VI

ES war ein 58er Pontiac Super Chief von dem Blau eines zu warmen Hotelpools mit Sitzen in der Farbe einer Hochzeitstorte, Vila und Bühl sanken in die Rückbank, über ihnen blanker Himmel, der Fahrtwind warm und würzig: ohne Bühls Leiden der perfekte Beginn eines Ausflugs – Aber die Scheißerei gehört zu Havanna wie der Geheimdienst, sagte Spiegelhalter. Der Leiter des Instituto Fichte saß vorn, eine Flasche Wein in der Hand; sein erster Blick auf Vilas Begleiter hatte für die Diagnose gereicht. Und hinter dem mächtigen Lenkrad der Hauptmann, das Modell hatte schon Automatik, es ging auch mit einem Bein, er fuhr zum Malecón hinunter und dort in nördlicher Richtung auf die alten Casinos zu. Das Meer dunkelblau, über den Wellen die Möwen, torkelnd im Wind, am Horizont ein dünnes Wolkenband; italienisches Licht.

Und Vila hielt zwei Hände, die nicht Renz’ Hände waren, kühl und leicht in ihren ohne Schmuck, sie trug weder Ring noch Armreif, nur die Reverso, innen das Datum von Katrins Geburt, ihr wahrer Hochzeitstag, wie diese Uhr auch ihr geheimer Ring war – ein klarer Tag im März, sie hatte lange versucht, Katrin auf die Welt zu bringen, so, wie es sein sollte, dann die Entscheidung, das Kind zu holen, also bekam Renz es vor ihr zu sehen, einen halben Nachmittag war er allein mit dem knittrigen Wesen, die innigsten Stunden, die er mit Katrin je hatte, und am Abend brachte er ihr das Bündel, der Mutter, die sie selbst noch dabei war, wieder die Welt zu betreten. Unser Kind, sagte er, und bis Katrin aus dem Haus war, dachte sie, es sei der beste Moment ihrer Jahre gewesen, und im Grunde dachte sie es noch immer, nur war die Kehrseite dieses ersten Abends zu dritt, der dunkle Punkt, an dem ein Paar zum Paar verdammt wird, als gäbe es ein verborgenes, eigentliches Sakrament der Ehe, die heilige Hassliebe, stark genug, jedes Verlangen nach Veränderung im Keim zu ersticken. Und auf einmal der unbegreifliche Wunsch, dass Renz neben ihr säße, seine Hände in ihren lägen und sie sich gegenseitig auf Dinge aufmerksam machten, wie immer bei Reisen, Siehst du die Kaimauer: wie eine gebogene Schiene, die alles dahinter Liegende, Bröckelnde abstützt. Und er: Ja, ja, die Höhenflüge längst vergessener Bauherren.

Wir schaffen das, sagte Bühl, als sie vor einer Ampel standen, wir finden deine Tochter. Heute finden wir sie!

Vila legte den Kopf an seine Schulter. Sie konnte nichts erwidern, nichts – jahrelang hatte sie sich ihre Verdammnis mit der Fessel an Katrin erklärt, das Kind, das sie am Leben erhalten musste, Tag für Tag, Nacht für Nacht, eine Fessel, die erst von ihr abfiel, als Katrin zwölf war und mit den Eltern einer Freundin im Sommer ans Meer fuhr, ohne die Spur einer Abschiedsträne, und sie mit Renz auf einmal ganz allein im Haus war, mit schrecklich viel Zeit füreinander, aber ohne Plan, wie sie zu füllen sei. Renz putzte aus lauter Verlegenheit und kaufte auch ein, er brachte ein enthäutetes Kaninchen von dem künstlerischen Metzger und packte es vor ihr aus, erbärmlich wie eine Frühgeburt lag es auf altem Zeitungspapier, sie konnten es nicht zubereiten, nicht essen, und begruben es schließlich im Garten und aßen stattdessen Nudeln mit Butter und gingen danach ins Bett, in seins, in das man nur ging, um zu kommen: ihr Wortspiel, das er später vor Freunden, Heide und Jörg mit mallorquinischer Finca, zum Besten gab; wie immer waren es die kleinen, ungeheuren Vertrautheiten, die sie zueinandertrieben, ein Wort, eine Geste, ein Anblick, Dinge, die keine Gütertrennung je erfassen könnte. War das Bett dann erledigt, fing Renz an zu warten, dass Katrin anrief, aber sie rief ihn nicht an, wie sie auch nie Papa sagte, höchstens als Witz. Als sie das Sprechen lernte, hatte er sich gerade einer Schauspielerin zu Füßen geworfen und es versäumt, Teil ihrer kindlichen Sprache zu werden, und gar nicht gemerkt, wie seine Tochter ihn, allerliebst lächelnd, exkommunizierte. Er bemerkte nur bald die Folgen und begriff, dass er drei weibliche Wesen auf einmal nicht halten konnte, also versuchte er, das schwächste loszuwerden, die Geliebte, und das ganz allmählich, damit es weniger wehtat. Er hat die Schauspielerin, die mit seinen Sätzen im Mund als Chefin eines Lokals ihren täglichen Kampf mit den Gästen und Angestellten führte, jeden Dienstag ab neunzehn Uhr fünf, langsam vergiftet, ihre Gefühle für ihn immer unmöglicher gemacht, indem er sich unmöglich machte, ein Verfahren, das sie, als seine Frau, erschreckt hatte, obwohl sie Nutznießerin war. Zuletzt tat ihr die Schauspielerin fast leid, zumal sie noch seine Sätze sprechen musste und dabei alterte; das Ganze wurde vorzeitig abgesetzt, es gab auch keine Wiederholungen. Monatelang hat der Sender noch erklärt, die Sache würde weitergehen, ja sogar Drehbücher in Auftrag gegeben und die Schauspielerin in Talkshows geschickt, und dann hörte es mittendrin auf, eine saumäßige Trennung wie die von Renz. Lippenstift und Rosmarin hieß die Serie. Und als sich das Ganze erledigt hatte, reisten sie zu dritt durch Florida und bereiteten im Grunde Katrins späteren Abgang vor. In einem Holiday Inn bei Daytona Beach, wo es Kinderbetreuung gab, fanden sie nach fast einem halben Jahr wieder zusammen, und beide hielten sie diese Nachmittagserlösung für göttlich, wo sie doch nichts als menschlich war.

Schläfst du? Bühl tippte ihr an die Stirn, und sie streichelte seine Hände, Zeichen, dass sie wach war, bei ihm und nicht woanders, die erste kleine Falschheit. Was macht dein Leiden, fragte sie ihn, und er zog nur ihren Kopf an seine Brust: die etwas Festes und zugleich Weiches hatte, ein entspannter Muskel, fest und weich wie die Beine von Renz, als er noch Tennis spielte oder sonst wie in Bewegung war – nach der Floridareise hatten sie einen Tanzkurs belegt, mit Freunden aus derselben Straße, Anne und Edgar, sie Physiotherapeutin, er Sportjournalist. Und nach der dritten Stunde hatte Anne einen Radunfall und musste aufhören, und Renz lag mit Grippe im Bett, aber der Kurs war bezahlt. Also machten Edgar und sie allein weiter, er wollte unbedingt Tango lernen, Anne hatte ihm den Kurs zum Geburtstag geschenkt, und so übte er alle Griffe und Schritte mit ihr, die kleinen Befehle, die der Mann in den Rücken der Frau drückt, und nach dem vierten Mal gingen sie hinterher etwas trinken, während Anne in der Reha war und Renz in Berlin, und irgendwie eskalierte alles, sie gingen in Annes Praxis und trieben es dort oder versuchten, es dort zu treiben, sie noch im Tanzkleid, auf dem Boden Strumpfhose und Slip, er idiotisch nackt. Es war so gut wie nichts passiert, folglich gab es auch nichts zu erzählen, und Anne und Edgar waren nach wie vor ihre Freunde, obwohl alles existierte, was die Freundschaft zerstören konnte. Aber irgendetwas musste sie loswerden, und sie erfand eine Geschichte für die Edgar-Geschichte, eine Hotelzimmersache mit einem ihrer Kandidaten, der am Ende aus Termingründen gar nicht in die Sendung kam; sie erfand sogar Details, nur um Renz zu verletzen, und er brachte auch welche, zwischen ihm und der abservierten Schauspielerin. Sie überboten sich gegenseitig bei zwei Flaschen Barolo, bis sie weinten und übereinander herfielen: das erste Mal, dass es keinen würdigeren Ausweg gab als den des Sex, der an sich schon wenig Würde hat, aber blödsinnig guttun kann, wie ein Hausputz im Sommer und das Rasenmähen, wenn danach das gereinigte Haus auf einem grünen Teppich steht, so satt geborgen in der Abendsonne, dass man ein Foto macht und beim Anschauen des Fotos leise seufzt.

Sie waren ein Stück vom Meer abgebogen, die Gegend der einstigen Casinos und Ballroom-Hotels lag hinter ihnen, jetzt ging es durch weites Brachland, darauf nur verstreute Gebäude, wie vom Himmel gefallen, eine Öde, die abrupt endete; auf einmal blühende Bäume, jungfräulich weiße Palais und Polizei an jeder Ecke, das Diplomatenviertel. Und in der Calle Vente oder Straße Nummer zwanzig wohnte der Dichterheld des kubanischen Volkes Pablo Armando Fernández mit Verbindungen bis in die Staatsspitze. Vila griff Bühl an den Magen, Was macht die Krankheit? Sie war besorgt um ihren Kameramann, und der presste seine Lippen aufeinander, wie amerikanische Präsidenten, wenn sie sich und der Welt Mut machen wollen, und zog eine Falte an ihrem Kleid glatt, eine Bewegung ganz nebenbei, als Kampe mit dem alten Pontiac schon in die Calle Vente bog, um gleich vor dem ersten Haus zu halten, einer verwinkelten Villa halb unter Bäumen, alle Fensterläden zu, alles ruhig. Nur eine Katze strich durch den Vorgarten, die erste Katze, die Vila in Havanna auffiel, eine Hundestadt.

Spiegelhalter und der Hauptmann stiegen aus, sie besprachen die Taktik, falls Sicherheitsleute auftauchen sollten, ein Geflüster in der Nachmittagsruhe, bis ihr Havanna-Führer einmal leicht an die Türglocke schlug, ein Ton wie der im Kirchturm von Torri bei Kinderbegräbnissen, und nach kurzer Stille ging eins der Fenster auf, darin eine Frau um die Fünfzig mit militärisch anmutendem Funkgerät. Die mürrische Tochter, so heißt sie hier, sagte Spiegelhalter und rief dann etwas auf Spanisch, eine Art Parole, zweimal, dann machte die Tochter ihm Zeichen: um das Haus herumzugehen, allein. Und schon verschwand er im Dickicht des Gartens, während der Veteran samt Krücken bei einer Bananenstaude vor dem Grundstück Spähposten bezog. Vila zeigte auf die Kamera, sie wollte Außenbilder, und Bühl tat, was er konnte, trotz unerbittlicher Peristaltik. Das schlösschenartige Haus in der Totale, mit und ohne Garten. Close-ups auf die Veranda, die kleinen Balkone; zuletzt der Spähposten und ein Schwenk über die Straße. Danach gleich das Sichten der Bilder, bis Spiegelhalter wieder aus dem Dickicht trat, in der Hand schon ein Glas Rum. Fernández empfängt uns!

