Freitag, 9. November

Als Claude aufwachte, meinte er, exotische Düfte zu riechen. Er schnupperte an Mahmouts Haaren, dann an seinem Nacken. Laternenlicht fiel durch das Fenster. Sein junger Prinz lag vor ihm, den Rücken an ihn geschmiegt, die braune Haut rein wie ein feiner Sandstrand. Seine dezenten Muskeln zuckten noch im Schlaf. Natürlich hatten sie nicht lange enthaltsam nebeneinandergelegen, doch man konnte auch nicht sagen, dass sie miteinander geschlafen hatten. Das Streicheln, Küssen und Liebkosen hatte solche Ausmaße angenommen, dass Mahmout Angst bekommen hatte. Claude hätte schwören können, dass sie gemeinsam zum Zuge hätten kommen können, doch mittendrin war Mahmout aufgesprungen und in die kleine Toilette gelaufen. Claude hatte ganz leise sein Stöhnen hören können, als er sich dort befriedigt hatte. Der Junge hatte Angst vor dem letzten Schritt, der ihn von seiner bisherigen Welt in eine neue führen könnte. So feinfühlig und sensibel hatte er Mahmout gar nicht eingeschätzt. Die Scham, das Unwohlsein und das Fremde überwogen momentan noch das Verlangen. Kurzum: Mahmout war noch Jungfrau. Irgendwie jedenfalls.

Claude stützte sich auf den Ellbogen und küsste ihn auf die Schulter. Sie hatten auf dem Schlafsack gelegen und sich nur mit der dünnen Decke und ihren Körpern gewärmt. Nun spürte er jeden Knochen im Leib. Obwohl es noch dunkel war, konnte er so jedenfalls nicht mehr schlafen. Nach einer Katzenwäsche weckte er Mahmout. Er musste in dessen Wohnung. So wie er sich fühlte – mit ungeputzten Zähnen, unrasiert, stinkend – konnte er nicht unter die Leute treten.

»Kleiner, wach auf«, flüsterte er und biss in Mahmouts Ohrläppchen. Mahmout drehte sich um, und in diesem Augenblick glaubte Claude, noch nie etwas Schöneres gesehen zu haben als dessen dunkle, funkelnden Augen. Warum nur kam ihm jetzt Julien in den Sinn? Verdammt, er wollte nicht an seinen Liebsten denken. War es die dezente Hakennase, die Mahmout mit Julien teilte? Oder das Lächeln? Claude seufzte und gab ihm einen Klaps auf den Rücken.

»Aufgestanden, ein anstrengender Tag liegt vor uns. Mir ist eingefallen, wie wir den Täter aus seiner Deckung locken können. Falls du ihn siehst, meine ich.«

Auf dem Weg zur Esplanade des Clavières erklärte Claude seinem neugierig gewordenen Freund, was er vorhatte. Mahmout war nicht angetan, doch er gab letztendlich nach. Als sie den Hausflur betraten, schaute er auf die Uhr. »Halb sechs. Sei leise.«

»Warum denn? Schlafen deine Leute so leicht?«

»Du wirst schon sehen.«

Behutsam schloss Mahmout die Tür auf und lotste Claude in den dunklen Flur. Im Salon brannte bereits Licht. Mahmout legte den Finger auf den Mund und winkte ihn an der Tür vorbei. Durch den Türspalt sah Claude Monsieur Semmadi, der auf einem kleinen Teppich kniete, die Augen geschlossen, die Lippen bewegten sich. Dann beugte er sich nach vorn.

»Betet er?«, fragte Claude.

»Ja, Shuruk.«

»Klar, Shuruk, wie konnte ich das vergessen«, sagte Claude und nahm ein T-Shirt und eine Zahnbürste von Mahmout entgegen. Nachdem sie vorsichtshalber das Gebet abgewartet hatten, schlichen sie unter strengsten Sicherheitsmaßnahmen zusammen ins Bad. Schweigend erledigten sie schnell die Morgentoilette, dann versteckten sie sich wieder in Mahmouts Zimmer, wo Claude es sich am Computer gemütlich machte. Zum Glück war auch ein Drucker angeschlossen, der nach einer Weile einige bunte Bilder ausspuckte. Mahmout betrachtete sie neugierig, schaute sich jedes Detail an.

»Das habe ich noch nie gesehen.«

»Das glaube ich dir gern. Die Farben kommen gut raus, dein Drucker ist nicht schlecht«, flüsterte Claude und steckte die Bilder zusammengefaltet, was eine Schande war, in seine Lederjacke. Ihm war erst wohler zumute, als sie die Wohnung wieder verlassen hatten und auf der Straße standen, wobei Mahmout immer wieder misstrauisch zu den Fenstern im zweiten Stock hinaufschaute.

»Komm, weg hier.«

Es war herbstlich kühl, doch heute würde wieder die Sonne scheinen. Wenig später saßen sie in einem Café und frühstückten. Claude blätterte im Midi Libre und biss von einem Brioche ab. Mahmout betrachtete ihn versonnen, bis er fragte: »Wie machen wir weiter? Wo soll ich zuerst hingehen?«

Claude überlegte. »Da der Fremde in der Kirche nicht in deinem Alter war, scheiden deine Kumpel aus. Vielleicht deren Väter … nein? Keine gute Idee?«, fragte Claude, als er Mahmouts Gesicht sah, das vor Abscheu verzogen war.

»Ich soll zu denen gehen mit diesen Bildern? Du spinnst wohl, dass sind alles Algerier.«

»War eine Scheißidee, entschuldige.«

Da erst merkte Mahmout, dass Claude sich einen Scherz erlaubt hatte. Er boxte ihm auf die Brust. Claude grinste. Eine Art Galgenhumor hatte ihn erfasst. Gut, er wurde gesucht, war wahrscheinlich zur Fahndung ausgeschrieben, doch er war auf der richtigen Spur. Das wusste er einfach.

»Hast du ein Konto? Gehst du auch mal zum Bankschalter?«

Mahmout nickte. »Ich gehe in eine kleine Filiale. Da ist immer derselbe Kerl.«

»Dann fang dort an. Lass die Bilder einfach so fallen, dass der Mitarbeiter sie aufheben muss, aus Höflichkeit.«

»Und wenn er was dazu sagt? Wie soll ich erklären, dass ich solche Bilder habe?«

»Du bist Kunststudent.«

Mahmout legte die Hand vor die Augen und schüttelte den Kopf.

Es war nur ein kurzer Fußmarsch bis zur Bankfiliale, doch trotzdem taten Claude die Füße vom harten Asphalt weh. So viel gelaufen wie in den letzten zwei Tagen war er nur während der Hochsaison in der Brasserie. Vor der Glastür angekommen, wich Claude einen Schritt zurück und holte die Bilder aus seiner Jackentasche.

