt verloren gegangen.«

»Wie geht es Amélie?«

Er forschte in Lamberts Gesicht. Dessen Blick wurde weich, und er lächelte traurig.

»Nicht so gut. Sie hat die Bude voll mit ungebetenen Gästen und Besuchern, und sie macht sich immer noch Vorwürfe.«

»Nicht gut«, murmelte Claude.

»Nein.«

»Was hältst du von der Schwester?«

»Wieso? Die ist doch nett und kooperativ.«

Claude verkniff sich ein Grinsen. Wahrscheinlich hatte Catherine sich bei ihm eingeschleimt.

»Hat sie ihren Ex beschuldigt?«

»Ja, und genau diese Spur werden wir als nächstes verfolgen. Es können schließlich zwei Täter im Umlauf sein.«

»Klar«, sagte Claude und bedauerte bereits diesen Antoine, der nicht nur mit einer herrischen Frau geplagt war, sondern auch in den Genuss eines Verhörs durch Lambert kommen würde. Der Kommissar schlug sich auf die Schenkel und stand auf.

»Ich muss los. Mein Boss kommt gleich und schaut sich nebenan im Bistro um.«

»Ist das eure Einsatzzentrale?«

Lambert nickte. »Ja. Ich wollte Bertin nicht zu sehr stören. Ist ja alles etwas eng hier.«

»Waren Fingerabdrücke auf der Plastikbox, in der die Heuschrecken waren?«

»Ja, genug. Aber keine, die wir kennen.«

»Hat der Täter etwas zur Übergabe gesagt?«

»Ja, aber das behalten wir erst mal für uns.«

»Und was ist mit dem Kalb? Hat Bertin etwas erfahren?«

Lambert nickte. »Ein Bauer aus Bagard hat ein Kalb durch einen Diebstahl verloren. Seine Weide liegt etwas abseits vom Hof, er hat nichts bemerkt.«

Claude war enttäuscht über das insgesamt magere Ergebnis der bisherigen Ermittlungen. Als Lambert seine Jacke angezogen hatte und sich zur Tür wandte, schaute er noch einmal zu Claude hinüber, doch dieser hatte sich tief über den Schreibtisch gebeugt. Er grinste und ging hinaus.

Innerhalb einer Stunde hatte Claude nur drei Namen notieren können. Es handelte sich um Männer im Alter zwischen dreißig und fünfzig, die vor Jahren und Jahrzehnten ihre Prüfungen dort abgelegt hatten. Ihre Heimatorte waren damals das Dörfchen Sauve sowie die Städte Alès und Florac. Es gab noch einen Mann in Le Puy, einem alten Wallfahrtsort im Velay, doch es war unwahrscheinlich, dass es ihn in die hiesige, protestantische Wildnis verschlagen hatte. Wo diese Männer heute wohnten, würden jedoch die Mitarbeiter Lamberts herausfinden. Er übergab die kurze Ergebnisliste einem jungen Mann, der an Jobertons Computer saß, Zeugenprotokolle schrieb und ihm versprach, die Adressen der Kandidaten umgehend zu ermitteln. Claude fühlte sich plötzlich wieder an seinen alten Traum erinnert: Wie gern wäre er ein richtiger Kriminaler geworden, ein nützliches Mitglied der Gesellschaft, anerkannt und geschätzt. Doch Lambert, der arrogante Mitschüler, hatte ihn an seiner empfindlichsten Stelle getroffen und ihm nach der Entdeckung seiner Homosexualität das Leben so schwer gemacht, dass er die Schule aufgegeben hatte. Vielleicht hatte dieser Karriereknick ja einen tieferen Sinn, den er nur noch nicht entdeckt hatte, tröstete er sich. Da sah er das Telefonbuch des Departements auf Jobertons Schreibtisch liegen. Gemächlich schlenderte er darauf zu und schlug die Seiten auf. Semmadi, dieser Name kam doch mit Sicherheit nicht oft vor. Wer war dieser Mann, der auf eine unbekannte Art und Weise mit dem mutmaßlichen Entführer in Verbindung stand? Dem Namen nach wahrscheinlich ein Algerier oder Marokkaner. Der Fremde in der Kirche aber hatte wie ein Mann aus der Region ausgesehen. War Semmadi ein Bekannter von ihm? Ein Kunde? Dieses Rätsel galt es zu knacken. Mit dem Finger fuhr er über die Zeilen und runzelte die Stirn. Es gab keine Semmadis in Anduze, jedoch drei von ihnen in Alès. Er stibitzte einen Kuli und notierte sich die Nummern auf einem Zettel. Mit einem zufriedenen Lächeln verließ er die Gendarmerie. Nachdem er von einer müden Amélie die Anschrift ihres werten Schwagers, der Architekt war, erfahren hatte, schaute er auf die Uhr. Er würde den Besuch nach seiner Schicht bei Lucas unternehmen, vorher war keine Zeit mehr.

* * *

Antoine Bougier wohnte in einem Appartementhaus in der Rue Carnot. Als die Tür sich hinter Claude schloss, verstummte der Verkehrslärm, der seit dem Verlassen des Busses weithin zu hören gewesen war. Er meldete sich beim Concierge an, der Monsieur Bougier telefonisch Bescheid gab. Claude stieg eine mit Teppichboden belegte Treppe hinauf. Wenn er erwartet hatte, einen dünnen, blassgesichtigen Versager zu sehen, wurde er enttäuscht. Ihm öffnete ein großer, stattlicher Mann mit gesunder Hautfarbe auf seinem runden, jovialen Gesicht. Claude konnte sich plötzlich vorstellen, dass Antoine Bougier seiner Frau durchaus Paroli bieten konnte. Sein Mitleid wich einer unterschwelligen Sympathie. Bougier begrüßte ihn mit einer dröhnenden Stimme: »Bonjour, Monsieur Bocquillon.«

»Danke, dass Sie mich empfangen«, antwortete Claude und warf einen kurzen Blick auf den Gardon, der die Straße begleitete, bevor er im angebotenen Sessel Platz nahm. Die Wohnung war schlicht, aber geschmackvoll möbliert.

»Wohnen Sie schon lange hier?«, fragte er.

»Seitdem ich abgehauen bin«, sagte Antoine und schenkte Claude eine Tasse Kaffee ein, bevor er sich auf der Kante eines Sessels niederließ, sprungbereit, angespannt.

»Amélie hat mir da aber etwas anderes erzählt.« Claude zwinkerte.

»Dass Catherine mich rausgeworfen hat? Ha, das hätte sie mal versuchen sollen. Nein, Catherine wollte alles: ihren Freund fürs Bett, ihr Kind fürs Herz und ihren Mann zum Versorgen. Das habe ich nicht mitgemacht.«

Er faltete seine Hände und ließ sie zwischen den Knien hängen. »Um Nathalie tat es mir so leid. Es tat mir weh, sie zu verlassen. Mein kleines Mädchen.« Er schaute zum Fenster hinaus, das von einer pflegeleichten Orchidee geschmückt wurde. Claude bemerkte die Trauer in seiner Stimme, sodass auch ihm ganz mulmig wurde. Schnell trank er einen Schluck Kaffee. Die Wärme durchströmte seinen ganzen Körper.

»Ich habe sie mal kennengelernt, die Kleine. Sie ist ganz gewitzt.«

Antoine schwieg und senkte seinen Kopf. Dann kam es zwischen zusammengepressten Kiefern heraus: »Ich habe Angst.«

Claude hätte schwören können, dass er die Wahrheit sagte. Antoine schaute ihn nicht an, sondern nahm seine Tasse zur Hand und schien den Kaffeesatz befragen zu wollen.

»Sie wollen das Sorgerecht haben.«

Antoine nickte. »Ich bin freiberuflich tätig und kann von hier aus arbeiten. Sie ist hier besser aufgehoben als bei ihrer Mutter, die fast jeden Abend ein Kindermädchen braucht, weil sie durch die Kneipen von Alès zieht.«

»Ist das so?«

»Ja. Sie wollte frei sein, sagte sie. Dann soll sie frei sein, aber auch frei von Nathalie, und zwar rechtzeitig, bevor das Kind ihr lästig wird.«

»Meinen Sie, sie hält nur wegen des Unterhalts an ihrer Tochter fest?«

Antoine zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ob die Gier oder der Hass sie antreibt. Ich weiß auch nicht, warum ich nicht früher ihre Veränderung bemerkt habe.«

»Haben Sie eine Ahnung, wie das Gericht entscheiden wird?«

Jetzt richtete Antoine sich auf und rutschte richtig in den Sessel hinein.

