XII
DAS neue Jahr, für Vila begann es, wie das alte für Renz geendet hatte, mit dem Kappen einer Schnur, nur nicht aus eigenem Antrieb: der gewachsenen Nabelschnur zwischen ihr und allem, was sie nach ein paar Gläsern Wein für das Leben hielt. Ihr großer Fisch waren die Mitternachtstipps, ihr öffentliches Dasein, vierzehntäglich am späten Sonntagabend auf den Schirmen einer in besten Zeiten guten Million Interessierter, die es sich leisten konnten, gegen ein Uhr früh noch fernzusehen, schon vor dem Fernández-Beitrag auf eine halbe Million geschrumpft. Und bald nur noch eine Gemeinde, wie es Fritz Wilfinger, Gestalter des Gesamtprogramms, auf seiner Silvesterparty ausdrückte, als alle Raketen verschossen waren und einige noch mit Glas in der Hand auf einer Terrasse in Bergen-Enkheim standen, in der Ferne die Frankfurter Banken. Aber Sie wirken auch verändert, meine Liebe, oder macht das die Luft hier draußen? Eine Bemerkung nach der Gemeindebemerkung, als würden sich sinkende Quoten im Gesicht niederschlagen. Verändert, was heißt das? Vila sah sich nach Renz um, aber der war im Haus, und die Antwort, fast hinter vorgehaltener Hand, noch wilfingerhafter. Sie sehen aus wie eine, die gerade neu in die Stadt gekommen ist, hier alles noch aufregend findet. Jung.
Und dabei war Wilfinger jünger als sie, Ende vierzig, hielt sich aber für noch jünger, für einen, der alles Neue aufsaugt. Er kam auf die Tipps zurück, die müssten mal auf den Kopf gestellt werden, und als Renz dazustieß, ohne Mantel, fing er von seiner WG-Zeit an, in der er gelernt habe, was Menschen wirklich wollten, besonders die Frauen. Eine WG, sagte er mit dampfendem Atem, einen Arm bei ihr, einen bei Renz untergehakt, in der man nur Häuptling wird, wenn man das Klo schrubbt und den Mitbewohnerinnen zuhört, ohne gleich die Hosen zu verlieren! Wilfinger stieß mit ihr und Renz darauf an, nicht zum ersten Mal, sie kannte die Häuptlingstheorie schon, und im Laufe seiner Karriere hatte er auch allen gezeigt, wie man bei niederen Diensten Haltung bewahrt und Frauen so lange Referenz erweist, bis sie von selbst Blondinenwitze erzählen. Für Renz war er die korrekte Volkstümlichkeit in Person, natürlich mit katholischer Herkunft, einer aus der Messdienerriege, die jetzt für das TV-gläubige Volk Programm machte, aber ihren Nachwuchs gern auf Schulen schickte, an denen Fernsehen verpönt war. Wilfingers erzogene Kinder, Junge und Mädchen, schenkten seit der Knallerei ständig nach, bis Friederike Wilfinger, Designerin von eigenen Gnaden, die Fritz-Wilfinger-Spezialkartoffelsuppe ankündigte, vorletzter Gang zum Aufwärmen nach der Terrassenstunde; ganz am Ende gab es noch Heringssalat, dazu für jeden, der ausgeharrt hatte, eine von der Frau des Hauses gestaltete Erinnerungskarte. Friederike – sie duzte sich mit Vila, seit sie und ihr Mann einmal in Torri waren, eine eher steife Visite – kannte nur zwei Themen, ihre Designerei und die Ehe, und in dieser ersten Stunde des Jahres wurde daraus ein einziges Thema, als Vila ihr eigenes Bett erwähnte. Das Schlafen in getrennten Räumen, sagte Friederike nach ihrer fast leidenschaftlichen Werbung für die Suppe – eine Frage des Komforts oder des Überdrusses, was letztlich gar keinen Unterschied macht. Fritz und ich, wir schlafen auch nebeneinander auf einem Feldbett gut. Gehen wir ins Haus?
Ein Haus mit zu viel Licht, wie in einer Zahnarztpraxis, der Hausherr mit Schürze am Herd, und es war auch die Ankündigung seiner Kartoffelsuppe, die Wilfinger noch den Zusatzschwung gab, um erst aus Renz und dann aus Vila die Luftschlossluft, wie er das bei Sitzungen nannte, herauszulassen. Er hatte das Franziskus-Exposé gelesen und riet ab von dem Projekt, kaum Bezug zu heute, höchstens die Sinn- und Ökoschiene, für einen Zweiteiler zu wenig. Machen Sie was mit Missbrauch, rief er, das kommt jetzt groß, kein schönes Thema, aber wichtig! Wichtig, eins seiner Lieblingsworte, mit Betonung auf dem ersten i; das Programmschema war wichtig, ebenso die Akzeptanz, sein anderes Wort für einschalten, oder das Interaktive mit dem Publikum. Nah an der Zeit dran sein, sagte er und wandte sich damit an Vila. Noch immer mit dem Zusatzschwung in der Stimme erklärte er ihr, dass es für alle, Macher wie Zuschauer, das Beste sei, wenn die Mitternachtstipps in der Form nicht weitergingen: eine überholte Form, Anmoderation und dann ein Filmchen mit Kulturstarlets. Nein, höchste Zeit für eine offenere Form, auch neu präsentiert! Er sagte das, als hätte sie damit nichts zu tun, und kam dann schon mit den Dingen, von denen sie gehört hatte, seiner Idee eines ganz neuen Talkformats: für das jemand die Besten der Besten scouten muss! Und wissen Sie was, sagte er im Ton einer Pointe: Sie gehören zu den wenigen mit noch festem Vertrag bei uns, und daran ändert sich nichts! Darauf wollte er gleich trinken und rief seinen Sohn, und der füllte die Gläser, ein Vierzehnjähriger mit Brille und Fliege, und noch während des Prosits auf das neue Format und die neue Gästejägerin kam es zu einem After-Midnight-Auftritt. Hayat Yilmaz die Scheintürkin erschien, also nahm Vila noch einmal alle Küsschenkräfte für ihre Nachfolgerin zusammen, bevor sie mit Renz aufbrach, in der Hand die designte Erinnerungskarte, obwohl der Heringssalat noch ausstand.
Im Taxi lief Musik, ein verzehrendes Auf und Ab wie in marokkanischen Bussen, von dem Fahrer mit weißer, kranzartiger Kopfbedeckung leise mitgesummt. Weißt du noch, sagte Renz, aber Vila sah sich die Karte an, eine Gestaltung der neuen Jahreszahl mit zwei Einsen und einer Null, in dem Rund die Gestalterin selbst, Friederike Wilfinger, ein Porträt in Schwarzweiß; ihr Mann dagegen auf den spitzen Einsen balancierend, sorgenvoll von seiner Frau aus der Null heraus betrachtet. Und vielleicht liebten sich die beiden sogar, und keiner müsste sich je eine Schnur zum Besseren durchschneiden, auch wenn Renz nach dem Fischtrip kein Wort mehr darüber verloren hatte, Alles gut, sagte er nur; und die letzten Tage am Strand dann fast harmonisch, Liege neben Liege. Unsere Fahrt von Tanger nach Fes, erinnerst du dich? Renz nahm ihre freie Hand, und sie sah weiter auf die Karte, eine nicht mehr freie Hand in seinen Händen – auf den Tag, ja auf die Stunde genau siebenundzwanzig Jahre nach ihrem ersten Händehalten in einer Silvesternacht und mehr als zwanzig Jahre nach Marokko, die Kleine zwischen ihnen im Bus. Und hätte sie, statt ihrer Hand, einen Wunsch frei auf dieser Fahrt in die Stadt bei immer noch einzelnem Feuerwerk und dem klagenden Auf und Ab aus den Boxen, würde sie nicht den Erhalt ihrer Sendung erbitten, sondern nur, dass Renz’ Hände Bühls Hände wären und sie beide im verschneiten Unterried: Ein Wort war das für sie, kein Name, das andere Wort für alles. Wilfinger sagt, ich hätte mich verändert, stimmt das?
Wenn er es sagt, wird es stimmen.
Und was hat sich verändert?
Ich weiß es nicht. Hast du ihn nicht gefragt?
Ich frage dich! Sie schob die Karte in die Manteltasche, zu ihrem Telefon, im Speicher noch das Wort – es zu löschen hätte ihr Angst gemacht. Renz drückte jetzt ihre Hand, er sah sie von der Seite an. Du siehst müde aus. Aber schön.
Ist das alles, die ganze Veränderung?
Wer sieht schon schön aus, wenn er müde ist, sagte Renz. Nur junge Krankenschwestern, wenn sie sowieso schön sind. Wilfinger macht dir also Komplimente.
Er hat nur gesagt, ich hätte mich verändert. Als sei ich neu in der Stadt und würde noch alles aufregend finden.
Also auch ihn. Er stellt sich vor, dass du ihn aufregend findest. Ein gerade noch junger, aufregender Mann.
Er sagte, ich sei jung.
Das hat er gesagt? Wie jung?
Wie eine, die neu in der Stadt ist, alles aufregend findet.
Renz lehnte den Kopf an ihre Schulter. Jetzt dreht es sich im Kreis, du hast zu viel getrunken. Haben wir uns schon alles Gute gewünscht? Alles Gute zum neuen Jahr.
Und was sagst du ihr? Kann man Marlies überhaupt noch etwas wünschen? Vila sah aus dem Fenster, sie fuhren schon durch die Stadt, eine Premiere war das, diese Silben in ihrem Mund, Marlies: im Grunde ein schöner Name, erst voll, dann offen, verklingend am Ende, so wie ihr Leben vielleicht im neuen Jahr ausklang, nur nicht melodisch, eher ein Ersticken. Renz ließ ihre Hand los und hielt damit seine andere Hand. Man kann ihr nur ein gutes Projekt wünschen, sagte er. Marlies glaubt, Arbeit würde sie gesund machen. Wilfinger hat mir zu einer Missbrauchsgeschichte geraten. Das wäre auch ein Zweiteiler, das Damals, das Heute, was wird aus solchen Menschen. Ich will Anfang der Woche nach München, geht das? Er sah sie an, als das Taxi über den Main fuhr, und dort noch Unzählige, die morgens um zwei bei Eiseskälte auf einer Brücke feierten, und sie sagte, alles gehe, warum nicht auch das, es sei ja nicht die Welt, es sei München, ein Herunterspielen der Dinge, aber nicht nur, es war auch schon ein Vorbereiten ihrer Schwarzwaldtour, ein dunkles Herz wäscht das andere. Das Taxi hielt, und sie bezahlte die Fahrt; sie schloss auch das Hoftor auf und hielt es Renz auf. Er hatte Mühe mit allem, erst jetzt wirkte der Wein bei ihm, Mühe mit der Treppe, dem Lichtschalter, dem Ausziehen, also half sie ihm, wie es irgendwann jeden Abend sein würde, mit dem Mantel, den Schuhen, den Socken, den Rest konnte er selbst. Schlaf, sagte sie und ging in ihr Zimmer, und die eigene Betrunkenheit und ihre ganze Enttäuschung über das vorschnelle Ende bei den Mitternachtstipps holten sie ein, und niemand half ihr aus dem Mantel, den Schuhen, den zu engen Jeans und einer viel Nachsicht verlangenden Strumpfhose, um dann gleich noch den Slip herunterzuziehen und sie dort zu liebkosen, wo nur Gutes zusammenläuft und am Ende in Wogen verströmt, Wogen, die alles Beschämtsein wegschwemmen und nichts als Wut übriglassen.
