XX
DIE Gnadentage am See, schwebende Sommerzugabe. Bis in den Mittag glitzernder Dunst, dann der Wechsel von Weiß zu Blau auf ganzer Breite, das Wasser erst zittrig, später glatt. Und jeden Abend ein Bangen, ob es auch morgen noch so wäre (siehe Tagebücher Gide, September achtundvierzig).
Vila und Renz ertrugen nur einen dieser Tage, dann ging es in dem übergroßen Wagen auf ihre kleine Reise; Katrin wollte so lange im Haus bleiben, sich mit den Kamayurá beschäftigen, ihr erster Forschungsbericht. Renz hatte sie noch vergattert: Nichts zu Vila über mein nächtliches Herumsuchen, die Waffe findet sich schon! Aber so leicht nahm er es dann doch nicht, vor der Abfahrt war eine Mail an den Mieter gegangen. Frage: Wissen Sie etwas von dem Gegenstand, den ich am Telefon erwähnt hatte, als Sie nachts in Assisi anriefen? Er liegt nicht mehr hinter den Büchern neben dem Kamin, er ist weg. Und wo stecken Sie? Wollen Sie das Haus wieder für den Winter? Wir würden uns freuen. Vila und ich fahren für eine Woche nach Sizilien, auf dem Rückweg holen wir unsere Tochter ab, dann könnten Sie einziehen. Und was macht der gute Franziskus? Sollte Ihr Buch Erfolg haben, kommt das Fernsehen von allein. Also schenken Sie sich nichts. Und schauen Sie, dass Sie an den See kommen, das sind jetzt die besten Tage. Ihr Renz.
Aber das musste man Bühl nicht sagen, das sah er selbst; er war mit dem Bus von Torri nach Magugnano gefahren und hatte im kleinen Hotel Brenzone das seenahste Balkonzimmer mit Blick zu einer Felswand auf der anderen Seite, auf ihrem Grat ein Kloster. Und weiter südlich oder linker Hand ein Blick bis nach Gargnano mit der schlösschenartigen Villa Feltrinelli, durch sein Fernglas gut zu sehen, wenn sich der Dunst gehoben hatte. Das Zimmer war einfach, aber mit schnellem Internet; nach der gestrigen Ankunft gleich die Mail von der vermissten Waffe – eine dumme Sache, so dumm wie die Waffe selbst oder alle Worte rund um eine vermisste Waffe, einschließlich der, dass es von vornherein sein Plan war, bei dem Treffen mit Cornelius in der Kapelle von Campo die Waffe zu holen, um sie wieder ins Haus zu legen, ohne die kaputten Patronen. Der Gegenstand wird wieder auftauchen, hatte er Renz geantwortet, der Wintermieter eher nicht. Und Sizilien: beneidenswert! Danach noch eine Mail an Kilian-Siedenburg, darin nur genauste Koordinaten der Kapelle nach Google Earth samt einem Zeitvorschlag. Und die Bestätigung ebenso knapp, ein einziges Wort, Venibo, genaues Latein, er werde kommen.
Ichliebedich waren dagegen flüchtige Angaben, Koordinaten nur für den Moment, die verschwindende Dauer, die es braucht, um drei Wörter wie ein einziges auszusprechen, ein Punkt ohne Umgebung, keine Kapelle, kein Ort, kein anderswo, kein weiterer Sinn, ichliebedich, Amen – Gedanken beim Schwimmen, immer schon das klärendste Element, Wasser, und die Anstrengungen, es zu teilen, sich darin fortzubewegen, nicht unterzugehen. Bühl schwamm gegen Mittag, das Wasser kühler als vor Torri, schon das des nördlichen Sees mit seinen Bergen über beiden Ufern; der ganze Tag gehörte ihm noch, das Wiedersehen mit Cornelius erst morgen. Er schwamm weit hinaus, bis in der klaren Luft am Nordende des Sees ein Kirchturm von Riva auftauchte, halb über der Wasserlinie: Beweis für das Rund der Erde, der größte Teil der Kugel vor ihm, wenn er am Ende wieder auf Vila stoßen wollte. Das kühle Wasser nimmt den Gedanken die Stumpfheit, es macht sie scharf, ein Wasser wie das bei Aarlingen, wenn sie im September zum letzten Mal geschwommen sind, Seite an Seite bis zur Mitte des Seearms, wo das eigene Land endet und ein anderes anfängt, und hinterher an ihren geheimen Platz gehen, in eine Sonne, die kaum noch die Kraft