»Ich muss im Hintergrund bleiben, der Kerl aus der Kirche könnte mich ja erkennen. Und jetzt richte mal einen Dauerauftrag ein, kram in deinen Papieren nach der Kontonummer und lass dabei die Bilder fallen.«

»Und dann?«

»Dann sagst du so etwas wie: Schöne Bilder, nicht wahr? Dann schaut der Typ bestimmt genauer hin. Und dann sagst du, dass du die Kontonummer zu Hause vergessen hast, und verschwindest.«

Mahmouts Augen funkelten. Die Sache schien ihm zu gefallen. Claude trat hinter ihm in den Raum ein und schlug sich unauffällig zur Seite, wo die Geldautomaten standen, während Mahmout brav nach vorn trabte und die Papiere auf den Tresen legte. Der Bankangestellte begrüßte ihn freundlich und Claude seufzte auf. Falsche Größe, falsche Figur. Dann sah er sich im Raum um, doch er entdeckte nur noch zwei weibliche Angestellte, die lustlos auf ihren Stühlen hin- und herrollten. Mahmout schubste die Bilder über den Tresen, sodass sie vor die Füße des Angestellten fielen. Dieser bückte sich und warf einen Blick darauf. Mahmout sagte etwas, worauf der Mann unverbindlich nickte. Dann entschuldigte sich Mahmout, packte seine Zettelwirtschaft ein und verließ das Gebäude. Claude folgte ihm.

»War das der, der dich immer bedient?«

»Ja. War es der Richtige?«

»Nein. Aber du hast das toll gemacht, wie ein Profi.«

Mahmout grinste. »Wer ist jetzt an der Reihe?«

»Dein Friseur, es sei denn, das ist auch so ein junger Kerl.«

»Nein, der ist schon vierzig oder so.«

Claude nickte befriedigt. »Du machst mit ihm einen Termin, gleich mit türkischer Rasur und Nasenhaare entfernen und allem drum und dran.«

Mahmout fasste sich ans Kinn. »So schlimm?«

Claude wischte seine Bedenken mit einer Handbewegung beiseite. »Ist doch egal. Dann willst du dir den Termin aufschreiben und lässt die Zettel fallen.«

»Bon.«

Und wieder ging es auf die Straße, wieder über einige Kreuzungen. Mahmouts Kumpel waren unterwegs und johlten ihnen aus der Ferne zu.

»Die machen sich lustig über mich«, beschwerte sich Mahmout. »Die denken, ich wäre schwul.«

»Mahmout«, mahnte Claude. »Du bist schwul.«

* * *

Die Arbeit ging ihm heute nicht leicht von der Hand. Zu zäh hingen seine Gedanken an der Scheune fest. Gestern war ein Traktor an ihr vorbeigefahren. Jean-Luc, der seit dem Tod von Marcel weinerlich und unruhig war, hatte laut um Hilfe geschrien, bevor er eingreifen konnte, doch zum Glück hatte der Lärm des Motors die Rufe übertönt. Notgedrungen hatte er den Jungen heute morgen fesseln und knebeln müssen, bevor er in die Stadt gefahren war. Er seufzte und blickte durch das Fenster zum kalten, blauen Himmel. In seinen Ohren die Gesprächsfetzen der Kollegen neben ihm, das Jammern und Klagen der Antragsteller. Duftwolken ihrer billigen Toilettenwasser waberten in der Luft herum, manchmal auch herber Knoblauchgestank. Er zog ein Formular zu sich heran, doch die fast unleserlichen Eintragungen tanzten vor seinen Augen. Das konnte ja kein Mensch lesen. Er hob seinen schweren Kopf zur ersten Zeile. Eine Verdienstbescheinigung. Der Kerl hatte einen kurzen Job aus dem letzten Jahr nicht angegeben, dachte, sein Einkommen verschleiern zu können. Da hatte der Gute sich geirrt. Doch mit einem Mal spürte er die Hilflosigkeit gegen die Auswüchse des Lebens, die Ohnmacht seines Bestrebens, die Menschen zum Besseren zu bekehren und alles wieder gut und schön zu machen, sein Leben, das Leben der anderen, die Region, die Welt. Jesus hatte so viele Beispiele aufgezeigt, brüderlich miteinander umzugehen. Warum war es nur so schwer? Doch er durfte nicht aufgeben, er war schon zu weit fortgeschritten. In seinem letzten Brief, der in Marcels Jackentasche steckte, hatte er die Polizei verhöhnt und sich über ihre Hilflosigkeit lustig gemacht. Ob die Rettung eines weiteren Jungen eine Möglichkeit war? Er wiegte unwillkürlich seinen Kopf, dann schrak er auf, weil er meinte, seine Kollegen könnten diese Geste beobachtet haben. Niemand durfte davon wissen, niemand etwas ahnen. Ein neuer Junge, dann würden blanke Angst und Entsetzen in Anduze herrschen. Und durch den Gefährten würde auch Jean-Luc sich wieder beruhigen. Wenn Onkel Raoul ihn sehen könnte, er wäre stolz. Obwohl, er hatte ja noch gar nichts erreicht. Oder doch, das hatte er – Claude Bocquillon, sein Erzfeind, wurde inzwischen von der Polizei gesucht, wie er zu seinem Entzücken gestern bei einem Anduzer Bäcker erfahren hatte. Sein Plan war aufgegangen. Er nickte und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Sein Zeigefinger glitt zur Telefonnummer auf dem Formular. Er musste den kleinen Schwindler einladen. Er hatte sich seinen Namen schon in der letzten Woche irgendwo notiert, aber dann den Zettel wohl verlegt. Doch er musste die Sache klären und zu einem Abschluss bringen. Dieser Sozialhilfeempfänger würde wohl oder übel vier Wochen auf seinen Unterhalt verzichten müssen.

* * *

Nachdem sowohl der Friseur als auch die Bedienungen zweier Stammcafés, die Mahmout aufsuchte, die Prüfung bestanden hatten, wurde Claude unruhig. Wieder zog er den Zettel hervor, auf dem mit Kuli der Name seines Begleiters stand.

»Hier«, sagte er. »Hast du die Schrift schon mal gesehen? Oder das Papier?«

Mahmout schürzte die Unterlippe. »Nein, nicht dass ich wüsste. Tut mir leid, dass es so blöd läuft.«

Claude überlegte. »Machst du irgendwelche Kurse mit? Computerkurse? Eine Fremdsprache?«

»Nein«, sagte Mahmout in genervtem Ton.

»Dann könnten wir jetzt beim Sozialamt weitermachen. Ist es noch früh genug?«

»Heute ist bis Mittag offen.«

»Dann schnell«, forderte Claude auf.

»Das ist aber weit.«

Claude zückte sein portable, um ein Taxi zu rufen. Das war es ihm wert.

»Und ich habe da immer verschiedene Sachbearbeiter. Wie soll ich das denn machen?«

In diesem Moment klingelte Mahmouts Telefon.

»Mein Vater«, sagte Mahmout und nahm das Gespräch an. Er wechselte einige arabische Worte mit ihm, sein Gesicht wurde aufmerksam und er zwinkerte Claude zu.

»Das war mein Vater. Stell dir vor, ein Mann vom Sozialamt hat angerufen, er will mich sehen. Wir haben in einer halben Stunde einen Termin.«

»Du hast den Termin, nicht ich, aber das ist super«, freute sich Claude. »Du wirst schon den Richtigen aufspüren.«

Zwanzig Minuten später, nachdem Claude in einem Billigladen ein Basecap gekauft hatte, standen sie in einem Großraumbüro, das durch Trennwände in verschiedene Beratungsräume aufgeteilt war. Hinter einer Schranke warteten die nächsten Besucher darauf, dass die Nummer, die sie gezogen hatten, aufgerufen wurde.