ABER an diesem Neujahrsmorgen war die gute, über alles hinweggehende Woge der Schlaf, und gegen Mittag waren es zwei Ibuprofen, die ihr in Wellen den Kopfschmerz nahmen, und später noch einmal der Schlaf, jetzt mit Wogen der Sehnsucht, wenn sie zwischendurch wach wurde, nicht wusste, wo ihr Schoß und Kopf standen. Und dann war es schon Anfang der Woche, Renz verließ im Mantel die Wohnung, bei sich nur kleines Gepäck. Bring etwas vom Viktualienmarkt mit, rief sie ihm noch hinterher, wieder ihr Herunterspielen der Dinge, und kaum fiel unten das Hoftor zu, ein Gefängniston, wählte sie Bühls Nummer, und seine Mailboxstimme reichte für einen Herzschlag im Hals: der es schon schwermachte, überhaupt zu sprechen. Sie bekam nur heraus, dass ihre Sendung wohl in der Form nicht weiterginge (ganz sicher ging die Sendung so nicht weiter, aber genau das bekam sie nicht heraus) und dass auch die Franziskussache als Zweiteiler gestorben sei, aber Renz jetzt auf eine Missbrauchsgeschichte setze, und noch am Nachmittag – sie war gerade im Bad, ihr erster Versuch, sich wiederherzustellen, sich auch im neuen Jahr zu mögen – rief Bühl zurück, kein günstiger Moment. Sie hatte ihr Haar ausgespült nach einer Tönung, das übliche Kastaniendunkel gegen die Silberfäden, im Bad noch Dampf, der Spiegel beschlagen, also zog sie das Fenster auf, und da schneite es, Flocken wie aus Kindertagen, still wirbelnd, und dazu das gute Gefühl, dass Renz mit der Bahn fuhr.
Ich bin in der Schweiz: Bühls erste Worte, danach verspätete Wünsche zum neuen Jahr, dass ihr beruflich alles gelinge, mit oder ohne Sendung, und dass ihr auch sonst alles gelinge, mit und ohne Mann. Er sprach leise, aber klang ganz nah, als läge die Schweiz vor dem Fenster, daher auch das Schneien. Wo in der Schweiz, fragte sie, um nicht gleich warum zu fragen, oder schlimmer noch: mit wem, und dabei schloss sie das Fenster wieder; der Spiegel über dem Waschbecken war jetzt frei, und sie kämmte ihr nasses Haar aus der Stirn und hinter die Ohren, das Föhnen käme dann später. In Stein am Rhein, sagte Bühl, fast an der deutschen Grenze, wo der untere Bodensee endet, von hier nach Aarlingen sind es nur ein paar Kilometer. Mein früherer Freund will morgen in Aarlingen auftreten, die Presse wird da sein, das Fernsehen, eine Reihe ehemaliger Schüler, alle Lehrer, alle Erzieher. Und ich werde in der Nähe sein. Fehlt bloß noch dein Mann, wenn er jetzt ein Missbrauchsdrama schreiben will. Aber der Experte in dieser Sache ist ja regelmäßig in Frankfurt, so steht es auf Kilian-Siedenburgs Website, Renz sollte mit ihm in Kontakt treten, auch wenn es der Ex-Gatte seiner Geliebten ist. Was tust du gerade außer telefonieren? Bühl verstummte, als sei er gar nicht mehr da, oder sie hätte sich den Anruf nur eingebildet, sie musste sich einen Ruck geben, um weiterzureden, ihm zu sagen, was sie tat, ihr nasses Haar kämmen – vom Tönen kein Wort, oder richtiger: wie genau sie sich das Ergebnis der Tönung ansah, besonders am Scheitel. Diese Geschichten in deinem alten Internat, hattest du damit etwas zu tun? Eine vorsichtige, fast ängstliche Frage, im Grunde wollte sie davon nichts wissen und wollte es doch, um zu erfahren, wer er war oder wie er war, vielleicht auch, was er war: was er für sie, in ihrem Leben, dem schon fortgeschritteneren als seines, war und künftig sein könnte. Ja, sagte er, ja. Es gab dort einen Lehrer, schon lange tot, aber seine Schülerlieblinge leben noch, ein paar davon treffen sich jetzt, mein alter Freund Cornelius ist die treibende Kraft. Und dabei hat sich dieser Lehrer nie für ihn interessiert. Er hat sich nur für die Ruderjungs interessiert. Ich war erst zwölf und saß schon mit ihm im Zweier.
Ihr habt gerudert, du und er, und danach? Vila steckte den Föhn ein; die Frage war schon weniger vorsichtig, aber Bühls Antwort ohne ein Zögern: Danach alles Mögliche. Sein Name war Gerd Heiding, wir nannten ihn Indianergerd.
Und seit wann ist Indianergerd tot?
Seit fast fünfundzwanzig Jahren.
Also starb er in deiner Zeit als Schüler.
Ja, aber er starb nicht einfach. Er ist ertrunken. Was ist mit deiner Sendung, wird sie abgesetzt?
Sie wird verjüngt.
Und du?
Ich nicht, sagte Vila. Ich werde etwas anderes machen, für eine neue Talkshow die Gäste gewinnen. Und vorher testen. Ich werde häufiger reisen. Wie ist Stein am Rhein?
Sehr schön, kleine Gassen, viel Fachwerk. Und mein Hotel genau am Wasser, das Rheinfels. Alles sehr schweizerisch, obwohl die Grenze keine fünfhundert Meter entfernt ist.
Und warst du als Schüler oft in der Schweiz? Wieder eine leichtere, harmlosere Frage, nur war das Gewicht des Ganzen zu groß, wie ein niederer Luftdruck, der auf allem liegt. Sie tupfte ihr Haar jetzt mit einem Handtuch trocken, und für einen Moment der Gedanke oder Wunsch, dass Elfi an der Tür klingelte, sie das Gespräch beenden müsste, auf eine natürliche Weise: alles erschien ihr auf einmal schwer und zugleich wie ein Trick, um rascher vorwärtszukommen, der Trick aller renzschen Vorabenddialoge. Ja, sagte Bühl. Wir sind nach Steckborn geschwommen, Cornelius und ich, dort haben wir zwei Zigaretten geraucht, Maryland, die gab es einzeln zu kaufen, haben uns aufgewärmt und sind wieder zurück. Mal war die Strecke leichter, mal schwerer, es kam auf die Rheinströmung an, wie stark sie war, wie kalt. Heiding ist bei Steckborn angeschwemmt worden, nach drei Tagen im Wasser, also haben die Schweizer den Fall untersucht – Tod durch Ertrinken. Was macht dein Haar, ist es schon trocken?
Ihr Haar, was machte ihr Haar, es machte nichts, es hing nur wirr, ihr Kopf machte alles – Bühl schien in der offenen Badtür zu stehen, sie anzuschauen, gleichzeitig schwamm er als Junge über den Bodensee. Ich habe es getönt, sagte sie und zog das Fenster wieder auf und hielt ihr Gesicht in das Schneetreiben. Oder was dachtest du über mein Haar? Eine fast ernste Frage, eine, die sie noch nie gestellt hatte, und er: Nichts. Was soll man über Haare denken? Ich denke nur, ohne Tönung wären sie schöner. Geht das eines Tages?
Wann eines Tages? Eines Tages ist keine Zeit.
Wenn wir uns in Unterried sehen.
Nein, bis dahin hält die Tönung, da musst du noch warten, kannst du warten? Sie nahm einen Kamm und zog ihn durch das verklebte Haar, bis sie Tränen in die Augen bekam wie beim Zupfen von Augenbrauen, dabei am Ohr Bühls Atem, zweimal tief ein und aus, Demonstration seiner Geduld, und dann sprach er plötzlich von Jahren, dass er im Grunde seit Jahren auf sie gewartet habe, ohne es zu wissen, kam aber von der Zeit auf ihr Haar zurück: um das sie sich jetzt kümmern sollte, statt zu telefonieren, in der Stille nach dem Auflegen trat sie vor den Spiegel, auf den Wangen das rasche Schmelzen der Flocken.
AUCH am unteren Bodensee, seinem Übergang in den Rhein, schneite es, nur um einen Tag verzögert, ein einziger Flockenwirbel in den Stunden, in denen das Licht schon wieder abnahm, obwohl die Tage bereits länger wurden – kein Wetter zum Autofahren, also ließ Bühl den Mietwagen am Hotel stehen und ging zu Fuß über die Grenze und dann am See entlang nach Aarlingen. Er kannte sich noch aus, Cornelius und er waren hier oft gelaufen, hatten Zigaretten, Kaffee und Schokolade geschmuggelt, alles viel billiger in der Schweiz, und in den Ortschaften am See unter der Hand verkauft, mehr Sport als Geschäft, aber ein Geschäft war es auch, und Aarlingen war damit auszuhalten. Man konnte nach dem immer gleichen Abendessen in den Badischen Hof gehen, sich ein echtes Jägerschnitzel kommen lassen, man konnte sogar Eva, der Bedienung, ein Trinkgeld geben, und sie beugte sich zum Tisch, dass man ihre weißen Brüste sah, in der Internatsöde schon wie ein Stückchen der Züricher Altstadt bei Nacht.