hat, sie zu trocknen. Also reiben sie sich trocken, mit ihren Hemden und dünnen Internatshandtüchern, um danach für eine Arbeit zu lernen – Stochastik, unvergesslich, da hat ihm der Freund geholfen, schon immer in Zahlen zu Hause, und er hat dafür den Catull erklärt, Quaeris, quot mihi basiationes tuae, Lesbia, sint satis superque? Wie viele Küsse es braucht, so fragst du, Lesbia, dass sie mein Verlangen stillen? Und auf einmal sein Mund auf dem des Freundes, ganz leicht, nur ein Kosten, und auch umgekehrt kaum mehr, höchstens so viel mehr, dass er selbst noch etwas mehr davon wollte, oder die Lippenpaare, vom langen Schwimmen noch geriffelt wie die Fingerkuppen, ihrer eigenen Wege gehen, als sei ihnen alles Heikle übertragen worden – auf Cornelius’ Seite eine ungewohnte Passivität, keinerlei Mittun, aber auch kein Nein. Erste Küsse sind Geburten ohne fremde Hilfe, man bringt einander auf die Welt und weiß nicht einmal, auf welche. Und anschließend kein Wort, sie haben nur eine geraucht und sind zurück ins Heim gegangen, in ihr Zimmer, und haben Musik gehört, immer wieder Smoke on the water, die Lieblingsnummer von Cornelius, über seinem Klappbett ein Deep-Purple-Plakat. Und beim Musikhören an diesem Sonntag, vor sich eine Woche mit Mathe- und Lateinarbeit, glauben sie etwas von der Welt, auf die sie sich gegenseitig geholt haben, zu spüren: Das sind sie, die Akkorde, die durch Mark und Bein gehen. Und am Ende tanzen sie im Zimmer, verrückter als an jedem Tanzabend im Hesse-Saal, sie sind einander die besseren Mädchen, witziger und ohne Blicke für andere Jungs, und zuletzt geht jeder in sein Bett und hilft sich sonst wie in den Schlaf, er mit großartigen Bildern, gefeiertster Schwimmer bei Olympischen Spielen, ein amphibischer Ritter mit kurzem Haar. Der Raddampfer Italia fuhr fast in Rufweite vorbei, er gab sogar warnende Hornsignale, sein Kielwasser wie glattgestrichen, das pure Vergnügen, darin umzukehren.
Und später im Zimmer eine gute Erschöpfung, das Denken noch beschleunigt, als würde er weiterschwimmen und nicht am Balkontisch sitzen, vor sich weißes Papier, so blendend in der Nachmittagssonne, dass er sich die Hand über die Augen hielt wie Franz auf seinen Wegen, in der anderen Hand einen Kugelschreiber aus dem Goldenen Adler in Unterried – nein, er schenkte sich nichts. Die Geschichte von Franz und Klara, vorletzter Akt. Ein Tag im umbrischen Juni, in den Ölbäumen die Hysterie der Zikaden, an- und abschwellend mit jähen Pausen, in der Stille nur noch Franz’ und Klaras Atem, er mit Blättern auf den Augen gegen die Sonne, Klara hat ihren Arm angeboten, aber er will den Arm nicht. Wie lange kennen wir einander? Sätze, die er in einem Zug schrieb, wie ein Tauchen; das Luftholen ein Espresso, danach eine ganze Passage, die schickte er an Vila, da war es schon Abend, Zeit für das Lokal, in das sie ihn geführt hatte. Der Wirt erkannte den Gast wieder, er schlug einen Rombo vor, den Schattenfisch. Nach dem Essen dann erneut der Balkon, wieder in Gesellschaft des alten Paars, angekommen in der Hütte, sie aber auf dem Weg zu einem Bach, Wasser zu holen, er allein, Laub auf den wehen Augen, darunter die Erinnerungen, eine vor allem, zäh wie das Blut um seine Pupillen. Er und Klara am Mincio, ein noch warmer Herbsttag. Franz meint ihre Stimme von damals zu hören, seine eigenen Worte, Eile in schnellem Lauf, mit leichtem Schritt, freudig munter den Weg der Seligkeit hinauf! Die liebste Schwester, sie ist bei ihm, auch wenn sie weg ist, ein Schemen zum Anfassen, er spricht leise ihren Namen aus, Chiara, wieder und wieder. Die Sprache ist eine Haut, und er reibt sich mit seinem Geflüster an ihr; bis zur Seligkeit das Flüstern ihres schönen Namens.