»Mein Anwalt hat mir durchaus Hoffnung gemacht. Wir müssen nur den richtigen Richter erwischen.«

Diese Auskunft fand Claude sehr interessant.

»Aber das ist mir jetzt scheißegal, wenn nur Nathalie wiederkommt.«

»Können Sie mir sagen, wo Sie gestern Mittag waren, als Nathalie verschwand?«

Antoine schaute ihn an, doch er schien Claude diese Frage nicht übel zu nehmen.

»Ja. Ich war hier und saß an einer Zeichnung. Ich habe keine Zeugen, nur einen Telefonanruf, aber das muss ja nichts heißen.«

Claude nickte bedauernd. »Ja, Sie hätten ja auch die Rufumleitung eingeschaltet haben können. Keinen Pizzadienst bestellt? Keinen Chinesen?« Er lächelte.

»Nein, tut mir leid«, antwortete Antoine und hob bedauernd die Hände, die dann mit einem Klatschen auf seinem Bauch landeten. »Ich koche selbst, das sehen Sie ja.«

»Respekt«, grinste Claude. Er hatte genug gehört und verabschiedete sich herzlich.

Ein langer Fußmarsch brachte ihn am Fluss entlang ins Stadtzentrum. In der Nähe des Springbrunnens setzte er sich auf eine Bank und zog die Telefonnummern hervor, um nach Mahmout Semmadi zu forschen. Beim ersten Anruf geriet er an eine Frau, die in einem Kauderwelsch auf ihn einredete, das sich als eigenwillig abgewandeltes Französisch entpuppte. Er konnte sie trotzdem nicht verstehen und drückte kurzerhand auf den roten Hörer.

Beim nächsten Gespräch hatte er offensichtlich einen jungen Burschen am Telefon. Seine Sprache klang etwas derb, sodass Claude sich sofort anpasste.

»Eh, Alter, ist Mahmout da?« Er improvisierte den schlimmsten Slang, den er sich vorstellen konnte, und es zeigte Wirkung.

»Nee, was is’n los? Wer bist du denn?«

»Bin der Claude, kenne Mahmout vom Rumhängen.« Im Hintergrund waren dunkle Stimmen zu hören und das Kichern eines Mädchens.

»Ich wollte mal vorbeikommen, aber ich weiß nicht, ob es der richtige Mahmout ist. Gibt es noch einen, der so heißt?«

»Nee, ist der einzige en ville«, kam die stolze Antwort. »Ist mein kleiner Bruder.«

Claude runzelte die Stirn.

»Wie klein?« Das wollte er gar nicht fragen, es klang zu verdächtig, aber nun war es ihm doch rausgerutscht. Es sah ja blöd aus, wenn er behauptete, mit einem Schulkind von zehn Jahren rumzuhängen. Doch für den Fall, dass dieser Mahmout als neues Opfer auf dem Zettel gelandet war, musste er weiterforschen. Claude wischte sich über die Stirn. Der Bursche am Telefon jedoch hatte ihn zum Glück missverstanden. Er lachte.

»Na ja, klein – du weißt ja, wie groß er ist, aber nur fast so groß wie ich. Bist du einer von uns?«

»Ja. Äh, wo muss ich denn dann hin?«

»Esplanade de Clavières Nummer zehn. Mahmout kommt in einer halben Stunde oder so. Will sich nur eben Stütze abholen.«

»Haha, danke, Mann.«

»Kein Problem.«

Claude beendete das Gespräch mit einem erleichterten Seufzen. Nun war er also zu einem algerischstämmigen Franzosen mutiert. Gut, dass die Sommerbräune noch vorhanden und sein Haar dunkel war. Die genannte Straße lag nicht im allerschlimmsten Ghetto, doch trotzdem würde er in den hohen Reihenhäusern, die sich dort aneinander drängten, nicht wohnen wollen.

Der Springbrunnen sprühte majestätische Wasserfontänen in die Luft, die Autos fuhren durch den überschaubaren Kreisverkehr. Claude schaute auf die Uhr. Wenn er Mahmout vor der Haustür abfangen wollte, musste er sich jetzt ein Taxi suchen. Er fragte sich, ob er das Fahrgeld Amélie in Rechnung stellen sollte oder nicht. Es war ihm unangenehm, dass sie darauf gedrängt hatte, ihm alle Ausgaben zu erstatten und auch sein Honorar zu übernehmen, doch er würde sie schon überzeugen, die Geldbörse stecken zu lassen.

Zehn Minuten später bezahlte er den Taxifahrer und sah sich um. Ein Kiosk stand an einer Kreuzung, und einige Männer hockten dort zum Mittagsplausch beieinander. Ein kühler Wind fegte durch die breite Straße, an der sich die Hausreihen entlangzogen, so weit das Auge reichte. Als er Nummer zehn gefunden hatte und nur noch einige Schritte entfernt stand, bemerkte er drei Jungen, die auf einer Hofeinfahrt so intensiv und ernsthaft Fußball spielten, als träumten sie davon, einmal wie Zinédine Zidane verehrt zu werden. Ein Mädchen saß auf einer niedrigen Mauer und schaute zu. Claude blieb stehen.

»Warum seid ihr denn nicht in der Schule?«, fragte er freundlich. Das Mädchen blickte nur kurz auf.

»Krank«, sagte sie und wandte sich wieder ihren Gefährten zu. »Klar, krank«, dachte Claude. Der Ball zischte auf die Wand zu und prallte mit einem lauten Knall dagegen. Claude wagte einen Ausfallschritt und stoppte ihn. In seinen Füßen kribbelte es unwiderstehlich. Er kickte den Ball ein wenig in die Luft und schoss ihn in einem eleganten Bogen zu den Spielern zurück.

»Sag mal, kennst du Mahmout Semmadi? Er wohnt in Nummer zehn.«

»Weiß ich«, war die schnippische Antwort.

»Kannst du ihn mir zeigen, wenn er gleich heimkommt? Ich muss mit ihm sprechen.«

»Der ist doch schon da«, sagte das Mädchen und zeigte auf einen jungen Mann, der im Hinterhof sein Fahrrad auf einen Ständer stellte. Er war dünn, dunkelhaarig und mit einer Lederjacke bekleidet, die seine Figur breiter machte.

»Oh, danke«, sagte Claude und rannte los, um Mahmout den Weg zur Haustür zu versperren. Der Bursche, der vielleicht gerade achtzehn Jahre alt sein mochte, schaute auf, als Claude in sein Blickfeld trat.

»Bonjour, Mahmout«, sagte Claude, während seine Augen am Gesicht des Jungen kleben blieben. Die Mandelaugen waren wie von dunklem Kajal umgeben, seine Haut hatte nie Pubertätsakne gesehen und seine Bartstoppeln ließen ihn trotz seiner Jugend männlich erscheinen. Insgesamt eine Mischung, die Claude gefiel.

»Wer sind Sie?«

»Ich bin Claude Bocquillon und komme aus Anduze. Ich bin Privatdetektiv und muss mit dir reden. Wahrscheinlich bist du ein Zeuge in einem meiner Fälle, ohne es zu wissen. Hast du Zeit für mich?«

Da fiel Claude ein, dass er die Höflichkeit außer Acht gelassen hatte.

»Pardon, ist es dir recht, wenn ich dich duze?«

Mahmout richtete sich zu voller Größe auf und schaute Claude auf Augenhöhe ins Gesicht.

»Das weiß ich noch nicht, Monsieur Privatdetektiv. Springt was dabei raus für mich?«

Claude verkniff sich ein Seufzen. Die Jugend von heute.

»Das weiß ich noch nicht, Monsieur Zeuge.«

Ein kurzes Lächeln brachte das Gesicht zum Leuchten, dann winkte Mahmout ab.

»Vergiss es.«

Er wollte sich schon an Claude vorbei zur Haustür drängen, als dieser ihn festhielt.

»Warte doch mal, ist ja gut. Wir werden uns schon einig. Aber ich brauche eine Stunde deiner Zeit. Es ist wirklich wichtig. Hast du das von den entführten Jungen gelesen?«

In Mahmouts Gesicht zuckte es, als bemühte er sich, seine Erregung zu verbergen.

