Montag, 5. November

In dieser Nacht warfen die Sterne ihr kaltes Licht auf den Plan de Brie. Es war Neumond. Die Zweige der Bäume umspielten die spärlichen Laternen, die den Platz umstanden. Die Säulen der protestantischen Kirche strebten in den Himmel, und das Wasserspiel der Fontaine du Bicentenaire murmelte vor sich hin. Eine Nacht wie jede andere zu dieser Jahreszeit, mit modriger Luft und vom Fluss aufsteigendem Nebel, der bald verdunstete. Von fern war der Motor eines Fahrzeugs zu hören. Es näherte sich, rollte von der Rue Saint-Jean-du-Gard auf die Straße, die gesäumt wurde von den eingerollten Markisen der Brasserien und Cafés, von denen einige den Winter über geschlossen hatten.

Ja, geschlossen, Gott sei gelobt, dachte der Fahrer und nahm den Fuß vom Gas. Der Wagen verlangsamte seine Fahrt. Keine dummen Touristen mehr, die sich in diesen verdammten Ort verirrten, sagte er sich. Die Bewohner schliefen den Schlaf des Gerechten, die Gelegenheit war günstig. Er schnaufte zufrieden, bog in die Rue de Luxembourg ein und hielt direkt neben der Gendarmerie. Beim Aussteigen bemühte er sich, die Tür nicht zuzuschlagen. Ebenso vermied er jegliches Geräusch beim Öffnen und Schließen des Kofferraums. Seine Warnung an die verbohrten Anduzer war schwer, unförmig und starr, aber das nahm er in Kauf. Der Fahrer zog an dem Tuch, in das er seine Gabe eingehüllt hatte, schleifte alles mit leisem Keuchen über die Straße, an der Gendarmerie vorbei bis zur benachbarten Kirche. Ja, diese Stelle war gut. Schließlich sollte jeder sofort die Verbindung zwischen seinen Taten erkennen. Hier die Säulenfront der Kirche, dort der Brunnen, der zum Gedenken an die Revolution errichtet worden war. Missbilligend schüttelte er den Kopf, dann entfernte er das Tuch und richtete alles so her, dass es seinen Zweck erfüllte. Schnell stieg er in seinen Wagen, ließ den Motor an und fuhr durch die Gasse davon, bis er die Hauptstraße erreicht hatte. Auf dem Plan de Brie spiegelte sich der Sternenglanz in einem toten Auge, glänzend und groß.

* * *

Das erste, was Claude an diesem Morgen tat, war das Ergebnis einer unruhigen Nacht, die mit blutgetränkten Träumen gefüllt war: ein gespannter Blick zum Fenster hinaus. Zu seiner Erleichterung hatte sich niemand am Brunnen zu schaffen gemacht, das Wasser war klar und rein. Die Berge spendeten erfreulich viel Zulauf, der Pegel des Flusses war stabil. Madame Barjac stand auf dem Platz, den Besen in der Hand, und blickte immer wieder zur Brunnensäule, als traue sie der Sache nicht. Claude grinste und kleidete sich an. Als Virenque um seine Beine strich, öffnete er eine Dose und gab ihm die übliche Ration.

»Hier war gestern was los, Virenque«, erzählte Claude und warf den Löffel in die Spüle. Virenque starrte ihn reglos an, gab keinen Mucks von sich und nahm dann die Rinderhäppchen unter die Lupe, bevor er sich ausgesprochen zögerlich ans Fressen machte.

»Magst du das auch wieder nicht?«, ärgerte sich Claude und schnaufte: »Ich weiß bald nicht mehr, was ich dir noch kaufen soll«.

Der Kater schien wenig beeindruckt und würgte kurz. Bevor Claude mit ansehen musste, wie Virenque sein Halbverdautes wieder ausspuckte, verließ er das Haus, um seinem Job nachzugehen. Viel würde nicht los sein in der Brasserie ›Chez moi‹, nur Stammgäste, die ihren Morgenkaffee trinken. Doch bereits zu Ostern tauchten die ersten Touristen auf, um sich am pittoresken Charme der Altstadt zu erfreuen. Im Sommer mieden die Einheimischen die Innenstadt, so gut es ging, denn sie bekamen keinen Fuß auf die Erde: Die Stadt war dann voll von eisschleckenden Kindern und schlecht gelaunten Männern, die seufzend die Einkäufe ihrer entzückten Frauen trugen.

Vor der Arbeit machte Claude einen Abstecher in Amélies Keramikstübchen. Die Ladentür stand offen, auf der Straße standen Kisten und Kartons. Verwundert trat Claude ein und sah sich um. Amélie war nirgends zu sehen, doch in einer Ecke lungerte ein etwa zehnjähriges Mädchen herum. Sie verhielt sich entschieden verdächtig und streifte mit den Händen die getöpferten Werke. Claude versteckte sich hinter einem Regal, denn sein Gespür sagte ihm, dass es Arbeit für ihn, den Detektiv, gab. In der Tat schaute das Mädchen sich um, glaubte sich allein und nahm eine Tonfigur aus dem Regal, die so klein war, dass sie in ihren Händen verschwand. Ungeniert steckte sie ihre Beute in die Tasche ihres Sweatshirts.

»Halt!«, rief Claude und sprang aus seinem Versteck hervor. »Was hast du da? Leg das sofort wieder zurück!«

Er ergriff das Handgelenk der Täterin. Ihre Augen waren nussbraun, doch er vermisste den Ausdruck einer ertappten Diebin. Eher wirkte sie beleidigt und unwirsch. Sie schob ihre Unterlippe vor, riss sich los, trat ihm vor das Schienbein und rannte hinter den Tresen. »Amélie!«, rief Claude und ignorierte den stechenden Schmerz. Da öffnete sich der Streifenvorhang und Amélie, schlank, die Brille ins kurze Haar geschoben, lächelte ihn an. Da prallte das Mädchen an ihre Brust und riss sie fast um. Claude war auf dem Sprung, um Amélie vor dieser frechen Diebin zu retten, doch zu seiner Überraschung nahm Amélie das Kind in den Arm und tröstete es: »Ist schon gut, das ist Claude, ein Freund von mir.«

Das Kind schaute unter Amélies Arm hindurch und begutachtete ihn.

»Er hat mich festgehalten«, piepste das Mädchen. »Ich habe gar nichts gemacht.«

»Nichts gemacht?«, empörte sich Claude und wies mit dem Zeigefinger auf die Tasche.

»Schau mal da hinein, da ist eine Tonfigur drin, die sie aus dem Regal in der Ecke geklaut hat.«

Amélie lachte und hob mit dem Finger das Kinn des Mädchens an.

