IX
GIOTTO di Bondone, oder kurz Giotto, fast ein Menschenleben nach Franziskus geboren, als der noch in aller Munde war, erhielt als Maler schon im Alter von fünfundzwanzig in Assisi den Auftrag für die Fresken zum Leben des Santo Poverello, eine Arbeit an den Decken und Wänden der großen Basilika bis in sein reifes Mannesalter – acht Jahrhunderte später auf unzähligen Drucken über den Hotelbetten der Stadt. Bühl hatte das Bild Der Platz des Franziskus im Paradies gegen ein anderes aus dem Flur ausgetauscht, Die Ekstase des Franziskus, darauf dargestellt sein Abheben vom Erdboden bei tiefer Versunkenheit ins Gebet, das Entschweben in leuchtenden Wolken, verfolgt von vielen Mitbrüdern, ein Bildertausch, so unbemerkt wie das Aufhängen von zwei weiteren Drucken aus dem Zyklus, beide zuvor im Treppenhaus, jetzt über dem kleinen Schreibtisch im Zimmer, Die Vertreibung der Dämonen und Die Predigt an die Vögel. Drei Bilder also, die er um sich haben wollte nach dem einen Tag mit Vila, und alle drei nur Ersatz für das Bild, das er ihr nachts geschickt hatte und das auszudrucken, sicher in noch minderer Qualität als die Giottos aus dem Treppenhaus, nicht in Frage kam.
Agnus Dei von Zurbarán, Lamm Gottes, aber auch Schöpfung dessen, der es göttlich gemalt hat, war das einzige Bild in den vier Wänden seiner Kinderfrau, der Hug Tulla, wie alle sie nannten, weil sie Tulla Maria Hug hieß. Unzählige Male hatte er sie in ihrer kleinen Wohnung im Hinterhaus der Confiserie, in der sie mehr als nur aushalf, besucht, ganze verregnete Nachmittage brachte er dort zu, wenn der Vater unterwegs war und die Mutter im Damensalon Zimmermann saß, ja oft auch ganze Nächte, wenn die Eltern am Wochenende etwa in Badenweiler waren, um ihre Ehe im Hotel Römerbad zu erneuern. Vor den Nächten aber die Abende, immer ein Programm, die Hug Tulla ging mit ihm zuerst in die Dreisam-Lichtspiele, in einen Film mit Gladiatoren oder Außerirdischen, auch wenn sie dabei einnickte, und danach noch in die Kirche, um sich an die Namenspatronin Maria zu wenden, und schließlich in ihre Wohnung, wo sie ihm ein zweites Abendessen machte, Bratkartoffeln mit Ei und Wurststückchen, und dazu durfte er ein Glas Bier trinken, um besser zu schlafen, aber bis er schlief, erzählte sie ihm von Filmen, die sie sich ansah, wenn er nicht dabei war, solchen in Schwarzweiß, die immer montags liefen, dem Tag, an dem nur Eigensinnige wie sie ins Kino gingen. Im Grunde erzählte sie ihm von der Liebe, auch wenn dieses Wort nie vorkam, und seit er zwölf war, schon im Internat, ging er an jedem Montag in den Ferien selbst ins Kino, erstaunt darüber, wie genau Tulla ihm alles erzählt hatte: ob Gregory Peck und Audrey Hepburn, ob Jean Paul Belmondo und die junge Amerikanerin, die in Paris auf der Straße die Tribune verkauft, er kannte schon alle großen Paare samt ihren Nöten. Nur Tulla kannte er nicht, die liebte er einfach, wie man als Kind eine gute Lehrerin liebt oder wie er das einzige Bild in ihrer Wohnung liebte. Nach seiner Schulzeit, als er kaum noch nach Hause fuhr, verlor er sie aus den Augen, und eines Tages gab es anstelle der Confiserie einen Thai-Imbiss, und die Hug Tulla, hieß es, sei fortgezogen. Sie war verschwunden, sogar in ihm verschwunden oder abgesunken – bis er nach der Rückkehr vom Flughafen Florenz, als er im Hotel noch arbeiten wollte, eine Nachricht fand. Seine alte Kinderfrau hatte irgendwen gebeten, ihm eine Mail zu schreiben, die Adresse konnte nur vom einzigen Zartenbacher Beerdigungsgeschäft kommen, Pietät Drengle. Tulla war jetzt in einem Altenheim bei Unterried, dem Dorf von Spiegelhalter, und hatte erst kürzlich und nur durch Zufall vom Unfalltod seiner Eltern gehört, und ihr Schreiben an ihn war bis auf zwei Zeilen über das Heim ein Trösten nach dem Verlust, wie sie ihn mit Bratkartoffeln und Kinogeschichten getröstet hatte, als die Eltern noch lebten und trotzdem weg waren, für ihn nicht da. Und seine Antwort war eine Aufzählung der besten Erinnerungen an Tulla Maria Hug, einschließlich des gerahmten Drucks über ihrem Bett, dazu das Versprechen, sie bald zu besuchen.
Und kaum war das abgeschickt, hatte er sich das gefesselte Lamm auf den Schirm geholt; dort war es jetzt als Schonbild für das Gerät und Mahnbild für ihn, der sein Leben danach gerichtet hatte, niemanden mehr zu vermissen, aber seit dem Moment, in dem Vila hinter der Schleuse verschwunden war, alles an ihr, jede erwachsene Kleinigkeit, vermisste. Und der auch nur gefasst sein konnte, so wie das Lamm. Vilas Reaktion auf das Bild kam am nächsten Tag, Danke für das Wesen! Muss ich es bedauern oder beneiden? Und die Antwort hatte zwei Sätze mehr: Es mit beidem versuchen. Und ob sie sich irgendwann in Freiburg sehen könnten, für ihn gebe es in der Nähe etwas zu tun. Das Intercity-Hotel am Bahnhof, mit ihr zusammen ein Paradies! Er drückte auf Senden, dann verließ er sein Zimmer und das Hotel. Es regnete immer noch oder schon wieder, die steingrauen Häuser und Gassen, die Winkelwege, steil aufwärts und abwärts zu versteckten Kirchen, schimmerten vor Nässe, als die Laternen angingen, ein November, wie es schon Hunderte gab in Assisi, der Monat der Klammheit, feucht, dunkel, still, immer schon.
DIE Stadt am Berg nach dem Abendläuten wie ausgestorben; nur später vereinzeltes Hufeklappern, dazu eine helle Stimme, die ein Lied von weither singt, aus Frankreichs Süden, eines von Wärme und Licht, von Meeresglanz und Düften nach Lavendel und Zimt und den Nacken junger Frauen unter einem schweren, sonnenbeschienenen Haar. Giovanni Francesco, Sohn des reichen Bernardone, reitet durch die dunkle Stadt, die Dämonen seines eigenen Novembers zu vertreiben. Er trägt einen Umhang aus besticktem Leinen mit roter Seidenschärpe, wie ein Zingulum, nur noch schmucker, er klopft mit einem Holzschwert, das er sich geschnitzt hat, an die Türen der Mägde, eher Türchen am Rande der Häuser, auch für Ziegen, die ein und aus gehen. Ich bin es, singt er, Giovanni Francesco, Sohn des Tuchhändlers, kommt und fühlt meine Stoffe! Er steigt vom Pferd, das dem Vater gehört, und dreht sich, daß der Umhang fliegt, und eine der kleinen Türen geht auf, ein rundes Gesicht erscheint, das geflochtene Haar wie ein dunkler Rahmen. Franz tritt näher, er verbeugt sich, das eigene Haar fällt ihm über die Schultern, er ist bald zwanzig und hat noch kein Mädchen gehabt, nur im Traum. Wie ist dein Name, fragt er, und sie flüstert etwas, den Kopf gesenkt. Flores? Er wiederholt es leise, darauf hebt sie den Kopf, ihre Wangen leuchten – in dem Haus, dem sie diene, sei von ihm, dem Sohn des Bernardone, oft die Rede: der mit der Seidenstimme. Ihr Flüstern ist heiser, sie ist erkältet, wie so viele im November, er nimmt dem Pferd die Schmuckdecke ab, legt sie ihr um Schultern und Kopf, so könnte sie auch ein Knecht sein, der ihn begleitet. Sie zögert noch, und er verspricht ihr den Himmel, nicht weit von hier in der Kirche San Lorenzo. Gehen wir, sagt er und führt das Pferd und Flores in der Decke die Via di Porta Perlici bergan, jeder Schritt ein Schritt weg vom Sohnesleben – ein Kaufmann soll er werden und seinem Vater in allem nachfolgen, also mit Stoffen handeln und das verdiente Geld verleihen. Nur ist er kein Feilscher, kein Rechner wie Pietro, wenn er mit etwas rechnet, dann mit Wundern, also führt er die heisere Magd, jünger als er, in das Kirchlein San Lorenzo, nur genutzt an Sonntagen, sonst dient es in kalten Nächten den Tieren. Pferde und Esel stehen dort auf felsigem Boden, Schafe auch im Winter, und immer gibt es ein paar Heuballen oder Abfälle, etwas zum Kauen, und die Luft ist feuchtwarm von den Leibern – der richtige Ort für ein Wunder, dunkel bis auf das Ewige Licht. Sie tasten sich an den Tieren entlang und finden einen Platz hinter den Balken und Brettern für ein Gerüst, um noch die Decke zu bemalen. Franziskus holt sich einen der Heuballen, er bittet Pferd und Esel und ein Maultier um Verzeihung, dann legt er das Heu zwischen die Balken und läßt sich nieder, und Flores – die kein Mädchen mehr ist, wie die meisten der Hausmägde, die schon zu zwinkern versteht – kommt neben ihn. Sie trägt einen Kittel aus Schafwolle, dazu Holzschuhe und um die Füße ein paar Lappen, sie zittert in seinem Arm, aber nicht vor Kälte. Bis auf das Kauen der Tiere und manchmal ein Klatschen oder Plätschern auf dem Stein ist es still, so still, daß die eigenen Geräusche etwas von Lärm haben: ihr beider Atem und das Knüllen von Wolle, das Knicken von Leinen und sprödem Heu, das Rucken am Gerüsteholz und Reiben von Haut an Haut. Franz gräbt sich in das Fremde, Weiche, als ließe sich das Verlangen dadurch stillen, daß er dessen Ursache findet. Er tastet und riecht, ein Tasten und Riechen mit kühler Erregung. Er liebt nicht, er forscht, wie er auch heimlich im väterlichen Stofflager geforscht hat, nicht nach dem, was sich mit größtem Nutzen verkaufen läßt, sondern ihn am besten kleidet. Auch der Leib, den er umarmt, ist ein Stoff, er schaut in das Gesicht unter seinem mit prüfendem Blick, die kleine Stirn im Schimmer des Ölflämmchens hinter rotem Glas, der Kerze, den Schwung der Augenbrauen, die bebende, etwas breite Nase, den leicht offenen Mund. Sag meinen Namen, sagt er, und sie flüstert ihn heiser, einmal, zweimal, dann ist er am Ziel und schleudert alles Sohnsein heraus. Pferde und Esel rücken zusammen, deutlich die Hufe auf dem Stein, die Unruhe, das Wetzen der Felle, das leise Schnauben und Scharren, dazwischen Flores’ Atem, als hätte sie Körbe nasser Wäsche geschleppt, während er schon wieder bei sich ist, zu seinem Umhang, seiner Schärpe greift und an die Freunde denkt: daß sie ihn gleich auf der Gasse erwarten würden, damit sie gemeinsam, singend, sein neues Leben feierten und bis in die Oberstadt ritten, um den alten Bernardone mit ihren Stimmen zu wecken. Sie sind wie Brüder, ihm näher als jedes Fleisch, das nur an seinem Fleische saugt – von einem Krieg gegen Perugia ist im Palazzo del Populo die Rede, in diese Schlacht würden sie alle ziehen, er und die ihm Liebsten als junge Ritter zu Pferd, um die alte Hure Perugia vor ihren Toren für immer zu schlagen.