Aarlingen war von den Orten am Untersee, ja auf dem ganzen hügeligen Landstrich Höri, der kleinste, zu seinen Zeiten nur ein paar Bauernhäuser, umgeben von Obstbäumen, dazu die Wirtschaft Zum Badischen Hof und das Kaufcenter Ritzi, ein hexenhäuschenhafter Lebensmittelladen mit dem vermessenen Schild über dem Eingang. Alle größeren festen Gebäude gehörten zum Internat und lagen am See, das alte Herrenhaus, das neue Marbach-Heim, der Hermann-Hesse-Saal, die Badewiese mit dem Lager für die Boote, ein Ensemble gleich neben dem Landungssteg von Aarlingen, die Grenze auf der anderen Seite ein Schilffeld, das sich bis zur nächsten Ortschaft zog oder gezogen hatte – inzwischen waren dort einzelne Häuser am See, auf seinem Weg selbst im Schneetreiben zu sehen; nur wenn man von Aarlingen Richtung Horn weiterlief, war das Schilf unberührt, ein Vogelschutzgebiet, sommerlicher Rückzugsraum für ihn und den Freund. Bühl ging erst am Ufer entlang und das letzte Stück an der Straße, kaum befahren, so schneite es, ein Weg von einer Stunde, und als er gegen Abend die Zufahrt zum Hesse-Saal erreichte, lag auf den Autos, die dort standen – der Fuhrpark von Journalisten und Ehemaligen, die angereist waren –, ein alles gleichmachendes Polster. Nur ein BMW oder Audi hob sich mit seiner Panzerform ab, und er klopfte etwas Schnee vom vorderen Kennzeichen – Kilian-Siedenburg war sich treu geblieben: KS und als Nummer dreimal die Eins, wie die Ergänzung seiner Initialen. Eine Schülergruppe tauchte auf, sie kam vom Abendessen, und er lief um die verschneiten Autos herum Richtung See; bis zu der Pressekonferenz im Saal war noch genug Zeit für einen Gang ins Vogel- oder Freundesschutzgebiet.
Sie hatten ihren Platz vor einer winzigen Bucht inmitten dichter Halme, hinter einer Bank führte ein Pfad ins Schilf, fast unsichtbar, wenn man die Halme wieder zusammenbog. Die Bank gab es nicht mehr, der Pfad war zugewachsen. Er drückte die Halme beiseite, sie brachen und splitterten in der Kälte, aber er kam voran, und nach zwanzig, dreißig Schritten stieß er auf die alte Stelle, nur mehr erkennbar durch eine kleine Verbreiterung, ein anderes Wachstum. Zwei Handtücher hatten dort einmal nebeneinandergepasst, seins und das des Freundes; mit Cola und Roth-Händle, der Musik von Police aus einem Recorder und Caesars Gallischem Krieg waren sie hier über die trägen Sonntage und Cornelius’ Lateinklippen gekommen. Gallia est omnis divisa in partes tres: die ersten Seiten hatte er ihm in allen Feinheiten erklärt, pars pro toto, damit der Freund die Oberstufe erreichte, und zuletzt lasen sie Catull, den erschloss er Cornelius mit nur einem Vers, Odi et amo. quare id faciam, fortasse requiris. nescio, sed fieri sentio et excrucior. Ich hasse und ich liebe. Warum, so fragst du vielleicht? Ich weiß nicht. Aber es ist so: Ich fühl’s, und es zerreißt mir das Herz. Im Schilf plötzlich leises Knacken, wie ein Geräusch von damals, übriggeblieben, und er verließ den Platz und ging zurück. Hinter dem Herrenhaus gab es noch die alte Abkürzung zum Hesse-Saal, durch die Büsche an der Weitsprunggrube aufwärts, so kam man zum Eingangsbereich. Und dort drängten sich jetzt Schüler und Erwachsene, und er wartete, bis die Letzten in der geöffneten Flügeltür stehen bleiben mussten, im Saal also kein Stuhl mehr frei war, dann erst ging er von den Büschen zum Eingang und sah den Hintersten in der Tür über die Schulter.
Auf der Saalbühne – er hatte dort Theater gespielt, in Goethes Laune des Verliebten, den Eridon, Und wenn Amine mich auch noch so reizend küßt, Darf ich nicht fühlen, daß dein Kuß auch reizend ist? – standen im Scheinwerferlicht drei Tische nebeneinander, Tische, die zum Saal gehörten, Esstische waren, hinter den Tischen je ein Stuhl von den Stühlen, die es schon gab, als er mit zehn nach Aarlingen kam, helles Holz, graublaues Gestänge. Drei Personen saßen dort, vor sich ein Mikro, in der Mitte, kaum zu glauben, Cornelius. Er trug ein schwarzes Jackett mit weißem Hemd, ohne Schlips, dazu die ewig runde filigrane Brille, salve, alter Freund, sei gegrüßt, auch wenn du nicht weißt, wer ganz in der Nähe ist, dir zuhören wird, wie du seine Dinge erzählst. Neben Cornelius saß Julian Bohlander, auch der kaum verändert: Juliboy, noch immer blond mit Rehaugen, eigentlich nicht Heidings Typ, aber ein Vertreter der Opfer; weitere Betroffene saßen halb schräg zum Podium, Jacobitz, Zidona, Pohlmann und Treven, Jens von Treven, Pädagogikprofessor, sie waren sich auf einem Lehrerkongress begegnet. Und auf der anderen Seite von CKS die Leiterin von Aarlingen, eine Frau, die mit den früheren Vorfällen nicht das Geringste zu tun hatte, aber mit ihrem dunklen Kostüm, hochgeschlossen, und einer Kurzhaarfrisur aussah, als sei sie selbst ein Opfer. Sie zitierte einige Eltern, die ihr gemailt hatten und Offenheit verlangten, und gab dann das Wort an Kilian-Siedenburg: Vorsitzender unseres Komitees zur Aufklärung sämtlicher Fälle. Bitte sehr.
Und der begann mit Marc Aurel, etwas aus den Selbstbetrachtungen, schon in seiner Abirede der Anfang, ohne die Freundeshilfe undenkbar, und genau das Richtige vor all den Medienleuten und höchstens neugierigen Schülern: Fasse die Dinge nicht so auf, wie sie dein Beleidiger auffasst oder von dir aufgefasst haben will; sieh dieselben vielmehr so an, wie sie in Wahrheit sind!, und schon hatte er den zentralen Begriff: er sei da, um der Wahrheit Genüge zu tun, dazu gleich ein paar Einzelheiten, auch wenn sie abstoßend seien. Und dann führte er Sachen an, die ihm selbst nie passiert waren, in einem Ton, als müsse er sie bis heute mit ausbaden, aber erweckte auch gleich den Eindruck, als hätte er, mit kaum fünfzehn Jahren, Heiding bei einer versuchten Annäherung auf der Stelle durchschaut. Es ging mir nicht wie den anderen, sagte er – Fingerzeig auf seine geringe Anfälligkeit –, aber das Wenige reichte, um auf das Übrige schließen zu können – Hinweis auf eine frühe, nüchterne Intelligenz. Wie es leider auch reichte, um mehr als fünfundzwanzig Jahre zu schweigen, fügte er hinzu, um bei aller Intelligenz auch berührt zu sein. Ein Schweigen, das wir heute brechen! Und aus dem Saal sofortige Zustimmung, Schüler klatschten mit erhobenen Händen, Lehrer und Erzieher fielen in den Applaus der Opfer ein, als wollten sie noch mehr Details, um sich danach an den Kopf zu greifen: wie Derartiges nur hatte unbemerkt bleiben können oder von allen ignoriert werden konnte. Ich wusste viel, aber war für das Viele einfach zu jung, sagte Cornelius, als hinter einer der Kameras noch ein Zusatzlicht anging, der Moment, in dem es genug war, selbst wenn man dem Hintersten im Saal nur über die Schulter schaute.
Vom Hesse-Saal gab es auch einen versteckten Pfad zum tiefer gelegenen Sportplatz und der Badewiese mit dem alten Ruderhaus, Bühl ging ihn hinunter und hörte noch, jetzt aus den Lautsprechern im Saal, die Stimme des Redners, einzelne Worte drangen ins Freie, System, Befriedigung, lebenslang. Cornelius hatte schon immer ein saloppes, die Details verachtendes Gedächtnis, daher ja das Problem mit Latein, ihn interessierte nur der Effekt, privat und beruflich, und dieser Abend, dieser Auftritt: seine späte Rendite aus den Aarlinger Jahren. Die Tür zum Ruderhaus war unverschlossen, normal bei der Witterung, alles, was zum Schneeräumen gebraucht wurde, lag dort. Er trat ein und suchte den Schalter neben der Tür, aber den gab es nicht mehr, dafür ging von allein ein Licht an, als er noch einen Schritt tat, eine Sparleuchte in der Ecke mit den Winterdienstsachen, wo früher Heidings Werkbank stand; alles war umgeräumt, nur ein Achter lag noch an derselben Stelle, die Länge bestimmte den Platz, und es war sogar die alte hölzerne Graf Luckner, so getauft vom Begründer der Ruder-AG, dem legendären Herbert Georg Diesch, einem Marinemann und Erzieher mit preußischem Stil, wie ältere Schüler erzählt hatten. Er ging zu dem Achter, und hinter ihm ein schnappendes Geräusch – die Ruderhaustür. Wie gut er es noch kannte, dieses Schnappgeräusch, Heiding hatte der Tür immer einen Stoß mit dem Fuß gegeben, und keiner konnte sie dann mehr öffnen von außen, das war jetzt anders. Nur das Geräusch war geblieben oder noch lebendig in ihm, wie der Geruch nach Dollenschmiere von den Booten, aber auch der nach Vanille von einer Massagebank neben dem Achter, auf der Bank eine Flasche Körperöl, parfümiert, und die blaue Packung Gauloises, dazu ein Kassettenrecorder, da musste man nur auf Play drücken, und schon kam Billie Jean: die kurzen Stepptöne am Beginn, während Heiding noch eine rauchte und ihm schon den Kopf hielt, den Nacken, das Ohrläppchen, die Wange mit den ersten Haaren, ihren entzündeten Wurzeln. Na und, sagte er, macht nichts, alles ist schön, auch ein Pickel! Nach Billie Jean kam Beat It, dabei schon der Geschmack von Rauch durch das Küssen, der Duft des Öls, und dann entglitten die Dinge, er ließ es zu, dass ihn Indianergerd ins Herz stieß, wieder und wieder. An einem Juniabend hatte das angefangen, an einem Juniabend war es zu Ende gegangen, mitten auf dem See, dazwischen ungezählte Male, auf der Massagebank, auf den Säcken mit Streugut, über den Kiel der Luckner gebeugt, Heiding bebend vor Verlangen, seiner Wahnsinnshoffnung auf Erlösung, die Augen in der Farbe von Malz, zwei aus dem Mund genommene Malzbonbons, ganz auf ihn gerichtet, sein Jungsgesicht, den Mund, die Wangen, die glatte Stirn – um zu lieben, braucht es nichts als Augen, Heidings Credo, Komm, Junge, komm jetzt: seine Gebetswörter, und wenn es so weit war, ein fast klagendes, wölfisches Du, während er ihn immer gesiezt hatte, selbst in den Atempausen beim Küssen, als er ihm fahrig übers Kinn strich, Sie sind nicht rasiert sagte, ja sogar ganz am Ende, als kaum noch Gegenwehr kam im dunklen Wasser, siezte er das schlaffe Bündel Mann unter ihm, Ersaufen Sie, los! All das lag weit zurück und war doch Gegenwart, abwesend anwesend, wie Vila, die er spürte, ohne sie umarmen zu können. Und nach dem Klagelaut, mit dem Heiding kam, sich an ihm oder in ihm erschöpfte, sank er in sich zusammen, ein muskulöses Kind, das ihm, einem größeren, die Brust küsste, den Bauch, das ebenso Erschöpfte zwischen den Beinen, jemand, der immer noch nicht erlöst war, immer noch suchte: Wo am anderen, in welcher Mulde, welcher Öffnung, finde ich die eigene Wahrheit, dunkel wie das Dollenfett, nach dem es trotz der muffigen Luft überall roch. Und er beugte sich über den Kiel der Luckner und atmete den Geruch ein – einmal noch, das letzte Mal –, er zählte still bis fünfzig, wie als Kind beim Versteckspielen, und wie mit Heiding, der sich selbst in ihm gesucht hatte, dann war es getan, für immer getan, und er verließ den alten Ruderhausschuppen.