Die Haustür ging von innen auf, und nacheinander betraten sie das Dichterreich im Diplomantenviertel, zuerst der schon Vorgelassene mit seinem Rum, gefolgt von der Interviewerin und zuletzt Bühl mit der Kamera. And where is your sound man? Die mürrische Tochter stand in einem Vorraum neben einer weißen geschwungenen Treppe, rauchend in einem Anzug mit Kragenspiegeln, Uniform oder Phantasieuniform, in einer Hand das Funkgerät, in der anderen Zigaretten. Spiegelhalter gab ihr eine Erklärung, was den Ton betraf, kein Wort ihres Vaters gehe verloren, und Bühl nahm schon architektonische Kleinode auf, Halbbögen und Kapitelle, marmorne Nischen, Fenster aus buntem Glas, dahinter Meisterwerke von Gittern, Schutz für die Kunst an den Wänden. Russische Kubisten, die musst du scharf bekommen, sagte Vila, nur blieb für scharfe Bilder keine Zeit mehr. Wie man es von karibischen Dichterberühmtheiten erwartet, kam Pablo Armando Fernández im Tropenanzug über die geschwungene Treppe seinen Besuchern entgegen, ein untersetzter Mann mit Beethovenschopf und eisgrauem Kinnbart, einer gestauchten Raubvogelnase und dem Blick eines Revolverhelden aus zwei Husky-Augen. Das Leben und das Denken haben uns hier zusammengeführt, sagte er auf Englisch, und Vila wurde gleich eine Frage los, wie man in so schöner Umgebung überhaupt denken könne. Der alte Dichter legte Bühl eine Hand auf die Schulter, als hätte er ihm die Frage gestellt – I think with my heart, so it works. What’s your name? Und Vila übernahm es, ihren Kamera- und Tonmann vorzustellen, mit vollem Namen: der Beste auf seinem Gebiet im ganzen Sender.

Then welcome in my heart, Chris! Fernández hakte sich bei Kristian Bühl unter, er führte ihn von dem Vorraum in ein verwinkeltes Wohnzimmer, die Wände dort ebenfalls voller Bilder wie aus einem Museum. Alles aufnehmen, sagte Vila, als sich der Hausherr schon auf einem Sofa im halben Sonnenlicht niederließ – der Grund für die Tageszeit des Interviews, erklärte er, smoothy sunshine. Leise Worte nur für den Kameramann, und dabei stieß er, wie aus Versehen, an ein gerahmtes Foto auf dem Sofatisch, eine Bewegung, die überging in das Glätten von Falten an seinem hellen Anzug, der ihn größer erscheinen ließ; den Rest besorgten die Absätze schon mehr funkelnder als glänzend schwarzer Schuhe. Vila tippte an Bühls Arm, Das Foto auf dem Tisch, in Groß! Und er holte es heran, in allen Details – drei alte Männer saßen auf dem Sofa, auf dem Fernández saß, an zentraler Position er selbst, links neben ihm leibhaftig Fidel Castro, schon von Krankheit gezeichnet, aber noch im Kampfanzug, und zu seiner Rechten, für einen Leser von Romanen noch erstaunlicher als Castro, der Autor von Hundert Jahre Einsamkeit, García Márquez, offenbar bestens gelaunt, in einem weißen bestickten Hemd, die Manschetten umgeschlagen, dass man die goldene Rolex sah, wie bei dem Vater der kubanischen Revolution die schwere seitlich sitzende Pistole. Der Freund beider Berühmtheiten wandte sich an den unbekannten Kameramann: sein Achtzigster vorigen Monat. Und er hätte ihn eingeladen, wäre er da schon in Havanna gewesen – you und your camera, Chris!

So ist der Mann: schwul, sagte Spiegelhalter, inzwischen vom Rum zum Wein übergegangen, während Bühl gar nichts sagte, ja hinter dem HD-Gerät förmlich Zuflucht suchte; wie eine Nasenmaske, skurril venezianisch, hielt er es vors Gesicht, die andere Hand am Bauch, auf dem Rumoren darin und darunter, im Moment durch nichts zu beruhigen, am wenigsten durch einen Eistee, den die Tochter servierte, das Militärfunkgerät jetzt am Koppel. Signor Fernández, wenn Sie hier in Ihrem Haus sitzen und schreiben, sagte Vila mit Seitenblick auf Spiegelhalter – der sofort laut übersetzte, wie es mit der Tochter vereinbart war, und ihr dabei das leere Glas hinhielt –, gibt es da nicht immer den Konflikt zwischen dem gefeierten Staatsdichter, den das kubanische Volk verehrt, und dem Mann, der nichts weiter will als eine Sprache der Liebe erschaffen? Wie vertragen sich Eros und Politik? Vila zeigte ihr Fernsehlächeln, Bühl hatte auf sie geschwenkt, so war es geübt worden, und der von Castro und García Márquez Gefeierte hob einen dürren Finger in Richtung der Kamera; überhaupt hatte er ständig die Kamera im Auge und mehr noch den vermeintlichen Kameramann, die Interviewerin interessierte ihn nur am Rande, und von ihrer Frage waren genau zwei Worte hängengeblieben. Ich feiere den Eros, erwiderte er – Spiegelhalter übersetzte jetzt simultan und streute ein Lob für den Wein aus Italien ein –, eine Feier, bei der das kubanische Volk immer bei mir ist, es gibt keinen Widerspruch zwischen Kunst und allgemeinem Willen. Wie viele Zuschauer hat Ihre Sendung? Fernández sah einen Moment lang zu Vila, nicht wirklich interessiert an einer Zahl, nur an einer Beschämung, als hätte seine Tochter die Quote längst übers Internet abgefragt, dann sah er wieder zu Bühl. Chris, are you sick? Der alte Dichter hatte nicht nur Gespür für Worte, auch für alle Erscheinungen des Havanna-Leidens, und Spiegelhalter rückte an seine Auftraggeberin heran. Das Nobelpreisthema, jetzt oder nie, flüsterte er, und Vila rückte ihrerseits so nah an Fernández, dass er sie kaum ignorieren konnte. Sie sprach von europäischen, aber vor allem von amerikanischen Stimmen, die ihn gern in Stockholm sehen würden, als Empfänger des Nobelpreises für Literatur, und von den Stimmen kam sie auf den guten Geist amerikanerischer Universitäten und ihre gute Tochter, die in Orlando studiere, genau wie sein Neffe. Die zwei kennen sich sogar, ist das nicht lustig, sagte sie auf Englisch. And how do you like America?

Der mütterliche Vorstoß war nicht abgesprochen, Spiegelhalter räusperte sich leise, während Bühl Fernández’ Aufpasserin filmte, der beste Weg, sie abzulenken. Er holte ihr Gesicht heran, den mürrischen Blick, er ging auf die Hände, die sie am Koppelschloss eingehakt hatte, er hielt die Luft an für ruhige Bilder, und seine Krämpfe kehrten zurück. Amerika, rief Fernández, auch ein Teil seines Herzen! Die vierziger Jahre in New York, mit seiner Frau, einer Sängerin, sie hätten Geld gehabt, durch die Auftritte in Jazz Clubs, gute Dollars, damit hätten sie Bilder von Emigranten gekauft, einen Kandinsky, zwei Klees, ein paar Picassos, alle weg. Und wohin, fragte Vila, als ihr Kameramann das Gerät auf den Tisch legte – eine Notlage, vom Hausherrn sofort erkannt. Fernández griff Bühl unter die Arme, seine Husky-Augen strahlten. So ist das Leben, erklärte er an Vila gewandt und mit kurzer Pause für seinen Simultanübersetzer: Wir können uns nicht aussuchen, was uns heimsucht, weder im Darm noch in den eigenen vier Wänden – den Kandinsky hat sich Che geholt, ein Matisse hängt bei Fidel, für die zwei anderen wurde Rohöl gekauft, Fidels ungebildeter Bruder hat die Picassos über dem Sofa – alle bis auf einen. Am Ende des Lebens bleibt nichts als das Leben, Madam, sagen Sie das Ihren Zuschauern, um welche Zeit wird gesendet? Acht Uhr abends, das ist meine Zeit hier im Fernsehen. Die Menschen müssen gegessen haben und mit einer Zigarre in der Hand zuhören. Und das Richtige gegessen, kein Fleisch vom Freimarkt – vamos, my friend! Und damit führte er Bühl aus dem Wohnzimmer, vorbei an seiner rauchenden Tochter, die das Funkgerät jetzt um die Schulter trug wie Wachposten eine Maschinenpistole.

Sie gingen durch zwei kleine verdunkelte Räume und danach einen Flur entlang, schmal wie ein Geheimgang, der Hausherr hatte die Hand unter Bühls Achsel, ein Polizeigriff, aber weich, dazu ein beruhigendes Einreden auf den Kranken, bis er am Ende des Ganges eine unscheinbare Tür öffnete; sie führte in ein enges Bad mit Klo, unter der Waschschüssel ein Hocker, den nahm sich Fernández und stellte ihn in den Flur wie den Hocker eines Toilettenmanns. Dann langte er in ein Regal und zog eine Zeitung hervor und reichte sie Bühl. Die Granma, mein Freund, unsere einzige Tageszeitung, es gibt kein weicheres Papier in Havanna – er sprach jetzt amerikanisches Englisch, hervorgepresst zwischen weißen Gebisszähnen –, und wenn die Tür zu ist, gibt es eine einzigartige Ablenkung. But don’t touch it, Chris, it’s just for your eyes!