Der Regen über Assisi wollte nicht enden in diesen Novembertagen, die Feuchtigkeit drang durch die Fensterritzen, ja sogar durch die Mauern des alten Hotels, an den Zimmerwänden liefen immer wieder Tropfen herunter, nach jedem Duschen stand der Dampf im Raum. Die Heizung kam kaum an gegen die Nachtkälte; tagsüber half nur ein Radiator bei steifen Fingern: die das Schreiben noch langsamer machten, als es ohnehin voranging. Bühl hatte sich einen Schirm gekauft, jeden Nachmittag lief er einmal quer durch die Stadt und zurück über den Rocca Maggiore mit Blick auf die grauen Häuser und Kirchen im Regen, als gäbe es nichts als Mauern und Nässe, wie eh und je im November, und die Zeit wäre stehengeblieben. Wieder im Hotel, sah er nach, ob Vila etwas geschickt hatte, aber diesmal kam die Antwort erst nach Tagen: Freiburg, ja, warum nicht. Und kann ich dabei sein, wenn du zu tun hast? Was hast du überhaupt zu tun, ich kenn dich kaum?
Bühl druckte es aus, sein bester Wandschmuck; es war, als hätten sie es abgesprochen, keine Namen und nur das Nötigste. Eine andere Antwort dagegen voller Überschwang, Tullas ganze Freude, ihn vielleicht bald zu sehen. Nur wollte er bis zum Winter warten, seine Idee: mit Vila durch den verschneiten Wald von Zartenbach nach Unterried gehen. Was ich zu tun habe, schrieb er zurück, Behördengänge. Jemanden aus dem Fegefeuer holen, der den Himmel verdient hat. Und warum nicht zu zweit, du bist ohnehin bei mir! Keine Übertreibung; Vila begleitete ihn bei seiner Arbeit, seinen Wegen, den Mühen des Einschlafens. Und in der ersten Nacht ohne Regen, im Zimmer eine Stille, die ihn wach hielt, begann er damit, Franz in den Krieg gegen Perugia ziehen zu lassen, nur um an etwas anderes zu denken – was so wenig gelang wie das Schlafen. Erst gegen Morgen schlief er ein, und erst das Zwölfuhrläuten weckte ihn, ein unhaltbarer Zustand. Er hängte die Drucke wieder auf, wo sie gehangen hatten, bezahlte das Zimmer und ging mit seinen Sachen zu dem abgelegenen Parkplatz. Das erste Fahrziel war klar, der Wagen musste wieder zum Flughafen von Florenz, also fuhr er ihn dorthin, um an Ort und Stelle einen neuen zu mieten, ohne Vilas Geruch im Polster. Der Abend brach schon an, als er auf die Autobahn Richtung Bologna/Ravenna fuhr, und auf der Tunnelstrecke über den Apennin, ringsherum nichts als Schwärze, summte sein Telefon, er bog in die nächste Haltebucht. Es regnete wieder, der Regen jetzt vermischt mit Schnee, an der Frontscheibe mattes Klatschen, als der Motor abgestellt war; das Licht von dem kleinen Schirm wie das einzige Licht weit und breit. Freiburg nach Weihnachten wäre möglich, so stand es da blau auf weiß, und auf einmal hatte alles bis dorthin Sinn, angefangen mit der weiteren Strecke, über Bologna und Modena bis zur Autobahnausfahrt Affi und von dort noch das Stück zum See und die paar Kilometer zu dem Haus, das er als Mieter zu hüten hatte.
UND wieso gerade Freiburg? Renz – auch in einem Mietwagen, nur in wärmerer Umgebung um diese Jahreszeit, nämlich Mallorca, und auch auf einer Autobahn, zwischen dem Flughafen und dem Städtchen Pollença, der versprochene Besuch bei Heide und Jörg –, Renz war noch nicht misstrauisch, aber gewarnt durch sich selbst: den, der sich jede Geschichte ausdenken konnte, nur damit keine weiteren Fragen kommen. Freiburg nach Weihnachten, du hast nicht zugehört, sagte Vila. Dann liegt dort Schnee. Ich will ein paar Tage für mich sein, durch einen verschneiten Wald laufen. Und auch nicht in Freiburg, in der Umgebung, auf dem Schauinsland, dem Feldberg, was weiß ich! Sie hatte noch am Vortag, während Renz wegen seines Zweiteilers mit Hermes Film telefonierte, in Katrins guten alten Atlas gesehen, die Süddeutschlandseiten mit Bodensee- und Schwarzwaldkarten, sie hatte Bühls Tal gefunden, auch die Orte Zartenbach und Unterried, jeweils ein Name bei einem schwarzen Punkt: Da konnte sie sich mehr vorstellen als mit Google Earth oder Street View; sie hatte sogar schon winterfeste Stiefel gekauft. Renz sah sie an, ein kurzer Blick. Aber Schnee war nie deine Sache, also warum auf einmal? Wenn ich für mich sein will, dann in einer warmen Stadt, um dort abends herumzulaufen. Wieso nicht Palma?
Weil ich nicht du bin, sagte Vila, ihr letztes Wort auf einer Fahrt in früher Abenddämmerung, sie schloss sogar die Augen, sie kannte die Strecke, dreißig Minuten Autobahn quer durch den flachen Teil der Insel, dann noch ein Stück Landstraße, ein Dösen mit dem Kopf an der Scheibe, bis Renz Wir sind da! rief und sie herausriss aus einem Reigen von ihr und Bühl, auch unterwegs im Auto, in Marokko, in Mexiko, ziellos in der Hitze, und dann sah sie auch schon Heide und Jörg auf der Terrasse ihrer Finca in dem kleinen Tal am Rand von Pollença, er dabei, den Grill anzufachen, und sie, auf einem großen Außentisch ihre Heide-Teelichter zu entzünden.
Ein Abend mit Freunden in leichten Pullovern, Jörg hatte den Grill an dem Tisch gerückt, es gab Lammkoteletts mit Pellkartoffeln, einer Minzsoße und Wein aus Karaffen. Die Paare saßen sich gegenüber, auch die Männer, die Frauen, Renz und Jörg sprachen über die Chancen eines Angeltrips, Vila und Heide sprachen über Anne und Edgar, ob da etwas im Argen sei. Über alles konnte Vila mit Heide reden, nur nicht über sich und Bühl, also auch über nichts: ihr Empfinden an dem Abend, der kein langer Abend wurde, Heide ging schon um neun ins Bett, der Mallorcaschlaf war ihr heilig. Man blieb noch zu dritt und kam nicht mehr richtig in Fahrt, weder über Renz’ neuestes Projekt, der heilige Franz in zwei Teilen, noch über Jörgs Firma für kleine Sonnenkollektoren an bisher unbeachteten Flächen mit dem Ziel, aus dem Stadtbild ein nützliches Kunstwerk zu machen. Sie sprachen nur über die morgige Fahrt aufs Meer, die Köder für Makrelen und kleine Tunas, dann zog sich auch Jörg zurück, ein Notebook im Arm, um noch etwas zu fummeln, so nannte er seine Abendbeschäftigung, wenn Heide schon schlief, das Bearbeiten von Fotos. Jörg versah ganze Giebel, die noch normale Hausgiebel waren, mit Kollektoren oder entfernte die Telefondrähte auf Bildern seines Grundstücks; er ließ Wolken am Himmel verschwinden und Fältchen auf Wangen und hatte auch schon seinen zwei fast erwachsenen, immer herausgeputzten Söhnen wildere Frisuren verpasst. Schlaf gut, rief Vila ihm noch durch die Wand zu, nur um die Worte auszusprechen, da war sie mit Renz schon im Gästezimmer, ihre erste Nacht in nur einem Bett seit dem letzten Karibikurlaub.
Eine Nacht mit Grillengezirpe, ein gutes Geräusch, um in den Schlaf zu finden, aber Vila lag wach, wie alarmiert von dem Wissen, dass auch Renz wach lag, nur tat, als würde er schlafen, gleichmäßig zu atmen versuchte, statt sich zu wälzen oder gar zu sagen, er könne nicht schlafen. Und sie selbst, sie war nicht besser mit ihrem lautlosen Wachliegen auf der Seite, eine Hand zwischen den Knien, als wäre es nicht ihre Hand. Am Vormittag, noch in Frankfurt, hatte sie eine Nachricht erhalten, Ich vermisse dich. Nur diese Worte, aber die Worte, auf die sie gewartet hatte, weil es auch die eigenen waren, zu ihr zurückgekehrt, wie manche Worte in den Schleifen eines Traums. Ich vermisse dich: ihr Einschlafbild; Stunden später, als es schon dämmerte, Stoff für ein euphorisches Geträume, beendet vom Pfeifen des Teekessels. Heide war ein Morgenmensch, nach zehn Stunden seliger Abwesenheit beim Frühstück aufgelegt wie andere abends nach ein paar Gläsern. Schon wieder umgeben von Teelichtern, kam sie auf Themen, die eigentlich in die Nacht gehörten, auf die Liebe, die Ehe, den Tod. Ihr Leben spielte sich in einem eigenen Takt ab, Abend und Morgen waren auf den Kopf gestellt, sie redete in einem fort, und Vila nippte nur an ihrem schwarzen Kaffee, während sich Renz und Jörg nach den Rühreiern zurückzogen, um die Köder für das Fischen zu präparieren; der Trip mit Jörg, einer von Renz’ Jahreshöhepunkten, nur getoppt von dem Fischen vor Jamaika zwischen Heiligabend und Silvester. Das Wetter sah gut aus, kaum Wolken, kaum Wind, erst ab Mittag sollte es regnen. Renz brach im Hemd auf, Jörg in einem Shirt mit dem Sonnenlogo seiner Firma Cleanlight, ein Zweimanntrip; Vila wollte nicht beim Fischeherauszerren dabei sein, und Heide sonnte sich lieber. Wir lesen hier den ganzen Tag, sagte sie.
Lesen, das wollte Vila auch nicht den ganzen Tag, überhaupt fiel ihr Lesen schwer seit Havanna – sie war unkonzentriert oder nur auf Bühl konzentriert, selbst die Aufzeichnung ihrer letzten Anmoderationen war mühsamer als sonst. Und nach zwei Stunden am jörgschen Pool mit solarer Heizung hatte sie genug von dem Erstlingsroman eines früheren Ministers für Arbeit und Soziales, ihr vom Verlag als idealer Mitternachtstipp zugeschickt; und am selben Tag auch noch ein Anruf von Podak, Parteigenosse des pensionierten Schreibdebütanten: sie solle das bitte machen, am besten gleich eine Homestory. Vila zog ihre Laufschuhe an und ließ sich von Heide den Weg zu einem Berg am Ende des Tals erklären.
Es war kein hoher Berg, eher eine hohe felsige Erhebung mit Pfaden zwischen Sträuchern und Gesteinsbrocken, Pfaden, die sich manchmal in Geröll oder Bächen verloren, dann wieder auftauchten und über kahles Gelände führten. Und je höher sie kam, desto mehr nahm der Wind zu, beugte die dürren Gräser, und setzte er aus, war es still, und sie erschrak, wenn irgendwo Steine rollten, weil eine Bergziege wegsprang. Der Schweiß rann ihr, und bei jedem Windstoß fror sie an Armen und Beinen; vor ein paar Wochen hätte sie noch kehrtgemacht, nun aber lief sie weiter, ein Muss, sie konnte nicht anders, aber zwang sich auch: ein Muss, sich zu zwingen, sich aus dem Leib zu schlagen, was zu viel für sie war, und gegen Mittag erreichte sie die Bergkuppe und sah auf der anderen Seite die Bucht von Pollença und das offene Meer, wo Renz irgendwo sein musste, blutverschmiert vom Töten eines Fisches. Sie setzte sich zwischen Geröll, Gesicht und Rücken nass vom Anstieg, und tat etwas für ihr Gefühl Absurdes an einem Ort mit keiner Menschenseele weit und breit, nur dem Wind und den Steinen, sie zog ihr Telefon aus der Tasche und hatte, wie ein Triumph des Absurden, gleich guten Empfang und wählte Bühls Nummer.