»Klar. Und du meinst, ich habe etwas damit zu tun? Bin ich ein Verdächtiger?«

Als Claude lachte, bemerkte er etwas an Mahmouts Ausdruck, das ihn aufmerksam machte. Mahmout schaute ihn an, betrachtete seinen Mund, seinen Hals, seinen Oberkörper mit einer kaum spürbaren Neugier, mit nur einem Hauch von jugendlicher Scham, flüchtig wie der Wind. Claude konnte nicht anders, er musste einfach auf den Busch klopfen und setzte seinen Scannerblick ein, der Mahmouts Körper abtastete. Dieser schien die unsichtbare Berührung förmlich zu spüren, denn er schluckte, und nun wehrten sich die braunen Augen mit einem gekünstelt harten Blick, der Claude amüsierte.

»Was ist los?«, fragte er.

»Nichts«, gab Mahmout patzig zurück. »Kommt ja schließlich nicht jeden Tag vor, dass man verhört wird.«

»Also, hast du jetzt Zeit oder nicht? Komm, du brennst ja nur darauf, mehr zu erfahren.«

»Ist mir doch egal. Ich kann ja nichts dafür, dass die Kids entführt wurden.«

»Los, dahinten ist eine Brasserie, da können wir reden.«

»Na gut.« Mahmout gab sich geschlagen und folgte Claude in einem Meter Abstand, sodass der sich vorkam wie ein Patriarch, der seiner ehrfürchtigen Familie voranschreitet.

Claude fragte sich indessen, ob das, was er jetzt vorhatte, wirklich sinnvoll war. Ein Name auf einem Zettel, das war nur eine vage Verbindung. Sollte er nicht lieber Amélie zur Seite stehen, sich den erneuten Suchtrupps anschließen oder bei der Vernehmung der Seminaristen behilflich sein? Doch bislang war er, abgesehen von Pfarrer Flabert, der Einzige, der einen Blick auf den Verdächtigen geworfen hatte, wenn auch nur von hinten. Der Pfarrer hatte eine Beschreibung abgeben können, die allerdings nur zu einem recht nichtssagenden Phantombild geführt hatte. Doch selbst die kleinste Spur musste verfolgt werden, rechtfertigte sich Claude.

Kurze Zeit später saßen sie an einem wackeligen Tisch im Gastraum der Brasserie, in der es nach Zigarettenrauch roch. Mahmout hatte per Handschlag einige seiner Kumpel begrüßt, die ihm auf der Straße begegnet waren. Indem er Claude vorausgehen ließ, gelang es ihm, zu verschleiern, dass er in Begleitung unterwegs war. Sicherlich war es ihm peinlich, von einem Fremden herumkommandiert zu werden.

»Nein, so einen kenne ich nicht. Das kann ja jeder sein«, befand der junge Mann, als Claude ihm den mutmaßlichen Entführer in groben Zügen beschrieb: alter Hut, helles, kurzes Haar, jedenfalls am Hinterkopf, schäbiges Jackett, mittelgroß, schlank.

»Klingelt es nicht bei dir? Vielleicht dein Friseur, der den Termin notiert hat? Dein Sachbearbeiter beim Sozialamt? Hast du einen Bewährungshelfer? Hast du irgendwelche Besuche klargemacht für die nächsten Tagen? Oder hast du Termine gehabt in den letzten Tagen?«

»Nein, Mann, das sagte ich doch schon. Mir fällt nichts ein.«

»Neue Freunde kennengelernt?«

Mahmout schüttelte den Kopf.

»Dabei hatte ich ihn schon in den Fingern, und dann ist er mir trotzdem entwischt«, seufzte Claude und spielte mit einem Bierdeckel. Der Himmel hatte sich bewölkt, sodass es im tristen Innenraum schummerig wurde. Der Wirt knipste die Thekenbeleuchtung an, die die Flaschen und Gläser gelblich schimmern ließ …

»Echt jetzt?« Mahmout beugte sich vor, und Claude erzählte vom unbekannten Kirchgänger, der seine zweite Forderung hinterlassen hatte. Anstatt Verständnis zu zeigen, schlug Mahmout sich auf den Schenkel und lehnte sich grinsend zurück.

»Mann, du bist zu alt für solche Sachen.«

»Wohl kaum. Der Kerl ist wahrscheinlich noch älter als ich gewesen, so war jedenfalls mein Eindruck. Und der war flink wie ein Wiesel, ich hatte keine Chance.«

»Du hast dich blöd angestellt, Alter. Ich hätte ihn abgeknallt.«

»Hallo? Ich bin Privatdetektiv, kein Bulle!«, verteidigte sich Claude. »Der anwesende Bulle hat übrigens auch zu spät geschaltet.«

»Hast du denn keine Lizenz für eine Knarre? Was bist du denn für ein Detektiv?«

Gute Frage, dachte Claude und presste seine Lippen aufeinander. Mahmout schaukelte auf seinem Stuhl, die Hände in den Hosentaschen.

»Aber was willst du jetzt von mir?«, fragte Mahmout ein wenig ungeduldig.

»Hör zu, da du zu dämlich bist, dir Gesichter zu merken, muss ich dich jetzt wohl täglich begleiten. Irgendwann wirst du mit diesem Kerl zusammentreffen, und ich werde es wissen. Ich gehe dahin, wohin auch du gehst, ganz wie ein treues Paar.«

Bei diesen Worten zog Mahmout seine Hände aus den Taschen und sprang auf. »Du Spinner, das ist ja wohl nicht dein Ernst!«

Ein kleines Papiertütchen war ihm aus der Hosentasche gefallen und auf dem Tisch gelandet. Claude klatschte seine Hand auf das Päckchen, bevor Mahmout ihn daran hindern konnte. Er zog den Fund zu sich heran und lugte unter seine Finger.

»Was haben wir denn hier? Gras? Kokain?«

»Gib her, Mann, das geht dich gar nichts an.« Mahmout stand vor ihm und drehte sich kurz zum Kneipier herum, doch dieser gab die drei Affen – nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Mahmout zitterte vor Erregung, ballte die Hand zur Faust und strich sich dann in einer Verlegenheitsgeste durch das lockige Haar. Klarer Fall, dachte Claude. Mahmout fürchtete sich, ihn körperlich anzugreifen, obwohl er doch so gern einen auf cool gemacht hätte.

»Willst du es wiederhaben? Was würdest du dafür tun?«

»Ja, Mann, ich brauche das. Ist doch nur ein bisschen Gras.«

»Etwas zu viel für den Eigenbedarf.« Claude schaute noch einmal unter seine Hand, dann schob er großzügig das Beutelchen von sich.

»Wie haben wir uns jetzt geeinigt?«, fragte er herausfordernd.

»Gar nicht«, zischte Mahmout und steckte das Zeug mit einer hastigen Bewegung ein.

»Du, mein Freund ist Bulle, und er weiß noch nichts von dir und deiner Verbindung zum Täter. Es wäre vielleicht besser, ich halte ihn auf dem Laufenden.«

Claude stand auf und zog sein Portemonnaie heraus, um die Zeche zu bezahlen, die aus einem lausige Kaffee und Mahmouts warmer Cola bestand.

»Dann bis später. Kommissar Lambert wird sich bei dir melden«, sagte er zu dem Jungen, der perplex dastand. Als Claude schon an der Tür war, fühlte er eine Hand auf seiner Schulter.

»Nein, Monsieur … ähm …«

»Bocquillon. Du kannst mich Claude nennen. Wir sind doch jetzt ein Team, nicht wahr?«

Er legte dem Jungen einen Arm um die Schultern, um ihm in die Augen zu sehen. Mahmout senkte seinen Blick und rutschte unwohl aus dem Griff heraus.

»Ja. Ok, ich bin einverstanden. Aber nicht bei mir zu Hause, verstanden? Ich will keinen Ärger mit meinem Vater und meinem Bruder.«

»Der große Bruder«, grinste Claude.

»Woher weißt du das?«

»Ich habe mit ihm telefoniert. Er denkt, ich bin einer von euch.«

»Einer von uns«, schnaufte Mahmout. »Wer sind wir denn?«

Seine Worte klangen resigniert. »Wer von euch will schon was mit uns zu tun haben?«

»Ich.«

Claude versuchte, freundlich zu sein. Mahmout schaute ihn an und schüttelte den Kopf.