Und von Bühl nur ein Yes Sir, dann war er schon in dem Bad mit baumelnder Glühbirne. Er drückte die Tür zu, es gab weder Riegel noch Schlüssel, und ließ den Dingen freien Lauf, die Augen zugekniffen wie beim Zahnarzt, wenn der Bohrer pfeift. Erst als es getan war oder vorbei zu sein schien und sich auch die Spülung beruhigt hatte, blinzelte er, und genau vor seiner Nase, so nah, dass er den Kopf zurücknahm, die berühmteste aller Signaturen, der Namenszug, der sogar Autos zierte. An der Innenseite der Klotür hing ein Picasso aus der frühen, wild erotischen Phase, leicht zu erkennen, wenn man im eigenen Elternhaus mit Picassos Faunen und Ähnlichem in von Metallrahmen gezähmten Reproduktionen aufgewachsen war. Ein kleinformatiges Ölbild auf Holz hing da an einem Nagel, ein echter Trost durch Kunst, während seine Umwandlung in Flüssigkeit weiterging. Und er konnte nicht anders, als das Bild zu berühren, unter den Fingern Picassos Strich zu erfühlen, noch nach der Natur, und zuckte auch nicht zurück, als der Besitzer vor der Tür die Stimme erhob. Barcelona neunzehnhundertfünf, rief Fernández, künstlerischer Aufbruch in ein Leben aus Liebe und Wein, bienvenido a la vulgaridad, if you know what I mean!

Yes, I do! Bühl, trotz allem noch geistesgegenwärtig, beugte sich zum leeren Schlüsselloch und erwähnte, wo ihm hier in Havanna dieses Wort, vulgaridad, schon begegnet sei, über einem Wandbild in der Calle Gervasio, auf dem Dach eines Hauses für nächtliche Zwecke. And somebody told me, your nephew was there.

Belarmino! Fernández schlug gegen die Tür, halb empört, halb zärtlich, der Picasso schwankte am Nagel. Ein prächtiger Kerl, aber immer verliebt, im Moment in eine Deutsche, rief der berühmte Onkel, und Bühl hakte gleich nach – hätte nicht Castro auch einmal eine deutsche Geliebte gehabt, bezahlt von der CIA? Vorsicht vor deutschen Frauen, die würden sogar schwanger für ihre Ziele! Er wiederholte das Stichwort, er soufflierte es förmlich, und Fernández sprang darauf an. Eine Tragödie, sagte er, die Deutsche sei nämlich schwanger geworden, Belarmino habe ihn deshalb aufgesucht, eigentlich ein kinderlieber Mann, wie jeder Kubaner. Andererseits voll großer Pläne, zu große für eine Familie, also sei die Sache hier erledigt worden, beide erholten sich jetzt in einem Hotel am Meer – you need any help, Chris? Fernández klopfte an die Tür, Bühl versicherte, es sei alles in Ordnung, aber Erholung würde auch ihm guttun, Can you recommend this hotel? Und Fernández, arglos wie alle Verliebten, ob zwanzig- oder achtzigjährig, sagte, es sei das alte Copacabana, nicht weit von hier und empfehlenswert – der Moment, um wieder auf den Picasso zu kommen: warum der einsam im Klo hänge. Bühl nahm sich jetzt Zeit für das Bild, für die Details. Ein Jüngling mit dunklen Knopfaugen, der Künstler, wer sonst, halb entkleidet auf einem Lotterbett beim Masturbieren, mit dem Beistand zweier dirnenartiger Frauen. Bett und Wände in kräftigen Farben, und dann gab es noch eine Staffelei, darauf etwas Halbfertiges, das Porträt einer blühenden Frau, wie ein selbstgesetzter Anker, um den Lockungen der Faune im Bild nicht zu erliegen – kein Ferkel suhlte sich da, eher ein verirrter Heiliger, der Poverello als Künstler. Es hängt aus Sicherheitsgründen im Klo, niemand vermutet dort einen Picasso, erklärte Fernández, als Bühl schon die Spülkette zog, entschlossen, mit Vila erst zu reden, wenn seine Kameraarbeit getan war. Er wusch sich noch die Hände, dann drückte er die Tür auf, und der Staatsdichter empfing ihn mit erhobener Faust wie einen Sieger über korruptes Gedärm, und sie kehrten zu dem gerahmten Foto der drei alten Helden zurück.

Die Stimmung im Wohnraum jetzt entspannt, von der Tochter sogar ein Lachen, sie lachte über Vilas Kärtchen mit Zitaten von Fernández und allen Fragen an ihn. So etwas habe man im Kopf oder nirgends, sagte sie, als ihr Vater wieder Platz nahm, sichtlich zufrieden mit dem Kameramann, der noch blass war, aber schon nach seinem Gerät griff, Vila ein Zeichen machte, weiter geht’s. Und die Moderatorin der Mitternachtstipps sprach den Dichter auf sein Verhältnis zu Europa an, auch im Hinblick auf die Nobelpreisstimmung für ihn. Europa, seine älteste Geliebte, rief Fernández, und damit meine er Italien, Spanien, Frankreich, den Süden, aber auch nicht zu vergessen: das schöne Schweden. Deutschland kenne er bloß von einem Besuch der Buchmesse, ruhmloser als dort könnte sich ein Autor nicht mehr fühlen. Nur hätten die deutschen Kollegen – my very personal impression – alle Geld, ruhmlose Leute mit Geld, während er kaum in der Lage sei, das Haus zu halten. Putzfrau, Gärtner, Köchin, Security, viermal zwanzig Dollar im Monat, der dreifache Lohn eines Arztes! Fernández machte eine Pause, die Pause des Bittstellers, der seine Bitte nicht aussprechen will, und Vila holte ihr Geld aus der Tasche. Sie zählte unter den Augen der Tochter großzügig siebzig Euro ab, und kaum war das Geld im Batteriefach des Funkgeräts verschwunden, fragte sie, wie viel er mit dem Schreiben überhaupt verdiene – dafür interessiere sich vor allem ihr jüngeres Publikum –, und wenn es so wenig sei, was ihn dann hier halte. Vila wollte das näher ausführen, aber der Freund von Fidel Castro oder Fidell, wie ihn Fernández betonte, fiel ihr ins Wort. Was, fragte er theatralisch, habe ihn wohl in Kuba gehalten, als andere – Cabrera Infante, Raúl Rivero, Jesús Díaz, um nur drei zu nennen – das Rampenlicht des Exils gesucht hätten? Verlorene Söhne, rief er, von Spiegelhalter wieder simultan übersetzt, und wir, ihre Väter, verteidigen die Stellung. Ich bin der Sänger der Revolution, ihr poetischer Commandante, ich kann nicht von Bord dieser Insel, auch ich bin ein Vater des Volkes. Und das alles, obwohl ich Italien bereist habe, erst im letzten Jahr. Ich habe das Schöne gesehen, aber das Notwendige gewählt.

Italien, wo waren Sie da? Vila wich von ihren Kärtchenfragen ab, und Fernández zeigte der Kamera sein Profil – Taormina, Ravello, Venedig, Gardone. Er sagte zu jedem Ort ein paar Worte, das Ganze aber nur ein Ausholen, um am Ende auf einen Artikel über sich in der Stampa zu kommen: drei Spalten mit großem Foto! Der alte Staatsdichter schlug sich auf die Schenkel, als hätte er die Stampa überlistet, und seine Interviewerin griff den Ort Gardone auf. Vila suchte jetzt das private Gespräch, also erwähnte sie ihr Haus schräg gegenüber von Gardone mit Blick auf den schönsten See Italiens, an klaren Tagen bis hinüber zum Reich seines toten Kollegen D’Annunzio, kein unriskantes Stichwort, aber ein Treffer. Fernández zitierte sofort eine Zeile des poeta ilusión, er erwähnte den eigenen Aufenthalt im Grand Hotel Gardone als Teilnehmer einer kubanischen Delegation: unvergesslich das Dinner im Garten mit Blick auf die Insel im See, einst Exil des großen Dante, zuvor auch Refugium des heiligen Franziskus, wie man ihm erzählt habe. Und die Zypressen auf der Insel im Abenddunst wie eine Fieberkurve! Er sprach jetzt direkt in die Kamera und grüßte das italienische Volk, er zitierte Catull und pries die Augustnächte von Gardone, über dem weiten See ein rötlicher Mond, langsam wandernd. Zeit, rief er, Zeit ist alles! Ein Interview mit ihm müsse eine ganze Nacht dauern, nur so würden die Zuschauer ihm folgen können, der Wanderung seiner Gedanken. Wie viel Sendezeit ihm zur Verfügung stehe, fragte er, als aus dem Funkgerät ein Knarren kam. Die Tochter nahm das Gerät ans Ohr, irgendwer rief Worte im Befehlston, während ihr Vater schon aufstand. Das Leben hat uns zusammengeführt, das Leben trennt uns wieder, sagte er in seinem amerikanischen Englisch, und die Tochter sagte etwas von fehlender Drehgenehmigung und aufgetauchter Geheimpolizei. Der mit dem einen Bein, der warte schon mit dem Wagen am Hintereingang. We can’t do anything, erklärte sie ohne eine Spur von Bedauern, und Vila wandte sich noch einmal an Pablo Armando Fernández.

Why don’t you just call your friend Castro?

Why don’t you just go, erwiderte der Dichter.

Nichts wie weg hier, sagte Spiegelhalter und trank noch schnell sein Glas Chianti classico aus.

UND wohin jetzt? Der Afghanistan-Veteran reagierte gereizt auf die neue Lage, er beschleunigte bei jeder Mülltonne, wie er es im Krieg gelernt hatte, und wurde langsamer, wenn ein Polizeiposten auftauchte, eine Fahrt durch stille Straßen, keine Menschen, keine Hunde, nur manchmal eine privilegierte Katze. Vila beugte sich zwischen die Vordersitze, Wofür bezahle ich hier? Für dieses Treffen mit einem, der uns hinauswirft, bevor ich etwas über meine Tochter erfahre? Bringen Sie mich zu ihr! Sie rüttelte an Spiegelhalters Schulter, sie boxte den Fahrer, fast hätte sie ins Lenkrad gegriffen, Bühl zog sie auf den Sitz zurück, Fernández hat mit mir gesprochen, ich weiß, wo deine Tochter ist, sie ist nicht weit von hier in einem Hotel am Meer, dem Copacabana.

Kenn ich, sagte Spiegelhalter, ein Betonding mit Meerwasserschwimmbad und Bar! Er sah nach hinten, strahlend wie der Gewinner in dieser Sache, während Bühl noch die Worte fehlten, um zu sagen, was er wusste, er konnte nur in die Gegend schauen. Zu beiden Seiten wieder Brachland, schmutzig grün und flach, hinter Zäunen vereinzelte Villen und in der Ferne ein Gebäude wie eine riesige umgekehrte Pfeilspitze. Die russische, früher sowjetische Botschaft, erklärte Spiegelhalter; er war betrunken, aber hellwach, die roten Augen fixierten Bühl. Und was hat der Alte erzählt, als du dich geplagt hast? Ein Toilettenmann in Havanna ist immer gesprächig. Also, wie sieht es aus, kritisch? Der Leiter des Instituto Fichte mit einem Gespür für die Wahrheit, aber Bühl stellte sich taub; er wollte Zeit gewinnen, den Anblick des Meeres auf seine Seite bekommen, und als das Meer plötzlich dalag, blau hinter dem Brachland, weiße Brandung gegen schwarzen Fels, war die Zeit um. Sie fuhren schräg darauf zu, ihr Reiseführer zeigte auf einen bunkerartigen, halbfertigen oder aufgegebenen Bau am Felsrand, übriggeblieben oder fertig war nur der Schriftzug auf dem Dach, freistehende Buchstaben, an denen der Wind zerrte, besonders am zweiten, dem O. Der Ex-Hauptmann bog in die Zufahrt, einen lehmigen Weg neben Gestrüpp, und Bühl nahm Vilas Kopf in den Arm und sagte in einem Satz, was es zu sagen gab.