»Hast du dir einen Gnom ausgesucht?« Die Kleine nickte. Da schob Amélie sie von sich und erklärte: »Claude, das ist meine Nichte Nathalie. Sie durfte sich etwas aus dem Laden aussuchen, weil sie mir beim Packen hilft.« Sie zeigte auf die Kisten. »Ich habe mich entschlossen, für drei Monate zu schließen. Es kommt ja doch nichts rein.«

Claude verzog das Gesicht.

»Jetzt schmoll doch nicht, es ist ja nichts passiert. Sag guten Tag, Nathalie.«

»Bonjour, Monsieur«, sagte Nathalie artig und blickte ihn offen an. Da verdrängte er seine Verlegenheit und antwortete: »Dann fangen wir noch mal von vorn an. Bonjour, Nathalie. Du kannst mich Claude nennen.«

»Und nun schlag die Teller in Zeitungspapier ein«, bestimmte Amélie. Gehorsam verschwand Nathalie im Nebenraum, sodass Amélie ungestört ihre Küsse auf Claudes Wangen verteilte.

»Wieso ist sie hier?«, fragte er, noch ein wenig verblüfft.

»Meine Schwester steckt mitten im Trennungskrieg. Sie hat Nathalie von der Schule beurlaubt und zu mir gebracht, damit sie ein bisschen Zeit für sich hat.«

»Einfach so aus der Schule genommen?«

Amélie nickte. »Krankgemeldet, für eine Woche. Nathalie ist eine super Schülerin, sie holt das leicht wieder nach.«

»Ich wusste gar nicht, dass du eine Schwester hast. Ihr versteht euch gut?«

»Ach, ganz normal, wie es sich gehört«, befand Amélie. »Möchtest du einen Kaffee? Oder willst du mir das Neuste vom Fund auf dem Plan de Brie erzählen?«

Claudes Augenbrauen zogen sich zusammen.

»Fund? Was für ein Fund?«

»Na, das tote Kalb, das neben dem Brunnen lag. Hat es dir noch niemand erzählt?«

* * *

»Da will mich doch einer verarschen! Das kann ja wohl nicht wahr sein!«

Leutnant Bertin brüllte so laut, dass sich der junge Brigadier Joberton mit einem schnellen Blick vergewisserte, dass die Fenster zum Platz geschlossen waren. Er schämte sich jedes Mal, wenn Passanten die Wutausbrüche seines Vorgesetzten miterlebten.

»Was glaubt der, wer er ist? Gottvater persönlich?« Bertin durchmaß den Büroraum mit langen Schritten. »Zuerst die roten Brunnen, dann dieser verdammte Kadaver.«

»Wieso Gottvater?«, wagte Joberton zu fragen und schaute ihn unschuldig an. Jean Bertin baute sich vor seinem Beamten auf. »An was erinnert denn das Ganze? Wasser wird zu Blut, Rinder sterben – nie was von gehört?«

Joberton wiegte seinen Kopf. »Vielleicht wie in The Reaping mit Hilary Swank?«

»Blödsinn!«, polterte Bertin. »So ein Ignorant«, murmelte er dann und fuhr fort: »Bald kommen die Heuschrecken! Apropos kommen: Wann kommt denn endlich der Abdecker? Das Ding zieht nur die Ratten auf unseren Hinterhof. Das Ganze ist ja wohl eher ein Fall für die Police municipale

»Er müsste jeden Moment hier sein. Aber wollen Sie das Kalb nicht zur Spurensicherung geben? Vielleicht steckt ja wirklich mehr dahinter«, schlug Joberton vor.

»Damit ich mich zum Gespött der Kripo in Alès mache? Nie im Leben!«, fauchte der Leutnant mit zitterndem Schnurrbart. »Da müssen noch die Erstgeborenen sterben, sonst rühren die doch keinen Finger.«

Er verstummte und ging in sein kleines Büro. Die düsteren Gedanken, die ihm die Laune verdarben, konnte er jedoch nicht abschütteln. Ein Anduzer, der von der Nachtschicht aus Alès kam, hatte das Tier gefunden und sofort den Notruf gewählt. Man hatte ihm aus der Zentrale in Alès Bescheid gegeben, mit ironischen Kommentaren, die ihn verärgert hatten. Als ob wir hier Landeier wären und uns nur mit totem Vieh rumärgern würden, dachte er. Nun lag der Kadaver im Hinterhof und Bertin kämpfte mit sich selbst. Er hatte den Fund nur kurz in Augenschein genommen. Die blutigen Wunden waren ihm relativ frisch erschienen. Sollte er das tote Tier genauer untersuchen? Die Todesursache feststellen, den Todeszeitpunkt ermitteln? Wo saß bei einem Kalb die Leber, um das Thermometer anzusetzen? Doch das Schlimmste war die Ungewissheit: Was würde der morgige Tag bringen?

Als Claude klopfte und eintrat, warf Bertin seinen roten Kuli auf die Unterlage und kreuzte die Arme.

»Was willst du denn hier? Spionieren?«, polterte er los.

»Dir auch einen schönen Morgen«, gab Claude zurück und setzte sich ungefragt in den Besucherstuhl. Bertin starrte an die Deckenleuchte, die fast schwarz vor lauter Fliegendreck war. »Du gehst mir gewaltig auf den Sack, Claude«, sagte er dann ruhig.

»Ich muss sowieso gleich zur Arbeit und wollte nur fragen, ob du schon was über diesen Kadaver herausgefunden hast.«

»Warum sollte ich dir etwas erzählen? Das habe ich dich gestern schon gefragt, glaube ich.«

»Weil ich dir bei der Aufklärung helfen kann«, bot Claude an.

Bertin presste kurz die Lippen zusammen. »Die Aufklärung eines Schabernacks? Die Aufklärung eines Kalbsmordes?«

»Hat sich ein Bauer gemeldet, der ein Rind vermisst?«

Wie bereits am gestrigen Tag resignierte Bertin und gab Antwort: »Nein, niemand.«

»War die Marke am Ohr noch dran?«

»Nein, die Ohren waren halb abgeschnitten.«

»Kein Bauer verschenkt ein Kalb. Hast du den Fund an die Presse gegeben?«

»Warum sollte ich das tun?« Bertin richtete sich verwundert auf.

»Damit sich Bauern melden, die in letzter Zeit Kälber verkauft haben. Dann die Viehhändler und Schlachthöfe. Vielleicht ist dort ein Rind abhanden gekommen. Aber ich kann auch meine Mutter fragen, die ist mit allen Landwirten per du.«

Bertin nickte. Madame Bocquillon war eine aparte, frische Dame, die weder zu ihrem bäuerlichen Umfeld noch zu ihrem missratenen Sohn passte, wie er fand. Da verdüsterte sich sein Ausdruck.