»Müssen wir auch eine Nummer ziehen?«, fragte Claude.

»Nein, ich muss direkt an Schalter sieben.«

»Eine Glückszahl. Hast du die Bilder? Und weißt du noch, woher sie kommen?«

»Ja, ich habe nichts vergessen. Wo wirst du warten?«

»Ich gehe mit dir bis kurz vor den Schalter«, antwortete Claude und setzte sich das Basecap auf. Seine Locken quollen unter dem Rand hervor. Über Mahmouts Schulter spähend, erblickte er einen Mann mittleren Alters, auf dessen Haupt sich erste Zeichen einer Glatze zeigten, denn er hatte gerade seinen Kopf gesenkt. Claude stellte sich lässig neben den Sichtschutz und beschäftigte sich intensiv mit seinem portable, um nicht die verwunderten Blicke der benachbarten Mitarbeiter sehen zu müssen. Sein Herz klopfte, denn sowohl die Figur, die er hinter dem Schreibtisch hatte sitzen sehen, als auch das Alter könnte zu seinem Fremden passen. Er spitzte seine Ohren, als dieser mit – sein Herz setzte aus – mit salbungsvoller Stimme zu sprechen begann und Mahmout seinen Fehler, ein älteres Einkommen verschwiegen zu haben, erklärte.

»Sie können mir doch nicht einfach die Zuwendungen streichen!«, empörte sich sein Gefährte. Claude lächelte, als er Papier rascheln hörte und eine Entschuldigung: »Oh, pardon, die sind mir aus der Hand gefallen.«

Es folgte Stille – eine lange Stille, die Claude nervös machte. Er lugte um die Trennwand. Der Mann saß auf dem Stuhl und betrachtete die Bilder, nein, er stierte auf sie hinab. Sein Mund stand halb offen. Claude zog sich wieder zurück.

»Aber, aber das ist doch … Wo haben Sie die her?«

Claude biss sich auf die Unterlippe, dass es wehtat.

»Ich wollte jetzt mit dem Kunststudium beginnen. Das ist für den Kurs mittelalterliche Buchmalerei. Aber wenn ich kein Geld habe …«

Der Mann überhörte die unterschwellige Bitte. Zu sehr war er in den Anblick der Bilder vertieft.

»Bilder der Bamberger Apokalypse!«

»Wunderschön, nicht wahr?«, schleimte Mahmout sich ein, als wollte er nicht nur die Streichung seiner Zuwendungen verhindern, sondern zugleich eine Erhöhung der Geldbeträge durchsetzen.

»Ja, sie sind perfekt, einfach vollendet. Aus dem Jahr 1020. Hier das Weltgericht, dort die Frau mit dem Drachen.«

Claude konnte sein Seufzen hören. »Wie schön, dass heutzutage noch wahre Kunst gelehrt wird, die Gottes Herrlichkeit zeigt.«

Claude schloss die Augen und lehnte seinen Kopf an die Trennwand. Sein Herz hämmerte gegen seine Brust, er ballte die Hand zur Faust. Er war es. Dieser Mann kannte die seltenen Bilder. Er hatte die Kinder entführt. Diesen Mann hatte er verfolgt – es passte alles.

»Wissen Sie was, Monsieur Semmadi, ich werde mit meinem Vorgesetzen den Fall noch einmal besprechen. Es wäre nicht gut, das Studium durch ein harsches Vorgehen zu gefährden. Wir haben da durchaus etwas Spielraum, verstehen Sie? Sozusagen eine Einzelfallentscheidung. Dazu gebe ich Ihnen die Kontaktdaten einer Beratungsstelle für Studenten.«

»Das würden Sie für mich tun, Monsieur?

Der Name! Der Name!, rief Claude in Gedanken.

»Ich kann nichts versprechen, aber ich werde sehen, was ich tun kann.«

»Das finde ich echt fair, Monsieur … ähm …«

»Nortier, Luc Nortier. Und wenn Sie noch Fragen haben – morgen arbeite ich auch, bis um fünfzehn Uhr.«

»Danke, Monsieur Nortier.«

Ein Stuhl wurde gerückt, und Claude verdrückte sich rücklings zwischen zwei andere Trennwände, bevor Monsieur Nortier auf die Idee kam, seinen Kunststudenten zum Ausgang zu begleiten. Innerlich jubelte er. Mahmout hatte es geschafft! Er hatte es geschafft! Claude stellte sich bereits das verblüffte Gesicht Frédérics vor, während er ihm den Täter präsentierte.

Bevor er das Büro verließ – Mahmout wartete bereits draußen – hielt er einen Angestellten am Arm fest und wies auf den Schalter seines Verdächtigen.

»Sagen Sie, wohnt der Luc Nortier nicht in der Rue d’Anduze achtundzwanzig? Ich wollte ihn dort mal besuchen, aber niemand kannte ihn.«

»Nein«, sagte der arglose Angestellte. »Er wohnt irgendwo auf dem Boulevard Gambetta, glaube ich.«

»Ach da!« Claude schlug sich vor den Kopf. »Vielen Dank.«

Mit einem Schmunzeln ging er leichten Schrittes aus dem Gebäude. Mahmout wanderte auf der Straße auf und ab, die Bilder in der Hand.

»Komm mit!« Claude zog ihn durch die Gassen weiter, am hôtel de ville vorbei. Sie stießen auf einen kleinen Park, der zum Fort Vauban führte. Unter hohen, kahlen Bäumen hockten sie auf einer Bank, und die Wörter sprudelten nur so aus ihnen heraus.

»Hast du das gesehen, Claude?«

»Ja, ein Treffer, alles passt. Klasse, Mahmout, du bist der Beste.«

»Fall mir bloß nicht um den Hals«, sagte der Junge, als Claude seine Arme hob. Eine ältere Dame schob ihren Rollator an ihnen vorüber.

»Keine Angst«, mäßigte sich Claude, obwohl er einen Freudentanz hätte aufführen können.

»Willst du nun deinen Kommissar anrufen?«

»Nein, der lacht mich aus. Nortier wird alles abstreiten, ist ja auch zu abstrus das Ganze. Trotzdem, ich habe das sichere Gefühl, dass wir richtig liegen.«

Mahmout strich mit den Fingern über die goldglänzenden Bilder.