Die Badewiese weiß und still, ebenso der Sportplatz, unwirklich hell in der Nacht. Er stapfte durch den Schnee auf der Aschenbahn bis zur Treppe, die zum Hesse-Saal führte, der offizielle Weg nach oben. Aus dem Saal ein Zwischenapplaus, wie auf ein ersehntes Wort hin, danach Cornelius’ Stimme, und er hielt dagegen, indem er laut die Stufen zählte, acht mussten es sein bis zum ersten Absatz, dann vierzehn und auf dem letzten Stück sieben, und so war es auch. Alles in Aarlingen hatte sich eingebrannt, das bleiche Licht in den Heimtoiletten, die Gerüche des Sonntags nach Kaffee und Rosenkohl, der stelzige Landungssteg, wenn der See im Winter zurückwich, das Tirili der Märzvögel, der erste Hundertmeterlauf, zwölf drei; die Agonie des Juni, der matte See mit Blütenstaub, das rasende Blau des Oktober, wenn mittags die Nebel aufgingen, das Fallobst, in der Sonne schmorend. Aber auch die Flötengriffe im Advent, Es kommt ein Schiff geladen, da brauchte es zu Beginn den kleinen Finger ganz unten rechts, oder das Laue des Abendtees, der Schimmer auf dem Streichkäse, die Margarine mit dem Namen Eden, ihr Zerfließen auf dem Brot. Und in warmen Nächten Heidings Griff, nachdem sein Ruderjüngster geseufzt hatte, wie er das noch Zuckende in Händen hielt und das Sämige darauf verstrich, als sendeten die Raucherfinger Stromstöße aus, kleine, süchtig machende Stöße, und doch stark genug, etwas auf Dauer zu zerreißen: nicht das Herz, mit dem man Seearme durchschwimmt, eher das, mit dem man zum Advent aufspielt.
Auch der Parkplatz hinter dem Saal war weiß, ein Auto wie das andere unter dem Schneepolster, nur Cornelius’ Panzer hob sich ab. Er klopfte den Schnee von einem der Fenster und warf einen Blick hinein, auf dem Beifahrersitz Kekse und die Neue Zürcher, eine Zeitung, der Cornelius schon als Schüler vertraut hatte, ebenso der Keksmarke Bahlsen, seine solide Seite; und die andere, das waren die Waffen, gut möglich, dass im Handschuhfach eine Röhm oder Luger lag, und wenn es ein Imitat war. Aus dem Saal wieder Applaus, und er fegte den Schnee von der Haube, bis nur noch eine feine Schicht darauf lag, in die schrieb er etwas mit dem Finger, sorgfältig jeden Buchstaben, jedes Wort. Amo et odi et excrucior. Ich liebe und ich hasse und es zerreißt mir das Herz, aber welches? Das des Advents, ewig kindlich, erwärmt von einfachsten Melodien, ein Gesangbuchherz, oder das der Erwachsenenjahre, ewig ruhelos, voller Spannung, wenn er die alte Freundschaft in sich durchging, ein verspannter Muskel, seit ihm die rauchende Studentin mit wippendem Haar und weichem Mund, von ihm geküsst im Regen, genommen worden war, wie jetzt die Geschichte mit Heiding vom selben Dieb. Er zog einen Kreis um die Worte, schon in Cornelius’ zerfleddertem Bello Gallico das Mittel, einen schönen Akkusativ mit Infinitiv oder Ähnliches hervorzuheben, dann machte er sich auf den Rückweg. Es schneite nicht mehr, dafür eine scharfe Kälte, und er ging nur ein Stück zu Fuß. In Hemmenhofen stieg er in ein Taxi am Hotel Höri, wo Cornelius und die übrigen Altschüler sicherlich wohnten, und ließ sich über Wangen und Kattenhorn, wo sie einst ihre Schweizware loswurden, nach Stein am Rhein fahren; sogar die Zollstation weiß und still, der Schnee grenzenlos. Im Hotelzimmer dann noch ein paar Zeilen Franziskus, der Poverello als Menschenflüchter, allein in den Bergen. Und am anderen Tag die Rückfahrt nach Italien, aber nicht an den See, sondern viel weiter, ein Mietwagen mit Winterbereifung.
UND Ende Januar traf in der Schadowstraße eine Ansichtskarte aus dem mittelitalienischen Topino-Tal ein, mit Poststempel Nocera Umbra und einem zehn Tage alten Datum, ein wildes Paradies dem Bild nach, bewaldete Hänge, Reste von Gehöften, ein felsiger Bachlauf: Nichts für mich, sagte Renz, als Vila die Karte schon umdrehte. Auf der Rückseite Bühls kleine Schrift, späte Neujahrswünsche für sie beide, Glück und Gesundheit, dazu das Versprechen, sich bald wieder um das Haus zu kümmern. Und an Renz noch ein paar Extrazeilen, er sollte sich von Franziskus verabschieden, das werde einem klar in diesem Tal, vorletzte Station eines schon sehr kranken, sich nach dem Ewigen oder der Liebe verzehrenden Franz, der nicht fürs Fernsehen tauge, das Nicht unterstrichen. Und dann noch etwas, das auch mit ihr verbunden war, dem, was sie von Renz’ Plänen erzählt hatte – Warum nicht lieber angehen, was in der Luft liegt, das Missbrauchsthema, dabei sicher hilfreich der Mann, der die Vorfälle an meinem alten Internat Aarlingen aufklärt, Kilian-Siedenburg, treffen Sie sich mit ihm, denkbar auch eine Einladung an den See im Sommer. All das auf einem Raum, der nur für Grüße gedacht war, und sie hatte es kaum vorgelesen, da suchte Renz schon bei Google nach Kilian-Siedenburg und ließ sie gleichsam allein mit der Karte – die Abendstunde vor dem Essen, jeder schon mit Glas in der Hand, und sie nahm beides, Glas und Karte, in ihr Zimmer und las dort alles noch einmal. Was wollte Bühl in dem Tal, sich auch nach Ewigem verzehren? Und warum brachte er seinen früheren Freund ins Spiel, als wollte er ihn, über diesen Umweg, gern wiedersehen. Sie verstand das alles nicht und verlor sich mit dem Glas Wein in Gedanken über die Zukunft, nicht die wirkliche Zukunft, was in ihrem Leben noch möglich wäre, nur eine kleine, nahe Zukunft, eine Reise mit Bühl, abenteuerlich wie die ersten Reisen mit Renz. Den Orinoko fahren sie hinauf, zu Orten mit einem Opernhaus, erbaut von Männern, die im Urwald ohne Puccini den Verstand verloren hätten. Sie wohnen in alten Hotels, die Böden aus Palisander, in den Morgenstunden lieben sie sich unter Netzen und gehen danach spazieren, wenn es draußen noch erträglich ist, die Sonne erst aufgeht. Nur das Geräusch ihrer Absätze in den Straßen, Bühl mit kleinen Eisen unter den Schuhen, fiese Sache, aber ein schöner Klang; ziellose Tage, jede Minute unendlich sinnvoll. Mehr brauche ich nicht, rief Renz aus dem Flur, das ist mein Mann!
Und von ihr später beim Essen der Rat, nichts zu übereilen, sich auch mit seiner Kranken abzustimmen, mit Marlies – es wurde immer leichter, den Namen auszusprechen, als sei er ein Teil ihrer Krankheit –, und Renz hörte zu, seltsam geduldig oder schon informiert darüber, wer dieser Kilian-Siedenburg war; er hatte gekocht, das tat er seit der Rückkehr aus München, und es blieb auch in den nächsten Tagen dabei. Sie kaufte irgendetwas ein, wenn sie von der Arbeit kam, und er machte irgendetwas daraus, nicht das Gericht, das die einzelnen Sachen nahelegten, sondern etwas anderes, Eigenes, als würde er genauso vor sich hin denken, hin träumen wie sie. Ein ruhiger Winterrhythmus, auch mit Einladungen, mal sie beide bei Hollmanns, mal Elfi und Lutz bei ihnen; das Ruhige, Gleichförmige erst unterbrochen Anfang Februar, durch eine lange Mail von Bühl mit dem Betreff: Franz und ich.
Sie war im Sender, als die Mail einging, in einem Büro vom Charme eines Wartezimmers, älterer Augenarzt, ihrem kleinen Call-Center, um von dort das neue Talkformat mit vorzubereiten, erste originelle Kandidaten aus dem Meer redseliger Prominenter herauszufischen und mit ihnen Vorgespräche zu vereinbaren, eine Tätigkeit für den späteren Nachmittag und frühen Abend, wenn originelle Leute zum Telefonieren aufgelegt sind und sie ihre intime Stimme einsetzen konnte, die Stimme, mit der sie halb flüsternd die Mail las.