»Was machst du für ein Gesicht?«, fragte Claude.

»Ach, halt die Klappe und frag deine Mutter. Wie geht es deinem Vater?«, fragte er beiläufig.

Claude zuckte die Schultern, seine Miene verfinsterte sich. »Der Priester war schon da zur Krankensalbung, aber dann hat er sich wieder etwas erholt.«

»Seid ihr denn katholisch?«, fragte Bertin verwundert.

»Nein, wie kommst du darauf?«, gab Claude zurück. »Das gibt es auch bei uns Protestanten.«

Bertin sagte: »Ich kenne mich da nicht aus. Aber grüß deine Mutter von mir.«

Claude ließ sich von diesem unterschwelligen Rauswurf nicht beeindrucken. »Sag mal, kommt dir das nicht auch so vor wie die zehn biblischen Plagen?«

»Ja, schon, aber das ist doch Blödsinn.«

»Ich habe eben gegoogelt. Unser Brunnenvergifter ist sofort von der ersten zur fünften Plage – der Viehpest – gesprungen. Alles andere lag nicht in seiner Hand. Da hätte er nämlich Frösche oder Stechfliegen sammeln müssen. Und die nächsten Plagen, die Blattern sowie die Viehpest, kann er auch nicht über uns bringen.«

»Dann schließt du also aus, dass er ein Virologe aus irgendeinem biologischen Institut ist«, brummte Bertin.

Claude lächelte. »Das werden wir erst morgen sagen können. Allerdings gibt es noch etwas anderes, was er tun könnte, um die schreckliche Liste abzuarbeiten.«

»Und was?«

»Das Töten von Erstgeborenen.«

Bertin schwieg verblüfft, dann schüttelte er den Kopf.

»Merde, du glaubst doch wohl nicht, dass er so weit gehen würde. Das ist doch nur ein Streich, mit dem ein Witzbold uns ärgern wollte.«

Claude zog eine Schnute. »Ich weiß nicht. Das Abladen des Kadavers, die ganze Fummelei an den Brunnen, das zeugt schon von krimineller Energie. Aber du hast wahrscheinlich recht, das ist zu verrückt.«

Er wandte sich zur Tür und verabschiedete sich. »Also bis dann.«

Der Leutnant streckte seine Hand zum Telefonhörer aus und nahm ab: »Joberton, stell mich zur Redaktion des Midi Libre durch. Und dann zu allen Schlachthöfen der Umgebung.«

Der unbekannte Kalbstöter meint wohl, er käme damit durch, dachte er. Da hat er sich mit dem Falschen angelegt.

* * *

Lucas, der Barkeeper der Brasserie ›Chez moi‹, spülte mit geübten Bewegungen ein Bierglas, das von der gestrigen Nacht übrig geblieben war. Er sang gedankenversunken ein getragenes Chanson, bevor er zu sich kam und den Kopf hob. Zu seiner Erleichterung war der Gastraum noch leer. Er trällerte laut weiter. »Caresse sur l’océan, Porte l’oiseau si léger …« Der Bariton erfüllte den ganzen Raum, sodass Claude ungewollt in den Genuss der Darbietung kam.

»Bonjour, Lucas«, grüßte er nach dem Eintreten. »Machst du einen auf nostalgisch?«

»Eher auf melancholisch«, gab Lucas zurück und wischte sich mit dem feuchten Handrücken über seine Halbglatze. »Im Herbst habe ich manchmal solche Anwandlungen.«

»Du wirst langsam alt, mein Lieber«, stichelte Claude und legte sich im angrenzenden Flur seine blendend weiße Halbschürze an. Lucas klopfte mit einem Fingerknöchel vehement auf die Theke: »Als dein Arbeitgeber verlange ich ein wenig mehr Respekt!«

»Schon gut, Patron, wird nicht wieder vorkommen.« Claude grinste und räumte die bereits gespülten Gläser in das Wandregal.

»Wieso ist noch nichts los? Haben die Anduzer Angst vor verseuchtem Wasser?«, wunderte sich Claude. Wie auf ein Stichwort betrat ein älterer Mann mit einer Schlägermütze das Lokal und winkte ihnen zu, bevor er sich auf seinem angestammten Platz niederließ und seinen Gehstock an die vertäfelte Wand lehnte. Claude stellte dienstbeflissen eine Kaffeetasse unter den Ausguss des teuren Kaffeeautomaten.

»Da du ja erst im Frühling deinen Arsch hierher bewegt hast, kannst du nicht wissen, dass es im Herbst immer etwas ruhiger zugeht«, erklärte Lucas, ohne das zweideutige Augenzwinkern zu vergessen.

»Lass meinen Arsch aus dem Spiel«, murmelte Claude.

»Aber im Ernst«, fuhr Lucas fort. »Die stehen alle noch hinten auf dem Hof der Gendarmerie und begaffen das Kalb.«

»Als ob die noch nie totes Vieh gesehen hätten«, gab Claude zurück.

»Jedenfalls nicht auf dem Plan de Brie.«

»Da hast du recht.«

Eine Weile plauderten sie noch über den merkwürdigen Fund, bis sich dann die Gaststube allmählich füllte und der Kaffeeautomat aus dem Brummen nicht mehr herauskam und jedes weitere Gespräch unmöglich machte. Claude hatte keine Schwierigkeiten mit schmerzenden Füßen; der Sommer hatte ihn durch eine harte Schule geschickt, sodass ihm die Wege durch den Gastraum keine Probleme bereiteten. Er wusste, dass er zum Wohlbefinden der Kunden beitrug, denn sie waren dankbar für den warmen Innenraum, den Kaffeeduft und die Tatsache, dass Lucas einer der wenigen Gastwirte war, die den Winter über nicht schlossen, um Urlaub zu machen. Erst zur Mittagszeit, als die Essensdüfte aus den Wohnungen durch die engen Gassen waberten, verließen die Gäste nach und nach die Brasserie. Claude fluchte gerade über den Knoten in seinem Schürzenband, als eine junge Frau eintrat, ein Kleinkind an der Hand.