Das Copacabana war ein Hotel aus den Fünfzigern mit leeren Anbauten aus den Siebzigern und einem kleinen, neuen Teil, der noch unfertig war, aber schon in Betrieb, das Ganze an einem öden Küstenstrich, wie eine vergessene Befestigungsanlage; selbst das Meerwasserschwimmbad hatte etwas von einem Bunker durch seine dunklen, mit Muscheln bewachsenen Mauern. Es war schon später Nachmittag, man konnte fast in die Sonne schauen, über dem gischtnassen Fels, wo das Land endete und das Meer begann, flogen Möwen und Krähen durcheinander. Ein schönes Bild, aber kein Trost. Am Rand der überspülten Felsen Vila und Bühl, sie waren allein, Spiegelhalter und der Veteran prüften Fernández’ Angaben. Bühl hielt die Kamera, während Vila ihr Gesicht zwischen den Händen hatte, als könnte es im Wind davonfliegen, samt allen Träumen von einem Neugeborenen, das auch ihr Leben mit Renz erneuern würde. Wir brauchen den Sonnenuntergang, sagte sie, die ersten Worte, seit sie es wusste, dazu ein Blick auf Bühl, ein Klammern mit den Augen, an seinem Haar, seinem Mund, dem Kieferbogen, allem, das sie anzog, wie fremd es auch war, so anzog, dass ihr Herz klopfte, erfüllt von ihm und schwer wegen Katrin, ein schwer erfülltes Herz, wie es nur Kinder und Liebende haben. Die Sonne stand noch so hoch, dass Zeit blieb, in die Cafeteria neben dem Meerwasserbecken zu gehen, durch dunkle Lachen auf dem Fels und über Ketten mit Bärten von Tang; Vila hielt ihr Kleid angehoben, wie die jungen, aber schon erwachsen wirkenden Frauen in alten Filmen, wenn sie erfüllt durch Pfützen eilen, um genau dort hinzukommen, wo sie hinwollen.

Nur ein paar Gäste saßen in der Cafeteria, und ebenso viele Kellner schienen im Stehen zu schlafen. Die Bar gut sortiert, aber auch hier kein Barmann, zwischen den Flaschen ein Kofferradio, Salsamusik. Vila stellte sich an den Tresen, sie machte ihr Telefon an, Renz hatte ein Recht, es gleich zu erfahren, auch wenn die andere neben ihm schlief. Spiegelhalter und sein Securitymann kamen auf die Bar zu, der frühere Soldat hob eine der Krücken: Fernández’ Neffe sei gestern mit einer jungen Frau im Hotel eingetroffen, die beiden ließen sich aber nicht blicken – was sollen wir tun? Er sah Vila an, aber Vila suchte Renz’ Nummer, sie entfernte sich ein Stück, gefolgt von zwei gelbgrauen Hunden, die als Paar durch die Cafeteria schlichen; trotz der Musik lag etwas Stilles, Totes über allem, ein Alptraum in Beton, mitten darin der Leiter des Instituto Fichte. Er sprach mit einem der Kellner und zog sich dabei aus, Jackett und Schuhe, das ehemals weiße Hemd, die Hose, seine Kleidung im Arm, stand er in welker Wäsche da und zeigte zur obersten Etage des Hotels, einmal, zweimal, dreimal, bis der Kellner nickte. Spiegelhalter zog noch das Unterhemd aus, er legte alles auf einen Stuhl, und das Hundepaar schnupperte an der Kleidung, während er schon Anlauf auf das Meerwasserbecken nahm und Bühl ein Kindheitswort aus dem Zartenbacher Freibad zurief. Bombe!

Es hallte noch nach in der Cafeteria, als er mit angezogenen Knien ins Wasser sprang, und Kampe, der Afghanistan-Veteran, stieß einen Fluch aus, die Arme als Deckung vor dem Gesicht, das Ganze eine Sache von Sekundenbruchteilen; die wenigen Gäste sahen nur kurz auf, Vila bemerkte gar nichts davon. Sie hatte Renz am anderen Ende, angeblich machte er seiner Begleiterin gerade Tee. Die huste schon seit Tagen, eine fiebrige Erkältung, und er müsse sich auch sonst um alles kümmern im Haus – unser Mieter lässt nichts von sich hören, sagte er, und Vila rief, das tue ihr aber leid, eine kranke Producerin und der Mieter verschollen, da gebe es Schlimmeres. Und damit wurde sie leiser, ein leises Mitteilen des Nötigsten, von Renz stumm aufgenommen. Katrin erholt sich in einem Hotel, sagte sie noch. Ich gehe jetzt zu ihr, und du bist also Krankenpfleger? Vila drehte sich zu Bühl und legte ihm eine Hand auf die Wange, Tränen in den Augen, dahinter ein Strahlen, verzweifelt glücklich, glücklich verzweifelt; Renz’ Stimme drang aus dem smarten Telefon, er schien nicht weiterzuwissen, aber gab sich entschlossen, entschlossen zur Reue, sein altes Konzept. Ich sollte verdammt noch mal bei dir sein, rief er. Und nicht hier herumsitzen. Wie geht es dir? Man hörte ein fernes Klirren, als sei die Teetasse heruntergefallen. Wie es mir geht? Ich bin jetzt wieder weit von einer Großmutter entfernt, wieder die Frau in den besten Jahren, könnte man sagen. Und vergiss nicht, den Wasserkocher auszumachen, er schaltet sich nicht mehr ab von selbst. Und in der Cantina steht auch eine Büchse mit Pfefferminztee, eine Handvoll Blätter auf einen Becher, lass es fünf Minuten ziehen und gib zwei Löffel Honig hinein. Für deine Kranke! Sie unterbrach die Verbindung, sie stellte das Telefon ab. Irgendetwas in ihr, das sie nicht kannte, eine Art innerer Erzengel der Worte, hatte sie über sich selbst hinausschießen lassen, und sie war noch nicht wieder auf sicherem Boden, alles wankte, nur ihr Kameramann nicht. Der sah sie an, wie Renz in der Nacht zum Jahr vierundachtzig, der Blick vor dem Kuss auf dem Grat zwischen vorher und nachher, dem Leben ohne sie und dem Leben mit ihr. Sie hatte immer noch die Hand an Bühls Wange, die nahm sie jetzt weg, und er zog sich aus vor ihr, das Hemd, die Schuhe, die Hose, ohne überflüssige Bewegung. Ich gehe schwimmen, danach bin ich für dich da, sagte er und lief schon zum Beckenrand, die Hände auf dem Kopf. Er wartete, bis der einzige Schwimmer in klebender Wäsche aus der Betonwanne stieg, dann sprang er gestreckt ins Wasser, und Vila sah ihn davonkraulen.

Der Kellner, auf den Spiegelhalter eingeredet hatte, kam zu ihr und bot seine Hilfe an, für zehn Euro, The person you look for is in our number one poetic room, called Pablo Neruda Suite. Sie steckte ihm zwanzig Euro zu, wenn er sie sofort dorthin bringe, und vom Kellner eine Kopfbewegung, sein Follow me, sie nahm die Kamera, und Spiegelhalter, in nasser Unterhose, gab ihr noch etwas mit auf den Weg. Belarmino Fernández sei hier der liebe Gott, darum besser keine Vorhaltungen, der werde ihretwegen kaum auf die Knie fallen oder auch nur ins Grübeln kommen – Gott grübelt nicht, er handelt, die Dinge sind nun einmal geschehen! Ein Appell an die Vernunft, nur nicht ihre, und sie legte die Kamera unter Bühls Kleidung und rief ihm Denk an die Sonne! zu. Der rote Sonnenball und das Meer, ihre Kurzfassung seiner Aufgabe, und die Antwort eine hochgeworfene Faust, jetzt konnte sie dem Kellner folgen. Vor einer Glastür, die ins Hotel führte, drehte sie sich noch einmal um. Bühl kraulte nicht mehr, er flog förmlich durch das lange, von ihm aufgewühlte Becken. Schmetterling hieß das, als sie schwimmen lernte, und immer wenn sein offener Mund und die ausgebreiteten Arme kurz auftauchten, war das wie ein Ja zu ihr, im Grunde die ganze und einzige Philosophie der Liebe.

DAS Meer war unruhig unter rotem Abendhimmel, ein funkelndes Auf und Ab hinter dem Anbranden gegen den Fels, auf dem der alte Teil des Hotels in verblasstem Rosa lag. Bühl filmte die Wolken über dem Horizont, darin die Sonne, wie zerfranst, ihr Untergang auf Kubanisch; er stand am Rand einer einstigen Terrasse, überall Reste von Lampen und Stühlen, dazwischen abgefallene Leuchtbuchstaben, ein C, ein N, ein Stück O. Von dem Wort Casino, sagte der Hauptmann außer Dienst oder junge Veteran und Securitymann – Bühl wusste nicht recht, wie er ihn einordnen sollte, einen Beinamputierten, der mit Krücken in Buchstabenscherben stochert.