»Wenn du nicht den Zettel gefunden hättest, wäre ich dir scheißegal.«

»Ja, wahrscheinlich.«

Mahmout verdrehte die Augen. »Du bist wenigstens ehrlich.«

Claude vermutete, dass der junge Mann bereits viel Heuchelei und Ablehnung erfahren haben musste – ein Arbeitsloser mit algerischen Wurzeln, der vielleicht schon mal den Knast von innen gesehen hatte.

»Du hast keine Arbeit?«

»Die Schule war nicht so mein Ding«, erklärte Mahmout, als sie gemeinsam auf die Straße traten.

»Was ist denn dein Ding?«, wollte Claude wissen. »Drogenhandel? Hast du schon mal gesessen?«

Mahmouts Blick wurde treuherzig, ja, irgendwie traurig. »Hab nur Bewährung gekriegt«.

Dann machte er seinem Unmut mit einer ausholenden Handbewegung Luft. »Mann, ist doch nur was zum Rauchen, da stirbt doch keiner dran. Das ist echt bescheuert!«

»Du hast recht. Ich habe mir früher auch öfter mal ’ne Tüte gegönnt.«

Mahmout zog nur seine Augenbrauen in die Höhe und schnaufte erneut, sodass Claude nicht punkten konnte. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke bis ans Kinn. Es war kalt geworden.

»Wie geht es jetzt weiter?«

»Ich gebe dir meine Telefonnummer. Überleg dir eine Ausrede, die meine Anwesenheit erklärt. Ich muss all deine Kontakte kennenlernen. Wir müssen diesen Scheißkerl treffen.«

Mit einem niedergeschlagenen Ausdruck im Gesicht nickte Mahmout und ging seiner Wege. Seine schlanke Gestalt verschwand bald im Hauseingang.

* * *

»Und du hast dich von ihm um den Finger wickeln lassen?«, zischte Amélie. Dieses Mal war nicht Catherine das Ziel ihres Zorns, sondern Claude. Sie warf das Spültuch auf die Arbeitsplatte und schlug Claude auf die Finger, der gerade ein Crostini, aus dem fast das Olivenöl tropfte, vom Tablett naschen wollte. Er beschloss, in Zukunft wieder mehr Zeit am Herd zu verbringen.

»Ja, so ist es. Er ist ein netter Kerl.«

»Da habe ich etwas anderes gehört.«

»Amélie, du kennst doch deinen Schwager, oder nicht? Wie kannst du nur schlecht von ihm denken? Deine Schwester dagegen …«

»Was?«, fragte Amélie, als er eine Weile schwieg.

»Nun ja, die hat Haare auf den Zähnen.«

»Pah! Ich habe dich nicht engagiert, damit du meiner Familie hinterherschnüffelst.« Sie brachte das Tablett vor ihm in Sicherheit. »Wo warst du überhaupt die ganze Zeit?«

»Ich habe ermittelt, Amélie. Nicht nur bei Antoine.«

»Weißt du etwa mehr als Frédéric? Wo ist der eigentlich?« Entnervt ließ sie sich am Küchentisch nieder. »Keiner meldet sich bei mir, ich sitze hier auf heißen Kohlen. Ach Claude, es ist so schrecklich …« Sie legte den Kopf in die Arme. »Wenn ich mir vorstelle, was Nathalie vielleicht gerade erlebt, wenn es dieser Kerl war …«, sagte sie zur Tischplatte. Claude trat hinter sie, beugte sich hinab und küsste sie auf den Scheitel. Sie richtete sich auf und ließ ihren Kopf an seinen Bauch fallen. Er massierte ihre Schultern.

»Ich kann nicht glauben, dass es dieser Typ war. Und ich fühle mich echt blöd, weil ich dir nicht helfen kann. Jedenfalls nicht auf der Stelle.«

»Du hilfst mir schon, wenn du da bist.« Sie drehte sich auf dem Stuhl um und schmiegte sich enger an ihn. Ihre Arme lagen um seine Hüften, und er fühlte sich recht wohl dabei. Nun waren sie auf eine etwas unbequeme Weise miteinander verbunden und rührten sich eine Weile nicht. Amélie atmete ruhiger und wischte ihre feuchten Augen an seinem Hemd ab. Dann blickte sie zu ihm auf.

»Du hast nicht zufällig Lust, mit mir zu schlafen?«, fragte sie. Claude erschrak, doch er rührte sich nicht von der Stelle. Dann erwiderte er: »Du weißt, dass man das Angstvögeln nennt, nicht wahr?«

Da lachte Amélie auf und verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse. Claude konnte nicht lachen. Er ahnte, was jetzt folgen würde. Tatsächlich perlten Tränen an ihren Wangen hinab, und sie begann zu schluchzen. Eine verzweifelte Situation, die er in seiner leichtsinnigen Art provoziert hatte. Um sie zu beruhigen, zog er sie auf die Beine. »Komm, Amélie, leg dich etwas hin. Es tut mir leid, ich wollte dich nicht traurig machen.«

»Aber, aber … du hast ja recht«, gab sie zu und ließ sich ins Schlafzimmer führen. Doch als sie sich gerade hinlegen wollte, gab die inzwischen von Lambert reparierte Klingel ihren vollen Ton von sich. Amélie seufzte und drückte auf den Öffner. Nach den schnellen Schritten auf der Treppe zu urteilen, war Catherine im Anmarsch. Schon auf dem letzten Abschnitt leuchtete der Triumph aus ihren Augen.

»Salut, Amélie.« Die beiden Wangenküsse waren eine Sache von einer Sekunde. »Hör mal, ist dein Detektiv da? In seiner Wohnung ist er nicht.«

Als Claude in den Flur trat, weiteten sich ihre Augen und sie setzte ein höfliches Lächeln auf.

»Bonjour, Monsieur Bocquillon, ich hoffe, Sie nehmen mir mein Betragen nicht mehr übel. Die Angst, wissen Sie …«

»Sie wollen zu mir?«, fragte Claude mit einer so neutralen Stimme, dass Amélie ihn verwundert anschaute.

»Ja. Sie haben vielleicht gehört, dass mein Mann angegeben hat, er hätte an jenem Tag seinen Hintern nicht aus der Wohnung bewegt.«

Claude ließ sich seine Abscheu nicht anmerken.

»Leider habe ich nicht mitbekommen, wo Sie zu der Zeit gewesen sind.«

»Ach, das tut nichts zur Sache«, wiegelte Catherine ab. »Aber schauen Sie, ich habe etwas in seinem Wagen gefunden.«

»Sie waren bei ihm?«, fragte Claude verblüfft.

»Nein, ich wollte nur noch ein paar CDs aus seinem Wagen holen, die mir gehören. Es ist ein dunkelblauer Audi, und ich habe noch den Schlüssel.« Sie seufzte. »Das ist das Einzige, was mir wirklich fehlen wird – so ein tolles Auto.«

»Kommen Sie doch herein«, sagte Claude und hielt die Wohnzimmertür auf, als wäre er Herr des Hauses. Die zwei Schwestern setzten sich nicht zusammen auf das Sofa, sondern nahmen getrennt Platz. Catherine kramte in ihrer Handtasche und zog einen kleinen Zettel heraus.

»Hier, sehen Sie.«

Claude nahm ihr einen Kassenbon aus der Hand. Er stammte aus einem Schuhgeschäft in Anduze, eine gute Adresse, die Qualitätsware führte.

»Sehen Sie Datum und Uhrzeit? Er war am Tag der Entführung in Anduze und hat sich ein Paar Turnschuhe und ein Paar Hausschuhe gekauft. Er geht manchmal zum Tennis, daher die Turnschuhe, aber Nathalies Hausschuhe, nun ja, Amélie, du weißt ja selbst …«

Amélie nickte. »Ja, Claude. Die Pantoffeln sind ihr längst zu klein. Sie braucht neue.«

Claude drehte den Kassenbon hin und her. Der weiße Zettel schien ihm so unschuldig zu sein.

»Und den haben Sie in seinem Auto gefunden.«

»Ja.«

»Und Sie glauben, die Pantoffeln sind für Nathalie, die bei ihm ist.«

»Ja.« In diesem Wort lag ihre ganze Befriedigung. Sie lehnte sich zurück und umarmte ihre Handtasche.

»Und warum bringen Sie den Bon nicht der Polizei, sondern mir?« Was immer es auch war, was sie hergetrieben hatte – sie hatte nichts Gutes im Sinn.