»Bonjour, Madame«, grüßte Lucas und blickte misstrauisch auf das kleine Mädchen, das einige Tropfen Tee aus ihrem Fläschchen ungeniert auf den Fliesenboden schüttelte. Die Mutter war ein wenig außer Atem. Ihre Windjacke war nicht zugeknöpft und ließ ein blaues Sweatshirt durchblitzen. Claude hätte es nicht gewundert, wenn sie noch Pantoffeln an den Füßen gehabt hätte. Er beugte sich kurz über die Theke und bemerkte, dass sie in der Tat offene Latschen trug. Das Mädchen grinste ihn von unten mit blauen Augen an, und er hätte schwören können, dass er dieses Gesicht schon einmal gesehen hatte. Da er normalerweise nichts mit Kleinkindern zu tun hatte, sollte es ihm eigentlich schnell einfallen, doch er zermarterte sich vergeblich den Kopf. Währenddessen fragte die junge Mutter:

»Bonjour, Messieurs, ich habe eine Frage: Haben Sie vielleicht meinen Jungen gesehen, als er aus der Schule kam? Er muss ja hier entlangkommen.«

Der gehetzte Ausdruck auf ihrem Gesicht machte Claude aufmerksam.

»Sie suchen ihn?«, fragte er. Die Frau nickte.

»Ja, die Lehrerin hat angerufen und ihn heimgeschickt, weil ihm schlecht war. Ich habe mit einigen Müttern telefoniert, aber nichts mehr von ihm gehört. Da habe ich mich selbst aufgemacht.«

Lucas drehte sich um und griff zu einer Flasche.

»Ein Marc gefällig? Auf den Schreck? Er hat sich bestimmt irgendwo auf der Straße verplaudert. Die trödeln doch immer, egal ob auf dem Schulweg oder Heimweg.«

Er schenkte ihr ein. Sie nahm das Glas, kippte den Inhalt in einem Schluck hinunter und schüttelte sich. »Merci, Monsieur, das ist nett von Ihnen. Aber haben Sie irgendetwas bemerkt?«

Lucas und Claude verneinten. »Sie müssen verstehen, Madame, wir haben zu viel zu tun, um das Trottoir im Auge zu behalten«, sagte Lucas und blickte Claude an. Dieser nickte und fragte automatisch, bevor er wusste, warum er diese Frage stellte: »Ist er Ihr erstes Kind?«

»Wie bitte?«

»Na, Ihr Erstgeborener sozusagen.« Claude wurde ein wenig unwohl zumute und er trat von einem Fuß auf den anderen.

»Ja, das ist er, mein Großer. Warum fragen Sie?«

»Nur so«, wiegelte Claude ab und schaute hilfesuchend zu Lucas hinüber. Da ließ die Frau sich auf einen Stuhl fallen und zog das Mädchen an sich heran, um es fest zu umklammern. Dabei sah sie Claude mit angstgeweiteten Augen an. »Erstgeborener? Wie in der Bibel? Meinen Sie etwa, diese Sache mit dem roten Wasser und dem toten Kalb hat etwas damit zu tun?«

»Sie kennen die zehn Plagen?«, fragte Claude verlegen.

»Ja …« Die Stimme der Frau brach, sie atmete schluchzend ein und aus. »Aber dann, dann …«

»Nichts dann«, unterbrach Lucas herrisch ihre Unterhaltung. »Mein Kellner hat eine blühende Fantasie. Und daher wird er sie jetzt begleiten und helfen, den Burschen zu finden. Na, der kann was erleben, wenn er heimkommt, nicht wahr?« Lucas’ zuversichtliche Drohung lief ins Leere. Die Frau schaute mit traurigem Blick umher, dann rappelte sie sich auf. Das Lächeln fiel ihr sehr schwer, wie Claude bemerkte.

»Danke, dann will ich mal weitersuchen.« Sie wandte sich ab.

»Halt, Madame, ich werde Ihnen wirklich helfen«, kündigte Claude an und entknotete endlich das Band der Schürze. Er faltete sie zusammen, legte sie auf den Tresen und holte seine Jacke von der Garderobe. Gemeinsam traten sie auf die Straße hinaus. Als das Mädchen zu quengeln begann, fragte Claude: »Haben Sie nicht eine Oma, bei der die Kleine warten kann?« Sie schüttelte den Kopf.

»Ich habe keine Familie hier, und mein Mann und meine Freundin sind arbeiten.«

»Dann habe ich eine andere Lösung. Wir werden sie zu meiner Freundin bringen, nur ein paar Schritte weiter.«

Die Frau schien jeglichen Mut verloren zu haben. Sie willigte ohne Einwände ein, und Claude wusste, dass sie mit ihren Gedanken ganz woanders war, bei toten Kälbern und Erstgeborenen. Du bist ein Hornochse, schimpfte er mit sich selbst. Warum hast du mit diesem Blödsinn angefangen?

»Wo wohnen Sie eigentlich?«, fragte er, um das drückende Schweigen zu brechen, das sie umgab.

»In der Rue Sainte-Marie, unweit vom Place Notre-Dame.«

Überrascht blieb er stehen und beinahe hätte er sich vor die Stirn geschlagen. Natürlich kannte er sowohl die Kinder als auch diese Frau – sie war quasi seine Nachbarin. Die Kleinen beugten sich immer gefährlich weit aus dem Fenster im zweiten Stock, um ihrer Mutter nachzusehen, wenn sie zum Bäcker eilte.

»Ach, da«, murmelte er nur und setzte den Weg fort, das Bild des älteren Jungen mit den zerschlissenen T-Shirts vor Augen. Er wollte sich nicht voreilig zu erkennen geben. Sie sollte nicht den Eindruck bekommen, er würde ihr seine Dienste aufschwatzen.

Nach wenigen Schritten standen sie vor Amélies Laden. Ihr Renault Clio parkte mit geöffnetem Kofferraum vor der Tür. Ein wenig unwohl trat Claude ein, wo er auf Nathalie stieß, die sofort in Habachtstellung ging und Amélie aus dem Lager herbeirief, als würde sie sich scheuen, mit Claude allein zu sein. Nachdem er Amélie über die Situation informiert hatte, fragte er: »Kannst du eine Stunde auf die Kleine aufpassen? Nathalie hilft dir sicher gern.«

Amélie warf einen Blick durch das Schaufenster und biss sich auf die Lippe. »Die Arme«, sagte sie. »Du glaubst doch nicht etwa, dass das etwas mit diesen Vorfällen zu tun hat, oder?«

»Aber nein«, beschwichtigte Claude wider besseres Wissen. »Sie tut mir nur leid, und ich bin schließlich Privatdetektiv.«

Amélie lächelte und strich ihm über die Wange, was ein angenehmes Kribbeln auf seiner Haut hinterließ. »Du bist schon ein Guter«, sagte sie und winkte die Frau herein, die ihre Tochter auf den Arm genommen hatte. »Hoffentlich ist sie schon trocken«, sagte sie noch und begrüßte die Eintretenden.