Afghanistan hat ihn fertiggemacht! Spiegelhalter tauchte neben dem N auf, wieder angezogen, sogar mit Schlips. Die Welt besteht für ihn aus Hinterhalten, sein ganzes Glück ist der Deutschunterricht für die Mädchen. Und was macht der Darm? Er hakte sich bei Bühl unter, er führte ihn um das abgefallene C herum. Den einen macht der Krieg fertig, sagte er, den anderen das Essen hier – mich macht es fertig, kein Geld zu haben, du könntest mir etwas leihen, wie wär’s mit fünfzig Euro? Spiegelhalter versuchte, den nass gewordenen Zigarrentrümmer anzustecken, Bühl schlug ihm einen Handel vor: Fünfzig Euro für eine kleine Geschichte aus dem alten Unterried. Er zückte den Schein und war ihn auch schon los. Schweineschlachten, sagte Spiegelhalter. Ich habe als Kind einmal zugeschaut, wie drei Metzgerburschen die schreiende Sau festhielten, an den Füßen, am Schwanz, an den Ohren, und der Stärkste ihr die stumpfe Seite einer Axt an die Stirn schlug, dass die Augen platzten, und sie immer noch schrie und auf die Seite fiel, und ein anderer Bursche ihr die Kehle aufschlitzte. Das Blut brach hervor, und die drei versuchten, einer nach dem anderen, auf dem zuckenden Leib zu stehen, vier, fünf Sekunden, bis jeder herunterfiel, und sie ließen es auch mich versuchen, Los, Kerle, ich brunzte mich an vor Schreck. Dann warfen sie die Sau in einen Bottich mit kochendem Wasser und schabten ihr die Borsten ab. Am Ende war sie glatt und weiß wie eine dicke Frau. Die Burschen zogen ihr Haken durch die Fersen und hängten sie mit dem Kopf nach unten auf, und einer schnitt längs durch den Leib, die Därme stürzten heraus, Ende der Vorstellung. Und an einem Feiertag, Fronleichnam, als der ganze Ort mit Blumenbildern geschmückt ist, schickt mich mein Vater in eins der Wirtshäuser, um Bier zu holen, du kriegst auch was, sagt er, und ich gehe in die Fortuna, heute Drogeriemarkt, und da sitzen die drei Metzgerburschen in der niedrigen Stube ganz aus Holz und wie in Fett getaucht. Der Wirt ist nicht da, ich muss warten, während die Burschen vespern, ihre Sackmesser in der Hand. Rauch hängt in der Luft, und die Messer blitzen, weil die Junisonne hereinscheint. Ein Strahl fällt auf den Boden, und da liegt ein Zehner. Er wird einem der Burschen gehören, denk ich und heb ihn rasch auf, eine unbemerkte Sünde, und heiß im Gesicht gehe ich zum Rotamint-Automaten neben der Tür zu den Aborten und stecke den Zehner in den Schlitz, und die drei Glücksräder fangen an sich zu drehen, schneller und schneller, die Bilder darauf wie eins, das Herz, das Kleeblatt, die Sonne, der Mond. Ich schlage auf die Tasten, sobald sie aufleuchten, einmal und noch einmal, und drei Sonnen bleiben stehen. Ein Augenblick Stille, dann das Klickern des Hauptgewinns, eine Mark in Zehnern, ganz unten am Automaten springen sie über den Rand, fallen zu Boden und kollern, und die Metzgerburschen sehen herüber. Sie sind neidisch auf meinen Gewinn, und ich bete zum Herrgott, dass sie mich nicht aufschlitzen wie die Sau, da kommt der Wirt in seine Stube, einen Stumpen im Mund, und der Spiegelhalter Karl ist gerettet samt seiner Mark. Ich besorge das Bier und laufe nach Hause, vorbei an den Blumenbildern, ich danke Gott und hüpfe mit den Flaschen in der Hand, und mein Vater belohnt mich fürs Bierholen mit einem Fünfzigpfennigstück. Bis dat qui cito dat, sagt er, doppelt gibt, wer gleich gibt – ein Beispiel, Kerle, für Knappheit und Erkenntnisreichtum im Lateinischen! Denn er war ein Lehrer wie du, Bühl, der gebildetste Mann im Dorf, ich verdanke ihm alles, auch mein Exil, die ganze schöne kubanische Scheiße!

Und die Geschichte ist wahr? Hauptmann Kampe stand vor dem halben O, eine Hand auf dem Kopf, er hatte zugehört. So wahr wie dein fehlendes Bein, rief Spiegelhalter, und der Afghanistan-Veteran ließ die Hose herunter und zeigte den Stumpf. Auch ein Schlachtfest, aber keine Geschichte – die muss man sich machen. Wenn wir Patrouille fuhren und das Gelände übersichtlich war, saßen wir mittags unter Sonnensegeln und aßen unser Zeug, und die Lichttupfen liefen bei jedem Windhauch über die sandige Erde, die großen verfolgten die kleinen. Und am Schluss eine Zigarette, jeder ein paar Minuten mit sich und dem Rauch. Und dabei kommen die Sachen, die man sich selbst erzählt, die Fragen, ob die Freundin schon einen anderen hat und wie es dem Großvater mit seinem Krebs geht. Was im Kino so läuft und was mein Golf TDI macht. Dann war die Zigarette geraucht, es ging weiter, vor Anbruch der Dunkelheit mussten wir in einem Kaff sein, um dort eine Straße zu sperren, aber unser Dingo blieb zweimal im Sand stecken, also waren wir erst bei Dunkelheit in dem Kaff, und es gab kaum Lichter, man sah nur Tee in kleinen Tassen glänzen und Männer am Straßenrand mit schiefem Lächeln, und als ein Moped knatterte, da zuckten alle zusammen, und ich sagte Absitzen, sichern. Zwei Frauen liefen vorbei, völlig verhüllt, bis auf die Sehscharte über der Nase, und der Obergefreite Schnieder aus Cottbus sagte Jetzt ein Bier, und auf einmal roch es nach Diesel, und ein Generator fing an zu brummen, und Stabsunteroffizier Ammon, immer mit offenem Kinnriemen als Zeichen seiner Unerschrockenheit, sagte Waffen und Munition überprüfen, und unser Ältester, Feldwebel Dautz aus Nürnberg, sah auf seine Fliegeruhr, die für alle galt, und dann auf das GPS, wegen der Stelle für die Straßensperre, dabei kam ein Hund heran, merkwürdig dick um den Bauch, und der Feldwebel rief Schaahdasstwaiterkummst! und richtete die Waffe auf ihn, man weiß ja nie bei dicken Hunden, und der Obergefreite Schnieder, den alle nur Schniedel nannten, warf sich hinter den Dingo, der ja auch nach einem Hund benannt ist, aber schlank, und unser Feldwebel mit einer Frau im sechsten Monat, der sein erstes Kind nie sehen sollte, verjagte den dicken Hund, ein Fehler. Denn er griff nach einer Latte, die er dem Hund hinterherwarf, traf aber in der Dunkelheit einen Jungen, der uns deutsche Wörter zurief, Bayern München, Tor, Wichser, und aus der Latte stand ein Nagel, und der Junge blutete plötzlich am Arm, ein roter Streifen erschien auf seiner hellen Kutte, und die Sanis taten ihr Bestes, als wir schon die Krallen aufstellten, die jeden Autoreifen zerreißen, und irgendwo in einem Lehmhaus Scharfschützen ihre gestohlenen Nachtsichtgeräte aufsetzten und immer noch viel zu viel Aufmerksamkeit bei dem Jungen war und Schniedel zu mir sagte Cottbus kommt wieder, zweite Liga, und ich zu ihm: Logisch, klar – da wurde die erste Panzerfaust abgeschossen, und sie traf nicht den Dingo, sondern Feldwebel Dautz, und der schrie nicht, sondern brüllte. Bin am Arsch, brüllte er so laut, dass ich in die Hose pisste, wie Sie auf der zuckenden Sau, und meine Pisse lief heiß am Bein herunter, dem Bein, das mir bald davonrollen würde, und Schniedel feuerte einfach ins Dunkle, und Ammon rief Weg hier, los, und der Hund mit dem dicken Bauch kam zurück, und mein Herz raste. Dann schon die zweite Panzerfaust, ihr Feuerblitz, und die Granate flog mit einem Schweif heran und traf den Dingo an der empfindlichsten Stelle, seinen Dingoeiern, und schon war alles in Flammen, auch Schniedel, der sich die falsche Deckung gesucht hatte, er lief als Fackel herum, während ich mich an den Straßenrand warf, hinter einen dicken Stein, oder hatte ich das schon gesagt? Manchmal fängt das Ganze an mit dem Stein, und manchmal hört es dort auf, je nachdem, ich weiß nicht, wie man erzählt, Erzählkunde stand nie auf dem Plan, nur Waffenkunde, Wetterkunde, Landeskunde, oder wie man verhört und sich selbst Atropin spritzt oder zur Not eine Arterie zukriegt, einfach den Finger rein, leichter gesagt als getan, aber man tut’s. Im Schein der Schniedelfackel – er torkelte auf mich zu, während unser Feldwebel Dautz schon gen Himmel fuhr – sah ich mein Bein, das Wegfliegen von Fleisch- und Knochenstückchen durch ein Geschoss, und wie das Blut aus der Arterie kam, als steiler Strahl, es war gar nicht leicht, die Öffnung zu finden, ich hatte auch Angst, sie könnten noch die Hand erwischen, es waren Eins-a-Schützen, die uns da fertigmachten, aber sie wachsen ja auch auf mit Waffen, die Taliban, während wir Counterstrike spielen, und die Nachtsichtgeräte, die sie uns am Flughafen klauen, sind die besten. Fast jeder Schuss saß, das Bein wurde immer kürzer, es passte nicht hinter die Deckung, entweder mein Bein oder mein Kopf, und ich brüllte jetzt auch, und das eigene Gebrüll war noch schlimmer als das von Schniedel, er und ich, wir brüllten um die Wette, könnte man sagen, fast hätten wir den ersten Black Hawk übertönt und gar nicht gemerkt, dass Hilfe kam. Sie waren in der Nähe, die Amerikaner, kein Zufall, denn sie hören jeden Funkverkehr mit, und für kurze Zeit war unser Brüllen wohl noch lauter als der Hubschrauberlärm, bei Wetten dass die ideale Außenwette, das Publikum stimmt ab, wer lauter war. Noch am Vorabend hatten wir die letzte Sendung im Camp gesehen, als DVD, ich saß neben Schniedel, der ein T-Shirt von Energie Cottbus anhatte, und jetzt brannte er ab, sein Gebrüll ließ erst nach, als ihm das Fleisch an den Armen schmolz. Er brach zusammen, als sich mein unteres Bein samt Knie im Sand überschlug und die Hunde anlockte. Dann wurde der Sand schon aufgewirbelt und das Bein davongeweht, die Hunde rannten kläffend ins Dunkle, und ein Scheinwerfer erfasste mich, helle Kotze lief auf den Beinrest, während MG-Feuer mit Leuchtspur in das Lehmhaus ging und die Kameraden, die unverletzt waren, herumstanden und heulten. Der Hubschrauber setzte auf, und jemand rief Fuck, und der Sand in der Luft legte sich, und der Mond schien, und mein Herz schlug, also lebte ich, und einer nahm meine Hand, obwohl noch Schüsse fielen. Er hielt sie, und aus seinem Funkgerät Stimmen, als sei gar nichts passiert, nur lag ich auf der Straße, und mein Bein war weg, und zwei Meter weiter der Junge mit der Armverletzung, ein Loch im Gesicht. What’s your first name, fragte der mit der Hand um meine, und ich sagte Sören, und er rief I’ll be with you, Sören! Und der Mond schien, und ich dachte, es sei die Sonne, nur kleiner und dunkler, eine Sonnenfinsternis, dachte ich, und das Schießen ging weiter, und mein Bein war weg, und die Hunde kläfften, und der Feldwebelrest lag herum, und der Mond schien, und der Dingo brannte – und und und, finito, sagte Kampe schließlich, um überhaupt an ein Ende zu kommen, und ging dabei schon an seinen Krücken davon.