Wie geht es dir? Seine ersten Worte, immer noch umwerfend in ihrer Höflichkeit. Ich weiß nicht, wie es mir geht, ich bin allein auf einem Berg, sagte sie und sagte auch gleich, wo dieser Berg lag und was sie dort hingetrieben hatte. Und du? Sie lag jetzt flach auf den Steinen, einziger Schutz vor dem Wind, und er erzählte ihr von seinen letzten Tagen in Assisi, den Gängen im Nebel, ohne sie, den Nächten ohne sie, der Rückfahrt an den See, dem Haus ohne sie – kein Klagen, nur ein Feststellen, und sie sagte Ich vermisse dich, und er gab es zurück, ohne ein Auch am Ende, dafür mit Betonung auf dem Ich, einem leichten Nachdruck, der auch ein Nachdruck für das Weiterreden war, es ihr leichter machte. Ich habe dein Dorf, Zartenbach, auf der Karte gefunden. Treffen wir uns dort, wenn Schnee liegt, oder wo genau hast du zu tun? Sie hielt das Telefon jetzt mit beiden Händen, sie fragte noch, was er zu tun habe in der Gegend, und er erzählte es mit wenigen Sätzen, im Grunde hätte der Name genügt, Tulla Maria Hug, seine Kinderfrau, nun selbst auf andere angewiesen, in einem Heim lieblos am Leben erhalten. Lieblos, woher weißt du das? Es begann zu regnen, vom Meer eine nahende Front, über ihr schon niedere Wolkenfetzen. Eine Vermutung, sagte er und kam auf Renz, der ihn treffen wollte. Aber nicht unseretwegen, keine Angst, nur wegen Franziskus, der Zweiteilersache, ein Treffen in München, mein Vorschlag. Franz und Klara, ihre Geschichte auf dem Prüfstand, warum nicht. Und du bist ganz allein auf dem Berg, im Wind? Er schien den Wind zu hören, ja sogar den Regen, und sie beschrieb ihre Lage, wie die der letzten Frau auf Erden, inmitten von Geröll und Wolken, und er riet ihr, vorsichtig zu sein beim Heruntergehen – Pass auf dich auf! Sein Schlusswort, das sie zurückgab, mit einer Betonung auf Dich, dann machte sie sich an den Abstieg, die Arme um sich geschlungen gegen die Kälte.
Und noch in der Nacht wurde sie krank, mit Fieber und Gliederschmerzen, und auch Renz wachte von Schüttelfrost und einem pochenden Kopf auf; er und Jörg waren am Abend mit leeren Händen, aber triefend vor Nässe auf die Finca gekommen, nach einem einzigen Biss in acht Stunden, ein jähes Sirren an der Rolle. Jörg war gerade am Bug, und Renz kannte nicht den Mechanismus, um die Rolle zu bremsen, was den Haken in die Knorpel getrieben hätte, also konnte der Fisch Köder und Haken ausspucken, die Schnur wurde schlaff, das Sirren hörte auf, dafür Renz’ Flüche. Und nach dem einen Biss nur noch Regen und die Rückfahrt und später eine Suppe, da hatte Vila schon gefroren trotz hundert Teelichtern auf dem Tisch, während Renz noch glaubte, mit Rioja das Ärgste verhindern zu können. Aber es ließ sich nicht mehr verhindern, es brach schon heraus, eine Erkältung plus irgendeinem Virus, vielleicht aus dem Flugzeug. Den nächsten Tag verbrachten beide im Bett, ein Dämmern im Fieber, jeder für sich; am Abend kam Heide mit Pfefferminztee und zwei Wärmflaschen, das geplante Paella-Essen fiel aus. Die Nacht dann eine Kopfweh- und Schüttelfrostnacht, dazu erstes Husten, jeder warf dem anderen vor, ihn am Schlafen zu hindern, überhaupt daran schuld zu sein, dass man hier so liege: schuld an dem ganzen Scheiß, wie Renz gegen Morgen in einem kindischen Wutanfall rief. Er hasste es, krank zu sein, und Vila hasste es auch, es machte sie alt, viel älter, als sie war, zur Mutter der Frau, als die sie sich fühlte, und wenn sie beide krank waren, machten sie einander nur noch kränker, statt sich zu helfen, wie Heide und Jörg es tun würden. Wir lesen uns vor, wenn wir krank sind, sagte Heide, als sie am Mittag noch einmal zu viert um den Teelichtertisch saßen, Renz mit klappernden Zähnen. Ihr Rückflug war um halb vier, sie mussten schon um eins mit dem Mietwagen los; auf der Fahrt nach Palma dann kaum ein Wort, nur Husten und Sich-selbst-Wärmen, Renz fuhr mit einer Hand. Und auch auf dem Flug nur das Nötigste, wer welchen Teil der FAZ bekäme, oder ob man etwas einkaufen sollte für morgen – nein.
Sie landeten mit Verspätung, die Fahrt in die Stadt schon im Abendverkehr, die Schadowstraße so still wie immer, die Treppen zur Wohnung eine Tortur. Renz verschwand sofort in sein Zimmer, Vila hörte ihn noch stöhnen: kein Theater, er war wirklich krank, und sie war es auch, sogar doppelt krank. Sie liebte, und sie fror. Selbst unter zwei Decken fror sie so erbärmlich in dieser Nacht vor einer Arbeitswoche mit drei Interviews für ihre erste Weihnachtstippssendung, dass sie irgendwann aufstand, um sich eine Wärmflasche zu machen, und in der Küche auf Renz traf. Er wollte das Gleiche und hatte schon heißes Wasser – den Kocher in der Hand, stand er da, das graue Haar verklebt auf seiner Fieberstirn, in der anderen Hand Katrins alte Kinderwärmflasche mit Ponykopf, nicht sicher, wie es jetzt weitergehen sollte. Ich mache das, sagte sie, gib schon her.
BEIDE hatten sich eine Grippe geholt, nicht gravierend, aber gravierend genug. Vila musste die Interviews absagen, eine junge Kollegin sprang für sie ein, und der Ex-Minister mit einem Roman aus der Welt der Arbeit fasste seine Enttäuschung über die geplatzte Homestory – die Kollegin hatte zu viele andere Termine für den Besuch in seinem Vogelsberghaus – in einem Brief an den Intendanten zusammen, einer Kritik gleich am ganzen Format, die auf Vila zurückfiel. Erst Ende der Woche erfuhr sie durch Jens Podak davon, immer noch so fiebrig, dass es ihr gleichgültig war oder fast gleichgültig, so wie Renz’ gebrauchte Taschentücher, die er überall herumliegen ließ, bis ihre polnische Hilfe Barbara, die sich ständig für alles entschuldigte, sie wie zu Boden gefallene Blüten aufhob. Renz hatte im Übrigen keine Stunde gearbeitet in der Woche, er hatte nur im Bett gelegen und sich amerikanische Serien angesehen. Er hatte auch nicht telefoniert oder bloß telefoniert, wenn Elfi nach ihrem Praxistag in der Wohnung war und zuerst die Patientin gründlich abhorchte; er hatte höchstens gemailt im Bett, bevor Elfi seinen Rücken abklopfte, und später wohl auch ein paar Worte empfangen, die ihm über die Fiebernacht halfen, so wie ihr ein paar Worte von Bühl: die sie leider nicht ausdrucken konnte, um sie an die Wand zu hängen. Dafür hing über ihrem Nachttisch das Bild mit dem Lamm, wie von selbst beim Stöbern im Netz entdeckt, der Ausdruck leider nur schwarzweiß und von Renz bei seinem täglichen Schleichgang durch die Wohnung auch gleich bemerkt. Spanische Barockschule, seit wann stehst du auf so was, sagte er, während Elfi es lange betrachtet hatte, um am Ende zu sagen, es sei eigentlich gar kein Lamm, und überhaupt mehr Mensch als Tier.
Elfi kam jeden Abend von oben, ihr Stethoskop um den Hals und in den Händen eine Suppe von Lutz: der auch als Orthopäde Ideen zur Grippebehandlung hatte, ein Arzt, der von allem etwas verstand, dabei auf dem Boden blieb, auch wenn er gelegentlich das Knie eines Eintrachtspielers in die Hände bekam. Zur Martinsgans bei Anne und Edgar seid ihr wieder fit, sagte er an dem Tag, als Renz zum ersten Mal an seinem Schreibtisch saß, die Maus auf einem Buch über Franz von Assisi. Er grub sich tatsächlich in diesen Stoff, in diese Figur, wie er sich schon in Anwälte, Geschäftsfrauen oder eine Pathologin gegraben hatte. Vila hörte ihn sogar vor sich hin murmeln, kurze Dialoge probieren, als sie die lutzsche Suppe aufwärmte, ein beängstigendes Gemurmel, wie ein Komplott zwischen Renz und Franz gegen Bühl und sie – unmöglich, dabei eine Minestrone zu löffeln. Sie stellte den Herd wieder ab und zog sich ins Bett zurück, ein Rückzug mit dem Telefon unter die Decke, und sie wählte die Italiennummer, auch wenn sie nach Tagen fast ohne Stimme erst heiser flüstern konnte, einer Stimme zum Fürchten.
Bühl wusste, dass sie krank war, sie hatte ihm eine Mail geschickt, darin das Wichtigste: warum sie ihn nicht anrufe. Es wird von Tag zu Tag besser, erklärte sie, aber nur etwas. Und du? Wie sieht dein Tag aus? Sie lag auf der Seite, mit Blick zum Fenster auf einen der alten Straßenbäume, schon ganz ohne Blätter, die Äste schwarz, und er erzählte von seiner Arbeit, von Versuchen, Franz als jungen Mann in den Krieg zu schicken, ihn mit Rüstung und Pferd auszustatten. Und genug Leichtsinn, um gegen das stärkere Perugia zu ziehen, auch dem nötigen Hass. Wo soll man da anfangen, sagte er, am besten gleich auf dem Schlachtfeld. So wie Liebesszenen gleich im Bett anfangen. Wie siehst du aus? Plötzlich diese Frage, und sie sagte, sie sei kein Anblick, und er: dann würde sie wie der Garten aussehen, trotz seiner Arbeit. Und er beschrieb ihr den Garten und alles, was er unternahm, um ihn in Ordnung zu bringen, die abgefallenen Oliven zusammenrechen, immer wieder, das Laub von der Terrasse fegen, das Laub aus dem Pool fischen, den Schlamm nach tagelangem Regen von der Steintreppe spritzen, die Maulwurfshügel abtragen. Er sprach leise auf sie ein, im Hintergrund jetzt Musik, die Arien-CD von de Beni, also lief er mit dem Telefon durchs Haus, war von oben nach unten gegangen, in den Raum mit der Anlage. Wenn du Renz in München triffst, wirst du auch Marlies Mattrainer treffen, dein Mädchen von damals? Sie unterbrach ihn einfach, und er sagte, vielleicht, und sie bat ihn noch um ein Wort für die Nacht, und er atmete ein und aus wie Kinder vor schweren Entschlüssen, sein Luftholen für ein Ichküssedich. Und von ihr nur ein Ja, sonst nichts, ja statt einem Gute Nacht oder leeren Ciao oder ganz und gar leeren Ciao Ciao, wie von Jens Podak am Schluss jedes Anrufs.
Ichküssedich – sie träumte sich buchstäblich in dieses Wort aus drei Wörtern, und die Nacht wurde besser als die Nächte zuvor, keine Gliederschmerzen, aber das Fieber unverändert, und es hielt sich auch in den Tagen danach. Sie aß nur Obst und ließ sogar die Lutz-Suppen stehen, und im Bad glaubte sie einmal für einen Moment, ihren künftigen Totenschädel unter der Haut zu erkennen, das war spät in der Nacht zum Montag, nachdem sie mit Renz die Tipps gesehen hatte. Das erste Gemeinsame: er und sie, jeder im Bademantel, vor dem Fernseher in der Küche; sie war nicht schlecht in der Sendung, nur manchmal forciert, beide Daumen unter dem Gürtel, aber mehr lässig als verkrampft. Verkrampft war nur ihre Haltung am Schluss, die Füße gekreuzt, Kopf leicht schräg, als sie ihren Beitrag in der Weihnachtsausgabe von Mitternachtstipps schon vorankündigte, einen Film über Havanna und den berühmtesten Dichter dort, Pablo Armando Fernández, Freund von Castro und García Márquez. Gratuliere, du machst dich, jetzt musst du nur schnell gesund werden: seit langem die tröstlichsten Worte von Renz. Aber sie wurde nicht schnell gesund, auch nicht durch Elfis Maßnahmen. Beide laborierten sie noch, ein Fieberpaar, das seine Wohnung nicht verließ, also fiel das Gansessen flach: Anne und Edgar scheuten die Mühe, weil sie und Renz nicht dabei wären; auch das Freundesystem schwankte in diesen Tagen. Erst Mitte der dritten Woche nach Mallorca war Renz schon morgens auf den Beinen, um nach München zu fahren. Es geht ihr schlecht, sagte er an der Wohnungstür, schlechter als dir und mir. Und unser Mieter hat mir gemailt, er kommt dann auch nach München, mit dem Zug, wir treffen uns am Bahnhof. Versteh doch einfach, dass ich hinfahren muss. Tust du das?