»Weil Sie besser nachforschen können. Sie haben keinen Ausweis, keine Marke, Sie sind eher so der Kumpeltyp. Antoine ist nicht sehr misstrauisch und auch nicht sehr schlau, das sehen Sie ja selbst.«

»Und ich soll ihn nun fragen, ob er mit mir und seinen neuen Turnschuhen zum Tennisspiel geht?«, lächelte Claude.

»Hach, Amélie! Ist der immer so schwerfällig? Mein Gott, ich dachte, sie wären ein ausgebuffter Fuchs!«

Amélie versuchte angestrengt, die Nerven zu behalten. »Catherine, er macht das schon. Schließlich habe ich ihn ja engagiert.«

»Sehen Sie nach, ob Antoine die Kleine bei sich hat oder nicht. Das ist alles, was ich von Ihnen erwarte.«

»Na schön, ich mache einen auf Kumpel, trinke ein paar Gläser Wein mit ihm, und wenn ich zur Toilette gehe, durchsuche ich unterwegs die Zimmer.«

»Ist mir egal, wie Sie das machen.« Catherine stand auf. »Dann wäre wohl alles gesagt. Bringen Sie mir nur schnell mein Kind zurück.«

Claude erhob sich ebenfalls von seinem Sessel. »Das Geschäft hat geschlossen, dort kann ich heute nicht mehr nachfragen.«

»Meinetwegen.«

Mit diesem Wort rauschte sie hinaus. Ihre Schwester folgte ihr auf dem Fuß, und bald darauf hörte Claude die Wohnungstür. Als Amélie mit gekreuzten Armen am Türrahmen lehnte und an ihrer Unterlippe nagte, hatte Claude den Kassenbon bereits aus seinem Gedächtnis gestrichen. Er ging zu ihr hin und strich ihr über die Wange.

»Wo waren wir stehengeblieben?«

»Sie ist schrecklich. Womit habe ich das verdient?«

»Was meinst du?«

»Na, wie sie mich behandelt. Jeder Blick, jede Geste zeigt mir: Du bist schuld, du allein. Ich halte das nicht mehr aus, Claude. Was soll ich nur tun?«

»Du wolltest dich doch ausruhen. Mach ein Nickerchen, und ich bleibe bei dir, bis du eingeschlafen bist.«

»Ach, Claude … gut, dass ich dich habe.«

Im Schlafzimmer angekommen, legte sie sich brav auf das Bett, das mit aprikosenfarbener Bettwäsche bezogen war. Claude nahm die Decke und legte sie über Amélie. Sie hatte die Augen geschlossen und sah in ihrem Kummer so hübsch und mitleiderregend aus, dass er sich einen Ruck gab. Nur ein bisschen festhalten, das schaffst du schon, ermunterte er sich und kroch an Amélies Seite. Als sie seine Nähe bemerkte, rückte sie beiseite und kuschelte sich an ihn. In aller Keuschheit ruhten sie nebeneinander. Amélie legte die Hand auf seine Brust, und er erinnerte sich an die letzte Frau, mit der er im Bett gelegen hatte. Das war nicht seine Mutter in seiner Kindheit gewesen, nein, er hatte durchaus in seiner Jugend Mädchen geliebt. Damals, als er sich noch nicht über seine Gefühle klar gewesen war, in der Zeit des Suchens und Probierens, des krampfhaften Einprügelns der richtigen Verliebtheit. Wie dumm war er gewesen. Und doch fühlte er sich jetzt wohl. Ein Körper war ein Körper, ob nun männlich oder weiblich – er war warm und weich, wie Amélie eben. Das regelmäßige Atmen hatte sie einschlafen lassen, und als sie zu zucken begann, stellte Claude die Betrachtung der hellen Tapeten, der frischen Schnittblumen in der Vase und der cremefarbenen Schränke ein und gab der trägen, nachmittäglichen Schläfrigkeit nach.

Als er aufwachte, spürte er zwei Hände, die ihn an den Armen aus dem Bett hinaushieven wollten. Frédérics Blick war eiskalt, sein Mund zu einer dünnen Linie zusammengepresst.

»Was tust du hier?«, zischte er leise, um Amélie nicht zu wecken. Auf der Stelle kam Claude zu sich und schob die Decke fort.

»Und du? Verdammt, hast du einen Schlüssel?« Er sprang aus dem Bett heraus und schubste Frédéric zurück.

»Damit hast du wohl nicht gerechnet, was?«

Beide warfen einen Blick auf Amélie, die tief und fest schlief. Auf Zehenspitzen huschten sie hinaus. Kaum war die Tür geschlossen, baute Lambert sich vor Claude auf.

»Hast du doch was mit ihr? Hast du mich hinters Licht geführt? Ich sagte dir, ich breche …«

»Ja, jeden Knochen, ich weiß«, gab Claude zurück und ging voran in die Küche. Er hoffte, dass seine Wangen nicht rot angelaufen waren aus Verlegenheit, in einer fast eindeutigen Situation ertappt worden zu sein.

»Also, was war das jetzt?«

Claude platzte der Kragen. Er warf das Crostini, das er gerade essen wollte, wieder auf das Tablett.

»Bin ich nackt? Ist Amélie nackt? Siehst du irgendwo ein Kondom an mir? Und selbst wenn, mein Lieber, wo ist denn das Problem? Bist du mit ihr verlobt?«

Frédérics Lippen zuckten, er ballte die Hand und entspannte sie wieder. Dann trat er vor den Türrahmen und setzte sich auf den gleichen Stuhl, auf dem Amélie vorhin gesessen hatte.

»Jetzt zügle mal dein Testosteron, Frédéric. Amélie hat dich vermisst, sie war den ganzen Tag allein mit ihren quälenden Gedanken.«

»Ja, und dann hast du sie getröstet.«

»Genau das habe ich getan. Ich war eben eher hier als du.« Claude grinste, sodass Lambert mit einem Seufzer zu sich kam.

»Beim nächsten Mal bin ich eher hier«, sagte er und kniff seine Augen zusammen.

»Es sei dir gegönnt. Was gibt es Neues?«

»Wir haben einen ehemaligen Dozenten ausfindig gemacht, der in Sauve wohnt. Würdest du eben für mich hinfahren und ihn befragen? Vielleicht kennt er jemanden, der mit dem Zölibat nicht klarkam oder irgendwie anders durchgeknallt ist. Krieg mal heraus, was das überhaupt für Typen sind, die eine solch fromme Uni besuchen.«

»Und was machst du?«

Mit einem süffisanten Lächeln gab Lambert zurück: »Ich vernehme die zwei Absolventen, die noch in der Gegend wohnen.«

»Von denen, die ich gefunden habe? Klar, du heimst Erfolge ein, und mich schickst du weg.«

Lambert nickte und warf ihm seinen Autoschlüssel zu. »So ist es. Ich habe mich beim Gericht erkundigt, wegen des Sorgerechts für Nathalie. Die vorsitzende Richterin sagt, dass sie sehr unentschieden sei.«

»Also können wir von daher noch kein Motiv für eine Entführung durch den Vater erkennen.«

»Du warst auch bei ihm, habe ich von ihm gehört. Da warst du wieder einmal schneller.«

»Scheint eine Angewohnheit von mir zu sein.«

Lambert beugte sich vor. »Aber nicht mehr lange. Wenn du mir in die Quere kommst, kenne ich keine Gnade. Da kann auch Amélie dich nicht mehr in Schutz nehmen.«

»Ach, ihr zwei«, hörten sie einen Seufzer. Amélie stand mit verstrubbeltem Haar im Flur, ohne Schuhe, und rieb sich über die Arme.

»Dreh mal die Heizung höher, Frédéric, mir ist kalt.«

»Nimm doch Claude, der wärmt dich«, sagte der Kommissar verärgert.

»Aber Fredy«, säuselte sie und strich ihm über das Stoppelhaar. »Nun sei doch nicht böse. Schön, dass ihr zwei euch mal wieder streitet – ich hatte es direkt vermisst.«

Sie goss Wasser in eine Kanne und setzte Kaffee auf. Regentropfen schlugen an die Fensterscheibe.

»Gibt es etwas Neues?«, fragte sie und holte Tassen aus dem Schrank. Claude hatte jedoch keine Lust, einen auf gemütlich zu machen, während Lambert am Tisch saß.