»Die Bamberger Apokalypse. Echt komisch, wie die früher gemalt haben. Aber die Farben sind schön.«

Claude nickte und betrachtete den Drachen, der in alle Regenbogenfarben gekleidet zu sein schien und aus dessen Nacken sechs weitere Köpfe herauswuchsen. Wie groß die Angst der Menschen früher gewesen sein muss, von einem solchen Monster in der Hölle zerrissen zu werden, dachte er, doch dann fiel ihm ein, dass diese Fabelwesen immer für irgendeinen Begriff standen und nicht wörtlich zu nehmen waren. Er dankte im Stillen Professor Tallier, der ihn auf die richtige Spur geführt hatte. Nun hatte er den Drachen gefunden, der die Kinder in Todesangst versetzt hatte. Er würde dafür büßen müssen! Wenn doch nur Nathalie wieder auftauchte. Mit einem Mal zog er sein Telefon hervor und wählte Amélies Nummer in der Hoffnung, dass gerade nicht Lambert bei ihr war. Er wollte sie nicht noch mehr in Schwierigkeiten bringen, als sie ohnehin schon war. Wer weiß, was zu Hause alles los war. Zu Hause, dachte er und vermisste auf einmal Virenque, Julien und Madame Barjac. Ob diese von seiner Unschuld überzeugt war? Er war sich nicht sicher. Doch bald würde er den Fall geklärt haben.

Amélie meldete sich.

»Hier ist Claude, Amélie, ist Lambert bei dir?«

»Claude! Mein Gott, wie geht es dir? Wo bist du? Nein, das brauchst du gar nicht sagen.«

»Kluges Mädchen«, grinste Claude. »Mir geht es gut. Gibt es etwas Neues von Nathalie?«

»Nein, immer noch nicht. Die Ermittlungen sind ins Stocken gekommen, nur die Obduktion geht weiter. Aber ich habe noch nichts gehört.«

»Amélie, tu mir den Gefallen und ruf Julien an. Er soll sich keine Sorgen machen, wenn er von meiner Lage erfährt. Verrate ihm aber nicht diese Telefonnummer. Die Bullen dürfen diese Nummer nicht kriegen, ich brauche das Telefon.«

»Natürlich mache ich das für dich. Ich beruhige deinen Liebsten.«

»Du brauchst gar nicht so sarkastisch sein, Amélie.«

Sie kicherte. »Tut mir leid, ich wollte dich nicht ärgern. Ich weiß doch, wie es dir geht.«

»Du, es ist bald vorbei. Ich glaube, ich habe die richtige Spur gefunden.«

»Wirklich? Claude, sei vorsichtig, überstürze nichts. Denk an den armen Jungen und an Nathalie. Es darf ihnen nichts passieren.«

»Ich passe auf, keine Sorge. Sei geküsst, Amélie, und bis bald. Und kümmere dich um Virenque.«

»Verlass dich drauf.«

Mit einem Seufzen wollte er das portable wieder einstecken, als er erschrocken zusammenzuckte. Das Telefon klingelte. Im ersten Moment meinte er, dass Lambert ihn gefunden hatte – dann atmete er auf, denn die Nummer seiner Mutter erschien auf dem Display. Bevor er sich freuen konnte, hielt er inne. Warum rief sie an? Eine Gänsehaut zog ihm über den Rücken. Er räusperte sich, schluckte schwer und nahm ab.

»Mama?«

Ihre Stimme war leise und zittrig.

»Es ist vorbei, Claude. Dein Vater ist vor einer Stunde gestorben.«

Er schwieg und nahm ihre Worte entgegen. Worte, mit denen er seit acht Wochen gerechnet hatte. Nun waren sie da, und trotzdem schienen sie ihm nicht wahr zu sein.

»Mama«, sagte er heiser. Er konnte nicht mehr sagen, die Erregung verschloss seine Kehle. Eine Weile hörte er ihr zu, ohne zu verstehen, was sie da sagte. Eingeschlafen sei sein Vater. Wie sollte er sich das vorstellen? Pastor Flabert war noch im Haus, Tante Virginie ebenfalls, doch sie würden gleich wieder fahren. Er sagte nur noch: »Ich komme sofort.«

Dann schaltete er das Telefon aus. Er schaute hoch. Die Welt sah noch genauso aus wie vor dem Anruf, doch in seinem Inneren hatte sich einiges verschoben. Vergessen waren die Kinder, vergessen der Verdächtige. Mahmout saß neben ihm und blickte ihn fragend an.

»Mein Vater«, sagte Claude. »Er ist eben … gestorben.« Als er es ausgesprochen hatte, stieg eine bebende Welle in ihm auf und flutete seinen ganzen Körper. Die Tränen kamen hervor und liefen über seine Wangen. Unbewegt ließ er es geschehen. Er leckte die Tropfen weg, die auf seinen Lippen perlten. Sein Vater war tot. Er fühlte eine Fassungslosigkeit in sich, die er noch nie empfunden hatte und nicht beschreiben konnte, gefolgt von anderen Empfindungen, die auf ihn einstürzten: Verlust, Hilflosigkeit, Verwirrung.

»Ich muss zu meiner Mutter. Schnell.«

»Klar, Mann, ich bringe dich.« Mahmout legte ihm die Hand auf den Schenkel, dann lehnte Claude sich an ihn und nahm eine kurze Umarmung entgegen.

»Hast du ein Auto?« Es tat ihm gut, etwas so Normales zu fragen.

»Noch nicht«, lächelte Mahmout. »Aber ich weiß, wo ich eins herbekomme.«

Dazu sagte Claude nichts. Es war ihm egal, ob die Karre geliehen oder gestohlen sein würde. Hauptsache, er war bald in Ribaute, das ihn zog und rief und doch so abschreckte. Tapfer stand er auf und ging mit Mahmout in die Stadt. In einem Café sollte er warten. Geistesabwesend trank er einen Kaffee und starrte an die holzvertäfelte Wand. Er hörte das Lachen seines Vaters, dann spürte er die Ohrfeige, als er das Gatter der Wiese nicht richtig geschlossen und zwei Säue einen Verkehrsunfall verursacht hatten. Egal, es war vorbei. Er war frei von der Vergangenheit. Immer wieder fragte er sich, ob er sich den Toten ansehen sollte. Was würde seine Mutter von ihm erwarten? Wie konnte er abschätzen, ob es ihm selbst etwas bringen würde oder nicht? Von wegen Seelenfrieden. Würde es ihm besser gehen, wenn er ihn zum Abschied anschaute? Bleich, das Kinn hochgebunden. Claude zwinkerte, die Augen taten ihm weh, und er löste sich aus seiner Starre. Nicht lange darauf kam Mahmout vorgefahren. Er sah ihn durch das Fenster. Nachdem er ein paar Euro auf die Untertasse geworfen hatte, verließ er das Café und stieg in einen kleinen Lieferwagen.

»Wo hast du den her?«, fragte er und schaute sich um. Hinter einer Trennwand lagen ein paar Zurrriemen.

»Frag nicht.« Mahmout fuhr durch die Innenstadt und weiter über die Gardonbrücke, wo er die Ausfallstraße nach Süden erreichte.

»Hast du überhaupt einen Führerschein?«

»Ja, den habe ich«, sagte Mahmout stolz und sah ihn liebevoll an.

»Geht es?«, fragte er noch und legte die Hand wieder auf Claudes Bein. Die Wärme durchströmte ihn.