Und von ihr kein Wort, welches auch, es war nicht zu verstehen, einfach schon gar nicht, aber sie konnte einfach die Tür hinter ihm zumachen, und auf einmal war sie allein mit ihrem Husten: der bis kommenden Dienstag weg sein musste, dann war die Aufzeichnung für die Weihnachtsausgabe mit nur dem einen Beitrag von ihr. Die anderen kamen von der jungen Kollegin, die sie vertreten hatte, von Hayat Yilmaz, auch schon dreißig und recht locker für eine Türkin oder eher türkisch Angehauchte, sie sprach fließendes Deutsch, nur mit einem charmanten, sexy Akzent, wie Podak sagte, und angeblich war sie voll neuer Ideen für die Mitternachtstipps: die ihr im Einzelnen noch viel zu lang waren, lieber zehn Minitipps als drei Filme, die ja als Filme zu kurz seien und als Appetizer zu breit. Vila machte sich Rührei, dann nahm sie ein Bad, sie musste gesund werden. Nach dem Bad ging sie an ihren Schreibtisch und entwarf die Anmoderation für Havanna und Fernández, anschließend holte sie sich das Charela Inn auf den Schirm, ihr Familienhotel am Strand von Negril, Weihnachtsfluchtort, seit Katrin die Verkrampfung ihres Vaters angesichts eines Christbaums in der Wohnung übernommen hatte. Katrin wollte zu zweit kommen, mit ihrem neuen Begleiter, das war ihr Ausdruck, und es gab noch freie Zimmer zum Innenhof, Standard rooms im Parterre, nicht attraktiv, aber ruhig, Vila buchte eins unter ihrem Namen, den kannte man im Hotel. Dann mailte sie Katrin die Daten, dreiundzwanzigster bis dreißigster Zwölfter – an Silvester wären sie und Renz schon wieder zurück, ihr Programmchef hatte zu sich eingeladen, die alljährliche Fritz-und-Friederike-Wilfinger-Party, auch für Drehbuchautoren ein Muss. Und besorge dir gleich den Flug, schrieb sie hinter die Daten, um die Zeit wollen alle fliegen. Wir freuen uns, Vila.
Wir, das waren sie und Renz, gestern, heute und morgen, auch wenn das Morgen nicht mehr sicher war. Den Rest des Tages lag sie im Bett, ein einziges Bemühen, nicht die Nummer zu wählen, die in Bühls Jacke ein Summen auslöste, ob in Assisi oder im Zug oder irgendeinem Münchner Hotel; er hatte ihr diese Reise nicht weiter erklärt, nur gesagt, er tue es für die Sache, aber welche? Letztlich kannte sie ihn so wenig, dass sie kaum wusste, was sie ihm zutrauen sollte. Vielleicht wollte er nur die Frau wiedersehen, die er als Schüler geküsst hatte und später an seinen Freund verloren; vielleicht wollte er wirklich zu dem Zweiteiler beitragen, seinem Franziskusstoff, und sich dabei Renz näher ansehen, oder nur das: den Mann ins Auge fassen, mit dessen Frau er etwas hatte, wie man sagt. Erst am späteren Abend wählte sie schließlich die lange Nummer, aber am anderen Ende die weibliche Stimme, die um das Hinterlassen einer Nachricht bat. Melde dich, sagte sie nach dem Piepton, nur diese dringenden, letztlich schrecklichen Worte, melde dich: seit Jahrzehnten nicht mehr gebraucht, zuletzt als sie Renz im ersten Jahr einmal hinterhertelefoniert hatte, weil er tagelang nichts von sich hören ließ, aus gutem Grund. Renz war in Berlin, ein Rückfall mit seiner Bühnenbildnerin, aber das erfuhr sie erst ewig danach, dass er damals ein paar Nächte gebraucht habe ohne das Umständliche der Liebe. Rein das Vergnügen, das waren seine Worte, so wie er im Moment vielleicht, bei seiner Kranken, die reine Nächstenliebe praktizierte – es war ihr egal oder hundert Mal unwichtiger als die Antwort auf ihr Melde dich, solange sie wartend im Bett lag. Wie lernt man, mit Rückzügen fertigzuwerden, ohne abzustumpfen? Sie hatte Renz damals schon nach drei Tagen für tot gehalten, die Möglichkeit, die sie noch am wenigsten in Verzweiflung stürzte.
Zähe Nachtstunden waren das, Stunden, die alt machten, am Ende ein todähnlicher Schlaf; das Erhoffte traf erst ein, als sie beim Frühstück saß, nach einer Nachricht von Renz, dass er noch zwei Tage bleibe, schon an dem Heiligentreatment sitze, eine Antwort, die sie später unter der Dusche vor sich hin sprach, Ichbinbeidir. Den halben Vormittag brauchte sie im Bad, um die Erschöpfung im Gesicht zu verwischen, dann fuhr sie in den Sender. Dort sah sie sich das Material für die Beiträge von Hayat der Scheintürkin an, ein Interview mit einem Straßensänger, der das Zeug zum Star hatte, und Bilder aus einem Geheimtippclub; sie gab ein paar Hinweise für den Schnitt und machte Vorschläge für den Off-Text, sie ließ sich von Hayat mit Kräutertee versorgen und sogar etwas bedauern, weil sie so blass war. Nachmittags traf sie sich mit Podak, der hatte Bedenken im Hinblick auf die Havannakiste, wie er den Film nannte: immer noch zu lang, immer noch zu kopflastig, also nur eine kurze Anmoderation, dann gleich die Salsakneipe, sein Rat. Und Wilfinger will bei der Abnahme dabei sein, sagte er mit kalter Pfeife im Mund, und von ihr bloß ein Nicken, um nicht zu sprechen, nicht zu husten, um eigentlich gar nicht da zu sein in ihrem Mantel und einer in die Stirn gezogenen Wollmütze, damit man die Krankenfrisur nicht sah; am Tag der Aufzeichnung hatte sie vorher einen Friseurtermin in der Stadt, bei einer echten Türkin, der besten, wenn es darum ging, mit einer wie Hayat Yilmaz noch mitzuhalten oder sich selbst wieder mehr zu mögen.
Ihr Telefon zirpte im Mantel, sie stand noch in Podaks Studentenbudenbüro, es war Renz’ Zeit, wenn er am Nachmittag durchhing, na, Vila, was tust du, früher die Frage, wenn er eigentlich ins Bett wollte mit ihr, noch vor dem Abend, um dann entspannt zu essen, und sie zog das kleine Ding aus der Tasche und sagte einfach Ja, während Podak sein grünes Cordjackett anzog, erstes Feierabendzeichen, und am anderen Ende auch ein Ja, aber offen für alles, ein bühlsches Ja. Und nach leisem Räuspern, als sei er verlegen, eine Mitteilung, die ihr gerade noch den Raum ließ, Podak zuzuwinken und dabei schon, mehr rückwärts als vorwärts, aus dem Büro zu gehen, in einen der trostlosen Flure des Senders, in dem Moment eine Sonnenpromenade – Bühl war in Frankfurt. Er kam aus München und war am Bahnhof, mit drei Stunden Zeit, kurz vor neun ging der letzte Zug nach Freiburg. Dort hatte er am anderen Tag einen Notartermin, seine alte Kinderfrau wollte auf ihre Art sterben, sie brauchte eine Patientenverfügung, besser heute als morgen, was nichts an ihrem Treffen im Schnee änderte, es war nur ein Vorabbesuch; all das erfuhr sie noch in den labyrinthischen Fluren des Senders, das Telefon ans Ohr gepresst, die freie Hand auf dem anderen Ohr. Drei Stunden, sagte sie, dann gehen wir essen, italienisch, chinesisch, indisch, es gibt alles in der Gegend, was willst du? Sie kam endlich aus dem Gebäude und lief Richtung U-Bahn, der schnellste Weg zum Bahnhof. Er war für indisch, er kannte ein Lokal in der Moselstraße, nur nicht den Namen, neben dem Lokal das Hotel Nürnberg, also gut zu finden, und sie fragte, ob es ein heller Inder sei, womöglich Neonlicht: Ich sehe schrecklich aus, willst du dir das antun? Sie rannte jetzt fast zur U-Bahn, hin- und hergerissen, ob sie noch nach Hause sollte, sich umziehen, frischmachen, irgendwie frisieren, zwanzig Minuten oder mehr opfern von den drei Stunden, und von ihm ein weiteres Ja, ja zu allem an ihr, und von ihm nur ein Komm einfach.
ES war kein helles Lokal, und er saß in der hintersten Ecke, einziger Gast am frühen Abend, vor sich eine Tasse Kaffee, Bleib, sagte Vila, als er aufstehen wollte, und schon saß sie bei ihm und umschlang seinen Arm, wie als Kind den ihres Vaters, damit er nicht wegkam ohne sie. Dann lange Sekunden kein Wort, sie mit einer Hand halb vorm Gesicht, schau mich nicht an, bis er die Hand sachte beiseitezog und ihr mit den Knöcheln über die Wange strich, einmal, zweimal, den kleinen Finger fast am Mundwinkel; er saß in einem billigen Jeanshemd da, H&M oder Tchibo, neben sich eine Winterjacke, er war rasiert, und das Haar fiel ihm in die Stirn. Essen wir etwas, sagte er, wie geht es dir, hast du Appetit? Er schälte ihr die Wollmütze vom Kopf, mehr hätte er sie kaum ausziehen können, auch nicht in einem Bett, er begann sie mit den Fingern zu kämmen, etwas, das sie noch nie gewollt hatte, noch nie zugelassen, und jetzt ließ sie es zu oder einfach geschehen. Ein Kellner brachte zwei Speisekarten, eine kleine Schrift, sie hätte die Lesebrille aufsetzen müssen, Bestell mir etwas ohne Fleisch, sagte sie, und er bestellte Aloo Gobi, Blumenkohl mit Kartoffeln und Gemüse, und für sich Tandoori Chicken. Willst du Tee? Er hielt sie im Nacken, während er die Teesorte wählte, er kannte sich aus, wie mit zerdrückten Haaren. Ich bin froh, dass du da bist: das erste Wort an ihn, für sie selbst überraschend – wann war sie schon, todmüde neben einem Mann, froh gewesen, ja bis zu dem Moment hätte sie kaum sagen können, wie sich das anfühlt, so froh zu sein, für sie nur das Wort aus einem alten Kinderkanon, Froh zu sein bedarf es wenig, und wer froh ist, ist ein König! Es war das Wenige, das sie froh machte, mit ihm für drei Stunden in diesem zum Glück eher dunklen Lokal im Bahnhofsviertel zu sitzen und nicht in einem Hotelbett zu liegen mit der Aussicht auf ganze Tage und Nächte. Wie war München, fragte sie, und Bühl erzählte von den Stunden mit Renz, sein Arm noch immer in ihren Armen.
München oder ein langer Abend in der Bar des Hotels Vier Jahreszeiten – er hatte sich überreden lassen, das Treffen von der Bahnhofsumgebung dorthin zu verlegen – war keine Enttäuschung, wie von ihr angenommen, weil Renz und er unter sich waren. Frau Mattrainer schafft es nicht, Renz’ Begrüßungsworte noch in der schönen Lobby mit dem Glasfenster in der Decke, sie lasse ihn aber sehr grüßen, man werde das alles nachholen, so ein Projekt ziehe sich ja über Jahre hin. Und dann hatte Renz sein Leid geklagt, mit einer ihm nahestehenden Producerin ohne große Chance, den fertigen Zweiteiler je zu sehen, ja sich sogar trösten lassen und ihn, seinen Mieter, dafür immerhin zu einem Caesar Salad und später noch zu Rindercarpaccio und auch allen Getränken eingeladen, ein Abend bis zur Schließung der Bar gegen zwei. Und zwischen dem Essen und Mitternacht haben wir tatsächlich gearbeitet, sagte Bühl. Am Exposé, an den Figuren, einem deutschen Bezug. Aber vor allem an der Geschichte von Franz und Klara – hatten die beiden nun was, oder hatten sie nichts? Dein Mann hat mich geradezu verhört: gibt es Belege, Anspielungen? Er hatte ein kleines Gerät dabei und nahm alles auf, machte sich aber auch Notizen. Keine Belege, keine Anspielungen, nur Legenden, es gibt nichts, sagte ich. Oder nur unseren Liebesverstand und die Kühnheit, ihn auf Franz und Klara zu übertragen. Franz hatte sicher das Talent, die Hingabe einer Frau herbeizurufen. Und Klara hat den Ruf gehört.
Das hast du gesagt: die Hingabe herbeirufen?
Ja, warum nicht.