»Ich muss noch nach Sauve. Ihr kommt ja allein zurecht, nicht wahr?«

»Ja, Claude«, antwortete Lambert. »Wir sind schon groß.«

* * *

Gendarm Bertin war höchstpersönlich mit Joberton sowie zwei abkommandierten Kollegen aus Alès von Haus zu Haus gegangen und hatte alle Anduzer, derer er habhaft werden konnte, zum Phantombild befragt. Die einen kannten ihn als Kunden des Supermarktes, die anderen glaubten, ihn schon einmal als Mitarbeiter einer Behörde gesehen zu haben. Es ist eben ein Allerweltsgesicht, dachte Bertin und legte seine gesammelten Notizen auf Jobertons Schreibtisch, damit der Kollege sie später ins Reine schrieb. Die Männer, die noch einmal in der Stadt auf die Suche gegangen waren, hatte er nach Hause geschickt, denn Lambert ging nicht davon aus, dass die Kinder hier in Anduze versteckt waren.

Als die Tür sich öffnete und Claudes Gesicht hineinlugte, brummte Bertin missmutig.

»Du hast mir gerade noch gefehlt.«

»Bonjour, Jean, ich brauche nur die Adresse dieses Dozenten in Sauve. Frédéric hat vergessen, sie mir zu geben, weil er so fasziniert war von Amélies Anblick.«

»Er ist manchmal ein Idiot.«

»Ja, natürlich, daher komme ich zu dir.«

Bertin kramte in seinen Papieren. »Monsieur Tallier wohnt in der Rue de l’Eglise Neuve Nummer drei. Die liegt in der Altstadt.«

Claude freute sich – er liebte das beschauliche Zentrum von Sauve fast ebenso wie die Anduzer Innenstadt.

»Habt ihr noch etwas erfahren?«

Bertin schüttelte den Kopf. »Nein, nichts, was man für eine Spur halten könnte. Wir wollten das Fahndungsbild erst in der Presse veröffentlichen, aber solange das Geld nicht übergeben ist, wäre das zu gefährlich für die Kinder. Uns bleibt keine andere Wahl, als abzuwarten.«

»Vielleicht gibt er sich die Blöße während der Übergabe. Die war noch mal wann?«

»Claude«, sagte Bertin gedehnt. »Von mir erfährst du nichts.«

»Haben die Mitarbeiter des Zoogeschäfts in Alès ihn nicht erkannt?«

»Sie waren sich nicht sicher. Und selbst wenn – sie hätten ja keine Adresse für uns gehabt, geschweige denn einen Namen.«

»Denkst du denn, dass es ein Fanatiker ist? Oder vermutest du einen anderen Hintergrund?«

Bertin zuckte die Schultern. »Beim jetzigen Stand kann alles in Betracht kommen. Lambert und seine Leute favorisieren eher die Version mit dem verrückten Pädophilen, also einem Mann, der die Kinder missbraucht und uns seine Macht spüren lassen will. Sie glauben nicht, dass es katholische Fanatiker gibt.«

In diesem Moment hätte Bertin sich am liebsten die Hand vor den Mund geschlagen, doch es war zu spät. Claude plusterte sich auf und schimpfte drauflos: »Ach, es läuft also wirklich so. Ihr wertet eure besten Spuren aus, und mir gebt ihr den Müll. Das habe ich mir doch gedacht!«

»Du spinnst ja! Die Befragung ist wichtig. Lambert hat doch auch zwei Absolventen dieser Uni zu vernehmen«, wehrte sich der Leutnant. Doch Claude winkte ab: »Hör schon auf, ich weiß jetzt Bescheid. Sag mir wenigstens etwas über das Alibi von Nathalies Mutter.«

»Nein, das werde ich nicht.«

Claude trat einen Schritt nach vorn.

»Doch, das wirst du, sonst mache ich noch ganz andere Dinge, um euch zu ärgern.«

Bertins Augen funkelten vor Zorn. Dann sagte er: »Ich sage nur, dass es bombensicher ist, das Alibi. Wir haben es überprüft.«

Claude beruhigte sich. »Schade. Also, dann sucht ihr mal weiter nach eurem Pädophilen. Nathalie passt da allerdings nicht rein.«

»Hm, nur weil ihre Kleidung auch verschwunden ist?«, fragte Bertin.

»Sie hätte nie für einen Fremden die Klamotten gepackt und wäre mitgegangen. Ein Kind, das mir vors Schienbein tritt, ist nicht unbedingt so vertrauensselig.«

Bertin grinste. »Der Vater hat kein Alibi, er könnte es gewesen sein – nur warum?«

»Ja, es wäre blöd. Es würde die Aussicht auf das Sorgerecht zunichte machen«, sagte Claude nachdenklich.

Bertin zuckte die Schultern. »Ich bin froh, dass ich nicht jeden Tag mit so etwas zu tun habe. Und jetzt los, Claude. Auch wenn du denkst, dieser Dozent wäre unwichtig – wir brauchen seine Einschätzung. Ich habe ihn eben angerufen, er ist zu Hause.«

»Bin ja schon weg.«

Claude verließ das Büro. Als er Joberton beim Kopierer im Flur stehen sah, schlich er langsam an dessen Schreibtisch vorbei und schob eine Akte beiseite. Eine Porträtzeichnung schaute ihn an: ein nichtssagendes Gesicht eines harmlosen Lehrers oder Beamten. Claude nahm sein portable und machte ein Foto von der Zeichnung. Dann verließ er das Gebäude durch die Hintertür. Es war das erste Mal, dass er hier quasi als Ermittler parken durfte. Was tat Lambert nicht alles, um ihn sich vom Hals zu schaffen. Aber sein Wagen ist wirklich schick, dachte er und steuerte den Renault auf die Hauptstraße. Im Fußraum des Beifahrersitzes sah er eine Rundumleuchte, die man auf das Dach setzen konnte. Es zuckte ihn in den Fingern, doch das Blaulicht hätte ihm nur Scherereien gebracht. Er verließ die Stadt, fuhr am Gardon entlang und bog nach Tornac ab. Der vorhin gefallene Regen glänzte noch in der Abendsonne, doch es war so kühl, dass er die Heizung höher drehte. Die Felder waren bestellt und vorbereitet für das nächste Erntejahr. Die immergrünen Macchienflächen trösteten über den herbstlichen, kargen Anblick der Landschaft mit ihren laublosen Bäumen hinweg. Das Weinlaub über den Toreinfahrten einiger Häuser in Durfort leuchtete in vielfältigen Rottönen.

In Sauve angekommen, stellte Claude den Wagen auf dem Parkplatz an der Vidourle ab und überquerte die Brücke. Am Ufer stiegen die schmalen, alten Häuser dreistöckig in die Höhe. Die Reste der Wehranlage lugten hier und dort zwischen ihnen hervor. Claude geriet ins Schnaufen auf dem Weg in die höher gelegene, honiggelbe Altstadt. Er spazierte durch die überbauten, alten Gassen und sah sich auch auf dem Kirchplatz um, von dem aus man einen weiten Blick über den Fluss hatte. Autos parkten in der Nähe sowie ein Quad. Er fragte einen älteren Mann, der einen Helm in der Hand trug, nach dem Weg. Dieser gab ihm ausreichend Antwort. Als Claude sich unterwegs noch einmal umdrehte, sah er noch die Gefährtin des älteren Herren, eine grauhaarige Dame, die sich ebenfalls einen Helm aufsetzte. Interessiert blieb Claude stehen und schaute dem Rentnerehepaar zu, wie es nacheinander auf das Quad kletterte. Der Motor röhrte auf, und gewandt lenkte der Fahrer das Geländefahrzeug in die richtige Richtung, bevor es durch die gepflasterten Straßen davonbrauste. Claude grinste und schüttelte den Kopf. So waren sie, die Cevenolen.

Nachdem Claude zwei steile Holztreppen erklommen hatte, öffnete sich eine Wohnungstür, und ein großgewachsener, hagerer Mann in dunkler Kleidung winkte ihn herein.

»Bonjour, Monsieur, treten Sie doch ein. Man hat mir schon Bescheid gegeben, dass Sie kommen, auch wenn der Anlass ein trauriger ist.«

»Merci«, sagte Claude, dem die angenehme Stimme aufgefallen war, trainiert durch lange Reden in den Hörsälen und Predigten in gut besuchten Kathedralen. In einem mit dickem Teppich ausgelegtem Salon ragten an zwei Wänden wohlgefüllte Bücherregale empor. Ein Schreibtisch stand am Fenster, das den Blick auf einen in gleicher Höhe liegenden Garten freigab. Im Hintergrund war eine Turmruine zu sehen.