VILA – noch erschlagen von einer Nachtfahrt, aber wie durch Gebrüll auf die Beine gebracht von Musik aus einem CD-Player, Vivo e vivo, als wollte man ihr auf die Sprünge helfen, jawohl, ich lebe – ärgerte sich, wie teuer es war, in einem Betonhotel mit getönten Scheiben eine Mail auszudrucken, ein Ärger an der Rezeption, wo neben Ferrari-Modellen die Musik lief, schon vormittags mit Vivo e vivo, während sie Mühe hatte, das Geld abzuzählen. Ihre Augen brannten, auch wenn nur Renz am Steuer war, fast ohne Pause bis zur Fähre nach Sizilien, aber kurz nach dem Übersetzen hatte er am erstbesten Hotel gehalten, bei Spadafora, einem Nullort zwischen grauem Strand und der Autobahn, und nun hatten sie dort für eine Nacht ein Doppelzimmer mit quadratischem Fenster und gelblichem Vorhang. Renz war dann gleich ins Bett gegangen, sie noch in ihre Mails, in die man ja auch ging, und eine wollte sie schwarz auf weiß, zwei Blatt, und dafür vier Euro: der schon teure Anfang einer Woche, die erst noch richtig teuer würde, weil sie von unterwegs im schönsten Hotel Palermos einen Deluxe Room gebucht hatten, eine Idee aus Renz’ Größenwahn in dem Jaguar und ihrem Gefühl von Verlassenheit, nur beim Öffnen der einen Mail für Augenblicke verflogen.
Sie nahm den Ausdruck, der auch noch blass war, und legte das Geld hin, mit Steuern sogar vier Euro achtzig, da war schon wieder ein Schein weg, und sie glaubte zu verarmen, als sie mit ihren Blättern auf die Straße vor dem Hotel trat. Eine Frau jenseits der einfachen, fließenden Jahre, zwar mit festem Vertrag, aber ohne einen Menschen, der sie festhielt, dazu mit schwankendem Gehalt; sie konnte nur noch Stunden abrechnen, Fahrten zu irgendwelchen Kandidaten, Dauer der Gespräche und das Erstellen einer Beurteilung, die dem Moderator schon alle Fragen nahelegte. Und Renz, der hatte jetzt neue Buy-out-Verträge statt Wiederholungshonorare, da kam gleich die Steuer, und die Villa Igiea in Palermo (Italien ohne Mangel an noblen Hotelvillen) war im September noch hochsaisonhaft teuer, aber es musste dieses Haus sein: Dort wird alles gut, hatte er schon vor Perugia gesagt, ohne zu wissen, was eigentlich schlecht war, und von ihr dazu kein Wort, als würde sie schlafen, Kaspers alte Hundedecke unter dem Kopf. Sie ging über den Parkplatz, in der Hand eine Stofftasche, bedruckt mit lauter Dingen, wie sie normalerweise in einer Tasche sind, Telefon, Schminkzeug, Geld, Schlüssel: das Geschenk der Wilfingers, mehr Gag als Design, nur geeignet für die zwei Blätter. Ein Pärchen kam ihr entgegen, noch keine dreißig, aber schon ältlich, müde; ein Hotel für Unbehauste, Monteure, Nordafrikaner, Liebende ohne Heim. Mit einem Arm über den Augen – sie hatte die Sonnenbrille im Zimmer vergessen – sah sie sich die Umgebung an, als müsste sie hier Urlaub machen. Das Hotel lag unterhalb eines kahlen, verbrannten Berges, schwarze Fenster zu schwarzem Gestrüpp. Hinter dem Parkplatz ein fast trockener Bachlauf, Müll zwischen milchigen Rinnsalen, und drei wie vergessene Häuser, im mittleren eine Caffè-Bar, ein paar Tische im Freien; das eine Haus daneben leer, die Fenster eingeschlagen, das andere eine Abend-Trattoria, Sette Bello stand an der Tür. Sie lief zu der Bar und setzte sich an den einzigen Schattentisch. Und dort las sie, was sie nur angefangen hatte, als Renz schon im Bett lag, die Geschichte eines alten Paars, Franz und Klara, Bruder und Schwester, die einander nur heimlich lieben dürfen, der letzte Satz wie unterstrichen, obwohl der Druck dort besonders schlecht war. Sie beide sind ein Kästlein, das besser zubleibt, Punkt und Ende, kein Gruß an sie, nichts. Eine Frau in kurzem Jeansrock brachte ihre Bestellung, Espresso, ein Wasser und Schinken-Käse-Toast. Renz und sie waren ein ganzer Container, von außen nicht zu öffnen, sie und Bühl das Kästlein, wenn überhaupt. Sie trank den Espresso mit kleinen Schlucken, sie aß den Toast, auch alle Krümel, es blieb nichts für die Spatzen.