Und Renz? Vila sah auf den Mund, aus dem Worte kamen, die andere längst abgeschrieben hatten, und Bühl erzählte leise weiter. Dein Mann hat zugehört. Franz hatte also dieses Talent, sagte ich. Mit seiner Stimme, seinem Tanz, er war auf seine Art ein Derwisch. Aber welches Publikum, das nicht mehr gewohnt ist, einer Fiktion zu vertrauen, würde da mitgehen? Ich hatte Bedenken gegen das Ganze, und dein Mann tat alles, um sie mir zu nehmen. Wir werden Jahreszahlen und Ortsangaben einblenden. Und mit einer Erzählerstimme arbeiten, dazu die Originalorte. Sind Sie dabei? Das wollte er wissen, er nahm sogar kurz meine Hand, und ich versuchte ihm klarzumachen, dass die Geschichte von Franz und Klara nicht fürs Fernsehen taugt, es gibt dazu keine Bilder, es gibt auch kaum Worte. Oder wie lässt sich zeigen, dass die beiden zu einem Paar werden, weil sie nichts besitzen: nur dadurch können sie ja alles zusammenwerfen. Ein Herz zu besitzen reicht aus. Franz liebt Klaras zerbrechliche Stärke. Sie liebt seine mächtigen Schwächen. Beide sind nur das, was sie zusammen tun. Beten, lieben, fasten. Klara bringt Franz dazu, seine ganze Existenz auf sich zu nehmen, also auch die als begehrender Mensch. Soll das ins Fernsehen, fragte ich, und deinem Mann gingen langsam die Argumente aus, er wollte nur noch die reinen Fakten hören, Franz, der junge Playboy, der Möchtegernritter, der im Kerker landet, seine Bekehrung, die ersten Predigten, Franz, der Freund aller Tiere, der Armen und Aussätzigen, der Naturliebhaber. Machen wir einen Ökostoff daraus, sagte er, und ich sagte, wozu.
Das hast du gesagt?
Ja. Wozu. Ich glaube, er hat die Frage noch nie gehört. Er machte dann sein Gerät aus und steckte den Block ein, und wir sprachen über das Haus und den Garten, aber irgendwie kam er auf das Thema Liebe zurück, er wollte wissen, welche Filme und Bücher mir dazu einfielen, also sprachen wir über Filme und Bücher, passend für die Zeit zwischen Mitternacht und der Schlussnummer des Barpianisten, ein Künstlergreis mit langem Haar und Schlapphut, der noch einmal A kiss is just a kiss spielte. Danach unser Abschied bei den Taxis, dein Mann wollte zu seiner kranken Producerin und ich zu einem Hotel am Bahnhof, und erst im letzten Moment, wir hatten uns schon die Hand gegeben, die einzige persönliche Frage: Was halten Sie überhaupt von meiner Frau, von Vila? Das waren seine Worte. Und meine Antwort: Oh, Sie sind zu beneiden.
Warum oh, fragte Vila, als das indische Essen schon auf dem Tisch stand, zwei Teller nebeneinander, so wie sie auch immer noch nebeneinandersaßen.
Weil du erstaunlich bist. Man sieht dich an – Bühl sah sie an, ein Stück Huhn auf der Gabel – und sagt sich: Oh.
Oh, was? Vila drückte die Stirn an seine, wie ein siamesischer Wunsch: mit zu ihm zu verwachsen, und er hielt dagegen. Oh alles. Oh, welche Stirn, welche Augen, welche Fältchen, welch ein Mund. Wollen wir jetzt essen? Er biss in das Chickenstück, und sie ließ zum ersten Mal seinen Arm los. Das Lokal hatte sich etwas gefüllt, alle Fenstertische waren besetzt, Inder und andere, nur Männerquartette, und immer wieder Blicke zu dem Paar, das beim Essen nebeneinandersaß statt gegenüber: Vilas Erklärung, aber nur für sich selbst. Ein einziges Mal hatte sie so gegessen, in einem Urlaubshotel in Tunesien, da hatte man sie und Renz beim Frühstück nebeneinandergesetzt, weil das andere Paar am Tisch so sitzen wollte, und nach zwei Tagen war Renz der Kragen geplatzt, sie konnten nur noch abreisen. Der Blumenkohl war frisch, auch die Kartoffeln, sie aß alles auf und trank den Tee, die kleine Tasse wie aus den Porzellanräumen des alten Tänzers in Havanna; sie behielt sie auch nach dem Trinken am Mund, auf der anderen Seite fast schon der Mund, den sie noch küssen würde, mehr wollte sie gar nicht, mehr schien auch er nicht zu wollen, nicht im Moment, ein wortloses Einvernehmen, einvernehmlicher als jeder einvernehmliche Sex, von dem die Juristen gern reden. Erzähl von deiner Kinderfrau, sagte sie. Du siehst sie morgen zum ersten Mal wieder?
Ja, seit vielen Jahren – Bühl nahm sein Gesicht in die Hände, als könnte er nur so erzählen –, bei unserer letzten Begegnung war ich noch Schüler, Tulla müsste jetzt über achtzig sein. Als wir uns kennenlernten, war ich fünf und sie schon über vierzig. Meine Eltern wollten für drei Tage nach Paris und hatten jemanden gesucht, der auf mich achtgibt, und die Hug Tulla hat sich gemeldet. Sie kam in unser Haus, kurz darauf stiegen meine Eltern ins Auto. Ich habe kaum geschlafen in der ersten Nacht, ich dachte, meine Eltern kämen nie mehr zurück, und Tulla hat mich auf ihren Schoß gelegt und gewiegt. Ich war fünf und noch nie gewiegt worden, es beruhigte mich. Sie war eine kleine kräftige Frau mit dunklen Haaren und dunklen Augen und einem feinen breiten Mund, und am Ende der drei Tage und Nächte dachte ich, sie wäre eigentlich meine Mutter, aber keiner dürfte das wissen. Ihr Vater war ein Bauer, der alte Hug, den Hof erbte sein Sohn, obwohl der am liebsten in Wirtschaften saß. Und die Tulla wollte als Mädchen aufs Gymnasium nach Freiburg, sie wollte Lehrerin werden, aber der Vater war dagegen. Also half sie auf dem Hof mit, und nachdem der Bruder den kleinen Hof vertrunken hatte, weil er in den Fasnachtstagen den halben Ort freihielt, wurde sie erst Verkäuferin in einer Bäckerei und dann im einzigen Süßigkeitenladen und nebenher Kinderfrau. Am Anfang hatte sie noch zwei andere Kinder, die Mädchen vom Bürgermeister, und später nur noch mich. Sie kam fast jeden Tag und nannte mich Das Kerle. Oder Ihr Kerle. Dann starb der Bruder, und Tulla musste noch seine Schulden bezahlen. Das Einzige, das er ihr hinterlassen hatte, war eine handgeschnitzte Teufelsmaske. Der Bruder hatte nur für die Fasnet gelebt, er war in der Zartenbacher Höllenzunft und besaß eine der schönsten alten Teufelsmasken. Tulla hat sie in Ehren gehalten, zur Fasnet hat sie die Maske immer geputzt, und ich durfte sie in ihrer Wohnung tragen und bekam Angst vor mir selbst, und Tulla hat nur gelacht, Das Teufelskerle, hat sie gerufen. Sie konnte klirrend lachen, und viele glaubten, sie sei verrückt. Tulla war in keinem Verein, hatte kein Ehrenamt und saß in der Kirche immer ganz hinten. Aber jeder kannte sie, jeder wusste ihre Wörter für die Pralinen, die man nicht probieren durfte. Sie konnte über Süßigkeiten so reden, dass man sie schmeckte, und alle Leute in Zartenbach spürten, dass sie das Zeug zu mehr gehabt hätte, Rektorin an der Grundschule oder Leiterin der Laienbühne. Wo immer sie auftauchte, war sie die geheime Seele, und meine Mutter ließ keine Gelegenheit aus, schlecht über sie zu reden. Tulla die Hexe, hat sie sogar einmal gesagt. Man wusste im Ort, dass sie die Teufelsmaske von ihrem Bruder besaß, und manche haben ihr dafür Geld geboten, eine Menge sogar, aber sie hat sie behalten. Und jetzt ist die Hug Tulla alt und will so sterben, wie sie gelebt hat, auf ihre Art und Weise.
Und gab es keinen Mann in ihrem Leben? Vila hatte die Teetasse abgestellt, sie saß jetzt Kopf an Kopf neben Bühl, sein Haar hing in ihres und umgekehrt. Einen einzigen gab es, sagte er. Und nur ich wusste davon. Er war der Filmvorführer bei den Dreisam-Lichtspielen, auch ein Einzelgänger, Trudbert Pauli, und Tulla saß bei ihm im Vorführraum, und einmal soll ihretwegen eine Pause beim Wechseln der Rollen entstanden sein, bei dem Film Der Exorzist. Es war minutenlang dunkel im Kino, und man hörte ihr Lachen, und allen hat es gegraust. Aber schließlich wurden die Dreisam-Lichtspiele verkauft, ein Media-Markt zog dort ein, und Trudbert Pauli, der eine Art Intellektueller war, ging nach Karlsruhe, und Tulla blieb in Zartenbach. Von da an trug sie nur noch, was sie als Verkäuferin trug, einen grauen Rock und eine weiße Bluse, und ihr Haar wurde dann auch weiß, und mit fünfzig war sie schon die Hug Tulla, die alle für seltsam hielten – nur ich nicht. Eine Zeitlang wussten sie und ich alles voneinander, mehr als ein normales Ehepaar. Ich erzählte ihr in den Ferien von den Dingen im Internat, von denen meine Eltern keine Ahnung hatten, und sie erzählte mir von ihren Stunden in der Filmvorführkabine – dass es dort einmal sogar zum Kuss der Küsse gekommen sei, an einem Montag, wenn die alten Schwarzweißfilme liefen. Sie hatte das nicht näher erklärt mit dem Kuss, aber es war auch nicht nötig, so, wie sie vor sich hin sah in ihrer Küche. Tulla hatte schöne Augen, ihr Verhängnis, sagte sie einmal. Wollen wir zahlen, wollen wir gehen? Er sprach jetzt in ihr Haar, mehr ein Flüstern. Es schauen dauernd Leute herüber, was ist mit uns, benehmen wir uns falsch? Oder erkennen sie dich etwa?
Nein, sagte Vila. Leute, die mich erkennen, grinsen. Und gehen auch nicht in solche Lokale. Die schauen zu uns, weil wir miteinander reden. Darf ich dich einladen? Sie ließ die Rechnung kommen und zahlte. War mir eine Freude, sagte sie beim Verlassen des Lokals, ein Wort, das sie noch nie so gebraucht hatte, weder mit Renz noch mit sonst wem, als sei es ein seltenes, ja überholtes Wort. Und eigentlich hätte sie reine Freude sagen können, wie es auch die reine Freude war, Arm in Arm durch das Bahnhofsviertel zu gehen, Moselstraße, Kaiserstraße, Taunusstraße, ein kühler Abend, aber nicht kalt, oder sie spürte die Kälte nicht, weil sie nur eine Hand um die Hüfte spürte, ein Gehen in abgestimmtem Schritt, wie geübt. Über dem Haupteingang zum Bahnhof schon erster Weihnachtsschmuck und in der Halle ein Baum mit Kerzen, die noch nicht brannten. Wo wirst du Heiligabend sein, doch nicht allein im Haus? Eine Frage bei den Schließfächern, in einer Ecke, in der sie für sich waren. Oder was hast du vor?
Heiligabend? In deinem Zimmer an deinem Tisch sitzen. Franz und Klara, das schreibt sich nicht von selbst. Aber wenigstens wartet schon einer darauf, dein Mann. Schreiben Sie, schreiben Sie! Seine Worte, als wir zu den Taxis gingen. Und dann hielt er mich am Arm: Diesen Stoff kann kein Sender ablehnen, wenn der deutsche Bezug stimmt. Kriegen wir das hin? Er rüttelte an mir, und ich sagte, warum nicht.
Das hast du gesagt? Sie drückte Bühl gegen das Fach, aus dem er eine Tasche geholt hatte. Willst du ihm Hoffnungen machen? Die Wahrheit ist: Kein Sender will so etwas wirklich. Nur Renz will es, um von dem Vorabendzeug wegzukommen. Und seine kranke Producerin will es, um noch an etwas zu glauben. Sollen wir uns hier verabschieden? Vila sah sich um, sie waren noch immer allein in der Schließfachreihe. Oder lieber Abschied auf einem Bahnsteig mit Kuss, eine Renzszene, das Schlussbild mit dem Abspann.