»Danke, Monsieur Tallier, dass Sie mich empfangen«, sagte Claude höflich und nahm Platz. Der Sessel war ausgesprochen bequem, und mit einem Mal konnte Claude sich vorstellen, wie ein Gelehrter hier zu sitzen, einen Tee zu trinken und schwierige Theorien zu wälzen, die einem der liebe Gott durch den bloßen Blick auf den blühenden Garten eingeben würde. Momentan ließen die Sträucher und Stauden jedoch ihre regennassen Zweige hängen.

»Entschuldigen Sie, wenn ich frage, aber sind Sie eigentlich ein ordinierter Priester?«

Monsieur Tallier nickte und lächelte.

»Ja, vor vierzig Jahren empfing ich die Priesterweihe, doch in der Rangordnung hat sich nicht viel getan bei mir. Ich wollte immer nur unter jungen Menschen sein und sie lehren. Da ich einen Doktortitel und eine Professur erhalten habe, kann ich sagen, dass mein Lebensziel sich erfüllt hat.«

»Umso schwerer ist es, sich schließlich zurückziehen zu müssen.«

Der Professor breitete seine Hände aus. »Man wird müde, Monsieur Bocquillon, man wird müde.«

Nachdem Claude den angebotenen Kaffee ausgeschlagen hatte, begann er, von den Forderungen des Entführers zu erzählen. Er schilderte den Sachverhalt, gab die bisher verfolgten Theorien an und zog als Höhepunkt seiner Ausführungen eine Kopie des ersten Briefes hervor, die der Professor mit Neugier las. Dann gab er das Blatt zurück und sagte:

»Nun, leider sind sowohl die Bibel als auch andere religiöse Schriften voll von Zitaten, Ausdrücken, Thesen und Sprüchen, sodass man nicht lange suchen muss, um den richtigen zu finden. Doch dieser Auszug hier, der kommt nicht oft vor in der Öffentlichkeit, und man muss schon etwas tiefer in den Weiten des Internets wühlen, um ihn zu finden.«

Claude war baff. Ihm war noch nie der Gedanke gekommen, dass die katholische Kirche sich des Internets bedienen konnte.

»Der erste Satz stammt aus einer Meditation zur Bamberger Apokalypse, und die kennt nur jemand, der sich für Theologie interessiert.«

Bingo! Claude lehnte sich zufrieden zurück.

»Die Kollegen von der Kriminalpolizei glauben allerdings an einen pädophilen Aspekt mit dem Versuch, falsche Spuren zu legen.«

Monsieur Tallier wiegte seinen Kopf und legte die Finger zusammen. »Ein ganz schöner Aufwand für einen Pädophilen.«

»Glauben Sie, dass es hier überhaupt katholische Fanatiker gibt?«

»Ja, die gibt es, aber normalerweise nicht in dieser radikalen Ausrichtung, wie es hier der Fall zu sein scheint. Ich denke, der Täter hat oder hatte mit der Kirche zu tun, doch in seinem Leben findet er nicht die Gottesfürchtigkeit vor, die ihm angemessen und richtig erscheint, gerade hier in den protestantischen Cevennen. Und nun will er einen gewissen Ausgleich in Form von Geld, aber das steht vielleicht nicht im Vordergrund.«

»Welche Frömmigkeit halten Sie für angemessen?«

»Die, die uns ein gutes Gewissen beschert.«

Claude schwieg und dachte nach. Dann sagte er: »Das ist einfach.«

»Ja, Gottes Lehre ist einfach. Die zehn Gebote sind einfach. Das Leben Jesu Christi war einfach und zielgerichtet. Wir Menschen sind es, die es sich gegenseitig schwer machen.«

»Das ist irgendwie naiv«, gab Claude zu bedenken.

»Was ist schlimm an der Naivität?« Der Professor ließ sich offenbar nur zu gern auf Diskussionen ein. Claude fühlte sich etwas unwohl unter dessen freundlichem, aber herausforderndem Blick. Dies war nicht sein Gebiet, doch tapfer antwortete er: »Sie verschleiert den Blick auf die Wirklichkeit.«

»Glauben Sie mir, man kann jeden Umstand, jedes Ereignis und jeden Schicksalsschlag mit den Augen eines Naiven sehen und doch mit beiden Beinen in der Wirklichkeit stehen.«

Claude biss sich auf die Lippe. War das eine Beschreibung von ihm selbst? Es würde nur zu gut zu seinem Leben passen. Der Theologe fuhr fort: »Dieser Mann hat … nun, schräge Vorstellungen. Er nimmt den Ausdruck ›Kinder des Lichtes‹ wörtlich. Er entführt Kinder, um sie dem Zugriff des Teufels zu entziehen und dafür zu sorgen, dass sie das Heil Gottes erlangen.«

»Was stellt er Ihrer Meinung nach mit ihnen an?«, fragte Claude und beugte sich gespannt vor.

»Nun ja«, überlegte Tallier und zog die buschigen Augenbrauen hoch. »Da gibt es viele Möglichkeiten. Er muss durchdrungen sein von einem Wahn. Er muss den Wahn irgendwo ausleben. Vielleicht hat er ein Versteck, in dem er alles seinem Ziel gewidmet hat.«

»Was für ein Ziel hat er? Und gab es wohl einen Auslöser für seine Tat?«

»Rache für erlittenes Unrecht, vielleicht war er selbst ein Missbrauchsopfer. Durch das, was den Menschen teuer ist, die Kinder nämlich, hat er Macht über sie. Er kann ihnen nun befehlen, was sie zu tun haben.«

»Das Briefpapier und diese Sätze in den Briefen implizieren, dass ihm der katholische Glaube also wirklich wichtig ist. Was könnten dann seine Forderungen sein, abgesehen von dem Geld?«

»Vielleicht hat er sich in den Kopf gesetzt, die protestantische Enklave in den Cevennen zu bekehren. Die Messe soll ausfallen und so weiter. Das ist erst der Anfang. Er könnte fordern, die protestantischen Pfarrer zu entlassen, den Schulunterricht strenger auszurichten und so weiter. Und einen Auslöser? Ja, den muss es gegeben haben. Sie beschreiben ihn als einen Mann mittleren Alters, nicht wahr?«

Claude nickte.

»Dann muss ihn ein Erlebnis vor kurzer Zeit oder ein Umstand dazu angetrieben haben.«

»Tut er den Kindern etwas an?«

»Wen Gott liebt, den züchtigt er. Hebräerbrief.«

Claude lief eine Gänsehaut über den ganzen Körper.

»Monsieur Tallier, die Briefe des Entführers kommen eindeutig aus Issy-les-Moulineaux. Kennen Sie jemanden unter Ihren ehemaligen Stundenten, dem Sie so etwas zutrauen würden? Vielleicht einen verbitterten Studenten, der sein Studium abgebrochen hat? Oder einen besonders ehrgeizigen Studenten?«

»Ehrgeizig waren sie alle. Je besser die Abschlüsse, desto größer die Aussichten auf eine Karriere bis in die höchsten Kirchenränge. Die Kirche sucht händeringend Nachwuchs.«

Der Professor fuhr fort: »Schade, dass Raoul Prisuc vor zwei Wochen gestorben ist. Er hätte Ihnen vielleicht eine aktuelle Auskunft geben können.«

»Wer ist das? Auch ein Dozent?«

»Ja, er war bis kurz vor seinem Tod Gastprofessor dort. Aber er war ein guter Menschenkenner und ein brillanter Theoretiker. Sein Tod kam plötzlich und zu früh.«

»Das tut mir leid«, bedauerte Claude. »Ihnen fällt also auf Anhieb niemand ein?«

»Nein, aber wenn ich länger überlege, dann kommt mir vielleicht ein Geistesblitz. Es waren ja viele Studenten in den ganzen Jahren.«

»Sie haben die Nummer der Gendarmerie Anduze?«

»Ja, und die von Kommissar Lambert.«

»Gut, dann will ich Sie nicht weiter stören.« Claude erhob sich und streckte seine Hand aus. Sein Gastgeber verabschiedete ihn herzlich.