Claudes Bemühungen, den Jungen zu finden, blieben ohne Erfolg. Nach einer Stunde, in der sie die Klassenzimmer sowie weitere Schulfreunde abgeklappert und Spielplätze, eine Sporthalle und diverse Treffpunkte der achtjährigen Schüler der Ecole élémentaire aufgesucht hatten, standen sie mit leeren Händen da. Die Nervosität der Mutter, die Chantal Corbusier hieß, war immer stärker zutage getreten. Claude tat es weh, bei jeder ihrer Befragungen die Hoffnung in ihren Augen aufglimmen und dann wieder erlöschen zu sehen. Warum musste dem kleinen Jean-Luc ausgerechnet heute Mittag schlecht werden, anstatt wie üblich den Nachmittag in der Klasse abzusitzen? Auf dem Weg von der Schule bergab in die Innenstadt stellte Claude sich Madame Corbusier in den Weg.

»Verzeihen Sie, Madame, ich denke, es bleibt nur noch die Möglichkeit, nach Hause zu gehen und dort nachzusehen. Und auch beim Nachbarn, vielleicht wartet er dort auf Sie. Und wenn er da nicht ist, dann sollten Sie …«

»Zur Polizei, ich weiß«, fuhr sie tonlos fort. Dann riss sie sich aus ihrer niedergesunkenen Haltung auf und reichte Claude die Hand. »Das werde ich tun. Ich hole meine Tochter ab und gehe nach Haus. Und wenn Jean-Luc nicht da ist, werde ich Monsieur Bertin aufsuchen.« Ihre Lippen zitterten, doch tapfer hielt sie Claudes besorgtem Blick stand. Er legte ihr kurz die Hand auf die Schulter und verabschiedete sich: »Sagen Sie in der Brasserie Bescheid, wenn Sie ihn gefunden haben.«

»Natürlich«, versprach sie. »Vielen Dank noch einmal. Sie haben mich nicht im Stich gelassen, das vergesse ich Ihnen nicht.« Schnellen Schrittes ging sie in die Altstadt.

Claude sah ihren wehenden Haaren nach und seufzte. Doch sein Spürsinn war geweckt. Er dachte nicht daran, sich bereits jetzt geschlagen zu geben. Erneut stieg er die Anhöhe zur Schule hinauf. Die Platanen waren ihres Laubes fast gänzlich beraubt und streckten ihre kahlen Zweige in den blauen Herbsthimmel. Als er am Schulgebäude entlangging, hörte er aus den Oberlichtern den Vortrag einer Lehrerin und das Lachen ihrer Schüler. Auch Claude war hier zur Schule gegangen, obwohl er sich kaum an das alte Gebäude erinnern konnte, das inzwischen renoviert worden war. Doch den Geruch nach Kreide und Bohnerwachs hatte er noch gut im Gedächtnis. Früher schien alles einfacher gewesen zu sein – er hatte sich auf das Rad gesetzt und war heim geradelt nach Ribaute, zu den kleinen Weinfeldern und dem Hof seiner Eltern, wo ihm schon der angekettete Hofhund entgegensprungen war und das späte Mittagsmahl bereitgestanden hatte. Heute schauten die Mütter besorgt auf die Uhr, wenn der Sprössling nur zwei Minuten zu spät eintraf. Dann machten sie den Kindern Vorhaltungen, weil sie das portable nach dem Unterricht noch nicht wieder eingeschaltet hatten. Doch Claude wollte sich nicht anmaßen, über Erziehungsmethoden zu urteilen, er würde schließlich nie Kinder haben. Nie. Niemals. Das runde Gesichtchen des kleinen Mädchens erschien vor seinen Augen, so süß und schelmisch zugleich. Nein. Niemals. Wie zur Bestätigung reckte er sich und hielt entlang der leeren Straße Ausschau nach Zeugen, die Jean-Luc Corbusier gesehen haben konnten. Als ihm aus einem geöffneten Fenster das trällernde Singen eines Kanarienvogels entgegenschallte, blieb er stehen und blickte zum ersten Stock des schmalen Wohnhauses hinauf. Ein Kissen lag dort auf der Fensterbank.

»Hallo, da oben? Madame? Monsieur?«

Er trat näher, um die vier Namensschilder an der Klingel in Augenschein zu nehmen.

»Hm, Madame Debillon?«

Endlich schaute ein runzeliges Gesicht zum Fenster hinaus. Der Anblick der alten Dame erinnerte ihn an Madame Barjac – sicher waren sie miteinander bekannt.

»Ja, junger Mann, was ist denn?«

»Pardon, ich wollte nicht stören. Ich wollte nur fragen, ob Sie heute Mittag, etwa um zwölf Uhr, einen Jungen auf dem Heimweg von der Schule gesehen haben.«

»Nein«, war die kurze Antwort. Madame Debillons Mund verzog sich zu einem Grinsen.

»Nicht?«

»Jacqui, der Herr ist schwerhörig«. Mit dieser Feststellung wandte sie sich um. Offensichtlich sprach sie mit dem Kanarienvogel. Claude schüttelte den Kopf und setzte seinen Weg fort.

»He, Monsieur«, rief die Alte ihm hinterher. »Mon Dieu, die Jugend hat es immer so eilig.«

Claude stoppte und seufzte. Madame Barjac und Madame Debillon kannten sich mit Sicherheit. »Was ist denn noch? Ich dachte … «

Doch Claude wurde unterbrochen.

»Lassen Sie mich doch zu Wort kommen, jeune homme. Ich habe nicht einen Jungen gesehen, sondern zwei. C’est ça.«

Claude musste an sich halten, um seinen Mund nicht offen stehen zu lassen.

»Zwei Jungen? Können Sie sie beschreiben?«

Die Dame wiegte ihren Kopf. »Nun ja, eben Grundschüler mit dunklen Rucksäcken. Niemand hat heutzutage mehr ordentliche Tornister. Einer mit schwarzem und einer mit blondem Haar, und sie kicherten miteinander.«

Treffer, dachte Claude. Jean-Lucs Haarschopf, den er häufig am Fenster gesehen hatte, war definitiv blond.

»Danke, Madame Debillon«, rief Claude hinauf und eilte in Richtung Schule.

»So heiße ich gar nicht«, hörte er noch, doch er hatte kein Verlangen, sich noch einmal die Namensschilder anzusehen.

»Trotzdem danke!«

Er hastete weiter und schob sich im nächsten Moment durch eine ganze Meute von Schülern, die, ihrer lästigen Pflichten ledig, aus dem Tor der Schule stürmte und ihn beinahe mitgerissen hätte. Mit erhobenen Armen kämpfte er sich bis zum Eingang vor und traf die Rektorin, die er vorhin bereits mit Madame Corbusier aufgesucht hatte.