Bühl nahm seine Tasche. Abschiedsküsse standen bei Tulla hoch im Kurs. Danach kam nur noch der Kuss der Küsse.
Dann nehmen wir doch gleich den, sagte Vila, und ihre Hand ging zum Mund: auch das ein Renzsatz, Dann nehmen wir doch gleich den, eine Art Pointe am Szenenende, etwas, mit dem sie nichts zu tun haben wollte und doch etwas zu tun hatte – es sind die schönen leeren Wörter, die alles ruinieren: keins davon, mit dem Renz nicht Geld verdient hätte, jeder Stein ihres Hauses ein leeres Wort. Sie nahm die Hand vom Mund und griff sich Bühls Arm, Gehen wir zum Bahnsteig, ja? Keine Frage, eine Bitte, ein Stück Verführung, sie führt ihn jetzt geradezu in diese Szenerie, sein Zug steht schon da, ein ICE nach Zürich. Bühl hat keine Reservierung, und sie gehen zum Speisewagen, dort möchte er sitzen und arbeiten, und sie stellt sich das vor, er dort allein, konzentriert über seinen Blättern oder vor dem Notebook, während sie in ihrem Bett liegt, noch die Nachrichten sieht. Ich vermisse dich, sagt sie, obwohl er noch bei ihr ist, immerhin ein Satz, der bei Renz nie vorkäme. Und dann lässt sie sich küssen und küsst zurück, da reicht es, dass sie nah an seinem Gesicht ist, den Rest übernehmen die Lippen, ein Kuss, als auf dem Bahnsteig schon Ruhe einkehrt, alle in den Zug gestiegen sind. Sie bekommt kaum Luft und atmet trotzdem, sie atmet den Kuss ein, für den es keine Kategorie gibt, auch bei seiner Kinderfrau nicht, und danach legen sie einander noch eine Hand auf die Wange, bis sie gleichzeitig loslassen. Er steigt in die letzte noch offene Tür, er sieht über die Schulter und winkt. Wir sehen uns im Februar, ruft sie und tritt zurück, und als der Zug anfährt, langsam den Bahnhof verlässt, fängt sie an zu laufen, ja zu rennen, und etwas durchströmt ihre Beine, das in dieser Abschiedsszene nichts verloren hat oder der geheime, bestürzend beglückende Stachel von Abschieden ist, wenn man das Wiedersehen schon in sich trägt, ein Flüchten durch die Halle mit dem noch dunklen Weihnachtsbaum.
RENZ blieb bis zum Wochenende in München, tagsüber ganz mit dem Basteln an einer Franziskusstory beschäftigt, während Marlies zur Chemo ging oder einfach auf dem Sofa lag, kaum imstande, etwas zu essen, allenfalls imstande, sich die renzschen Ideen anzuhören. Und er hatte jeden Tag neue, wie ein Verliebter, der noch wirbt, Ideen zur Verteilung der Höhepunkte auf zweimal neunzig Minuten und einer Balance zwischen großen Bildern, die nicht zu teuer sein durften, und den Szenen, die an heutige Dinge anknüpfen sollten ohne zu viel Dialog, wie etwa Franz und sein Vater vor der Stadtversammlung oder Franz und Klara, wenn der Ordensgründer sie vor seiner Wanderung nach Spanien drängt, die Verantwortung für ihre Mitschwestern zu übernehmen. Der Emanzipationspunkt, sagte Marlies als Noch-Producerin: Damit kommen wir in den Redaktionen durch. Dazu einfache Antworten auf heutige Sinnfragen. Und die Naturbilder und gute unverbrauchte Gesichter. Lief da was mit dieser Klara?
Eine Frage in den Abendstunden, als Renz sein Gerät schon zugeklappt hatte und an Marlies’ Krankenbett saß, sie für einen selbstgemachten Kartoffelbrei mit frischem Basilikum zu gewinnen versuchte. Schwer zu sagen, ob zwischen dem verrückten Heiligen und der Adelstochter je etwas lief, so wie zwischen ihm und Marlies schon bei ihren ersten Begegnungen, ein Gespinst von Blicken und Andeutungen, Kleinigkeiten, die sich wie ein Netz um sie beide gezogen hatten, das Netz, aus dem er jetzt kaum herausfand. Eigentlich müsste er Vila anrufen, ihr erklären, weshalb er noch länger blieb, er hatte ihr nur etwas auf die Mailbox gesprochen, versteh mich bitte, etwas in der Art, und von ihr bisher keine Antwort, ja überhaupt kein Lebenszeichen, schon seit Tagen, als hätte sie akzeptiert, was er macht, sonst nicht ihre Stärke, aber die einem nächsten Menschen unterschätzt man gern – Vila war mehr Vila, als er für möglich gehalten hätte, stärker oder weiter von ihm entfernt als gedacht. Sagen wir so, sagte er, eine Hand auf Marlies’ Bauch: Wir stellen es uns vor, dass zwischen Franz und Klara etwas lief. Bühl würde es auch so sehen, du würdest ihn mögen, er hat etwas, ich weiß nur nicht, was. Willst du schlafen? Er nahm ihre Hand und sprach weiter von Bühl, wie er aussah, sich bewegte, was er trug und wie er klang, und deutete ihr Schweigen als Desinteresse.
Du redest zu viel, sagte Marlies schließlich, ein Vilasatz oder einer, den jede Frau früher oder später in seiner Gegenwart brachte, also hielt er den Mund und massierte den schon knabenhaft flachen Bauch seiner kranken Geliebten, wie er es bei Katrin gemacht hatte, wenn sie vor Mathearbeiten mit Krämpfen im Bett lag, jetzt mehr Streicheln als Massieren, eine sachte Aufwärtsbewegung bis zu den Brüsten, die nichts von dem verrieten, was sich in den Lungen darunter zusammenballte. Marlies verfolgte erst seine Hand, dann sah sie ihn an, ihr Blick unter den japanischen Lidern. Fahr zu deiner Frau, sagte sie, du bist doch verzweifelt, sobald wir aufhören zu arbeiten, oder glaubst du, ich bringe mich um? Sie lachte mit ihrem breiten Mund, und er küsste den Mund: den Teil von ihr, den er retten würde, wenn ihm ein Gott die Chance gäbe, sich etwas auszusuchen zwischen Sohle und Scheitel, das durch seine Wahl überlebt – war er verzweifelt, weil es diesen Gott nirgends gab? Oder Vila stärker war als gedacht? Auch schwer zu sagen. Er war auf jeden Fall verwirrt, nicht mehr der, der noch im Sommer mit Vila nachts über den See fuhr. In Marlies’ Nähe fiel er in eine Art Traumwelt, in ein Leben hinter dem Leben, als Renz im Wunderland. Er war nicht Mitte sechzig, er war sechs oder sieben, nur ohne Eltern. Sein Vater, der noch im Krieg war, zuletzt in Belgien, der belesene Allgemeinarzt, der alles wusste und nichts ändern konnte, war mit Mitte siebzig an Prostatakrebs gestorben, da blieben ihm keine zehn Sommer mehr am See. Und auch wenn es weit jenseits der Siebzig passierte, würde er noch ohne das Polster der Weisheit sterben. Nicht das wahre, das gefühlte Alter, von dem alle reden, flößte ihm Grauen ein. Er würde bis zum letzten Atemzug am Leben hängen, am Sehen, am Spüren, am Haben: dass er jemanden streicheln wollte und einen Mund wie Marlies’ Mund küssen, Blicke sehen wollte, die ihm galten, ihm allein, und den Sommer in seiner Fülle erleben, einmal und noch einmal und immer wieder, also eine Art Verzweiflung wie die des alten Gide im Eckbalkonzimmer vom Hotel Gardesana mit Blick auf den Hafen von Torri und auf den See am siebten September achtundvierzig, seinem Geburtsjahr, die Stelle in Gides Tagebüchern, die er immer wieder nachlas an dem Tag und schon auswendig kannte. Ich glaube aufrichtig zu sein, wenn ich sage, daß der Tod mich nicht allzusehr schreckt; aber ich sehe mit einer Art Verzweiflung den Sommer enden. Noch nie habe ich eine so lange Folge so schöner, so prächtiger Tage erlebt.
Wie eine latente Krankheit trug er diese Worte in sich, eine, die jederzeit ausbrechen konnte, ihn in den Griff nahm, und auch an dem Abend ausbrach. Er klammerte sich geradezu an Marlies, ein Kranker an eine Kranke, und sie schliefen zusammen, stumm, langsam, ja zögerlich, jeder den Kopf des anderen in Händen, ein Sichverlieren und in Gänze Lebendigsein im selben Moment, einem, den er schon nicht mehr erwartet hatte vom Leben. Und danach keine Flucht ins Bad, sondern ein Seite-an-Seite-Liegen, um neben- oder miteinander auch einzuschlafen, wie er und Vila Seite an Seite eingeschlafen waren, lange vor dem Haus am See, als Vila noch studierte und noch florierenden Zeitungen Porträts anbot, über besessene Theaterleute oder eine dichtende Stillsteherin, und er noch seine Filmkritiken für Feuilletons schrieb, betreut von ernsten Ressortleitern im Zigarettenqualm – wie aus einem anderen, verlorenen Leben waren diese Jahre, einer zerstörten Zeit.
Sie schliefen, bis es hell wurde in der Wohnung unweit des Arri-Kinos, immer noch nackt unter einer Decke: die Renz nur leicht anhob, um aufzustehen. Er ging duschen, er machte Frühstück und brachte alles ans Bett, ein Ei im Glas, zwei Stück Zwieback, grünen Tee, ein letzter Dienst vor der Rückfahrt. Du musst essen, sagte er, und Marlies bat ihn, nicht mehr zu kommen, wenn ihr die Haare ausfielen, demnächst in ganzen Büscheln, und sie trotz Essen immer magerer würde, ein Gespenst mit Kussmund, und er widersprach ihr oder ließ ein Versprechen aus sich herausrinnen wie einen vorschnellen Erguss: es sei ihm egal, wie sie aussehe, er werde sie besuchen, und von ihr eine Hand an seinem Hals, Du Lieber! Das Wort, das er mit auf die Fahrt nahm und das unterwegs immer schwerer wurde, so schwer, dass er mit Vila reden müsste, um nicht daran zu ersticken, auch wenn es kein Wort dieser Art gab, das er noch nicht verwendet hatte, das irgendwer zu irgendwem am frühen Abend gesagt hätte, nur war es in dem Fall ein Tagwort und so ernst wie alles, das bei Lichte geschieht, ohne die mildernden Umstände – Alkohol, Dunkelheit, laute Musik –, wie sie jeder Liebesgauner in Anspruch nimmt.
ABER Vila war gar nicht zu Hause, als Renz am Nachmittag ankam, sie war im Sender vor einem Riesenschirm, der jede Pore zeigte, und versuchte, das Fernández-Interview herunterzukürzen und dabei noch eine Begründung zu finden, warum das Ganze überhaupt gebracht werden soll, ein Gespräch von immerhin fünf Minuten mit einem alten Mann, der von anderen alten Männern erzählt, während die Zuschauer kurz vor Weihnachten wissen wollen, welche Bücher man gefahrlos verschenken kann. Es gab alle möglichen Begründungen für das Interview, politische, kulturelle, menschliche, nur keine, die Wilfinger gepasst hätten, nicht einmal für die vier Minuten dreißig, die am Ende übrigblieben, umrahmt mit zwei dreißig Havanna, inklusive Sonnenuntergang am Meer. Und selbst in diesem karibischen Rahmen war Pablo Armando Fernández noch kein deutscher Mitternachtstipp, da müsste sie schon im Off behaupten, dass er ein in Hollywood entlaufener Westernstar sei, halb kubanisch, halb jüdisch, einer, der nebenbei Gedichte schreibt und mit Fidel Castro und einem gewissen García Márquez auf seinem Sofa plaudert. Soll ich das tun?, hatte sie Bühl aus der Einsamkeit eines Redakteursbüros gemailt, und seine prompte Antwort: Ja, aber ohne Ironie.