Sommer im Topino, eine stehende Luft in der Hütte, vom Lager am Boden Franz’ Atemstöße, wie von einer Gebärenden, die mit den Wehen kämpft. Klara weicht kaum noch von seiner Seite. Sie gibt ihm Wasser aus einer Schale und füttert ihn mit Beeren, wenn das Abendlicht durch die Ritzen fällt und sie seinen Mund erkennt. Einzeln zerdrückt sie ihm die Beeren zwischen den Lippen, bis er sie schlucken kann, Tag für Tag. Franz sieht sie nicht, er hört sie nur und spürt die Hand am Mund und auch etwas im Nacken – Klara stützt seinen Kopf, damit er sich nicht verschluckt. Sie erzählt von San Damiano, was sie dort alles verbessert habe, die Verteilung der Arbeiten, den Zugang zum Brunnen, das Refektorium, seine löchrige Decke, den Gemüsegarten, die Tränke für die Vögel. Franz kennt die Geschichten und hört dennoch zu, jeden Abend, bis er in der Stunde vor einem Gewitter, die Luft kaum erträglich, ein dampfender Schwamm, auf einmal selbst etwas erzählt, so leise, daß Klara sich über ihn beugt. Die Schlacht auf den Tibersandbänken: Der andere, der ich war, hat dort getötet, flüstert er. Sein Schwert stach in Hälse und trennte Glieder ab, es war voller Blut, bevor ihn ein Haken traf. Und nach der Schlacht das Jahr in den Kerkern Perugias, an die Freunde gekettet, Leib an Leib, dort hat der andere, der ich war, im Bitteren das Süße erlebt, den Freund im Arm gehalten, wenn nachts mit der Kälte die Mäuse kamen. Überall Rascheln und Knistern und bald ein leises Klirren der Ketten, und statt Schlaf war da Stöhnen und Weinen, gegen das einzig mein Halten half – wozu sind unsere Hände da? Nur um ein Feld zu bestellen und den, der es verwüsten will, zu töten? Und wozu unser Mund, nur um zu beten oder zu essen? Ich habe auch anderes getan. Wenn der Sommer vorbei ist, sollen mich die Brüder nach Hause bringen. Man soll auf der Portiuncula, meinem liebsten Stück Erde, einen Ort vorbereiten, daß ich dort noch Briefe diktieren kann, ehe Bruder Tod meine Hand nimmt. Alles muß gerichtet sein und alles in Fußnähe zu meiner Trösterin: Ich kann sie rufen, wie ich sie hier rufe, und sie kommt – auch wenn es noch eine andere gibt, die mich trösten soll, mit einer Honigspeise, die sie mir oft bereitet hat. Und meine Schwester, wird sie dennoch kommen, wenn ich rufe? Franz reißt die Augen auf, er will etwas sehen und wendet sich Klara zu, nie zuvor hat er ihren Blick so gesucht, und sie streift sich die Haube zurück, die Hände eilen ihr davon, eine Bewegung im Halbdunkel, als erste Windstöße über die Hütte gehen. Ja, deine Schwester wird kommen, wenn du sie rufst. Sie legt es nicht auf die Waage, wenn einer im Fieber spricht! Klara hebt die Stimme, weil schon ein Blitz den Himmel teilt, sein Schein dringt bis in die Hütte, beide sehen einen Herzschlag den anderen.
Vila nahm ihre Brille ab – schmale Gläser, schwarzer Rahmen, dünn, aber nicht aus Metall –, eine Brille nur für den Bildschirm, die sie erst seit einigen Tagen hatte, und jeder, der in ihr Büro kam, sie zum ersten Mal damit sah, machte ein Kompliment, wie scharf oder schick die Brille sei. Aber ihre Brille war gar nichts, höchstens gut angepasst für den Schirm, und alles andere, das war sie, aber das sagte keiner. Sie druckte die Bühlseiten aus und bekam schon die nächste Mail, jetzt die neue Arbeit betreffend; erst gestern hatte sie den Mailänder Journalisten Flaiano angeschrieben, für viele der unerschrockenste Italiener mit seinen Artikeln über den Fußball, die Mafia und das private Fernsehen einschließlich Berlusconi und Co., eine Generalabrechnung mit dem italienischen Männerfreundesystem, und seine Antwort war ein erster Erfolg, er war bereit, in die geplante Sendung zu kommen, und wollte auch seinerseits vorher ein Treffen, Ende April oder Anfang Mai, davon hing die Zusage ab – Cordiali saluti, Michele Flaiano. Also ein, zwei Tage Mailand, und das hieß auch, ein, zwei Nächte, ihr geheimer Erfolg.
Sie setzte die Brille noch einmal auf und schrieb dem Mutigen gleich zurück, dann schob sie ihn ganz oben auf die Kandidatenliste. An zweiter Stelle stand ein Sexualstraftäter, auf Druck des Europäischen Gerichtshofs aus der Sicherheitsverwahrung entlassen, er wurde rund um die Uhr bewacht und durfte sich keiner Frau nähern, höchstens eine Frau sich ihm, sie nämlich für das Vorgespräch – ein Mann aus der Nähe von Kassel, in jedem Fall kostengünstiger als der Journalist aus Mailand, da hieß es, Argumente finden. Sie nahm endgültig die neue Brille ab für diesen Bürotag, steckte Bühls Seiten ein und fuhr nach Hause; Renz war in Köln, es ging um die Seearztserie: wie dumm das Ganze sein musste und wie witzig oder gescheit es allenfalls sein durfte. Armer Renz. Aber das war nur ein Sekundengedanke. Eigentlich arme Vila.
Die große Wohnung, die zu vielen Räume, die Stille selbst in der Küche, weil Elfi und Lutz im Skiurlaub waren, nicht in ihrer Küche umhergingen wie sonst. Sie machte sich etwas zu essen, Tortellini in Sahne – das Gericht, mit dem sie Katrin ernährt hatte, bis die sich selbst ernährte, Katrin, die seit kurzem in Brasilien war, vom Amazonasdelta skypend in Erscheinung trat, selbst schon irgendwie indianisch –, einen Teller voll Tortellini wie ein Breichen für Erwachsene, dazu noch einen geschenkten Wein, Nackenheimer Riesling, alles andere als ihre Sorte, aber sie trank ihn zum Essen und trank ihn noch, als sie später mit ihrem Notebook im Bett saß, bei einer alten Abba-Platte gegen die Stille. Sie hatte das Gardesana am Hafen von Torri auf dem Schirm und sah nach, ob im Sommer noch ein bestimmtes Zimmer frei war, das Eckbalkonzimmer, das André Gide bewohnt hatte und das Bühl ja schon kannte, und es war noch frei, bis auf einige Tage den ganzen Juli und August, erst im September war es durchgängig belegt, und sie mailte ihm, dass es die Möglichkeit gebe, sich im Sommer öfter zu sehen, in dem Eckbalkonzimmer am Hafen, nur sollte man es gleich reservieren, am besten noch heute, und Unterried: muss da nicht auch reserviert werden? Wir haben schon Februar, und zwei Wochen Vorlauf müssen sein – tut mir leid, so viel Vernunft, dafür liegen deine Seiten auf meinem Nachttisch, Franz und Klara: Ich glaube, sie liebt ihn! Eine Mail, die sich wie von selbst schrieb, in der Art, wie sie sich manchmal vertippte und etwas ganz Neues herauskam, ein noch nie da gewesenes Wort, und bei dem Mausklick auf Senden konnte sie kaum die Hand ruhig halten. Blieb noch, ihr Gerät zu schließen, es wegzulegen, auf die Seiten über das längst tote Paar, und das Licht auszumachen; im Zimmer war die Heizung abgestellt, aber ihre Decke war dick, und sie zog den Schlafanzug aus und lag eine Weile nur auf dem Bauch, mit Wange in der Ellbogenmulde, ein Nacktsein wie eine Wunde, die versorgt werden will, untersucht, gereinigt, verbunden – war sie krank, neben der Spur, von allen guten Geistern verlassen oder nur von denen, die Elfi und Heide, Anne oder Marion Engler schützten? Sie suchte ihr Zeug im Bett, das Oberteil mit dem kleinen Ausschnitt, die Hose mit Kordel am Bund, sie zog es wieder an und drehte sich zur Seite, nur schwach geschützt von der Baumwollhaut, den Rest übernahmen die Stoffe, die auch Schmerzen erträglicher machen oder den Schlaf schicken. Und am anderen Morgen Bühls Antwort, wie eine Reaktion auf ihr nächtliches Wundsein, die Heilung in Zahlen: von wann bis wann er in Torri gebucht hatte und wann in seinem Ort – das erste Märzwochenende ab Donnerstag, zur späten Fasnet in dem Jahr, ein Zimmer im Goldenen Adler.
WIE vergeht ein Monat, auch wenn es der kürzeste im Jahr ist, wie lässt sich Woche für Woche verstecken, dass man liebt, auf eine lachhaft bildliche Weise verrückt ist, viel mehr närrisch als bedenklich, wie ein Vorziehen der Narrenfasnet, die dem Warten ein Ende macht: keine konkreten Gedanken, nur eine gedankliche Verfassung, Vilas Allgemeinzustand.
Ihr einziger Halt, der Winterrhythmus, er setzte sich einfach fort, an einem Samstag kamen die Hollmanns, nach wie vor mit Blumen, dazu Heide und Jörg, damit es nicht nur um Ines Hollmanns Biennale-Eindrücke aus dem letzten Sommer ging, auch noch vor dem Hintergrund ihrer kindertherapeutischen Arbeit, und Heide und Jörg konnten mit Mallorcadingen dagegenhalten, die neuen Galerien in Palma, die Grundstückspreise in ihrem Tal; den Rest besorgten der Nachtisch, ihre Zabaione, und am Ende der Grappa. An einem anderen Wochenende dann die Englers, Marion wie immer auf ihrer, der Frauenseite, ohne dass sie irgendetwas angedeutet hätte, aber es schien ihr im Gesicht zu stehen, das Warten, wie bis vor kurzem die Anspannung vor einer Aufzeichnung, nur gab es da Helge, den Visagisten, auch der fehlte ihr. Später kamen noch Elfi und Lutz dazu, ein langer Abend, und als alle gegangen waren, eine feierliche Stille in der Wohnung, sie beide zu müde, um abzuräumen, sie blieben einfach am Esstisch sitzen, die Kissen auf den anderen Stühlen noch eingedrückt, vor den Fenstern zur Straße leichter Schneefall, kein Ausklingen, ein Beginn. Unser Grundstück, sagte Renz plötzlich, der Wert hat sich verdreifacht, ist dir das klar?
Ja, möglich, und? Sie stand nun doch auf, von einem Moment zum anderen todmüde; sie ging zum Bad, und er nannte noch eine Zahl, schwindelerregend, wenn man sich dieses Geld auf einem Tisch vorstellte, auch noch, wenn es nur die Hälfte wäre. Gute Nacht, ihr letztes Wort vor dem Schließen der Tür, der Schlüssel schon seit Jahren schwer zu drehen. Und im Bad leise Musik, ein Radio, das anging, wenn man Licht machte, noch von Katrin so eingerichtet und nie verändert. Sie wusch sich das Gesicht, immer wieder, bis alles Angestrengte offen lag, als hätte sie eine Maske abgenommen; dann Zähneputzen und die Nachtcreme und noch einmal der klemmende Schlüssel, der Schalterdruck für Licht und Radio, die Stille und ihr Bett – Anfang eines langen Sonntags, einer von Hunderten mit Renz: auch schwindelerregend, der Gedanke, dass es so weiterginge, ein Rhythmus bis zum Gehtnichtmehr. Sie wollte nie alt werden, letztlich unsichtbar, kaum mehr als ein Schemen.