»Madame, ich habe da noch eine Frage«, sagte er und schaute sie bittend an. Die Rektorin lächelte und bat ihn in den Flur. Die Kinder hatten inzwischen das Gebäude verlassen, hier und da knallte noch eine Tür im Windzug. Eine Putzfrau schob ihr Wägelchen in ein Klassenzimmer hinein.

Nur wenige Minuten später hastete Claude über den Plan de Brie. Nach einem Blick auf den Hinterhof der Gendarmerie, der ihm bestätigte, dass der Abdecker das tote Kalb abgeholt hatte, stieß er die Tür auf und hielt vor der Besucherschranke inne.

Brigadier Joberton bückte sich und schloss seine Unterlagen weg, sodass Claude unverhofft in den Genuss des Anblicks eines knackigen Hinterns kam.

»Mein Süßer, ist Bertin noch da?«, fragte Claude freundlich. Joberton schoss hoch, wurde blass und wies auf eine Tür. Claude ging durch die Schranke und hielt sich nicht mit Klopfen auf.

»Jean!«, rief er, als er den Gendarm in seinem Stuhl sitzen sah. Offensichtlich hatte dieser über irgendwelchen Formularen gebrütet, denn der Schreibtisch war mit Papier übersät, und der Kuli wirbelte in Bertins Hand.

»Was ist jetzt schon wieder?«, brummte der Leutnant, ohne aufzusehen.

»Hast du schon eine Vermisstenanzeige für einen kleinen Jungen erhalten? War die Mutter schon hier?«

»Was für eine Mutter?«

»Madame Corbusier aus der Rue Sainte-Marie. Sie vermisst ihren Jungen, ihren Erstgeborenen.«

Erst bei diesen Worten schaute der Leutnant auf und durchbohrte Claude mit seinem dunklen Blick.

»Du glaubst doch nicht an diesen Quatsch! Erstgeborener! Was soll das, Claude?«

»Madame Corbusier und ich haben eben ihren kleinen Jean-Luc gesucht, der nicht heimgekommen ist. Keine Spur von dem Jungen. Madame Corbusier wird sicher gleich auftauchen und ihn als vermisst melden.«

»Von mir aus. Wir werden ihn schon finden, den Bengel.«

»Ja, aber ich habe eine Zeugin, die ihn zusammen mit einem anderen Jungen gesehen hat.«

»Ja, und? Ist doch nicht verboten? Du und deine Schnüffelei.«

Claude setzte sich auf den Besucherstuhl und rückte ganz nach vorn auf die Kante des Sitzes.

»Ich wette mit dir, dass der zweite Junge auch verschwunden ist. Er heißt Marcel Lebout und war vom Sportunterricht befreit, sodass er früher gehen durfte.«

Bertin warf den roten Kuli auf die Tischplatte und verschränkte seine Arme.

»Die Wette nehme ich an, Claude. Wenn ich gewinne, wirst du mir zwei Monate lang nicht mehr unter die Augen treten, ach was, vier Monate lang.«

»Und wenn ich gewinne, wirst du mich vier Monate lang über jedes interessante Ereignis in und um Anduze auf dem Laufenden halten. Ich brauche neue Kundschaft.«

Bertin beugte sich vor und kniff seine Augen zusammen. Er starrte Claude an und zischte: »D’accord!«

Nachdem sie auf diese Weise klargestellt hatten, dass sie in Feindschaft treu verbunden waren, lehnten sich beide entspannt zurück. Bertin, weil er sicher war, von dieser Nervensäge vorübergehend befreit zu werden; Claude, weil er sicher war, bald mit dem neusten Tratsch versorgt zu werden, sodass er sicherlich einem besorgten Elternpaar oder einem betrogenen Unternehmer seine Dienste anbieten konnte.

»Warum magst du mich nicht, Jean?«, fragte Claude geradeheraus.

»Wer behauptet das?«, gab Bertin zurück und spannte sein Gesicht zu einer Maske an, die er jedoch nicht lange halten konnte. Claudes Mundwinkel zuckte, Bertins Nasenflügel über dem buschigen Schnurrbart blähten sich. Joberton, der draußen sein Ohr an die Tür hielt, hörte kurz darauf lautes Gelächter. Plötzlich tippte jemand dem Brigadier auf die Schulter. Erschrocken fuhr er herum.

»Ma… Madame?«, stotterte Joberton und richtete seine Krawatte.

Nachdem die Besucherin ihr Anliegen erklärt hatte, meldete der Gendarm den Gast an.

»Leutnant, eine Madame Corbusier ist da.«

Gleich als sich die Tür hinter der Dame geschlossen hatte, klingelte das Telefon. Joberton griff mit einem Seufzer zum Hörer.

»Gendarmerie Anduze, Brigadier Joberton. … Wie bitte? … Ja, er ist da, hat aber gerade Besuch. Wenn Sie in zehn Minuten noch einmal anrufen, Madame Lebout? … Es geht um ihren Sohn?«

* * *

Es war ein Kinderspiel gewesen, sozusagen im wahrsten Sinn des Wortes. Zwei kleine Jungen saßen brav auf der Rückbank und aßen übermäßig gezuckerte Gummibären aus einer Tüte, die sie sich gegenseitig anboten. Er grinste zufrieden und schaute noch einmal in den Rückspiegel. Gleich würden die zerstoßenen Schlaftabletten, die er unter den Zucker gemischt hatte, wirken und ihm das Geschrei ersparen. Er schüttelte den Kopf. Wie leicht doch die Kinder zu verführen waren, trotz Aufklärungs-Workshops in den Schulen und Ermahnungen der Eltern. Und welch ein Zufall, dass gleich zwei Jungen, noch dazu im richtigen Alter, gemeinsam zu einer Zeit unterwegs gewesen waren, in der ihre Klassenkameraden in der Kantine ihr Mittagessen zu sich nahmen. Gott meinte es gut mit ihm und war auf seiner Seite, doch nichts anderes hatte er erwartet. Er fuhr über die Brücke, unter der der Gardon nach Osten rauschte. Ein wenig bedauerte er, dass der Allmächtige den gottlosen Anduzern in den vergangenen zwei Monaten keine Überschwemmung bereitet hatte, als die Wahrscheinlichkeit für eine Überflutung in den trockenen Südcevennen am höchsten war. Doch nun war er ja da, um Sodom und Gomorra wachzurütteln. Die Zeitungen würden ihm morgen mitteilen, wie seine Zeichen aufgenommen worden waren. Auf der Straße nach Alès angekommen, schraubte sich der Wagen die wenigen Kurven hinauf, bis er auf der Geraden weiterfuhr. Kurz vor Saint-Christol-lès-Alès bog er links ab und passierte einige Weiler, bis er sich auf Feldwegen seinem Ziel näherte. Die Fahrt ging durch grüne Kiefernwälder, an Felswänden entlang. Durch Blicke in den Rückspiegel kontrollierte er den Zustand der Jungen, denen er einen Ausflug in die Haribo-Fabrik im nahen Uzès versprochen hatte. Sie hatten die Tüten auf den Schoß sinken lassen, ihre Augenlider waren gesenkt. Trockener Staub wirbelte auf, der Wagen sprang durch Schlaglöcher. Der würzige Duft der Garrigue drang durch den Fensterschlitz. Oft lagen Äste auf dem Boden, denen er auswich. Von fern leuchtete die Wand einer Scheune. Keine Menschenseele war ihm bisher begegnet in diesem vergessenen Landstrich westlich von Alès. Die Köpfe der Kinder, die nun benommen in den Gurten hingen, rollten in den Kurven hin und her.