Kurz darauf ging ihr Telefon, sie war sicher, dass er es sei, er mit Vorschlägen zur Nichtironie, also auch kein Blick auf die Nummer, aber es war nicht Bühl, es war Renz, ob er etwas einkaufen solle. Seine Stimme klang ungewohnt, leiser als sonst, dazu der Schrecken, weil er plötzlich wieder da war, schon in der Wohnung, wieder ein Teil ihrer Dinge; sie konnte nur Ja sagen, mehr fiel ihr nicht ein, und dann machte sie weiter, ohne eine Spur Ironie. Sie setzte jetzt auf die politische Karte, Fernández, ein Durchhaltedichter, immer auf Seiten des Volkes, bis heute, nur nicht auf Seiten der Kinder oder des einen Kinds, das sein Neffe gezeugt hatte. Am späten Nachmittag sprach sie den fertigen Kommentar, ein Probelauf, ob alles passte, Bilder und Text: für einen Profisprecher, der das Ganze noch weiter abfedern würde mit einer sympathischen Stimme. Mehr konnte sie nicht tun, sie konnte nur noch ungesehen auf die Straße kommen, der sicherste Weg: die Gänge des alten Hörfunkhauses, von jungen Fernsehredakteurinnen gemieden, Gänge, in denen sie sich auch schon verirrt hatte, vor dreißig Jahren, als dort in hölzernen Studiozellen ihre ersten Radioporträts aufgezeichnet wurden, sie das alles noch selbst sprach, sekundiert von wahren Tonkünstlern, die blitzschnell ein zu starkes Atmen herausschneiden konnten, mit einer tatsächlichen Schere, um die Enden von Hand und mit Klebstoff wieder zusammenzufügen. Und sie kam ungesehen auf die Straße und auch bis zur U-Bahn.
Es war Feierabend, und sie musste stehen in der Bahn, eingeklemmt zwischen feuchten Jacken in seltsamer Stille, weil alle mit ihren Telefonen beschäftigt waren, also machte sie einfach mit und wählte Bühls Nummer. Wo bist du, fragte er als Erstes, weil der Empfang nicht gut war, und sie erzählte es, von Station zu Station, eine U-Bahn-Reportage, Adickesallee, Holzhausenstraße, Grüneburgweg, und nirgends etwas los, nicht einmal Graffiti an den Wänden – Und wo bist du? Die Bahn fuhr weiter, und er rief, er sei auch unterwegs, schon im Zug nach Verona, daher der schlechte Empfang, hörst du mich? Ich habe in dem Altenheim angerufen, aber konnte nicht mit Tulla reden, sie sei krank, hieß es, und auch zu verwirrt für einen Besuch. Aber den Leuten dort ist nicht zu trauen, also war ich bei einem Anwalt, er will die Sache prüfen, aber vor Weihnachten wird es nichts, erst im neuen Jahr, und wenn alles gutgeht, hole ich sie dort heraus. Bist du schon an der Hauptwache? Bühl klang jetzt näher, und sie sprach hinter vorgehaltener Hand, die Stirn an der Haltestange, Nein, erst am Eschenheimer Turm. Wo früher das Theater am Turm war, vor deiner Zeit. Dort habe ich meine ersten Porträts gemacht, über Fassbinder in seiner ewigen Lederjacke oder den monströsen Schauspieler Spengler, über jeden, der dort zu tun hatte, berühmt war oder auf dem Sprung zum Ruhm, bis hin zur Bedienung im Café, eine Studentin von dunkler Schönheit und dunkler Intelligenz, später wurde auch etwas aus ihr. Bist du sicher, dass es richtig ist, die alte Frau dort herauszuholen? Mehr ein Appell als eine Frage, als die Bahn unter der Hauptwache anfuhr, jetzt noch voller als vorher, um sie herum eine Luft zum Ersticken. Ja, sagte Bühl, versuchen muss ich es oder ihr anbieten. Du wirst diese Frau sehen, sie ist nicht verwirrt, nur lebendig! Ein Wort, das sie beschäftigte, als es unter den Main ging, zu ihrer Station.
Lebendig, was heißt das? Vila zwängte sich aus der Bahn und ging über die Treppen hinauf zum Schweizer Platz, der bei aller Hässlichkeit ihr Platz war, ein perverses Stückchen Heimat, rund wie das runde Herz von Lucca, nur mit Schreckensfassaden und einem Kreisverkehr, den sie mit durchgesetzt hatte, ihre einzige Bürgertat in all den Frankfurter Jahren. Lebendig? Lebendig heißt liebend, sagte Bühl nach zwei Anläufen, als sie schon über die Straße ging, auf ihren Teeladen zu. Aber Liebende sind doch verwirrt, oder was sind sie sonst? Und wenn man alt ist und nicht mehr weiß, wohin mit der Liebe, ist man noch mehr verwirrt, also Vorsicht, vielleicht beschützt dieses Heim deine Tulla auch! Ein längerer Einwand am Gemüsestand vor der Reinigung, und damit ließ sie es gut sein. Weißt du, wo ich bin? Ich biege in die Oppenheimer, rechts mit diesen Läden, die alle den gleichen Weihnachtsschmuck haben. Bist du Heiligabend wirklich im Haus? Sie ging jetzt schneller und schaute, ob Elfi oder Lutz oder gar Renz vom Einkaufen kämen, etwa aus der Weinhandlung Rösch. Ja, was sonst, sagte Bühl, als sie schon in der Schwanthaler am Unio vorbeiging, wo abends alle trainierten, hinter großen Fenstern auf Laufbändern liefen, verkabelt mit Pulsmesser und ihrer Lieblingsmusik; sie sah Edgar, mit dem sie die Après-Tango-Stunden auf Annes Praxisliege verbracht hatte, schon längst nicht mehr wahr, sie sah die Schaubs, die sich als Paar abquälten, wofür auch immer, und sie sah Heide ohne Jörg, Heide mit Cleanlight-Shirt in ihrer Domäne, beim Zusammendrücken zweier Eisenflügel vor Brüsten, die es gar nicht nötig hatten. Alle Freunde und Bekannten schienen im Unio zu sein, niemand könnte sie hören, und sie sagte Ichwilldich, ein Zuruf, der alles enthielt, Entschlossenheit, Verlangen, aber auch ihre Not, und am anderen Ende erst Bühls Atem und dann ein Sprung: Das waren auch Franziskus’ Worte zu Klara, als er sie zur Oberin machen wollte, Ich will dich. Und jetzt ist hier ein Tunnel, schick mir deinen Mund!, eine gerade noch empfangene Bitte.
Vila steckte das Telefon ein, da war sie schon an der Schadow und sah ihre Wohnung, das warme Licht in den Räumen, die sie seit vielen Jahren bewohnten. Siebenunddreißig war sie beim Einzug, und Katrin war zwölf, Renz Ende vierzig, er spielte noch Tennis. Alles erschien damals möglich, als sie die fünf leeren Räume mit dem neuen Parkett und der alten Stuckdecke und den weißen Wänden durchschritten und die Zimmer verteilten, das große hintere für Katrin, die mittleren für sich und Renz, die vorderen als Ess- und Wohnzimmer. Nur mit Matratzen und Bettzeug hatten sie die erste Nacht verbracht, Katrin war sofort Besitzerin ihres Zimmers, Renz hatte ihr eine Art Zelt gebaut, ein Laken zwischen Fensterbrett und Parkett, gehalten von Klebeband, darunter lag sie in Hosen und Sweatshirt nur auf einer Wolldecke: Katrin, die künftige Reisende zu fernen Zielen, schon ganz spartanisch, aber mit Kuschelhund, ihr kleiner Kasper mit auf der Decke. Es war Januar, und es lag Schnee auf den Straßenbäumen, und sie beide, die noch nicht alten oder gerade noch jungen Eltern, an dem Abend gleichaltrig, hatten sich in dem Zimmer, wo später all die Essen mit Freunden stattfinden würden, die Abende mit dem Streit danach, auf dem versiegelten Parkett umarmt, in einem Licht, wie es nur von außen hereinfällt, wenn es geschneit hat, ein verrücktes, tief beglückendes Tun, mal ineinander verschlungen, mal nur an einem Punkt verschweißt, und schließlich ein Hall von den nackten Wänden, als Renz in ihr kam, er nichts anderes als ihren Namen rief, so erschreckend klar, dass ihr Körper nachzog und sie mitkam – eins der wenigen Male, die ganz einfach waren, ohne Kampf, so einfach, wie es sein sollte, nur mit dem Gefühl, ihn und sich selbst bei diesem Tun zu lieben. Der beste Auftakt für die ersten Schadowstraßenjahre, dann irgendwann ausgeklungen, von keinem bemerkt, außer von ihr; sie allein hörte dieses Stillerwerden zwischen sich und Renz, je lauter sie manchmal stritten, desto mehr. All ihre Freunde und Bekannten würden sagen, dass sie und er sich irgendwie ergänzten, an sich vielleicht gar nicht zusammenpassten, aber dann doch, zu guter Letzt, eine Art Einheit seien, eben ein altes Paar, nur stimmte das nicht, wenn man genauer hinsah – nach unendlichen Kämpfen waren sie, zu schlechter Letzt, nichts als ein altes Paar.
Ein Auto bog in die Straße, Jörgs panzerartiger Jeep, und sie ging rasch durch den Vorgarten und sperrte das Haus auf und sah sich im Glas der alten Tür: eine Frau, die von der Arbeit kommt, mit müden Augen, müdem Mund. Und nur auf Strümpfen, ihre Schuhe in der Hand, um kein Geräusch zu machen, ja eigentlich gar nicht da zu sein, nahm sie die zwei Treppen und schloss leise die Wohnung auf und horchte wie eine Diebin hinein. Sie hörte die Dusche, das klatschende Wasser, wenn man, über die Wanne gebeugt, sein Haar ausspült, und noch im Mantel ging sie neben dem Eingang auf Zehenspitzen ins Gästeklo, wo es ein kleines Waschbecken mit Spiegel gab, aber der Spiegel groß genug, um ein ganzes Gesicht zu sehen, mal mit freier Stirn, mal mit den Haaren darin, mal mit engen Augen, mal mit geisterhaft weiten, dazu die Nase verzogen, den Mund, und auch die Zunge gezeigt, so, wie sie als Mädchen, nachdem ihr Vater verschwunden war, jeden Abend im Bad hinter verschlossener Tür Grimassen geschnitten hatte.
ICH will dich! Kein verbürgtes Wort, aber eins, wie Franz es selbst schon gehört hat, von Gott. Klara hebt den Kopf, und er muß ihren Blick ertragen, der Preis für solche Worte; ein Treffen zwischen beiden, um zu regeln, wer in Franz’ Abwesenheit den Schwestern, die sich den Fratres minores angeschlossen haben, vorstehen soll – Frühsommer zwölfhundertvierzehn, das Kloster San Damiano vor den Toren Assisis. Gut ein Dutzend der Poverelle ohne jeden Besitz, nicht einmal den ihrer Haare, gibt es dort im dritten Jahr nach Gründung des Ordens, Klara mit kaum zwanzig die jüngste.
Sie steht vor Franz in dem Kreuzgang, der den Garten inmitten des Klosters einrahmt, die Blumen, die Kräuter, zwei Olivenbäume, roter und weißer Oleander und der rankende Jasmin, der jetzt im Juni blüht, eine schwere Süße in dem Innenhof ohne Wind. Es wird bald Abend, nur ein Teil des Kreuzgangs hat noch Sonne, die Hitze gestaut unter den Bögen. Klara trägt eine Kutte aus Rupfen, grobes Gewebe, das die Luft durchläßt; auf dem kahlen Kopf eine Haube aus Leinen, etwas nach hinten gerückt, damit die Stirn ganz hervorschaut. Nach dem Mittagsgebet hat sie auf kühler Erde in ihrer Kammer eine Stunde geruht, danach Wasser aus dem Brunnen geholt, sich das Gesicht gewaschen und dabei ihre Augen im Wasser gesehen, schräge Augen mit dunklen Pupillen, seltsam fremd bei heller Haut. Sie war ganz blond, la bionda haben alle das Mädchen aus dem Hause Offreduccio genannt, ihr Haar war bis auf die Schultern gefallen; seit drei Jahren wird es nun schon geschoren, und etwas an ihr ist immer noch blond. Zwei Spatzen fliegen in den Kreuzgang und umflattern den Poverello, er trägt ein hellorangefarbenes Band um den Kopf, es fängt den Schweiß auf, aber es kleidet ihn auch, ein Band aus altem Fahnentuch. Sein Bart ist schon silbrig am Hals, er ist Anfang dreißig, Klara weiß, was sie wissen muß – sie hat mit den anderen darüber geredet, mit Agnes und Pacifica, mit Philippa, Benvenuta, Balvina und Cecilia, alle älter als sie. Franz könnte ihr Vater sein. Und über die Schwestern soll er gesagt haben: Der Herr habe ihn vor den Frauen bewahrt, aber ob es nicht der Teufel gewesen sei, der ihm die Schwestern geschickt hat? Und sie weiß nun auch, was er von ihr will, sie soll San Damiano leiten, wenn er in diesen Tagen Richtung Spanien und Marokko aufbricht, sie soll die Mutter ihrer älteren Schwestern werden, nur weil er es nicht sein kann. Wenn er aber umkommt durch die Mauren, hätte sie den verloren, der die Schwestern und Brüder in der Fraternitas eint, ihren einzigen Verbündeten und liebsten Menschen. Du willst mich als Oberin, sagt sie und fällt auf die Knie. Warum verlangst du von deiner Schwester, was sie nicht kann? Klaras Stimme hallt im Kreuzgang, die Spatzen umflattern jetzt ihre Haube, ein helles Zwitschern in der Stille nach dem Aufbegehren. Franz berührt ihre Schultern, er nennt sie seine Stütze: die Oberste aller Schwestern, die sich erheben soll! Und er hebt selbst die Hände, von den Schultern zu der Stirn, die sie ihm bietet, er berührt ihre Schläfen, mit leichtem Druck nach oben, Klara richtet sich auf. Sie ist so groß wie er, eine schlanke Gestalt, knabenhaft auch das Gesicht, ihre Augen schauen in seine Augen, die ähnlich geschnitten sind, nur von dem rötlichen Braun der umbrischen Erde. Deine Schwester wird tun, was sie tun muß, aber mit ihrem Willen. Segne mich! Sie kniet noch einmal nieder, und Franz segnet sie und geht; ohne Pause geht er bis in den Eichenwald auf dem Monte Subasio, um allein zu sein. Aber er ist nicht allein, als er sich im alten Laub hinlegt: in seinen Fingerkuppen noch der Puls von Klaras Schläfen.