Als sie die Tipps noch machte, war der Februar ihre Zeit, sie reiste viel und sah sich Leute an, Berlin, Hamburg, Leipzig, Köln, fast jeden zweiten Tag gab es Aufnahmen, ihr Visagist: der beste Beschützer in diesen Wochen, überhaupt einer der besten, den sie je hatte. Und wann immer Helge im Sender war, sah er bei ihr vorbei und erzählte, wie es jetzt lief mit den Tipps, die einzelnen Beiträge kaum noch über zwei Minuten, die Yilmaz keuche förmlich durch die Sendung, seine Tätigkeit oft nur noch das Abtupfen von zu viel glänzender Stirn. Helge brachte jedes Mal etwas zu trinken mit, Prosecco in einer Kühlkanne oder zwei Averna in Espressoplastikbechern, und er sah sich ihre Kandidaten für das neue Talkformat an, die sie inzwischen steckbriefartig an der Wand hatte, ein Dutzend schon, was aus dem Wartezimmerbüro auch eine Kommissariatskulisse machte, nicht sehr viel besser, aber hilfreich, wenn Besuch kam, einmal sogar Wilfinger: der für seine Pilotsendung ganz auf den entlassenen Sexualtäter setzte, während Helge die Kandidaten eher danach durchging, wer ihm gefallen könnte. Irgendwie war er stets im Zustand des Liebeskummers, eines nahenden oder sich legenden, er war sozusagen nie auf der Höhe der Liebe, und sie war in diesen Helgestunden, die ihr den Februar verkürzten, von Mal zu Mal mehr versucht, ihm von Bühl zu erzählen und am Ende auf die Krankheit anzustoßen, die auch ihn beutelte: ohne Liebe einzugehen und mit ihr verrückt zu werden. Aber sie sagte kein Wort, sie weinte nur einmal in Helges Gegenwart, das war schon Ende Februar, als Renz zum zweiten Mal in dem Monat in München war. Angeblich saßen er und seine Krebsproducerin am Exposé zu einer Missbrauchssache, und Renz erzählte auch von ersten Kontakten zu Bühls früherem Freund, und dass er von Marlies hatte hören müssen, sie sei mit ihm, Kilian-Siedenburg, verheiratet gewesen, für Renz wohl eher eine beruhigende Neuigkeit als eine Komplikation: da wäre noch jemand, der sich kümmern könnte, wenn es bei Marlies hart auf hart kommt. Renz und sein neuer Experte hatten sogar schon eine Verabredung, Anfang März in Berlin, Siedenburg war dort zum Runden Tisch in Sachen Missbrauch geladen, und Renz hatte ohnehin in Berlin zu tun, ein Treffen, das sie am liebsten torpediert hätte, wie jeden Faden von Renz zu Bühl, auch wenn der Zeitpunkt für sie ideal war, die Faschingstage, für Runde Tische offenbar kein Hindernis. Renz und Bühls früherer Freund in Berlin, sie und Bühl in Unterried – es war so perfekt und zugleich so ungut, dass sie plötzlich weinen musste, als Helge in ihrem Büro saß.
Er war diesmal nur auf einen Sprung gekommen und hatte gar nicht erst den langen Mantel ausgezogen und auch nicht eine Russenmütze – beides, Mantel und Mütze, gaben ihm etwas von einem sanften Anarchisten –, und er hatte, weil er zu einem Dreh unterwegs war, seinen Metallkoffer mit all den Stiften und feinen Pinseln, den zahllosen Tuben, Näpfchen und winzigen Schachteln mit Silberstaub und anderen Pigmenten dabei, mehr oder weniger seine bewegliche Habe, eine Art Zauberkiste, die wie ein Teil von Helge war und ihn Wunder vollbringen ließ: aus einem nach schlafloser Nacht zerdrückten Gesicht mit kleinen Augen, Furchen und Flecken wurde unter seinen Händen in Minuten das Gesicht, mit dem man sich selbst wieder mochte. Helge sah sie an, der Blick eines Freundes, er zog die Verschlüsse an seinem Koffer auf, Ich darf doch etwas tun für dich? Und dann stand er auch schon vor ihr, und sie ließ sich zurücksinken in ihrem Bürostuhl und schloss die Augen, wie in besten Zeiten der Mitternachtstipps, wenn Helge gar nichts vertuschen musste an ihr, sondern höchstens etwas hervorheben, das über Nacht oder die Tage, den Alltag mit Renz, abgesunken war. Kummer macht menschlich, sagte er, man gerät aus dem Konzept und blüht auf. Was ist passiert? Er cremte ihr die Wangen ein, nur mit zwei Fingerkuppen, und sie hörte sich schon sagen, was passiert war, aber es ging ihr gar nicht darum, einen Mitwisser zu haben; was sie eigentlich wollte, war ein Zeuge der Dinge mit Bühl, jemand, der ihr zurief: Es ist gut so! Ob er nicht weitermachen könnte, fragte sie, eine ganze Woche lang, bis zum dritten März. Geht das? Sie sah Helge an, und irgendwie schien es zu gehen: Ihr erschien es jedenfalls möglich, diese Woche in einer Art Betäubung hinter sich zu bringen, auch wenn Helge schon zu den Augen kam, weil seine Zeit knapp wurde. Mach sie wieder zu, sagte er, schlaf etwas. Ich befehle es dir.
Der Visagist als Hypnotiseur, und die Folge ein Halbdämmer oder Wachschlaf, in ihrem Büro, auf dem Heimweg, allein im Bad oder mit Renz beim Kochen, beim Essen, einmal sogar im Bett, zwei Taumelnde in der Horizontale, entblößt, stumm, ergeben; ein vom Ich entlasteter Zustand, endend in dem Augenblick, als sie in Unterried vor dem Goldenen Adler aus einem Taxi stieg – der erste milde Märztag, überall Schneereste, halbweiße Dächer, letzte Eiszapfen, ein Tropfen und Gurgeln – und Bühl aus dem alten Gasthof trat.
SIE hatte ihn größer in Erinnerung gehabt, größer und auch jungenhafter, vielleicht nach dem Abschied im Hauptbahnhof, sie von jeher klein bei Bahnhofsabschieden; sein Gesicht erschien ihr älter als in Frankfurt, weniger ein Alter der Jahre, der Falten und Lesebrillen, eher ein Alter, wie es manche, sie oder Renz, kaum je erreichen, das der Gewissheiten, der knappen Worte. Ich bin, wie ich bin, ertrage es oder geh.
Er kam auf sie zu und nahm ihr den Koffer ab, kein Fremder, aber einer, den sie verlegen auf den Mundwinkel küsste. Dann folgte sie ihm in den Gasthof, und dort war Ruhetag, er hatte die Schlüssel, ein Gang im Halbdunkel über Dielen und eine knarrende Treppe zum ersten Stock, vorbei an Urkunden von Brauereien und Gastwirteverband, lange vor ihrer Zeit, eine Männerwelt, ebenso das Zimmer, in das sie kam, die Decke niedrig, das Bett massiv, an der Wand gegenüber ein Flachbildfernseher, teils verhängt mit Bühls Kleidung; und auf einer Betthälfte seine Blätter, sein Notebook. Er war hier schon zu Hause, und sie ging ins Bad – der Drehriegel leicht klemmend, fast wie in der Schadowstraße, das Abschließen ein Reflex. Sie kam dagegen nicht an, so wenig wie gegen den Eindruck, dass der, dessen Zahnbürste schon im Bad lag, nicht ganz der war, den sie mit sich herumgetragen hatte, in Frankfurt, in Jamaika, im Flugzeug, im Zug, ja noch im Taxi von Freiburg nach Unterried; sie kam nur gegen ihr Haar an, das frisierte sie schnell, und gegen das Blasse der Lippen, die zog sie nach, Dinge, die sie schon mit sechzehn, siebzehn gemacht hatte, jetzt wieder mit demselben Bangen. Und natürlich hätte sie auch gleich duschen können, mit Renz das Normalste, mit Bühl nicht. Sie sah auf ihre kleine Reverso, die hatte sie dabei, nicht die Not-Swatch von Katrin, es war gleich sechs und wurde langsam dunkel, aber noch konnte man den Ort anschauen, sich dort orientieren. Laufen wir ein Stück, sagte sie beim Heraustreten aus dem Bad, und Bühl sagte etwas ganz anderes, Sören Kampe, der junge Veteran, ist tot. Ich habe unseren Havanna-Führer hier gestern getroffen, in seinem Ort, er hat es erzählt. Spiegelhalter wurde ausgewiesen, sein Gehilfe ebenfalls, nur wollte Kampe nicht weg von den Deutschkursmädchen, für die es keine Rolle spielt, ob er zwei Beine hat oder nur eins. Er hat sich aus dem Fenster gestürzt, gegenüber vom Plaza-Hotel. Was möchtest du sehen in Unterried? Es gibt ein ehemaliges Kloster, in dem Garten grasen jetzt Lamas.
Und diese zotteligen Tiere, die eigentlich in die Anden gehörten, waren hier noch fremder als sie: ihr erster Eindruck von dem Ort. Aber die Lamas im Klostergarten auch wie ein Teil der Fastnacht, eines abendlichen Treibens auf der Hauptstraße zwischen Schleckers Drogeriemarkt (früher Gasthof Fortuna) und dem Wirtshaus Zum Sternen. Ältere Jungs mit Stöcken, an denen Luftballons hingen, jagten dort Kinder und ließen die Ballons auf den Köpfen der Kleinen platzen, Eltern fotografierten das Spektakel, helles Blitzen, helles Geschrei: Fasnetauftakt, Donnerstagabend, die Luftballons noch zu Bühls Kindheit stinkende Schweinsblasen, Saublodere am Schmutzig Dunschtig, wie er ihr das auf einen Bierdeckel geschrieben hatte, als sie später im Sternen saßen, bei Wurstsalat mit Bibbeliskäs und Brägele oder Bratkartoffeln, der erste Abend von dreien und auf der Rückfahrt nach Frankfurt, Faschingssonntag, schon mit den zwei anderen verschwimmend.