Als er vor der Scheune bremste, zog eine Staubwolke vorbei. Er stieg aus und öffnete die hintere Tür. Nachdem er die Kinder abgeschnallt hatte, hob er eines nach dem anderen behutsam auf den Arm und brachte sie in einen abgetrennten Raum der Scheune, die sein Vater von einem entfernten Verwandten geerbt hatte. Bislang konnte niemand etwas mit ihr anfangen, doch nun erfüllte sie ihren Zweck. Ein alter Kohleherd bollerte in einer Ecke, das Abzugsrohr führte durch das Dach. An der Wand standen vier Betten, dazu ein Tisch mit Stühlen und ein Bücherregal. Er legte die Kinder auf den Betten ab und streckte sich. Dann wandte er sich um und ging zu einer Kommode, die an der gegenüberliegenden Scheunenwand stand und den Raum fast wohnlich erscheinen ließ. Er warf eine kleine Flasche mit rotem Farbstoff sowie ein Fläschchen Kleber in einen Müllsack. Hier, an der Ostwand, fiel das Tageslicht durch ein Fensterchen auf einen Holzaltar, bedeckt mit einer Tischdecke voller goldener Stickereien. Die Kerzenleuchter, das versilberte Kruzifix, der Tabernakel, den er kürzlich auf eBay ersteigert hatte – alles war würdig angeordnet und bereit für seinen großen Plan. Er nickte. Er ließ sich auf die Kniebank sinken und faltete seine Hände zum Gebet. Das ewige Licht, das von der Decke herabhing, leuchtete rot.

* * *

Den restlichen Nachmittag verbrachte Claude in der Truppe, die die Stadt durchkämmte: freiwillige Helfer sowie Gendarmen, die aus Alès herbeigerufen worden waren. Obwohl er den ganzen Tag auf den Beinen gewesen war, riss er sich zusammen und hielt die Augen auf. Garagen, Einfahrten, Torbögen, schmale Gassen – alles wurde erkundet. Eine weitere Gruppe nahm sich den Fluss vor. Ein Schlauchboot kreuzte auf dem Gardon hin und her, der Außenborder war über den Verkehr hinweg zu hören. Die Stadt war in Aufruhr, und viele Männer hatten sich angeschlossen, während die Frauen an den Haustüren zurückblieben und sich miteinander unterhielten. Claudes Gruppe verließ die Innenstadt und stieg den östlichen Hang hinauf, wo ein paar kleine Häuser an den kurvigen Straßen lagen. Dahinter stieg der Grat des Saint Julien an, und man hätte schon eine Kletterausrüstung benötigt, um die Hänge zu untersuchen. Neben Claude lief ein junger Mann, vielleicht ein Student, der sich als Albert vorgestellt hatte. Sie sprachen nicht viel, zuckten hin und wieder die Schultern, wenn sie vergeblich in einen Kellereingang gespäht hatten. Albert bot ihm eine Zigarette an, Claude lehnte ab, nahm aber einen Schluck aus Alberts Wasserflasche. Es kam ihm in den Sinn, dass manche Täter sich frech an Suchaktionen beteiligten, die sie selbst verursacht hatten, doch bei Alberts Ernsthaftigkeit und offensichtlichem Engagement wollte er diesen Gedanken von vornherein ausschließen. Während einer Pause kamen sie ins Gespräch.

»Wo würdest du hingehen, wenn du ein kleiner Junge wärst?«, fragte Claude und ließ sich auf einer Parkbank nieder.

»Und ich keinen Bock auf zu Hause hätte? Na, zum Fluss«, antwortete Albert und strich seine braunen Haare zurück, die schräg über seiner Stirn hingen, so wie es bei jungen Leuten gerade modern war. Claude merkte, dass er gemustert wurde. Alberts Augen wanderten von seinem Gesicht über die Brust bis zu den Hüften. Nun gut, das kann ich auch, dachte Claude und begutachtete seinen Begleiter.

»Ja, genau, zum Fluss«, sagte Claude, dem die gut proportionierte Figur seines Gegenübers sehr gefiel. Ihre Augen trafen sich. Alberts Blick wurde weich, und ein kaum merkliches, aber entzückendes Lächeln umspielte seine Lippen. Claude schenkte ihm einen wissenden Augenaufschlag. Die Sache war klar. Von nun an wichen sie sich nicht von der Seite. Ihre Suche wurde aufgelockert von heimlichen Blicken und schelmischem Grinsen. Natürlich konnten sie nicht über ihre Absichten sprechen, denn die anderen Männer waren nicht weit entfernt. Als der Anführer, ein Gendarm aus Alès, die Gruppe zusammenrief, schaute Claude auf seine Uhr. Die Sonne würde bald untergehen.

»Feierabend! Wer morgen noch suchen möchte, kommt bitte um acht Uhr auf den Plan de Brie. Es gibt noch einen Teilabschnitt, den wir heute nicht mehr schaffen«, verkündete der Gruppenleiter. Die Helfer trennten sich und strömten in alle Richtungen auseinander. Claude merkte, dass Albert neben ihm stehen blieb.

»Sollen wir?«, fragte er.

»Na klar«, gab Albert zurück.

»Wie alt bist du?«

»Alt genug«, beteuerte Albert und strich mit den Fingern an Claudes Arm entlang.

»Ich wollte nur sichergehen«, gab Claude zu. »Du weißt, Verführung Minderjähriger ist immer noch strafbar.«

»Ja, mein Alter. Pass auf, dass ich dir keinen Herzinfarkt bereite«, grinste Albert.