»Muss ja«, antwortete Claude. Er trommelte mit den Fingern auf die Lehne und hatte das Gefühl, erst wieder klar denken zu können, wenn er bei seinen Eltern war. Er überlegte, wie er gleich ungesehen vor den Augen der Polizei auf den Hof gelangen sollte. Seine Mutter hatte berichtet, dass eine Streife vor der Einfahrt postiert war. Doch er kannte einige Nebenstraßen und Schleichwege, die ihn an das Haus heranbringen würden, wenn er sich nicht zu dumm anstellte. Claude zeigte Mahmout den Weg, und bald waren sie in Richtung Lézan abgebogen. Je näher er seinem Ziel kam, desto öfter reckte er den Hals, als könnte er bereits den Hof sehen. Auf der Route de la Draille wartete er nicht, bis sie an der Hofeinfahrt vorüberfahren würden, sondern machte seinen Fahrer auf die Einmündung einer Straße aufmerksam.

»Fahr da rein und dann die nächste rechts. Dann kommen wir von hinten ran.«

Bald befanden sie sich inmitten leerer Felder. Verdammt wenig Deckung, dachte Claude und zögerte, einfach auszusteigen und loszugehen. Beinahe hätte er geflucht. Warum musste der Hof auch so abgelegen sein?

»Ich muss es riskieren. Park einfach etwas weiter bei den Büschen dort. Ich brauche eine Stunde. Wenn etwas ist, rufe ich dich an.«

»Alles Gute, Claude.« Mahmout setzt eine nachdenkliche Miene auf.

Claude stieg aus und schloss leise die Tür. Etwa dreihundert Meter lagen vor ihm. Er konnte auf dem Feldweg gehen oder zwischen zwei Feldern hindurch, die hin und wieder durch Strauchreihen getrennt waren. Natürlich wählte er letztere Möglichkeit und schlich sich fort. Das Haus rückte immer näher. Aufmerksam spähte er um sich, doch er entdeckte keinen Polizeibeamten. Wahrscheinlich wärmten sie sich im Auto. Die Stallwand näherte sich, und er fühlte sich immer sicherer. An der Wand angekommen, lugte er um die Ecke. In der Hofeinfahrt, zwanzig Meter entfernt, parkte ein Streifenwagen. Im Inneren saß ein Beamter. Auf dem Gelände war niemand zu sehen. In der Hoffnung, dass nicht gleich ein zweiter Beamter aus der Haustür herauskommen würde, weil er auf der Toilette war, machte Claude sich auf den Weg. Von einer Linde zur nächsten huschte er und hoffte, nicht im Rückspiegel gesehen zu werden. Als er an die Terrassentür klopfte, öffnete ihm seine Mutter und zog ihn hinein. In der Küche lagen sie sich in den Armen. Sie weinte. Und das verschlug ihm die Sprache. Er hatte sie nie weinen sehen, niemals. Ein paar Tränchen verdrücken, das schon, aber nun bebte und schluchzte sie. Claude heulte mit. Es tat ihm gut, sie im Arm zu halten. Er roch die Seife, die sie immer benutzte. Sie war schlank und trug einen warmen Rollkragenpullover über ihrer Jeans. Nach einer Weile machte sie sich los.

»Mein Claude, mein Lieber«, sagte sie und küsste ihm die Wangen. Ihre Augen wanderten liebevoll an ihm auf und ab. »Geht es dir gut? Bist du irgendwo untergekommen?«

»Ja, ich habe da jemanden kennengelernt.«

Er sah in ihrem Gesicht, dass sie etwas auf dem Herzen hatte. Die Frage brannte ihr wohl auf den Lippen.

»Möchtest du ihn sehen?«

Claude atmete tief ein und wischte die Tränen ab. Er hatte eigentlich ablehnen wollen, doch dann spürte er, dass er niemals glauben könnte, dass sein Vater tot war. Wenn er richtig Abschied nehmen wollte, musste er ihn sehen.

»Ja. Allein.«

»Natürlich, mein Schatz. Geh nur.« Sie putzte sich die Nase.

Im Schlafzimmer brannte eine Kerze. Es roch nach Salben und medizinischen Ölen. Sein Vater hatte oft umgelagert werden müssen, denn er hatte eine Wundstelle am Rücken gehabt. Claude trat näher an das Bett. Sein Vater hatte die Hände gefaltet, das Haar war ordentlich gekämmt. Sein Gesicht sah zwar eingefallen, aber friedlich aus. Zu Claudes Erleichterung hatte man sein Kinn nicht hochgebunden – der Mund war geschlossen, die Lippen bläulich. Er strich ihm kurz über das Haar, das frisch gewaschen zu sein schien.

»Vater, mach’s gut«, sagte er und riss sich zusammen, denn die Tränen wollten schon wieder aus seinen Augen strömen.

»Es tut mir leid. Ich war nicht wirklich ein guter Sohn. Das kann ich jetzt nicht mehr nachholen. Es ist zu spät. Zu spät.« Es gab nichts mehr, was er seinem Vater hätte sagen wollen, doch trotzdem kamen die Worte aus seinem Mund.

»Vater, ich bin nämlich schwul, weißt du? Das war gar nicht so einfach. Ich kenne dich ja …«

So stand er bei ihm und redete und redete. So viel hatte er auf dem Herzen, so viel war auf einmal in ihm. Plötzlich kam er sich vor wie ein Feigling, der erst seinem toten Vater alles erzählte, was er sich früher nicht zu erzählen getraut hatte. Doch dann besann er sich, dass es einfach nicht möglich gewesen war. Er konnte und wollte die Zeit nicht wieder zurückdrehen. Es war so geschehen, wie es geschehen war, und sein Geständnis erleichterte ihn. Er wollte gar nicht wissen, wie viele Kinder ihren toten Eltern auf diese Weise beichteten – sicher war er bei Weitem nicht der Einzige. Er verstummte voller Rührung und Liebe, die er im Leben kaum für seinen Vater aufgebracht hatte. Noch einmal nickte er, dann kehrte er in die Küche zurück, wo seine Mutter am Tisch saß.

»Geht es?«

Claude nickte und atmete auf. In seinem Inneren war es plötzlich viel ruhiger.

»Ja, Mama, es geht. Es war … gut so.«

Sie lächelte und schenkte ihm einen Marc ein, den er in einem Zug hinunterkippte.

»Hast du schon Pläne für die Beerdigung?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich warte noch drei, vier Tage ab. Bis dahin wird klar sein, dass du unschuldig bist. Du wirst mit Würde und hoch erhobenem Haupt hinter seinem Sarg hergehen.«

Liebevoll drückte er ihre Hand. »Das werde ich auf jeden Fall. Ich bin dem Täter auf der Spur.«

»Sag mir jetzt nichts mehr, ich mache mir sonst nur Sorgen«, bat sie schnell. »Und sei bloß vorsichtig.«

»Ja, das bin ich.«

Eine Weile schwiegen sie. Seine Mutter hatte die Gardinen zugezogen, damit niemand sie von außen sehen konnte.

»Bertin hat gesagt, du solltest dich stellen, sonst würdest du alles noch schlimmer machen.«

»Das kann ich jetzt nicht mehr. Aber bald, Mama, bald. Ich verspreche es dir.«

Wieder rückten die Zeiger der Küchenuhr einige Minuten vor.