Kristian Bühl. Sein Name, in die leere Tasse gesprochen: wie das Entlangschaben an der Hohlwegmauer, ein Schmerz, der guttat. Sie bestellte noch einen Espresso und nahm sich Teile einer Zeitung, die auf dem Nebentisch lagen, Gazzetta del Sud. Der Brückenbau nach Sizilien, im Gespräch jetzt eine Volksbefragung; vor Lampedusa war ein Flüchtlingsboot gekentert, kaum Überlebende. Und eine Meldung aus Mailand, die las sie Zeile für Zeile. Michele Flaiano, ihr Talkkandidat, auf den man geschossen hatte, war aus dem Koma erwacht. Er wurde nach dem Namen seiner Frau gefragt und konnte sich sofort erinnern. Monica, das erste Wort nach vielen Wochen im Dunkel, Halt und Licht. Ein Wind vom nahen Meer, salzig wie der Wind am Malecón, schlug die Zeitungsseiten um, und sie trank den zweiten Espresso. Als Mädchen hatte sie manchmal ganze Nachmittage nur mit einem Wort verbracht, Hingabe, Zungenkuss. Nassrasur. Oder einem Namen, Roxy, Mercedes, New York. Und Michele Flaiano, der hatte mit Monica überlebt, ein ganzes Koma lang – möglich, dass man damit aufhören kann, an das zu glauben, was man liebt; aber nicht einmal tiefste Bewusstlosigkeit schützt einen davor, weiter zu lieben, woran man glaubt.
Irgendwo hinter dem Parkplatz ein helles, erschöpftes Bellen, und sie ging zum Bezahlen in die Bar. Die Frau im kurzen Jeansrock hatte kein Wechselgeld oder wollte keins haben, sie hob in gespielter Verzweiflung die Arme, und Vila ließ fünfzehn Euro liegen und trat wieder ins Freie: noch immer das Bellen. Es kam aus dem Bachlauf, und sie zog ihre Schuhe aus und lief auf einen der sandigen Streifen, bis sie etwas sah, klein und weißgrau. Zwischen Müll und Rinnsalen streunte ein Hund, deutlich zu sehen seine Rippen und eine Wunde im Fell, und auf einmal war er weg, irgendwo hinter dürrem Geäst, sie hörte ihn scharren, Canelino, wo bist du? Einmal, zweimal ihr Rufen, dann lockende Laute, Luftküsse, und schon tauchte er wieder auf, sprang von Stein zu Stein, in den Augen eine ängstliche Gier, und sie eilte ihm nach, weiter den Bachlauf hinunter, bis er stehen blieb, hechelnd, die Zunge halb aus dem Maul, ein wildes Tier, das keins sein wollte. Und jetzt? Sie beugte sich zu ihm, um ihn hochzuheben, wie ein Findelkind ins Hotel zu tragen, in das schreckliche Zimmer, ihn erst zu duschen und dann mit dem restlichen Fahrtproviant zu füttern; später würde sie noch eine Salbe für die wunde Stelle besorgen. Komm, hab keine Angst, sagte sie, und er kläffte und lief ihr davon, in ein Rohr voller Gestrüpp und Drähte unter der Autobahn, unerreichbar. Sie hörte nur mehr ein Knacken, auch leises Fiepen, weil etwas an die Wunde kam, da war sie schon auf den Knien, im körnigen Sand, eine Frau von dreiundfünfzig hinter einem streunenden Hündchen her, um es zu retten, wie sie ihr Enkelkind hatte retten wollen – was den Nachwuchs angeht: die Hoffnung nicht aufgeben, hatte ihr Katrin in die Geburtstagskarte geschrieben, manche Indios sind auch nicht ohne! Und ganze Sekunden lang, immer noch kniend im Sand, die Vorstellung eines Jungen mit verschlagenem Blick, der im Garten auf Eidechsen lauert, sie mit kleinen Pfeilen erlegt, die er aus einem Röhrchen bläst, und auf dem Balkon seine Großmutter, irgendeine Spur von Renz oder sich in den barbarischen Zügen suchend. Canelino, wo bist du? Sie versuchte es noch einmal, jetzt ganz dicht vor dem Rohr, und wieder ein Knacken, ein Fiepen – nur junge Hunde, die nicht weiterwissen, die am Ende sind, stoßen solche Töne aus, und sie machte, dass sie auf die Beine kam, ihre hellen schweißnassen Beine. Mit den Schuhen in der Hand lief sie vor dem Jaulen davon, erst über scharfe Kiesel, dann weichen Asphalt, an den Füßen ein Brennen wie in den Augen – Klara mit Mail in der Tasche und Teer an den Sohlen, ihr Eindruck von sich.