Die Dinge waren an ihr vorbeigezogen, fast wie die ersten Wochen mit Renz, und doch zwischendurch ein paar überklare Momente, der erste schon, als sie im Dunkeln vom Sternen zum Goldenen Adler liefen. Bühl zeigte auf ein Bauernhaus am Hang, das Dach auf einer Seite tief heruntergezogen, ein Schwarzwaldhof, nur der Sockel aus Stein, alles übrige Holz, bilderbuchhaft wie das ganze Unterried, bis auf den Drogeriemarkt und eine Tankstelle mit kleiner Opel-Vertretung; und genau dort blieb er stehen, zeigte auf den Hof: einst der Hof von Alez Spiegelhalter, im Krieg gefallen, jetzt im Besitz eines Freiburger Orthopäden. Aber der Enkel, Karl Spiegelhalter, darf dort wohnen, sagte er und hielt sie dabei um die Hüfte, und sie sah in sein Gesicht statt zu dem Hof, ein Gesicht, das immer noch etwas Fremdes, Unleserliches hatte, mehr als in Frankfurt oder Assisi, vielleicht durch seine Art, die Worte und Namen der Gegend auszusprechen, Saublodere oder Alez Spiegelhalter, als hätte er ihn gekannt wie Sören Kampe, auch Opfer eines Krieges. Sein Tod war schrecklich, aber ging ihr nicht wirklich nah, wie auch; alles Nahe gehörte Bühl, trotzdem er im Weitergehen noch immer Dinge aus Unterried und seinem Dorf erzählte – die in allem anders waren als ihre Kindheitsdinge, grober, nackter, und sich doch mit ihnen trafen, zwei Vergangenheiten in einem Stück Gegenwart, als sie sich im Adler-Treppenhaus, neben der alten Brauereiehrenurkunde, plötzlich küssten. Und im Zimmer hatte sie dann an seine Brust getippt, einmal, zweimal, wie im Vorjahr bei der Botticelli-Ausstellung im Frankfurter Städel, als sie eine Sekunde allein war, an die Brust der Simonetta Vespucci. Und kurz darauf waren sie im Bett, ohne den Umweg ins Bad, Ich will dich jetzt, nicht in zehn Minuten, jetzt, so wie du bist: Worte wie eine Umarmung von hinten, noch in ihr nachklingend auf der Zugfahrt, nur fing das Erzählen im Bett erst richtig an. Er hatte seine Hug Tulla besucht, den Notar aus Freiburg gleich mitgebracht, war mit ihr eine Patientenverfügung durchgegangen: nicht das Heim, sondern er hätte jetzt das letzte Wort, wenn es mit ihr zu Ende ginge, sie wollte keinerlei Lebensverlängerung. Tulla will eingehen wie eine Blume ohne Wasser, sagte er. Und sie will dich sehen, ich habe ihr erzählt von dir, wir machen eine Autofahrt, bist du dabei? Er streichelte ihr Haar, und natürlich war sie dabei, wollte aber wissen, was er von ihr erzählt hat. Und er, fast empört: Was wohl? Die Fakten. Sie heißt Vila, und sie kommt aus Frankfurt, und sie ist schön! Eine Art Jubelruf, als er auf ihr lag, abgestützt, der Körper leicht, nicht erdrückend, und alles Weitere so übermächtig, dass es den anderen, tatsächlich erdrückenden Teil ihres Lebens beiseiteschob, als existiere er gar nicht.
Schon auf der Hinfahrt hatte sie an diese blinden Minuten gedacht, und auf der Rückfahrt dachte sie wieder daran, allein in einem Abteil erster Klasse, nach Zahlung der Differenz zu ihrem Ticketpreis, eine Flucht vor Faschingsleuten im Großraumwagen. Jetzt hörte sie nur von weitem Gesang, das war auch in der Nacht so, irgendwer hatte auf der Straße gesungen, und Bühl stimmte sogar leise ein, Borstig, borstig, borstig ist die Sau, und wenn die Sau nicht borstig wär, dann gäb sie keine Würste her, und dabei schlief er mit ihr, das Ganze ein einziges Glück, Glück auch im Sinne von Zufall: zwei mit demselben Maß im Bett, am Ende ein Atmen wie aus einem Mund, nur ist Erfüllung Augenblickssache, wer an mehr glaubt, ans Paradies, glaubt auch an die Hölle. Tut sie aber nicht. Was da geschehen ist, war weder höllisch noch himmlisch, es war irdisch gut. Sie sah aus dem Fenster, die Gegend bei Offenburg, auf den Schwarzwaldhängen bleiche Schneereste. Ihre Hand hatte dann noch lange auf seinem erschöpften Teil gelegen, wie auf einem Tauschobjekt, gib es mir, damit ich weiß, was es will, du bekommst dafür meinen Schoß. Kein präziser Gedanke, nur ein präzises Gefühl. Und am anderen Tag der Besuch bei Tulla Maria Hug in einem Neubau am Ortsrand von Unterried, über dem Eingang ein Name, Haus Schauinsland. Bühls alte Kinderfrau hatte ihr als Begrüßung nur zugenickt, sie saß die ganze Zeit auf einem Plastikstuhl am einzigen Fenster ihres kammerartigen Zimmers, das Fenster mit Blick auf ein Energie sammelndes Scheunendach, bläulich spiegelnd: Wie das Meer, sagte sie, obwohl sie noch nie am Meer war. Sie trug Trainingshosen und eine weiße Strickjacke, das noch weißere Haar im Nacken geknotet, und ihr Gesicht, siamkatzenhaft, war so voller Fältchen, dass es schon etwas von einer Maske hatte, viel feiner als die Falten einer Holzmaske, die in ihrem Schoß lag, das handgeschnitzte Erbstück ihres Bruders aus seinen Jahren als Teufel in der Höllenzunft. Bühl gab ein paar Erklärungen dazu, er hielt Tullas Hände, und dann sprachen die beiden in ihrer Sprache, erst über die Autofahrt, wohin es morgen gehen sollte, dann über sie, die Frau aus Frankfurt. Ob das etwas Ernstes sei, so viel hatte sie heraushören können aus dem alemannischen Singsang der Hug Tulla – Ebbis Ernschtes, Bühl hatte ihr das später vorgesprochen –, und seine Antwort: Ja. Damit war sie akzeptiert, und Tulla erzählte ihr von der Fasnet, wie sie einmal war, von den Teufeln, die den Buben beim großen Umzug nachjagten, sie in Säcke steckten, und den Hexen, die mit Besen auf Mädchen losgingen. Sie sprach von den Geißleklöpfern, die mit ihren Peitschen lauter knallen konnten als ein Gewehr, vom Federhannes und dem Schellennarro mit seinen Glöckchen am Kittel, von Spättlesbrüdern, Judenfürzen und Flecklesgewändern und schließlich der Hexenverbrennung am Dienstagabend, wenn die Brigittehex, eine große Strohpuppe, in Flammen aufging und Hunderte schweigend zusahen, schon halb bei der Fastenzeit, die nun kam. Ein Erzählen, bis es später Nachmittag war, dann machte Tulla einen Punkt und stand auf. Sie legte die Holzmaske in den Zimmerschrank, auf einen Stapel Tischwäsche, und wandte sich dem Bett zu, ihre Art, den Besuch zu beenden; für Bühl nur noch ein Kuss auf die Stirn und für seine Begleitung ein nachgerufenes Wort, Häsch Glück mit däm – ein Wort, das sie im Zug wie Proviant mit sich führte –, und beim Verlassen des Heims ein weiterer klarer Moment: Sie hatte kein Glück, sie war im Glück, Vila im Glück, inmitten eines Strudels von Glück, das kleine Loch darin. Und später sind sie noch spazieren gegangen, im letzten Schnee auf kleinen Hängen über dem Ort, immerzu eingehakt, ja verklammert Arm in Arm, mal im Harsch, mal auf durchweichten Wiesen, ein Gehen ohne Worte, am Ende mit nassen Füßen. Und im Zimmer gleich die heiße Dusche, sie beide in einer winzigen Zelle im Dampf, kaum zu sehen, wer wo anfing, wer wo aufhörte, das mussten sie schon herausfinden, erst unter dem Strahl, dann beim Abtrocknen, dann im Bett, ein Tun mit der Neugier von Hunden, die einander umschleichen, beschnuppern, sich reiben und sekundenlang balgen, dann wieder Abstand nehmen, sich nur ansehen, und auf einmal bespringen, sich kugeln, ein Knäuel, bis einer die Kehle zeigt, wenn du es tun willst, dann tu es: eine Wendung aus dem Nichts, sie auf dem Bauch, er mit dem Mund an ihrem Nacken, und mit einem Mal – ein Moment dunkler Klarheit, wenn es den gibt – hatte sie ein Bein angewinkelt, Teile der Decke unter ihren Bauch geschoben, sich ihm geöffnet, dass er alles hätte haben können, auch ihren Schmerz, ihre Scham, aber es war zu viel für ihn, oder er war weniger als er selbst in dem Punkt, ein Opfer. Nur sie wollte das in dem Augenblick, alles auf einmal haben, verschmelzen, wo sonst Männer mit ihresgleichen ein Ganzes werden, sie wollte ihre letzte Unschuld verlieren, und er konnte nicht der sein, der ihr von hinten ins Ohr sagt, es wird wehtun, aber nur für einen Moment.
Der Zug hielt in Karlsruhe, eine Frau kam ins Abteil, etwa ihr Alter, beiger Mantel, graues Haar, schmale Brille, sie hatte ein Notebook dabei und fing sofort an zu arbeiten, ihr Mund machte winzige Bewegungen, ein hübscher Mund, wie in Schach gehalten von dem Haar, dem Mantel, der Art, sich ihr Gerät vorzunehmen. Bühl hatte sie dann geküsst, wie es nur einer kann, der keine Angst vor Wunden hat, vor Blut, Innereien, Organen, und auch keine Angst vor engen geschlossenen Räumen, ein anderes, erlösendes Verschmelzen, unendlich weit weg von ihrem Frankfurter Leben. Und schließlich kam er in ihr, ein Glück wie mit Händen zu greifen: nein, sie hatte es mit Händen gegriffen, seinen nassen heißen Kopf gehalten. Und jetzt? Erst nach Minuten – ihr Atem hatte sich beruhigt, und aus der Wirtstube ein Sprechgesang, Narri narro – kam diese Frage, und sie sah in sein nahes Gesicht. Jetzt? Jetzt gehen wir dort unten etwas essen, sagte sie. Alles, was wir wollen! Nur leichter gesagt als getan, jedes Gericht auf der Karte klang gut, sie nahm einen Zwiebelrostbraten, den sie zu Hause nicht anrühren würde, er bestellte sich Zander, vorher gab es Salat mit Speck, dazu Wasser und Grauburgunder. Und die Wirtsstube, eine wahrliche Stube, kaum größer als der untere Wohnraum im Haus, und zwischen einem Kachelofen und dem kupferbeschlagenen Tresen eine Ecke mit rundem Tisch, der Herrgottswinkel, wenn man das Kruzifix im Eck ernst nahm, an dem Abend auch Platz der Singenden. Feuerwehrleute, erklärte der Wirt, die halbe freiwillige Feuerwehr von Unterried. Ein Vorfeiern, damit sie am Sonntag, wenn die andere Hälfte an die Reihe käme, nüchtern wären. Sechs Mann saßen um den Tisch, die älteren mit echten Bärten, die jungen mit aufgemalten, einer kam sogar herüber und stieß mit ihr an, Bierglas mit Weinglas. Später kommt noch jemand, hatte Bühl nach dem ersten Schluck gesagt, ein kurzer Schrecken, sie wollte ihn mit keinem mehr teilen, letztlich teilte sie ihn schon mit Renz, mit Katrin, ihrer Arbeit, seiner Arbeit: mit Franz von Assisi und Klara teilte sie ihn, und nun auch noch mit Spiegelhalter. Aber der war dann nach ein paar Gläsern mit den Feuerwehrleuten weitergezogen, er kannte sie alle, die älteren noch aus der Schule, für ihn der Halt in Unterried, einen anderen hatte er nicht mehr. Sein Institut war erledigt, ihm war nur der schweißsaure Anzug aus dem Café Francesa geblieben; vier Flaschen Matusalem und ein Kistchen mit Cohibas hatte noch der kubanische Zoll eingesackt. Warum erledigt, fragte sie, und die Antwort kam erst, nachdem Spiegelhalter mit Kirschwasser auf Hauptmann Kampe hatte anstoßen lassen, Viva el Capitán!, eine Antwort schon im Aufbrechen und doch eine Art Vortrag, obwohl die Dinge im Kern ganz einfach lagen. Das Institut war in seiner Person mit ausgewiesen worden, weil es nur als Idee existierte, entstanden an dem Tag, als ein deutscher Nobelpreisträger in Havanna auf Spiegelhalters Bitte die Institutsgründung in einem Interview mit dem seriösesten heimischen Fernsehsender bekannt gab, seitdem flossen Mitgliedsbeiträge. El Instituto Fichte, rief Spiegelhalter noch, verabschiedet sich jetzt, helau! Und damit verschwand er im Kreis der halben freiwilligen Feuerwehr von Unterried, die keine Idee war, weil vor dem Adler ein roter Spritzenwagen stand, den hatte sie mit Bühl bestaunt, als sie nach dem Essen noch an die Luft gingen, sie an seiner Schulter hing und sich stützen ließ nach Wein, Bier und Kirsch. Bring mich ins Bett, hatte sie an dem früheren Klostergarten mit den eng an eng schlafenden Lamas gesagt, Bring mich ins Bett, auch ein Proviantwort.