Claude blieb die Luft weg. Mit seinen neunundzwanzig Jahren war er immerhin auf dem Gipfel seiner Manneskraft.

»Du bist frech, Kleiner.«

»Und scharf. Genug der Worte«, beendete Albert das Geplänkel und zog ihn mit sich fort. Nachdem Claude sich vom Leiter der Gruppe verabschiedet hatte, ging er mit seinem neuen Bekannten im Schlepptau durch die Stadt in Richtung Place Notre-Dame. Ihm war bewusst, dass der Anlass ihrer Begegnung ein trauriger war, aber Alberts Lächeln trieb ihn voran. Doch als ihre Schritte durch die Rue Sainte-Marie hallten, seufzte er und hielt an. Er lehnte sich an den Brunnen vor seinem Haus. Seitdem Julien die Wohnung verlassen hatte, waren erst zwei Tage vergangen.

»Nein, Albert, es geht nicht.«

»Bist du in festen Händen? Glaub mir, du kommst in verdammt gute Hände«, lockte Albert. Claude lächelte.

»Daran zweifele ich nicht. Ich bin auch nicht in einer Beziehung. Oder fast nicht.«

Er hatte mit Julien nie über Treue gesprochen – es bestand auch kein Grund dazu. Sie sahen sich sporadisch, auch wenn Julien immer sicher sein konnte, dass Claude für ihn stets verfügbar war. Er war überzeugt davon, dass Julien in Nîmes seinen Spaß hatte, und es machte ihm nichts aus. Fast nichts, nein, nur ein bisschen weh tat es, wenn er es sich vorstellte. Julien war ein toller Mann, ein guter Kamerad, aber er war nicht da. Also was soll’s, dachte Claude. Dann fiel sein Blick auf das Fenster vom Haus gegenüber. Es standen mehr Fahrzeuge als sonst in der engen Straße, und ein ihm fremdes Paar wurde gerade von Madame Corbusier empfangen, die halb flüchtig, halb neugierig herübersah. Sicher Besucher, die ihr beistanden.

»Der vermisste Junge, ich kenne ihn.«

Albert blieb stumm, schaute ihn nur an.

»Ihm geht’s scheiße, und wir planen hier eine Nummer. Nein, Albert, das geht nicht.«

»Ist wirklich ein Mistkerl, der ihn geschnappt hat.«

Claude nickte. »Wenn es denn so ist.«

Albert stellte sich neben ihn an den Brunnenrand.

»Und dann fällt das wieder auf uns zurück. Wir Schwulen, wir sind ja alle auf der Suche nach Frischfleisch und verspeisen kleine Jungs bei lebendigem Leib«, grummelte der junge Mann. Claude staunte über die Ernsthaftigkeit seiner Worte, dann lächelte er.

»Du meinst, so wie ich dich verspeisen würde.«

Albert lachte auf. »Ja, aber ich kann es mir aussuchen. Der Kleine nicht.« Er wurde ernst. »Aber ich glaube, wenn wir es jetzt machen, wird das seine Situation nicht ändern, so oder so. Aber wir … wir könnten uns trösten. Irgendwie.«

»Woher kommst du?«, fragte Claude.

»Aus Alès. War gerade bei meiner Großmutter, als wir davon hörten. Ich kenne die Stadt ganz gut. Hab als Kind oft hier gespielt.«

Claude wurde es bereits sehr tröstlich zumute. Albert war in Ordnung. Eine kurze Ablenkung konnte nicht schaden. Seine Füße brannten höllisch.

»Komm mit«, sagte er und zog ihn hoch. Er schaute sich um: Der Platz war leer, die meisten Fensterläden waren geschlossen. Er holte den Schlüssel aus seiner Lederjacke und ging die Stufen zu seiner Wohnung hinauf. Ihre Schritte knarrten auf der alten Holztreppe. Virenque schlief auf dem Bett, die Staubkörner tanzten im Licht der untergehenden Sonne. Sie küssten sich, zogen sich gleichzeitig die Jacken aus und fummelten an ihren Gürteln herum. Claude zog Albert zum Badezimmer. Während er einen Arm um seinen Nacken schlang, drehte er mit der anderen Hand die Dusche auf. Sie rangelten spielerisch, bewarfen sich mit Socken, boxten sich auf die Brust und versuchten, sich in die Brustwarzen zu kneifen. Der Wasserdampf schlug langsam an den Spiegel, verhüllte ihre nackte Haut, ihre gierigen Zungen und tastenden Hände. Claude stieß Albert an die kalten Wandfliesen und drückte sich an ihn. Nach einem langen Kuss zog er ihn herum, stellte ihn unter den Strahl. Sie wechselten sich ab, wärmten sich gegenseitig unter dem heißen Wasser. Claude bearbeitete Alberts Glied, prüfte mit Entzücken die Festigkeit. Er hatte wirklich ein wundervolles Stück – fast so schön wie Juliens. Eine plötzliche Trauer überfiel ihn; er legte den Kopf an die Wand und hielt inne. Albert nutzte die Gelegenheit, vor ihm niederzuknien. Warme Lippen spürte Claude, eine rhythmische Erregung, und die Lust raubte ihm den Atem in den ohnehin schwülwarmen Nebelschwaden der heißen Dusche. Er dachte an nichts mehr, nur an die Spannung, die von seinem Unterleib aufstieg. Er konnte sich nicht rühren. Gerade jetzt nicht, jetzt nicht bewegen. Der Höhepunkt kam in einer gleißenden Hitze, Albert begann zu spucken. Glückselig verharrte Claude, dann zog er Albert hoch, presste sich wieder fest an ihn. Sie rieben sich gegenseitig, keuchten, leckten sich über Hals und Brust. Nach einiger Zeit stellte Claude mit leisem Bedauern den Wasserhahn ab. Sie lehnten sich aneinander, erschöpft und befriedigt. Als das letzte Wasser mit einem Glucksen im Abfluss verschwunden war, ließ ein Kratzgeräusch sie aufhorchen. Sie blickten sich um und entdeckten Virenque, der ungerührt den Sand des Katzenklos aufscharrte und sich hinhockte. Sein Ausdruck wirkte konzentriert.

»Virenque! Das darf doch nicht wahr sein!«, rief Claude und war versucht, den Kater in den Hintern zu treten – was er dann doch lieber sein ließ. Albert brach in Lachen aus.

»Der kann einem echt die Lust rauben!«, schnaubte Claude. Dann betrachtete er den zurückgeworfenen Kopf und die weißen Zähne Alberts, der sich vor Heiterkeit kaum halten konnte. Da begann auch er zu lachen, bis er keine Luft mehr bekam.