ALLE Redseligen sind Wiederkäuer, sie ernähren sich von alten Wunden und Zweifeln, in einer Art Schluckauf würgen sie die Wunden und alle Zweifel ein ums andere Mal herauf und verschlingen sie erneut. Vila hatte ihrer Tochter in der Neruda-Suite von der eigenen Abtreibung erzählt, ihrem preisgegebenen, verlorenen Sohn, bis Katrin, wenn auch stillschweigend, nachzog und sie dann beide weinten, während der Hauptmann außer Dienst auf der einstigen Tanzterrasse vor dem halben O aus dem Schriftzug Casino stand und die Afghanistanleier drehte oder eigentlich nur der Kasten war, an dem Bühl und Spiegelhalter kurbelten, indem sie zuhörten – dem Redseligen geht es nicht so sehr um die Wahrheit, ihm geht es darum, mit der eigenen Dürftigkeit fertigzuwerden, immer wieder und wieder.

Nach seiner Beingeschichte war Kampe an die Bar gegangen und hatte eine Flasche Rum gekauft, den besten, einen siebzehn Jahre alten Matusalem vom Combinado de Bebidas in Havanna, und auf der Rückfahrt ließ er die Flasche herumgehen; sie fuhren offen durch das Brachland, auch die Scheiben heruntergekurbelt gegen die drückende Luft. Der Rum war scharf und ölig, darin eingeschlossen die gereifte Süße. Der schmeckt nach Leben, sagte Vila. Sie weinte noch und trank, bis ihr der Rum über die Lippen lief, dann gab sie die Flasche an ihren Kameramann weiter, und der reichte sie wieder nach vorn; auf dem Brachland jetzt vereinzelt Lichter von Karbidlampen oder Kerzen in Hütten, es roch nach Kerosin und Tang. Vila legte den Kopf an Bühls Schulter, die warme Luft im Gesicht tat ihr gut, auch die Gerüche darin, die ganze Fahrt. Und dass ihr Begleiter nicht mit Fragen kam, ihr Zeit ließ, ja sie überhaupt so ließ und so nahm, wie sie war. Er stellte eine Schulter zur Verfügung wie der junge Veteran einen alten Rum, und für beides war sie dankbar, und allein aus diesem Gefühl heraus, gut aufgehoben zu sein in dem Wagen, fing sie auf einmal an zu erzählen, auch für sich, um es selbst zu verstehen. Kein Wiederkäuen, ein Verdauen.

Die beiden haben auf dem Bett gelegen, sagte sie. Auf einem Kingsize-Bett mit Tagesdecke, meine Tochter im Jogginganzug und der Kubaner in Armani-Jeans und einem T-Shirt mit einer Zeile seines Onkels. Und vor dem Bett lief der Fernseher, und Katrin aß Chips, ihr Typ trank aus einer Bierdose, am Handgelenk eine Patek Philippe und zwei Goldketten. Er erinnerte mich an Benicio del Toro in dem Film Traffic, nur schmaler und jünger, aber auch mit diesen Schatten unter den Augen. Auf dem Bett stand ein Tablett mit Essen, ein Kellner hatte es eben gebracht, ich war in die Suite gekommen, als er ging, er glaubte wohl, ich gehöre dazu. Also sah ich die zwei da liegen, bevor sie mich sahen. Sie schauten sich eine alte Serie an, Die Waltons, die hatte ich früher mit Renz gesehen, er wollte etwas in der Art für Deutschland machen, aber die Waltons funktionieren nur, weil das Ganze während der Depression spielt und John-Boy grenzenlos optimistisch ist. Er notiert gerade was in sein Tagebuch, als ich seitlich auf das Kingsize-Bett zugehe, und Benicio Belarmino sieht mich vor meiner Tochter und sagt Your mother, honey, als wären wir schon einmal aneinandergeraten, und er hätte mich erwartet. Und ich sage Hallo, und Katrin, meine Tochter, legt die Hände aufs Gesicht und sagt Scheiße, mit Betonung auf dem Sch, irgendwie auch von Herzen, aber Scheiße bleibt Scheiße, und ich sage Tut mir leid, ich bin deine Mutter, ich musste was tun, nachdem du verschwunden warst mit dem Bauch, und als ich von Havanna hörte, bin ich nach Havanna geflogen. Und habe dich gesucht, okay? Und leider zu spät gefunden! Und Katrin nimmt ihre Hände vom Gesicht und sagt Nein, nicht okay, das ist CIA!, und dann fragt sie, wie ich sie gefunden habe, wer da bezahlt worden sei, und ich erzähle irgendein Zeug, um den schwulen Dichteronkel nicht mit reinzuziehen, aber sie glaubt kein Wort, Mama, du redest nur Scheiße, sagt sie und spricht auf Spanisch weiter, sie stellt mich ihrem Typen vor, sie nennt mich Moderatorin, wow, damit er nicht denkt, ich sei eine Schachtel, und ich schreie sie an, sie solle wenigstens englisch reden, und sie sagt mir auf Deutsch, dass es ihr gutes Recht sei, kein Kind zu kriegen, und ich erzähle ihr von dem Tag, an dem sie um einen Bruder gebracht wurde, im Grunde um eine echte Familie, Vater, Mutter und zwei Kinder. Renz fuhr mich zu der Klinik, sage ich, während du in der Schule warst, er hat dann im Foyer gewartet, sein Notebook auf den Knien, um die Zeit zu nutzen, und ich lag im Untergeschoss mit breiten Beinen, diese Dinge passieren im Souterrain, nicht im richtigen OP, in einer Art Hinrichtungsraum, und sie wollten alles abdecken, bevor sie mit der Todesspritze kamen, auch wenn es Instrumente waren, ihre grünen Tücher davorhängen, ich aber wollte dabei sein, ich wollte es sehen, das war das mindeste, das ich tun konnte für mein Kind, sage ich zu Katrin, und auf einmal laufen ihr Tränen, während der Mann auf dem Bett einfach weiter die Waltons schaut. Und dann wage ich ein Warum, ermutigt von den Tränen, und meine Tochter erzählt mir von einem Forschungsauftrag, unterstützt von ihrer Fakultät, einer Walter-C.-Mills-Stiftung, ein halbes Jahr Brasilien schon ab kommenden März, eine Arbeit über die Gebräuche irgendwelcher Indianer an irgendeinem Nebenfluss im Amazonasdelta, ich habe es mir auf dem Block, der neben dem Kingsize-Bett lag, notiert, um es irgendwie auszuhalten, was man mir da erzählt hat.

Vila zog ein Blatt aus der Rocktasche, jetzt ganz an Bühl gedrückt, ein Bein halb über seinem. Da steht es: Sie fährt zum Rio Xingu, und es geht um die Kamayurá-Indios mit einer furchtbaren Tradition. Kinder ohne Vater, ohne Familie, ohne Zukunft, werden dort von den Müttern mit stiller Billigung des Staates lebendig begraben. Und die Forschungsfrage lautet: Wie kann der Staat in diese Tradition eingreifen, ohne die Grundfesten dieser Menschen zu gefährden. Und das Kind mit dem Bad auszuschütten – das waren meine Worte. Zu meiner Tochter. Oder hätte ich dich etwa lebendig begraben sollen, nur weil dein Vater, als du mich Tag und Nacht beschäftigt hast, mit anderen herumgemacht hat, rufe ich ihr ins Gesicht, und sie sagt, der Auftrag sei eine Riesenchance, auch für ihre Promotion, ein kleines Kind zur selben Zeit: unmöglich. Und ich verfluche ihr Studium und diese idiotische Walter-Mills-Stiftung, und Katrin wiederholt das Todesurteil für ihr eigenes Kind auf Englisch. Impossible! Erst danach fällt sie in sich zusammen, ein wütendes Häufchen Elend im Joggingzeug, unfähig, richtig zu weinen, aber auch unfähig, cool zu bleiben. Es ging gar nicht anders, schreit sie, und da schaltet sich Signor Belarmino ein und kommt mir mit dem Ausbildungsstand kubanischer Ärzte, die hätten das alles perfekt gemacht, Perfectly, Madam, und ich sage, Oh, da danken wir aber, und der Schwarm meiner Tochter greift sich ein silbernes Feuerzeug und die amerikanischen Zigaretten auf seinem Nachttisch und verschwindet auf die Terrasse der Suite, während im Waltonhaus die Lichter ausgehen, alle sich Gute Nacht sagen, ganz am Ende Opa Walton, schon ohne Gebiss, Good night everybody – ein Opa, dem es gutgeht mit seinen Enkeln, und ich muss weinen, so weinen, dass meine Tochter mich tröstet und taktvoll genug ist, den Fernseher abzustellen. Endlich ist es still in dem Raum, für eine Zigarettenlänge sind wir allein, Katrin zieht sich die Decke über den Kopf, das hat sie immer getan, wenn es eng wurde, und ich hole mein Telefon aus der Tasche und sage, wir rufen jetzt Renz an, der hängt an dir, er erzählt mir immer wieder, wie du ihn aufgemuntert hast, als ich nicht da war, am ersten Tag im neuen Haus, wo alles noch schrecklich aussah – sprich mit ihm, rufe ich und wähle die Nummer, und sie schüttelt unter der Tagesdecke den Kopf, was ich fast respektiert hätte, aber eben nur fast. Renz meldet sich gleich, er hat auf den Anruf gewartet, und ich sage ihm, wo ich bin, bei unserem einzigen Kind, und ziehe die Decke weg und drücke Katrin das Telefon ans Ohr und mache sogar den Lautsprecher an, weil ich hören will, was er sagt, und Katrin heult, wie sie geheult hat, als sie von Kaspers Tod erfuhr, ein Ausbruch, bis sie sich gegen die Stirn boxt und es schafft, von sozialer Indikation zu reden, und dann erwähnt sie auch gleich den Forschungsauftrag, ein halbes Jahr am Rio Xingu, und Renz ruft Glückwunsch Kleines, Wahnsinn! Er kriecht förmlich aus dem Gehäuse und schlägt vor, sich bald zu treffen, was Katrin gleich einschränkt, frühestens um Weihnachten, sie sei noch an einer Arbeit. Und auch dann nur in der Region, sagt sie. Darauf von mir der Vorschlag, sich in Jamaika zu treffen, in unserem Weihnachtshotel – wir fahren schon seit Jahren, seit dem Tod meiner Mutter, in dieses Strandhotel, der Heiligabendvermeidungsurlaub. Warum also nicht uns dort treffen, sage ich, und Renz wechselt das Thema, er kommt auf eine Bemerkung, die ich gemacht habe: dass ich wieder die Frau in den besten Jahren sei, weit davon entfernt, Großmutter zu werden. Was meinst du damit, fragt er mich allen Ernstes, da ist mein Daumen schon auf der Austaste. Vergiss es, rufe ich, wir reden später, in zwei, drei Tagen bin ich zu Hause, und wenn du etwas für mich tun willst, mach die Umsatzsteuer! Mein letztes Wort, Umsatzsteuer, als der Neffe schon wieder ins Zimmer kommt, und Katrin will wissen, wann ich genau zurückfliege, sie mich also los wäre, und ich nehme ihre Hand, das ist alles, was ich tun kann, die Hand einer Tochter halten, die sich ihr Kind hat wegmachen lassen, aber schon wieder nach vorn schaut. Und dein Typ, frage ich leise, kommt der mit nach Brasilien, und Katrin, noch leiser, nein, es sei auch eigentlich vorbei. Obwohl er wirklich etwas hat, flüstert sie mir zu: im Profil, wie die auf den Vasen in der Etruskerausstellung, erinnerst du dich? Und natürlich erinnere ich mich, ihr Ferienjob, als sie studierte, Führungen im Liebieghaus, die Etrusker fand sie immer schon toll, und abends zogen wir privat durch die menschenleeren Räume, allein mit all den Grabpornos, und Renz sagte Zum Sterben schön! Das hat sich Katrin gemerkt und ließ sich von Herrn Belarmino, auch zum Sterben schön, nach Havanna locken, und dort führte er sie, um ihr mehr zu bieten als nur eine Klinik, zuerst in dieses Haus mit den Tässchen und Tellerchen und winzigen Löffeln an allen Wänden, wie Grabbeigaben für eine Königsschwuchtel, und sie fand das obertoll, meine gescheite Tochter, weil sie ganz besessen ist von allem Fremden, irgendwie Erotischen und wohl jedem zeigen will, dass sie es aufnehmen kann mit den Frauen auf den Vasen, die Jahrhunderte in der Dunkelheit der Tumben überdauert haben, gevögelt von allen Seiten. Für ihre etruskischen Stunden mit einem Edelkubaner hat sie unser Enkelkind geopfert, meine Theorie, nur hielt ich den Mund und dafür weiter Katrins Hand, und ihr Möchtegernliebergott stocherte in Chickenwings, die längst kalt waren, und machte mir ein unterirdisches Kompliment, Such a good looking mother, und ich nur: Nice to meet you, das Schlusswort, denn zu Katrin sagte ich gar nichts mehr, ich umarmte sie nur, und sie murmelte Mamma, mit zwei m. Mehr kann man gar nicht verlangen von seiner erwachsenen Tochter. Ende.