Der Zug hielt in Mannheim, die Frau mit dem sinnlos hübschen Mund, wie isoliert durch alles Übrige, verließ das Abteil, Guten Tag, sagte sie, ihre ganze Rede, nicht zu beantworten, auch nicht durch absurdes Winken, als sie neben ihrem Fenster noch einmal auftauchte. Dann fuhr der Zug auch schon weiter, und sie hatte das Abteil wieder für sich und könnte ungestört mit Bühl telefonieren, nur war es dafür zu früh, keine drei Stunden nach dem Abschied; außerdem war er noch einmal in dem Heim, das hatte er so geplant, morgen wollte er zurückfahren, an den See, in ihr Haus. Also hörte sie nur die Mailbox ab, mit einer Nachricht von Renz, Renz in Berlin, um Kilian-Siedenburg zu treffen, sich vom Runden Missbrauchstisch erzählen zu lassen. Ob sie sich gut erholt habe im Schwarzwald, nichts als diese arglose Ehemannfrage.
Nein, hatte sie nicht. Lieben ist Schwerarbeit, sie war fertig nach drei Nächten fast ohne Schlaf, nur Wächterin eines anderen Schlafs, Bühl hatte neben ihr geatmet, in der zweiten Nacht so flach wie ein Kind. Und dazu noch der ständige Alarm einer Idee: den Rest ihres Lebens irgendwie mit ihm zu verbringen. Erst gegen Morgen ein ganz anderer Gedanke, neben einem Unbekannten zu liegen, aber auf seinen Mund zu warten, die vertrauten Hände, seine Stimme: die sie dann überrascht hatte, Schläft du nicht? Ein Flüstern, und gleich darauf seine Hand, er streichelte die Brüste, die Renz nur noch pro forma streichelte, nicht weil sie nicht mehr schön wären, weil er sie kannte, in- und auswendig, hatte er einmal gesagt. Er streichelte auch ihren Bauch und die weiche Seite der Schenkel, und sie fing morgens um fünf ein Gespräch an, Teil der Liebesschwerarbeit, sie wollte mehr über seinen ertrunkenen Lehrer wissen, ob der kein guter Schwimmer gewesen sei als Leiter der Ruder-AG. Und er darauf, sinngemäß: Sogar ein sehr guter, Heiding hat mich zum Schwimmen gebracht. Erst zum Schwimmen, dann zum Rudern, bis ich ein noch besserer Schwimmer und Ruderer wurde. Ich hatte mehr Kraft im Wasser, er mehr an Land. Aber an Land war es keine Frage der Kraft, er hatte dort mehr Willen. Und mitten auf dem See fehlte ihm der Wille, darum ist er ertrunken. Wollen wir nicht schlafen, bist du nicht müde? Er strich ihr das Haar in die Stirn, wie einen Vorhang über die Augen, aber sie wollte wach bleiben, keine Zeit an seiner Seite vergeuden bis zur Abfahrt am Sonntag, damit sie noch eine Puffernacht hätte, ehe Renz aus Berlin zurückkam. Ja, schlafen wir, sagte sie, auch pro forma, um dann ihr Gesicht an seins zu legen, in einer Art heiligem Ernst, wie bei den Liebenden von Pompeji, die im Augenblick der Katastrophe für immer eins wurden, eine gemeinsame Leerstelle im Vulkangestein: ihr dritter klarer Moment, fast schon ein Morgentraum.
Bis zum Mittag hatte Bühl dann geschlafen, geweckt vom Licht im Zimmer, ein sonniger Märztag, gut für die Fahrt mit Tulla, und keine Stunde später saß man in dem Mietwagen, sie hinten, er und seine alte Kinderfrau vorn, Tulla auf dem weißen Haar ein rotes Spitzhütchen, ihre Bedingung an dem Sonntag der Umzüge in allen Orten ringsherum. Und Tullas Wunschroute führte über das Höllental nach Titisee, von dort über Bärental bis zum Feldberg und weiter über Notschrei zum Schauinsland und wieder talwärts nach Unterried – sie hatte sich das notiert. Es gab wenig Verkehr, die Leute waren bei den Umzügen, und zum Feldberg hin gehörte die Straße ihnen. Die letzte Strecke meiner Eltern, hatte Bühl auf einmal gesagt. Auch so ein sonniger Tag, auch so frisch, und trotzdem fahren sie offen in ihrem neuen 6er-Cabrio, das muss sein. Rupert und Rita Bühl lassen es krachen auf einem freien Stück hinter dem Feldberg, vor einer Kurve überholt mein Vater noch einen Laster, und in der Kurve plötzlich ein Stauende. Er kann noch knapp bremsen und schleudert nicht, das ABS funktioniert, nur der mit Schweinen beladene Lastzug schafft es nicht mehr, er prallt auf das Cabrio, Karosserie und Insassen werden wie eins, auf der Straße tote und schreiende Schweine. Und nur wenige Stunden danach schon zwei Polizeibeamte, Mann und Frau, an meiner Frankfurter Wohnungstür, beide vorbereitet auf solche Aufgaben, die Kollegin sagt die entscheidenden Worte. Zehn Tage später die Beerdigung, drei Monate später der geregelte Nachlass, ich bekam einen Böcklin und etwas Schmuck, Haus und Bargeld gingen in eine Steuernachzahlung. Wollen wir uns etwas bewegen? Er hatte vor einer Biegung mit kleinem Parkplatz gehalten, und sie waren ein Stück zwischen Wald und Straße gegangen, Tulla in der Mitte, gestützt. Es war in dieser Kurve, sagte er. Das Grab liegt an der falschen Stelle. Und wo willst du einmal liegen? Eine leise Frage an die alte Kinderfrau, und sie hatte ihm etwas zugemurmelt, nicht zu verstehen, nur das Ja, das von ihm kam, ein Ja wie das gültige vor einem Altar, das sie nie bekommen hatte, vielleicht weil ihr der Mut fehlte, es selbst auszusprechen. Ja, ich will dein sein. Und die Weiterfahrt dann mit Musik, um die Stimmung zu heben, Tulla hatte eine CD mit deutschen Schlagern aus dem Aufenthaltsraum eingesteckt, also hörten sie Marmor, Stein und Eisen bricht und Schöner fremder Mann oder Ganz in Weiß mit Roy Black und Der Junge mit der Mundharmonika und zuletzt die Polonaise Blankenese, da sangen sie mit, so ging es die Schauinslandserpentinen hinunter, und als sie vor dem Altenneubau, auch ganz in Weiß, aus dem Wagen stiegen, wäre Tulla fast umgekippt; sie führten sie auf das Zimmer und brachten sie ins Bett, Bühl flößte ihr etwas zu trinken ein, Schluck für Schluck, und massierte ihre Füße nach den ungewohnt vielen Schritten; am Schluss noch ein Geflüster mit ihr, da hatte sie sich schon verabschiedet, stand in der Tür, in ihrem Rücken der Mann, den sie wollte. Es war das einfachste aller Gefühle, mitgenommen in den Abend, in einen Gasthof Zum Hirschen, wo es am Fasnachtssamstag eine Disco gab. Und nach dem Essen – sie hatte nur noch eine Flädlesuppe geschafft – tanzten sie sogar zur einzigen Nummer, die es erlaubte, Hände um einen Nacken zu legen. Kristian Bühl hatte nie eine Tanzschule besucht, aber verstand ihre Schritte und ließ sich führen, durch die ganze discoflimmrige Wirtsstube, vorbei an den Feuerwehrleuten, die hier weiterfeierten, jetzt mit Frauen, und am Ende auch noch auf der Straße: ein wiegender Gang durch den Ort, vierbeinig, Kopf an Kopf, jeder eine Hand auf dem Hintern des anderen. Ich liebe es, hatte Bühl im Lichtschein der Tankstelle gesagt, wie ein kleines grammatisches Bereinigen, das aus ihm sprach, und von ihr die ganze Nacht keine Frage dazu, nur eine einzige lange Umarmung, um ihn spüren zu lassen, was er liebte, oder lieben zu lassen, was er spürte – kaum zu entscheiden in der Erinnerung. Und der Sonntag dann schon kein Tag mehr, nur noch die Zeit vor der Abfahrt, sie wollte nicht, dass er sie zum Bahnhof bringt, sie ließ ein Taxi kommen und gab ihm vor dem Einsteigen nicht mehr als die Hand. Ob im Haus noch etwas zu beachten sei, sein letztes Wort, und von ihr gerade noch ein Kopfschütteln, dabei schon halbes Wegsehen, Fahren wir los! Der Appell an eine Frau (die junge Frau Wunderle vom Taxidienst Wunderle in Zartenbach), eine, die gleich sah, wie es um ihren weiblichen Fahrgast stand, und das Tätärätää im Radio ausmachte.
Eben noch Unterried, jetzt schon die Einfahrt in Frankfurt, es regnete, auf dem Gleisgewirr ein beruhigender Glanz. Sie ging mit ihrem Koffer durch den fast leeren Zug, bis er ruckend anhielt. Auf dem Bahnsteig ein Grüppchen mit Pappnasen und Alkopops, Typen, die hinter ihr herpfiffen, sie in der Halle einholten, und sie nahm einen Umweg zu den Taxis, vorbei an den Schließfächern; die meisten standen weit auf, kein schlechter Ort, um ein Übergepäck an Liebe zu deponieren.
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