»Denken Sie daran, dass ich nur meine Meinung geäußert habe. Ich bin da kein Spezialist.«

Claude beruhigte ihn. »Sie haben uns trotzdem sehr geholfen.« Er wandte sich dem Ausgang zu. Sein Blick fiel auf ein winziges Gefäß, das an einer kleinen Holztafel neben der Tür hing.

»Hm, was ist das hier?«, fragte er ein wenig verlegen und deutete auf das mit Wasser gefüllte Behältnis.

»Weihwasser, zum Bekreuzigen. Kennen Sie das nicht?«

Claude schüttelte den Kopf. Derartige Rituale waren ihm noch nie untergekommen.

»Halten Sie mich auf dem Laufenden«, bat Monsieur Tallier. »Und wenn Sie ein klärendes Gespräch oder gar eine Beichte möchten, das übernehme ich gern.«

»Ich bin Protestant, Monsieur Tallier, mir wurde schon verziehen.«

Der Professor lächelte rätselhaft und schloss langsam die Tür hinter ihm.

* * *

Nein, es war kein guter Tag gewesen. Seine Aufgabe stellte sich schwieriger dar als erwartet, und das Hochgefühl seiner anfänglichen Erfolge verflüchtigte sich von Stunde zu Stunde. Nun saß er hier vor dem kleinen Marcel und flößte ihm Hustensaft ein, nachdem er in der Nacht kaum ein Auge zugetan hatte. Jean-Luc war missgelaunt und träge – die Gebete stolperten nur so über seine Lippen, sodass er beschlossen hatte, die heutige Abendandacht selbst zu sprechen. Er war nervös heute Abend. Bei jedem Knarren im Gebälk fuhr er herum, und beim Stöhnen des Windes im Kamin glaubte er immer noch, das Keuchen seines Verfolgers zu hören. Ob man ihn erkannt hatte mit dem alten Hut und der schäbigen Jacke seines Vaters? Doch Gott hatte gewiss seine Hand über ihn gehalten an diesem Nachmittag, als er beinah in die Fänge des schwulen Detektivs geraten und sein Plan gescheitert wäre, ehe er richtig begonnen hatte. Aber er fürchtete, dass er mehr Energie aufbringen musste, um sein Ziel zu erreichen, Energie, die ihm die in der Scheune durchwachten Tage und Nächte raubten. Er tröstete sich mit der Erinnerung an die ängstlichen Gesichter der Stadtbewohner. Genüsslich rief er sich das Bild der weinenden Frau vor Augen, die dieser Kerl vergeblich zu trösten versucht hatte. In kleinen Schritten musste er vorangehen, in ganz kleinen Schritten.

»Ich will zu meiner Mama! Bring mich dahin! Ich will weg!«, rief Marcel Lebout und schlug ihm erbost den Löffel mit der Medizin aus der Hand. Als er die klebrigen Tropfen auf seinen Fingern spürte, begann in seinem Hinterkopf der pochende Schmerz. Er schloss die Augen, atmete tief durch. Ein Kribbeln stieg in ihm hoch, und er hatte das Gefühl, dass es bis in seinen Hals vordrang und ihm die Kehle verschloss. Er öffnete die Augen und erblickte die Rute an der Wand.

»Mama!«, jammerte der Kleine.

Der zähe Saft tropfte ihm von der Hand, als er weit ausholte und in das Gesicht des Jungen schlug.

* * *

»Ja? Mahmout, bist du es?«

Ein Räuspern war zu hören, als müsste Mahmout erst Mut fassen, sich auf ein Abenteuer einzulassen, dessen Entwicklung man nicht vorhersehen konnte.

»Ja, ich bin es.«

Gespannt wartete Claude auf eine Äußerung. Wenn der Junge ablehnte, müsste er wohl oder übel den Zettel an Frédéric Lambert übergeben und ihm das Feld überlassen. Es war in Mahmouts eigenem Interesse, mitzuspielen.

»Also dann, ich mache es.«

Begeistert hörte sich das nicht an, doch das konnte Claude auch nicht erwarten. Erleichtert sagte er: »Fein, dann können wir morgen loslegen, nicht wahr? Wann gehst du aus dem Haus? Schläfst du lange? Das kannst du zukünftig abhaken. Wir müssen umtriebig sein, uns überall sehen lassen, all deine Bekannten abklappern.«

Ganz leise hörte er ein Seufzen am Telefon.

»Also um neun Uhr? Reicht dir das zum Ausschlafen?«

»Nee, aber egal«, war die Antwort.

»Braver Junge. Bis dann.«

Er drückte auf die Auflegetaste und steckte das portable weg. Virenque lag wärmend auf seiner Brust und ersparte ihm das Einschalten der teuren Elektroheizung. Das Sofa war der geeignete Ort, um den Tag Revue passieren zu lassen. Im Großen und Ganzen war er zufrieden mit den Maßnahmen, die die Polizei und er selbst eingeleitet hatten. Wenn doch nur die Zoohandlung besser aufgepasst hätte, dachte Claude. Lambert versuchte noch, über die Druckerei zu erfahren, wer außer der Leitung der Universität Zugang zu dem Wasserzeichenpapier hatte. Zeitgleich wurden die Mitarbeiter der Verwaltung in Issy im Rahmen eines Rechtshilfegesuchs vernommen. Des Weiteren wurden die Verwandten und Bekannten der beiden Jungen verhört, denn es wäre nicht das erste Mal, dass Familienmitglieder ihre Finger im Spiel gehabt hätten. Die Nachbarn von Nathalies Eltern wurden befragt. Mehr konnte man nicht tun. Es war alles in die Wege geleitet, und nun hieß es abwarten. All dies hatte Claude erfahren, als er Lambert telefonisch Bericht über den Besuch in Sauve erstattet hatte. Das Gespräch mit Professor Tallier hatte einen ungefähren Eindruck des Täters bei ihm hinterlassen. Es war, als hätte er ihn vor Augen, ohne ihn erkennen zu können. Beim Versuch, die Gestalt des fliehenden Unbekannten aus der Kirche mit dem Seelenleben eines fanatischen Katholiken in Einklang zu bringen, schlief Claude ein. Mitten in der Nacht erwachte er, weil ihm kalt wurde. Virenque hatte es sich längst im Bett gemütlich gemacht. Als Claude ihn beiseite schob und die Bettdecke über sich zog, spürte er noch die Wärme des Katers. Wo war nur Nathalie? Ob den Kindern wohl auch warm genug war in dieser kalten Herbstnacht?

* * *

Im Tal hüllte sich der Nachthimmel in Nebel, der vom Fluss aufstieg. Die Luft war kühl, und trotzdem perlten Schweißtropfen auf seiner Stirn. Es war die Hand Gottes gewesen, die die seine geführt hatte. Mit dieser Rechtfertigung im Hinterkopf, aus dem seit dem Vorfall der Schmerz nicht mehr gewichen war, fuhr er durch die Straßen, in denen das Laternenlicht versickerte. Er wischte sich über die Augen und kniff sie zusammen, als würden die Serpentinen ins Flusstal hinab ihn schwindelig machen. Seine Handknöchel, die das Lenkrad umklammerten, wurden weiß. Schon einmal hatte er einen Leichnam abgelegt, und nun würde er erneut ein Zeichen setzen. Niemand konnte ihm etwas anhaben. Nachdem er die Brücke überquert hatte, fuhr er auf den Plan de Brie und parkte zwischen den Platanen. Er streifte die Handschuhe über und zog den Hut tiefer ins Gesicht, als er ausstieg. Der Dunst löste seine Umrisse auf, keiner würde ihn erkennen. Alle Fensterläden im Umkreis waren geschlossen. Das Brunnenwasser rauschte. Dort hatte das Kalb gelegen – das Kind würde den gleichen Platz einnehmen. Der ungehorsame Marcel Lebout! Hätte der Kleine nur auf ihn gehört, wäre ihm die Strafe erspart geblieben. Dieses Mal hatte er nicht den Kofferraum benutzen können, denn die Leichenstarre hatte bereits eingesetzt, und er hatte sich dreimal die Hände in der Waschschüssel gewaschen, bis sich das ledrig-harte Gefühl des Körpers an seinen Fingern wieder verlor. Er öffnete die hintere Tür und zog die Decke weg. Die Tränen rollten von allein, er konnte sie nicht aufhalten. »Gott wird dir vergeben«, sagte er leise und zog das tote Kind heraus.