Vila drückte Bühls Hand, beide hatten sich klein gemacht hinter dem Fahrersitz, kaum zu sehen in der Dunkelheit und erst recht nicht zu hören, weil das Radio lief, eine laute, überstürzte Musik, seit sie wieder am Meer entlangfuhren, an schwarzem Fels und Brandung. Es regnete leicht, einzelne Tropfen flogen in den Pontiac, Vila machte die Augen zu, eine Hand in dem Haar, das nicht ihres war, aber sich anfühlte wie ihres, als hätten sie ihre Haare zusammengeworfen. Der Matusalem wurde noch einmal nach hinten gereicht, und sie tranken; die alten Stadthotels an der Uferstraße tauchten auf, alle dunkel bis auf den Doppelklotz des Hotels National. Und auf dem Malecón dann tiefe Pfützen, der Regen war erst abgezogen, die Luft noch zum Greifen. Wir steigen hier aus, sagte Vila, und der Veteran stoppte den Wagen unter dem Vordach eines einstigen Theaters, Vila beugte sich nach vorn – Trotzdem danke. Und ich weiß jetzt immer noch nicht, wie das mit Ihrem Bein passiert ist.

Kampe stellte den Motor ab, er bat um den Rum und trank einen Schluck, dann brachte er seine Beingeschichte, nur etwas verkürzt; Vila hörte geduldig zu, ebenso Bühl, während Spiegelhalter zu schlafen schien. Aber so war es nicht, es war anders, sagte er vor der Stelle mit dem Hubschrauber. Ein normaler Tag zunächst, aufstehen mit der Sonne, Frühstück, Briefing, Prüfen der Ausrüstung, dann Zeit für Mails und Sport und nachmittags die Patrouille. Erst ein Stück über Land im Konvoi, später Inspektion einer Behelfsbrücke und gegen Abend die Kreuzung bei der Ortschaft Chahar Darreh, die wir sperren sollen. Ich erinnere mich nicht einmal an einen Knall. Eben noch eine Straße über einer Flussschleife mit blassen Sandbänken, im nächsten Moment schon ein blasses Bett, und Hände richten mir den Kopf auf, ich kann aus einem Fenster schauen, dahinter ein Farbenrätsel. Das ist der Herbst, willkommen in der Pfalz, sagt jemand, und die Hände drehen mir den Kopf, bis ich mein eines Bein sehe. Es liegt auf der Decke, gleich daneben wird die Decke flach, und eine Frau sagt, ich hätte nur ein Bein verloren, Glück gehabt. Und ich will ihr Gesicht sehen, aber sie trägt einen Mundschutz bis über die Nase und eine Haube bis in die Stirn, allein die Augen sind frei, wie bei den Frauen, die uns überall ausgewichen sind, näher kann man einem Traum nicht sein. Das ist die ganze Geschichte, also erzähl ich gern eine eigene.

Nur kommt die immer anders, sagte Spiegelhalter, mal besser, mal schlechter, er hat sie auch schon versaut. Aber die ewige Gefahr des Misslingens gibt ihr die Würde des Ernstfalls – trinken wir auf den Hauptmann! Er nahm den ersten Schluck, und als jeder getrunken hatte, kam der Moment des Abschieds. Spiegelhalter nahm den Matusalem an sich, Vila zahlte das restliche Honorar. Alles Gute für Ihr Institut, sagte sie, während es der Leiter des Instituto Fichte bei einem Adde beließ, mehr zu Bühl als zu ihr, das kleine Wort wie weggeschubst, nur mit etwas Druck auf dem e, so, wie man es immer noch hören kann in ihrem gemeinsamen Tal.

SIE waren die Einzigen weit und breit, kein Mensch auf der Kaimauer, kein kreischendes Pärchen, zu stark die Brandung, immer wieder ihr Emporschießen und das Klatschen auf die Straße. Vila an einer der Säulen des Vordachs, Rücken und Kopf angelehnt, über ihrem Haar Reste kobaltblauer Farbe, darin Tupfer wie von getrocknetem Blut. Sie weinte wieder, ein stilles Herauslaufen, Tränen, die man nicht trocknen oder aufhalten musste, nur so ertragen, wie Bühl sie ertrug.

Renz und ich, wir haben vor Jahren Die Marquise von O. im Kino gesehen, da liefen nur so die Tränen im Film, und die Leute lachten. Warum? Vila löste sich von der Säule und hakte sich unter bei Bühl, sie küsste sein Ohr im Gehen, seine Schläfe. Weil das so komisch war oder anders nicht auszuhalten? Sie drückte sich an ihn, sie sagte, er könne gern lachen, los! Aber im selben Atemzug, als sie sich übers Gesicht wischte, etwas ganz anderes: warum es in seinem Leben kein Kind gebe – wolltest du frei sein, oder was wolltest du? Keine harmlosen Fragen, also schob sie gleich ein paar andere nach, Gab es eine Frau in deinem Leben, gab es einen Lieblingsschüler, wollen wir etwas essen gehen, wollen wir ins Hotel? Die Zeit schien ihr davonzulaufen, während sie Richtung Hotel gingen, nicht die gegebene, die Vila-Renz-und-Katrin-Zeit, plus die ihrer Mitternachtstipps, sondern die andere, kostbare Zeit, die man sich nimmt, ohne zu fragen. Ja, es gab eine Frau, sagte Bühl, eine lange Geschichte, zu lang für mich. Und es gab auch einen Lieblingsschüler, Fährmann, Latein zwei, Ethik eins, er war schmal, fast mädchenhaft, nur mit dunkler Stimme. Und ich könnte etwas essen, aber wo? Bühl winkte ein Taxi heran, der Fahrer verstand Englisch, Good restaurant, wiederholte er, und Vila, beim Einsteigen, Not too far from the Plaza Hotel! Es war ein rostiger Honda, die Rückbank durchgesessen, sie rutschten förmlich ineinander, als es um den Parque Central herum ging; der Fahrer bog in eine Straße, die sich im Dunkeln verlief, aber mit zwei, drei erleuchteten Schildern, davon eins über einer Lokaltür, Castillo de Farnes. Dort hielt er an, und Vila bezahlte, ihr Part aus Gewohnheit.