Bühl hatte Aufenthalt in Mailand, fast zwei Stunden, Zeit genug für ein Essen in Bahnhofsnähe, neben dem Teller sein Notebook, in dem Lokal sogar WLAN. Er schrieb und aß oder aß und schrieb, das eine kaum besser als das andere, aber am Ende stand etwas da, was vorher nicht dastand, auch wenn ohne Vilas Ichwilldich gar nichts dagestanden hätte. Geschichten kommen aus gefallenen Worten, nicht aus höheren Plänen, schon ein einziges Wort kann die Richtung ändern; wer sich nicht dem Zufall überlassen will, sollte nichts erzählen. Bühl bestellte noch Kaffee, ein Lokal, in dem alles schnell ging, eine Weile sah er den Kellnern zu, dann las er die News auf der Startseite, nicht die vom Weltgeschehen, nur die von Dingen, die einem auf der Straße und in den eigenen Wänden zustoßen können, Unfälle, Blitzschlag, Vergewaltigung oder das Geschehen in Heimen, von dem jetzt immer mehr ans Licht kam, dazu eine Meldung mit Link, und er ließ den Kaffee stehen, als er die Seite vor sich hatte, darauf ein Bild seiner alten Schule, Aarlingen, die Badewiese mit dem Ruderhaus, im Hintergrund über dem Sportplatz der Hesse-Saal. Ehemalige hatten von einem Lehrer berichtet, sogar mit Namen, weil er tot war, Gerd Heiding, von einem jahrelangen Treiben, von der Schulleitung übersehen, und ein zweiter Link führte zu einer Kontaktadresse, darin enthalten noch ein einschlägiger Name, wie ein Nagel durch sein Leben, immer im Weg, auch wenn er den Namen nicht in den Mund nahm, contact.KilianSiedenburg@web.de.
Und der Zug Richtung Verona wäre fast ohne ihn abgefahren; noch etwas atemlos vom Rennen saß er in einem Großraumwagen am Fenster und sah auf die Vororte, die gar nicht enden wollten, auf den Knien das Notebook, zugeklappt, als sei damit auch Aarlingen zugeklappt, die Dinge von einst, die ja vor allem ihn betrafen, und die Dinge von jetzt, erzählt von einem, der selbst nie ein Heiding-Erwählter war. Bühl drückte die Stirn ans Fenster, es war längst dunkel, die Vororte bloß noch Leuchtschriften auf Dächern, Lavazza, Motta, Fini, Namen, die etwas Beruhigendes hatten, aber die anderen Namen nicht löschten, schon gar nicht die alten Zeichen wie das an Heidings blassgelbem Käfer Cabrio, zugelassen in Freiburg, FR–AU, wie Frau, das fand er spaßig oder unterfitzig, der Lehrer aus Freiburg-Wiehre: in den Ruderhausnächten waren sie auch durch dieselbe Sprache verbunden. Und nun kamen Dinge zu einer Sprache, die mit den Dingen wenig zu tun hatten, und das Ganze betrieben von dem Freund, der keiner mehr war, Vorsitzender eines Komitees zur Aufklärung der zurückliegenden Fälle und eines Aarlinger Neuanfangs, von Cornelius, der alles nur von ihm, seinem Helfer im Dickicht des Lateins, hatte. Er war sogar mit Foto zu sehen, immer noch die nass nach hinten frisierten Haare, der schmale, aber breite Mund, sein Spalt im Kinn, die Haltung wie ein Fernsehkommissar, der zur Aufklärung ausschwärmt, mit Waffe und Handy statt mit Voltaire und Lessing. Und im Übrigen präsentierte er sich als geläuterter Banker, der jedem Verschleiern fortan entgegentritt, seiner Vita nach zurzeit beratend tätig, Pendler zwischen London, Frankfurt und Zürich, also auch beruflich häufig in Bodenseenähe, um in Aarlingen vor jeder Kamera aufzutauchen. Und Kommissar mit Waffe war nicht irgendein Bild, das war Cornelius der Aufklärer, der eigentlich nur aufräumen will, aber auch Cornelius, wie er schon als Junge mit ihm durch die Wiesen zwischen Zartenbach und Unterried zog, einen Kleinkaliberrevolver bei sich, um unter dem Getier aufzuräumen, Spatzen, Eichhörnchen, Frösche; er selbst besaß damals ein Luftgewehr, auch dabei auf den Streifzügen, versteckt in einer Sporttasche. Cornelius wollte nichts als töten, ein ansteckender Wunsch, kein Ferientag, an dem sie zusammen waren mit vierzehn, fünfzehn, ohne erlegtes Tier.
Regen schlug an die Scheibe, man sah kaum noch Lichter, der Zug jetzt in der Ebene zwischen Mailand und Bergamo, ein ermüdendes Tacktack, Tacktack von den Schienen – mit fünfzehn, sechzehn hatten die Streifzüge mit Luftgewehr aufgehört, im Grunde waren sie vernünftiger als Franz, der mit zwanzig in den Krieg gegen Perugia zieht, von seinen Waffen Gebrauch macht, das Schwert in einen Hals sticht, Blutbäder anrichtet, die ihn später einholen, wenn er lange allein ist, lange fastet, delirierend vor Kälte und Hunger im Halbschlaf liegt wie in dem Felsspalt auf der Landzunge San Vigilio. Alles kehrt dann zurück, die Schreie der Freunde, wenn sie die eigenen Knochen sehen, seine Schreie, um sich Mut zu machen, das Schwert ins fremde Fleisch zu stoßen, den Tod zu bringen, so wie die Feinde den Tod bringen, ihre Lanzen in die Flanken der Pferde treiben, auch in seins: das unter ihm brüllend zusammenbricht, sich im Sand wälzt, ein Brüllen, das Franz wieder im Ohr hat, und dabei ist es nur der aufgewühlte nächtliche See, den er hört.
Auch am anderen Morgen immer noch spitze Wellen und rollender Uferkies, ein klarer Dezembertag, es geht schon auf Christi Geburt zu, die Heilige Nacht will er noch allein verbringen, dann aufbrechen zu den Brüdern in Bologna. Tagsüber beruhigt sich der See, und gegen Abend ist er so glatt, daß Franz einen Fuß und noch einen Fuß daraufsetzt, aber das Wasser gibt nach, und er kriecht naß in seinen Felsspalt. Mit Laub bedeckt, hockt er darin, die Fäuste gegen den leeren Magen gepreßt, halb träumend, halb wachend, um mit dem ersten Vogelruf aufzustehen, am See zu beten. Die Tage vor Natale sind kurz, ihre dunklen Stunden sind lang, seine einzigen Verbündeten: die Vögel und die Zeit. Wenn er die Landzunge einmal abgeht, immer am Wasser entlang im Gezwitscher, ist eine Stunde um; Regen und Nebel lösen einander ab, und am kürzesten Tag des Jahres endlich die Sonne. Franz zieht die Kutte aus und spült sie im See, er legt sie auf den Uferfels. Dann sammelt er, wie geschrumpft in seiner Nacktheit, ein paar der abgefallenen Oliven und kaut sie. Er weint und weiß es nicht, an den hohlen Wangen laufen Tränen herunter, wie der Urin an den Beinen. Sein Kleid ist am Abend noch naß, die Nacht verbringt er nackt im Laub, ein Rascheln bei jedem Atmen – bis zum Morgen sein Anbeten gegen die Versuchung, sich am Laub zu reiben. So schläft er ein, mehr Ohnmacht als Schlaf, und wacht erst auf, als die Sonne schon durch die Oliven blitzt. Er will sein Gewand holen, aber wo es lag, steht ein Weidenkorb. Und dann sieht er dunkles Haar, das sich pendelnd bewegt, und zwei helle Arme: die der Wäscherin aus Torri, die das Gewand über einen Stein zieht, damit sich der Schmutz daraus löst. Noch hat sie ihn nicht bemerkt, nur weiß sie, daß jemand da ist – sich verstecken hieße lügen. Und eigentlich geht er morgens zur Kapelle des Vigilio, um dort zu beten, was er erst tun kann, wenn er nicht mehr nackt ist. Die Wäscherin hat nicht nur seine Kutte, sie hat auch die Zeit in der Hand, die eigentlich Gott zuteilt, also ist sie von ihm geschickt. Franz bedeckt seine Blöße mit taunasser Erde, er reibt sich auch das Gesicht ein, um als anderer zu erscheinen. Je weiter von mir, desto tiefer in mich: sein Gedanke, sein Bestreben, nur Gott als Gefäß zu dienen. Die Wäscherin hebt den Kopf, in den Händen sein Kleid, das Haar fällt ihr über die Schultern, regungslos steht sie da, die Augen auf die erdige Gestalt gerichtet, und er spricht sie in der Sprache des Herrn an. Ischáh sagt er, Frau, hab keine Angst, ich bin der aus Assisi! Er ruft es ihr zu, zweimal, dreimal, fast ein Gesang, während die Möwen kreischen und sie mit bloßen Knien in den Kies fällt. Zwischen Rosmarinbüschen führt neben dem Fels ein steiler Pfad an den See, schnell ist er bei ihr, sie schließt die Augen und flüstert etwas, immer wieder im Gekreisch der Möwen; erst als er wie sie auf die Knie fällt, versteht er die Worte. Seine Schwester will sie werden und mit ihm ziehen, er soll ihr das Haar nehmen. Jetzt. Sie hält ihm eine Klinge hin, die Augen weiter geschlossen, und er denkt an die, der er als erste das Haar geschoren hat, in einer Hütte bei San Damiano, noch ungeübt, mit schwerer Hand: an die Schwester der Schwestern, mit der er auch einmal den Tisch geteilt hat, ihr Wunsch, nicht seiner. Es wird schmerzen, sagt er und nimmt der Wäscherin die Klinge ab, eine, wie man sie zum Häuten von Kaninchen gebraucht.
Am späten Abend hielt der Zug in Peschiera, das Südende des Sees, Bühl nahm dort ein Taxi, aber er ließ sich nicht bis zum Haus fahren. Er stieg im Ort aus und lief den Hang hinauf, sein leichtes Gepäck in der Hand; auf den alten Schindeldächern schon Weihnachtssterne mit Schweif und in einer Bucht des Hohlwegs eine beleuchtete Krippe mit Hirten und Christkindpuppe, wie früher in Zartenbach, wenn er die Tage vor Weihnachten bei Tulla verbrachte, weil die Eltern zu tun hatten. Wenn sie wirklich verwirrt war, könnte er die Dinge vielleicht entwirren für sie. Angeblich saß Tulla den ganzen Tag nur herum, die geschnitzte Teufelsmaske im Schoß, eine Gefahr für sich und andere, aber daran wollte er nicht glauben; wäre dem so, müsste man ihn oder Vila auch entmündigen, jeden lebendigen liebenden, zu allem fähigen Menschen.
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