»Noch etwas anderes, Claude. Wegen deines richtigen, ich meine, leiblichen Vaters …«

Claude rutschte auf der Stuhlkante näher an sie heran. Das hatte er beinahe vergessen vor lauter Aufregung. Er hatte ja noch einen Vater. Seit einem Vierteljahr brannte er darauf, mehr von ihm zu erfahren. Seine Mutter setzte jedoch ein betrübtes Gesicht auf.

»Nun, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Dein Vater, ich meine, du weißt schon … der ist auch gestorben. Vor ein paar Wochen.«

Claude schrak auf und fasste sich an die Stirn. »Was? Das gibt es doch nicht!«

»Doch, es tut mir leid. Jetzt kannst du ihn nicht mehr kennenlernen, das ist sicher irgendwie … komisch für dich, nicht wahr?«

Claude drehte das leere Schnapsglas in den Händen. So erfolgreich seine Ermittlungen auch gerade verliefen – in seinem Privatleben schien sich alles gegen ihn verschworen zu haben. »Schütt mir noch einen ein. Auf einen Schlag zwei Väter. Das kann nur mir passieren. Wer war er?«

»Er hieß Raoul und wohnte damals in Montpellier.«

»Wo habt ihr euch kennengelernt?«

»Am Strand von Sète. Ich war für drei Wochen bei Tante Madeleine zu Besuch, nach der Ernte.« Sie füllte sein Glas voll.

Wann sonst? Zuerst musste die Ernte eingefahren sein. Erst nach dem Leeren der Getreidefelder und nach der Weinlese wurden Besuche gemacht.

»Warst du verliebt?« Er traute sich kaum, ihr diese Frage zu stellen. Tief in seinem Inneren konnte er immer noch nicht glauben, dass seine Mutter die treibende Kraft gewesen war, eine Familie zu gründen.

»Ja, das war ich. Er war ganz anders als alle Männer, die ich kannte. Er war erfolgreich. Ein Professor war er später. Er hatte dann noch eine Frau, aber keine Kinder. Du warst das einzige Kind, und er kannte dich nur von Fotos.«

»Du hast ihm geschrieben?« Das erschien ihm fast unglaublich. Da gab es also noch mehr als den kurzen Liebesakt vor dreißig Jahren.

»Ja, aber ganz selten. Zuletzt vor fünf Jahren, als du auf die Polizeischule gegangen bist. Ich war so stolz auf dich.«

»Na, die Intelligenz habe ich nicht von ihm geerbt.«

Madame Bocquillon lächelte. »Stell dein Licht nicht unter den Scheffel.«

»Was?«

»Mach dich nicht kleiner, als du bist, Claude. Du hast seine Neugier geerbt, den Drang, aufzuklären. Das ist mehr, als manch einer von sich sagen kann. Ich habe so viele Diskussionen mit ihm geführt. Er war durchaus politisch. Er wollte immer neue Argumente hören, alles prüfen und durchkauen. Er war ein Nimmersatt. Glaub mir, das hast du von ihm geerbt.«

Diese Vorstellung gefiel ihm. Wer immer du auch bist, unbekannter Vater, ich bin ein Teil von dir, dachte er und fühlte sich getröstet.

»Ich habe noch so viele Fragen, Mama, aber ich muss jetzt weg. Ein Freund von mir wartet auf den Feldwegen.«

»Auf dem Weg hinter dem Haus?«, fragte seine Mutter. »Aber da steht doch auch ein Wagen.«

»Nein, da stand vorhin keiner.«

Seine Mutter sprang auf und ging in den Flur, um ihre Jacke vom Haken zu nehmen.

»Dann ist er für eine Weile fortgefahren. Aber eigentlich hätte er dort stehen müssen. Ich schaue nach, ob die Luft rein ist.«

»Und ich telefoniere mal eben.«

Schnell tippte er Mahmouts Nummer ein, doch bevor er die Lage erklären konnte, sagte dieser: »Claude, da steht jetzt ein Streifenwagen. Er kam vor einer Viertelstunde an. Was soll ich tun?«

»Du musst von vorn hereinkommen, als Lieferant. Sie werden den Wagen durchsuchen, aber wahrscheinlich nicht mehr auf dem Rückweg.«

»Bist du verrückt? Mit einem gestohlenen Wagen?«

»Ach, er ist gestohlen? Was soll ich nun von dir denken?«, frotzelte Claude.

»Blödmann, ich habe ihn doch nicht geklaut, sondern …«

»Keine Einzelheiten«, wehrte Claude ab. »Warte mal, komm einfach als Gehilfe des Bestatters, der schon einmal mit der … na, mit der Leiche anfängt. Mutter wird dich anmelden mit deinem normalen Namen. Sag, du kommst aus Alès.«

»Gut, ich versuche es.«

»Bis gleich.«

Da kam seine Mutter zurück, außer Atem.

»Ich weiß schon, Mama. Würdest du vielleicht zu den Polizisten vorn gehen und sagen, dass gleich der Gehilfe des Bestatters kommt, um schon mal anzufangen? Sein Name ist Semmadi, falls sie ihn überprüfen.«

»Du willst zur Vordertür hinaus?«

»Ja, anders geht es doch nicht. Die Felder sind alle leer, die sehen mich auf zehn Kilometer.«

»Ich kann dich doch auch hier verstecken.«

»Bis in alle Ewigkeit? Nein, so kann ich den Täter nicht überführen.«

Tapfer nickte seine Mutter und ging hinaus. Claude ging zum Fenster des Salons und beobachtete, wie sie sich zum Streifenwagen hinunterbeugte. Dann kam sie wieder zurück, während der Wagen beiseite fuhr, um für Mahmout Platz zu schaffen.

Wenig später fuhr er vor und sprach kurz mit einem der Beamten, während ein zweiter die hintere Tür des Lieferwagens öffnete und hineinschaute. Claude hielt den Atem an, als wäre er schon dort versteckt. Man ließ ihn weiterfahren. Mahmout parkte und klingelte an der Haustür. Claude ließ ihn ein, verborgen durch den Türflügel.

»Gott sei Dank«, sagte er.

»Mann, mein Puls bringt mich um, Claude. Ich habe ja schon einige Sachen gemacht, aber noch nie mit einem gestohlenen Wagen die Bullen passiert.«

»Psst, meine Mutter«, zischte Claude und stellte seinen Freund vor.

»Das ist Mahmout, Mutter. Ihm habe ich es zu verdanken, dass ich die Spur des Täters aufnehmen konnte.«

»Ist das wahr?«, fragte sie verwundert und schüttelte Mahmout, der schüchtern einen Schritt nach vorn trat, die Hand.

»Na ja,« murmelte er und verstummte.

»Wir müssen jetzt eine Viertelstunde warten, damit es nicht so auffällt, wenn er schon wieder verschwindet.«

Sie nahmen in der Küche Platz, wo Claude ein wenig Smalltalk machte, um Mahmout die Befangenheit zu nehmen. Der Junge musterte die Küche und den Garten. Als er Claude nach einer seiner Bemerkungen einen glühenden Blick zuwarf, musste Madame Bocquillon lächeln, versteckt hinter einer Kaffeetasse.