Das Lokal war fast leer, und sie wählten einen Wandtisch unter einem großen, feierlich eingerahmten Schwarzweißfoto: Che und Fidel an genau dem Tisch, fünf Kellner in weißen Dinnerjacketts seitlich davon, den Stolz auf ihre Helden in den Augen, während die Helden selbst weder einen stolzen noch sonst wie zufriedenen Eindruck machen, eher versteinert herumsitzen, Che wie ein gelangweiltes Kind, trotz seiner Jugend schon in dem Gefühl, dass nichts Großes mehr kommt, und Castro, grimmige Entschlossenheit im Blick, davon ausgehend, dass Kuba bis ans Ende seiner Tage eine unerschöpfliche Geliebte bleibt; für ihn ist die Zeit nach dem Sieg alles, für Che ist sie nichts, er erscheint leblos, nur der Qualm seiner Zigarre suggeriert etwas Leben. Wie Renz und ich, sagte Vila mit Blick auf das Bild. Sie bestellte sich Hühnchen mit Reis und für Bühl nur Reis, dazu schwarzen Tee, er filmte das alte Foto. Und dein Mann, das ist Castro? Liebst du ihn noch? Die Frage, die kommen musste, weil sie immer kommt oder immer mitschwingt, wenn man Teil eines Ganzen ist, einer Familie, und sei sie noch so klein, nur Mann und Maus. Vila beugte sich über den Tisch, ein Herüberbeugen für einen Kuss; die ein, zwei anderen Gäste waren gegangen, und die Kellner, vielleicht Söhne der Kellner auf dem Foto, schauten schläfrig. Und Bühl, der beugte sich vor und nahm ihre Lippen zwischen seine, es war ein schmaler Tisch, auch Che und Fidel auf dem Foto mit geringem Abstand, vielleicht zu gering. Es heißt, Castro habe dafür gesorgt, dass sein einstiger Mitstreiter in Bolivien erschossen wird, flüsterte Bühl – ein kleines Kunststück mit dem Mund an Vilas Mund. Einer der Kellner brachte das Essen, er stellte Vila den Tee hin, Bühl das Bier, und sie tauschte es um. Trink, sagte sie und hielt ihm die Teetasse an den Mund, ein Spiel, und er machte es mit, so wie Renz bei keinem Spiel mitmachte, selbst beim Monopoly war er ausgestiegen, und sie und Katrin mussten sich Schlossallee und Parkstraße teilen. Die Kellner schauten herüber, einer rauchte, einer kämmte sich, das Lokal hatte andere Zeiten erlebt; das Hühnchen zäh, der Reis grau. Vila trank von dem Bier, sie spülte das Zähe herunter. Ich will mit dir schlafen, sagte Bühl, ruhige Worte in ihr Gesicht, als hätte er gesagt, ich will mit dir schwimmen. Aber es geht nicht, fuhr er fort, es ist noch nicht vorbei, wollen wir los? Er legte Geld auf den Tisch, er war es, der jetzt zahlte. Und er war es, der vor ihr aufstand und um den Tisch ging, ihren Stuhl abrückte, als sie selbst aufstand, der ihr die Schwingtür hielt und auf der Gehsteigseite an der Straße ging. Er war es, der die Kamera trug und den Arm um sie legte und kein Wort mehr über seine Krämpfe verlor: ihr Kavalier oder Retter dieses verstaubten Worts, das keiner mehr über die Lippen bekam. Sie gingen langsam, fast schlendernd im Dunkeln, wie ein Paar, das sich gerade geliebt hat, alle irdische Kleinlichkeit abgestreift. Nach und nach gab es Lichter und fast am Ende der Straße ein steiles Leuchtschild, Floridita. Die ewige Hemingway-Bar, sagte Vila, mehr musste sie gar nicht sagen, um weiterzugehen; ein Blick zur Theke reichte, wo der Alte mit Bart als Holzfigur einen Männerdrink nahm. Sie gingen noch das Stück zum Hotel und schafften es, Arm in Arm durch die Tür zu kommen, vorbei an zwei Schwarzen in Anzügen, ihrem Gemurmel in kleine knackende Funkgeräte.

Das Oberlicht war schon aus in der Halle, die Nachtlampen brannten, mondblass zwischen den Pflanzen und Sofas, eine Art Niemandszeit, schon nicht mehr später Abend, aber noch nicht tiefe Nacht; nur die Musikanten saßen herum, die Hüte halb im Gesicht, und an der sonst verwaisten Bar lehnte ein Kellner, auch wie aus Holz. Vila und Bühl gingen auf ihn zu, sie bestellten Tee, fast im Chor ein leises Can we get some tea, dann gingen sie in den hintersten Winkel der Halle und ließen sich auf eins der Sofas fallen, halb versteckt hinter Bananenpflanzen im Kübel; das Sofa durchgesessen wie die Honda-Rückbank, es blieb nur eine Kuhle zum Sitzen, aber wer das Havanna-Leiden hat, der muss liegen, seinen Magen entspannen: Vila wollte es so, sie klopfte sich auf den Schoß, und Bühl tat seinen Kopf hinein, die Füße auf der Seitenlehne des Sofas. Sie streichelte sein Haar, bis der Kellner den Tee brachte, eine Kanne und zwei Tassen auf einem Tablett. Er wollte sofort kassieren, also zog Bühl einen Schein aus der Hose, For you, der Kellner konnte es kaum glauben, es hätte für fünf Kannen Tee gereicht, rückwärts ging er davon, und Vila griff in Bühls Tasche mit dem Geldvorrat, Darf ich? Sie fühlte ein ganzes Bündel aus Scheinen und durch den Hosenstoff auch sein Fleisch und Blut, den Wunsch, mit ihr zu schlafen. Bist du vermögend? Vermögende Leute, die müssen nicht ameisenhaft fleißig sein, mit Mist ihr Geld verdienen. Bist du’s? Sie zog an dem Bündel, und er schlug ihr leicht auf die Hand. Vermögend, nein. Aber es reicht für ein Jahr in Hotels, dann ist meine Franziskus-Geschichte fertig. Und wenn sie keiner will, werde ich wieder Lehrer. Warum bleibst du nicht noch länger? Bühl griff nach ihrem Gesicht, sie drückte seine Hand auf ihre Wange und erklärte es ihm und auch sich. Sonntag in einer Woche sei schon die Sendung, ein Beitrag von ihr, zwei von anderen, aber sie für alles verantwortlich. Und am Samstag danach kämen Gäste, die Englers aus Mainz, er beim Fernsehen, Jugendthemen, sie frühere Pastorin, dazu Nachbarn von gegenüber, Heide und Jörg mit kleiner Firma für Solartechnik, Gebhard Cleanlight: Sagt dir nichts, sagte sie. Die zwei haben ein Haus auf Mallorca, wir waren schon dort und wollen wieder hin, im November kann es noch warm sein. Ich würde lieber mit dir fahren, in Palma gibt es ein Hotel am Yachthafen, wir würden den Reichen zuschauen, aber beneiden würden sie uns. Diese zu lange Geschichte mit der Frau, hast du die Frau geliebt? Vila nahm die Beutel aus der Kanne, sie schenkte den Tee ein, Bühl zog sich an der Sofalehne hoch. Geliebt, sagte er, vielleicht für Minuten im Bett. Sie war eine Kollegin. Und wollte eine Familie. Mir genügt ein einziger Mensch. Im Internat hatte ich einen Freund, wir teilten ein Zimmer, wir sind zusammen geschwommen, wir lagen im Schilf. Er hat mich später verraten, wir haben uns danach nie mehr gesehen. Gibt es keinen Zucker in den Tee? Wann geht dein Flug?

Zucker ist nicht gut für dich. Und mein Flug geht schon morgen Abend. Ich habe einen Platz bekommen, den letzten. Ich muss zurück. Was hat dieser Freund getan?

Er hat mich verraten, ist das so unklar?

Verraten ist ein Wort aus Filmen.

Sagt das dein Mann? Bühl trank von dem Tee, das Glas in beiden Händen. Verraten ist ein gewöhnliches Verb, lateinisch tradere. Es ging um ein Mädchen, heute eine Frau. Warum verlässt du deinen Mann nicht? Er reist mit einer anderen durch Italien, sie ist höchstens noch tagsüber eine Producerin, nachts liegt sie an seiner Seite. Ihr Name ist Marlies Mattrainer. Sie war mit meinem früheren Freund verheiratet, er kam nur über mich an sie, vor zwanzig Jahren, und als dein Mann ihren Namen nannte, war es wie gestern. Es gab ein Foto, das ich gemacht hatte, sie in einem Ruderboot im Badeanzug mit Zigarette, es stand auf einem Internatsklappbett in dem Zweierzimmer mit meinem Freund. Bis zum Abitur stand es dort, und ein Jahr später entdeckte er sie in einem Münchner Café. Er kannte sich mit Romanen aus, nur durch mich, und Marlies las viel, also bekam er sie herum, und beide waren für mich gestorben. Und plötzlich ist sie wieder da: So ein Zufall, könnte man denken, aber wer Dinge schreibt wie dein Mann, den gabelt Marlies irgendwann auf. Ich bin ihr aus dem Weg gegangen in Torri. Ich habe sie nur durch ein Fernglas gesehen. Wie sie von der Fähre kam.

Und sonst? Vila knöpfte sein Hemd auf, sie legte ihm eine Hand auf den Bauch, Was machen die Krämpfe, ist es vorbei? Ein Themawechsel, aber halbherzig, nur ihre Hand war ganz bei der Sache. Nein, es ist nicht vorbei – Bühl rutschte wieder tiefer in dem Sofa –, hätte ich früher sagen sollen, dass ich sie kenne? Er griff in Vilas Haar, sie beugte sich zu ihm. Früher, nein. Aber auch nicht später. Und was ist an dieser Frau dran, warum hast du sie geliebt, aus welchem Grund?

Das ist die falsche Frage.

Willst du noch Tee, soll ich das fragen?

Man kann den anderen auch gar nichts fragen.

Also keinen Tee?

Ja. Das heißt, nein.

Bühl wollte keinen Tee und wollte auch keine Fragen beantworten, schon gar keine Fragen nach Gründen – weder seinen Freund aus langen Schülerjahren noch das rauchende Mädchen im Ruderboot hatte er aus Gründen geliebt, und auch im Augenblick, auf einem Sofa in der Halle des Plaza Hotels von Havanna, den Kopf in einem warmen Schoß und eine interessierte Hand auf dem Bauch, die Finger unter seinem Gürtel, liebte er nur weil. Weil er so gebettet lag, über ihm ein gutes Gesicht, weil der Mund darin so weich war, der Blick aus den Augen so unruhig. Wenn es Gründe gab, lagen sie an der Oberfläche. Er zog das Schöne, Weiche, Warme noch mehr an sich heran, eine Hand unter Vilas Kleid, auf der Brust über einem schlagenden Herzen, und alles andere verschwand dahinter, das Sofa, die Pflanzen, die Lobby, die noch bleibende Zeit.

Erst als die Schwarzen von der Security ihre Runde machten, das Knacken aus den Funkgeräten näher kam, kam auch die Zeit wieder ins Spiel – ob er nicht müde sei, nicht lieber schlafen sollte, im Bett gesund werden, leise Worte in sein Ohr. Wir haben morgen noch den ganzen Tag, sagte Vila, für ihn kein Argument. Nein, keine letzten Stunden neben gepackten Koffern, während die Sonne wandert, erst aufs Bett scheint, dann an die Wand, dann gar nicht mehr ins Zimmer. Wir verabschieden uns hier – du weißt, wie sich Franz in Assisi von Klara verabschiedet hat? Ich wandere jetzt nach Spanien, auf dem Rückweg sehen wir uns wieder. Oder was sollen wir tun? Eine Frage in Vilas fallendes Haar, den Mund an ihrem Mund, die Hände an den Wangen. Er hielt ihr Gesicht wie etwas, das unter keinen Umständen verlorengehen darf, und sie sagte nichts mehr, aber auf ihrer Zunge wohl die drei Worte, die zu viel wären. Sie streichelte nur seine Lippen, die Nase, die Stirn, sie zog die Falten zwischen den Brauen glatt und atmete im Takt mit ihm, das alles hinter dem Haarevorhang, als seien sie allein auf der Welt, nur waren sie nicht einmal in der Halle allein. Die Security hatte auf ihrer Runde im hintersten Winkel haltgemacht, mit sicherem Auge für das berüchtigte Glück.

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