»Ich glaube, wir können jetzt los«, sagte Claude mit einem Blick auf seine Armbanduhr. Madame Bocquillon wandte sich zum Schrank und holte zwei Fünfzig-Euro-Scheine aus ihrer Geldbörse, die in Claudes Jackentasche verschwanden.

»Danke, Mama«.

»Pass auf dich auf.« Sie umarmten sich innig. Claude drückte seine Nase in ihr kurzes, modisch geschnittenes Haar. Als er dann im Sichtschutz des Wagens in den Laderaum gestiegen war und sich eine Decke vom Sofa seiner Mutter übergezogen hatte, strömte das Blut im Eiltempo durch seine Adern. Das Vibrieren des Motors versetzte ihn in höchste Nervosität. Mahmout fuhr an, und das Auto ruckelte über die kleinen Schlaglöcher auf dem Schotterweg. Doch als er abrupt stoppte, ahnte Claude das Schlimmste. Die Spannung umklammerte ihn so sehr, dass er sich nicht rühren konnte. Selbst das Atmen fiel ihm schwer.

»Merde«, hörte Claude Mahmout zischen und lauschte angespannt. »Da ist noch ein Bulle gekommen«, flüsterte Mahmout ihm zu. Es blieb keine Zeit, sich über eine List Gedanken zu machen. Die Hintertür wurde geöffnet. Eine Hand klopfte kräftig auf seine Wade, die von der Decke verhüllt war. Jemand räusperte sich. Claude schloss schicksalsergeben die Augen. Es war eine Scheißidee gewesen. Er richtete sich auf, warf die Decke von sich und blickte direkt in die Augen von Leutnant Bertin, der die beiden Flügeltüren festhielt und so die ganze Breite des Wagens einnahm. Sie starrten sich schweigend an. Nun war es um ihn geschehen. Claude ließ den Kopf sinken. Er fühlte sich wie ein Delinquent auf dem Weg zur Hinrichtung. Wieder schaute er Bertin an. Nur kurz wunderte er sich darüber, dass der Gendarm zivile Kleidung trug. Bertins Schnurrbartspitzen zuckten, und er kniff die Augen ein wenig zusammen.

»Nichts zu sehen«, sagte er laut und warf mit einem Knall die Flügeltüren zu. Claude sog die Luft ein und sah sich zu Mahmout um, der leichenblass geworden war.

»Willst du hier Wurzeln schlagen? Los, fahr!«, flüsterte Claude und legte sich wieder hin, damit die beiden Beamten, die neben ihrem Wagen standen, ihn nicht durch das vordere Fenster sehen konnten. Als der Lieferwagen auf die Route de la Draille abbog und Fahrt in Richtung Alès aufnahm, spürte Claude, wie seine Zähne gegeneinanderschlugen. »Oh, Jean, du verdammter Kerl«, stammelte er. Die Sonne ging gerade unter.

* * *

An der Route d’Uzès warteten alle Polizeibeamten auf das Erscheinen des Erpressers. Kommissar Lambert hatte eine Beamtin im Inneren des Super U postiert. Sie stand mit einer Einkaufstüte beladen am Fenster und ließ den Mülleimer, der zwanzig Meter entfernt am Schutzdach der Einkaufswagen angebracht war, nicht aus den Augen. Lambert selbst saß in einem Fahrzeug mit getönten Scheiben, während ein Beamter den Hof fegte und ein anderer unbeteiligt vor dem Eingang eine Zigarette nach der anderen rauchte. Als Bertin angelaufen kam und sich zu Lambert setzte, knurrte der Kommissar:

»Na toll, jetzt weiß Claude, dass wir hier sind.«

Ich glaube nicht, dachte Bertin befriedigt. Sein Gespür hatte ihn nicht getäuscht. Kaum hatte er vom Tod des alten Bocquillon gehört, war er nach Ribaute aufgebrochen, um dort gerade rechtzeitig Claudes Flucht – hinzunehmen. Er konnte nicht sagen, warum er an Claudes Unschuld glaubte, doch er war tief in seinem Inneren davon überzeugt, dass Claude nicht hier am Ort der Übergabe auftauchen würde. Zwar war der Wagen in Richtung Alès gefahren, doch Bertin, der ihn unauffällig verfolgt hatte, wusste, dass er in die entgegengesetzte Richtung des Treffpunktes abgebogen war. Natürlich konnte Claude sich Zeit lassen, doch es bestand die Gefahr, dass Passanten das Geld entdecken würden. Nein, der wahre Täter würde bald kommen. Es wurde halb sechs, dann sechs Uhr. Die Beamten im Wagen schwiegen sich an und beobachteten das Treiben der Menschen, die nun zum Feierabend in immer größeren Scharen den Supermarkt betraten und verließen. Das Geld, das die Familien der entführten Kinder mit Mühe bei den Banken erbettelt hatten, war in einer blauen Plastiktüte deponiert und ruhte im Mülleimer. Ungeduldig drückte Lambert den Knopf seines Mikrofons, das er sich an den Kragen gesteckt hatte.

»Legrand soll nachsehen, ob das Geld noch da ist.«

Nur wenige Augenblicke später schlurfte der Mann mit dem Besen in der Hand zum Mülleimer, fegte hier und dort und spähte in den Eimer hinein.

»Ist noch drin«, hörten die Wartenden.

»Wieder auf deinen Posten, Legrand.«

Der Mann bewegte sich fegend davon. Der Hof war sauber wie nie zuvor …

»Unser Claude macht es aber spannend«, sagte Lambert. Die Uhr zeigte zehn nach sechs. Überall Frauen und Männer mit Einkaufswagen, offene Kofferräume und umherwuselnde Kinder. Eine Hupe ertönte, und ein Wagen parkte nicht weit entfernt von ihnen aus.

»Der hat uns gesehen«, vermutete der Kommissar.

»Warten wir es ab.«

Da bog plötzlich das schwer gepanzerte Fahrzeug eines Geldtransportdienstes auf den Parkplatz ein. Ehe Lambert sich entscheiden konnte, ob er es verhindern sollte oder nicht, fuhr der Wagen rückwärts an die Nebentür des Supermarktes, die nicht weit entfernt von dem überwachten Schutzdach lag. Das blaue Ungetüm schob sich zwischen den Mülleimer und die Beamten. Lambert riss seine Augen auf, beugte sich vor und umklammerte das Lenkrad.

»Verdammt! Was soll das?«

Schnell gab er seine Anweisung. »Legrand, bist du noch da? Los, schau nach, was sich am Mülleimer tut.«

Der Beamte schulterte den Besen und ging gemütlichen Schrittes über den Hof. Lambert hätte am liebsten gejault vor Ungeduld. »Legrand, schneller, Sie Blödmann!«

Der Mann beschleunigte seinen Schritt.

»Na, unser Claude wird wohl jetzt weg sein. Das ist alles viel zu auffällig«, brummte Bertin.

»Bon Dieu, was sollen wir denn sonst tun?« Lambert schlug mit der Faust auf das Armaturenbrett.

»Chef, Chef«, meldete sich Legrand.

»Was ist?«

»Hm, also, das Geld – es ist verschwunden.«

»Merde!«, brüllte Lambert und sprang aus dem Wagen. Bertin folgte ihm gemessenen Schrittes.

»Sperrt den Bereich hier ab!« Plötzlich wimmelte es von herrischen Männern, die die Kunden des Marktes von dem Schutzdach fernhielten. Inzwischen war Lambert an die Fahrerseite des Geldtransporters getreten und zeigte seinen Ausweis.

»Aufmachen! Los, ich muss Sie etwas fragen!«

Der Fahrer nahm nur sein Walkie-Talkie zur Hand und deutete auf seine Kollegen, die inzwischen an der Tür standen.

»Was ist denn los?«, fragte einer von ihnen, nachdem sie sich beruhigt und die Hände von den Waffen genommen hatten.

»Haben Sie einen Mann gesehen, der eine blaue Tüte aus dem Mülleimer genommen hat?«

»Glauben Sie, ich schaue mir an, wie Penner im Müll wühlen?«

»Also nein?«

»Nein. Ist mir nicht aufgefallen.«

Sein Kollege gab an: »Ja, als wir ausstiegen, waren hier ein paar Leute unter dem Dach – schließlich müssen wir alles im Auge behalten.«

Die Beamtin kam herbeigelaufen, immer noch ihre Tüte schleppend.

»Madame Morbier, wer war unter dem Schutzdach oder auf dem Weg hierher, als der Geldtransporter kam?«

Wie auswendig gelernt rekapitulierte sie: »Ein Mann mittleren Alters, eine Frau mit einem Kleinkind, etwas entfernt eine ältere Dame, noch ein Mann, nicht mehr ganz jung, der einen Parka trug.«

»War Claude Bocquillon unter ihnen?«

»Ja, er war die Frau«, sagte Bertin leise.

Lambert verdrehte die Augen und wartete auf die Antwort seiner Untergebenen.

»Nein, niemand, der ihm ähnlich sah.«

Lambert sog die Luft in seinen Brustkorb, ganz langsam. Die Luft füllte seinen Kopf mit Sauerstoff und entspannte seine Muskeln.

»Claude war es nicht. Vielleicht sein Komplize. Oder vielleicht auch jemand ganz anderes.«

Endlich, dachte Bertin, doch er wusste, dass Lambert nicht so schnell von Claude ablassen würde. Da klingelte das portable des Kommissars. Während er seine Leute ausschickte, um Fingerabdrücke am Mülleimer zu nehmen, nahm er das Gespräch an, hörte zu, fragte nach. Dann beendete er das Telefonat und blieb nachdenklich stehen, das Telefon noch in seiner Hand.

»Und?« Bertin war gespannt.

Lambert schrak auf. Seine Augen wirkten müde.

»Die Ausdrucke der Erpresserbriefe kamen nicht von Claudes Drucker. Es passt nicht. Es sind auch keine pädophilen Seiten aufgerufen worden, noch wurden entsprechende Dateien auf der Festplatte gefunden.«

»Was schließen wir daraus?«

»Ich wette, dass er die Briefe irgendwo anders gedruckt hat. Wir werden alle Bekannten überprüfen und alle Copyshops der Umgebung. Im letzten Brief hat Claude – pardon – der Erpresser sich über uns lustig gemacht. Das ist das Einzige, was zu Claudes Charakter passt.«

Bertin lachte auf und schlug sich auf den Schenkel. »Toll!«, höhnte er.

Lambert entgegnete: »Finden Sie nicht, dass es zu ihm passt? Er will uns zeigen, was für ein guter Detektiv er ist. Und wir sind nur Luschen.«

»Und der vermutete Missbrauch?«

Lambert drehte sich zu dem Gendarm um und sagte ernst: »Das Ergebnis der Obduktion ist da.«

* * *

Die Nacht verbrachten Claude und Mahmout dank der Geldspende in einem kleinen Hotel am Fluss, nicht weit von der Avenue Carnot entfernt, in der Nathalies Vater wohnte. Claude lag nach einem kurzen Imbiss auf dem Bett und ließ die Gedanken vorüberziehen. Es war so viel passiert, dass er seine Überlegungen nicht sortieren konnte, sondern sich dem Strom der Erinnerungen überließ: Die milde Stimme des Täters, die barsche Stimme seines Vaters, die argumentierende Stimme seines unbekannten Vaters, Amélies besorgte Stimme, Juliens Lachen, Juliens Küsse, Mahmouts Küsse, Bertins drohender Blick. Jean-Luc, der aus dem Fenster schaute, der tote Marcel mit Bonbonpapier in seiner Tasche, Mahmout, der auch tot war – Claude schrak auf und schoss aus den Kissen hoch, dann riss er sich zusammen. Er würde noch verrückt werden, die ersten Halluzinationen hatte er schon. Mahmout – ja, er war auch noch ein Junge, unschuldig und auf der Suche, und er selbst war der Verführer, der wesentlich ältere Mann, der ihn umarmen und lieben wollte. Alberts Worte kamen ihm in den Sinn: »Wir Schwulen, wir sind ja alle auf der Suche nach Frischfleisch.« War das wirklich so? Im Falle Mahmouts traf diese Behauptung fast zu.

Claude sank wieder zurück und wischte sich über die Stirn. Die Elektroheizung lief, das verdunkelte Fenster lag in Richtung der Straße und ließ den Verkehrslärm hinein. Die Bettwäsche war schlicht, und die Teppichleisten lösten sich hier und dort von der Wand. Plötzlich erschien Mahmout in der Tür zum Bad, nackt, dampfend nach der Dusche, frisch und im Dämmerlicht so wunderschön anzusehen, dass Claude seinen Blick nicht abwenden konnte. Mahmout war bei ihm, er war nicht allein. Seine dunklen Augen tauchten tief in Claudes ein. Langsam kam der Junge auf das Bett zu und legte sich hin. Claude zog mit einer schnellen Bewegung seinen Slip aus und drehte sich in seine Arme. Sie ließen nur das Nachtlicht an, um sich sehen zu können. Sie spürten sich: samtene Haut, schwellende Glieder, schlanke Finger. Vergessen der Eindruck des Jungenhaften – Mahmout war ein junger Mann, neugierig und immer mutiger. Er bäumte sich auf, als Claude seinen Kopf an Mahmouts Unterleib drückte, und er schrie leise auf, als Claudes Lippen sein Glied liebkosten. Mit der Faust schlug er ins Kissen, als Claude ihn befriedigte. Mahmout schrie und keuchte immer wieder. Sie versanken in einen Taumel, beruhigten sich, schliefen, wachten auf, die Hand in der des anderen, und liebten sich erneut. Claude vergaß seine Trauer, seine Lage, seine nächsten Schritte. Er lebte jetzt und hier und erweckte Mahmouts Sexualität endgültig zum Leben. In Zukunft würde er stolz darauf sein, schwul zu sein. Es gab keine Scham mehr, kein Verstecken. Mahmout war ein stolzer Prinz aus dem Orient, der nun in seinen Armen schlief. Claude küsste seine Bartstoppeln und kuschelte sich an ihn. Draußen war der Verkehr verstummt. Er hörte nur noch das Rauschen des Flusses, immerwährend, ewig.