In der Hotelhalle dann schon Mittagsstille, nur eine Afrikanerin, die den Boden feucht wischte, ein schläfriges Tun, und auf einem weißen Kunstledersofa zwei Kinder in Skatermontur mit einer Playstation, die Blicke Momente lang bei der Frau, die nicht ins ruhige Mittagsbild passte; vor der offenen Fahrstuhltür der Wischwassereimer. Und in der Spiegelwand der Kabine ein nahezu fremdes Gesicht, kleine, vom Weinen verfärbte Augen, ein enger Mund, fettiges Haar.
Warme Luft zog durch das gekippte Fenster ins Zimmer, als Vila hereintrat, der Vorhang über die eigene Mitte geneigt. Renz schlief. Er lag nackt auf dem Bett, Kingsize wie das Bett, in dem sich Katrin von der Abtreibung erholt hatte. Sie zog den einzigen Stuhl, eine Metallkonstruktion, an das Bett und setzte sich, eine Angehörige im Krankenzimmer, wenn das Kind, der Mann, der Bruder flach atmend zwischen Leben und Tod schwebt. Renz lag auf dem Rücken, die Arme ausgebreitet, wie ein einziger stummer Anspruch, seidustetsfürmichda – wie viel von Franz oder Klara in einem braucht es, um mit dem anderen alt werden zu wollen? Sie stand auf und ging duschen. Als sie zurückkam, nur flüchtig angezogen, lag Renz auf der Seite, mit einem Bein ins Laken verwühlt, und sie befreite das Bein und bedeckte die helle Hüfte, das Geschlecht im grauen Haarkranz. Bist du wach, ich will dir etwas erzählen, sagte sie wie zur Probe, und er griff nach ihrem Arm, Wo warst du? Renz wollte sie aufs Bett ziehen, aber sie trat ans Fenster, und er drehte sich wieder auf den Rücken, fast erschöpft von dem bisschen Bewegung, er würde lange vor ihr sterben, keine Frage, und doch wäre sie dann schon aus jedem Rennen, eine Unbeachtete. Ich war draußen vor dem Hotel und habe eine Mail gelesen, die man mir an der Rezeption ausgedruckt hat, viel zu teuer. Zwei Seiten von unserem Mieter.
Und was will er, fragte Renz.
Er will nichts, er hat nur etwas über Franz und Klara geschrieben. Soll ich es vorlesen? Sie holte die Blätter aus der Gagtasche, doch Renz schien schon wieder zu schlafen, einen Arm über den Augen, der Atem leise pfeifend, also legte sie sich zu ihm, auch auf den Rücken – in der Zimmerdecke feine Risse, der Ätna war nicht weit, die ganze Gegend eine Unruheregion. Sie schloss die Augen, die Blätter jetzt auf dem Bauch. Unten vor dem Fenster Telefonklingeln, dann eine Männerstimme, konspirativ, und plötzlich Wörter, die ihr entgegenkamen, Come si chiama Sua moglie? Frage an einen Mann im Bett, sein Kopf weiß verbunden, und er nur: Monica, ein Sekundentraum. Liebe war so einfach, wenn die Voraussetzungen stimmten. Sie nahm die beiden Blätter und fächelte damit. Dieser stille, labyrinthische Mittag – Schläfst du? Sie sah zu Renz, er kaute seine Lippen, und sie holte ihre Lesebrille und zog den Vorhang auf und trat mit den Blättern neben das getönte Fenster. Überschrift: Die Geschichte von Franz und Klara, vorletzter Akt. Franz, nur noch Haut und Knochen, in einer Hütte aus Zweigen und Laub, versorgt von seiner Lieblingsschwester, damit er noch einmal auf die Beine kommt. Aber du kannst es auch selbst lesen.
Wieso ging das an dich? Renz schirmte die Augen ab gegen das Licht. Er hätte es auch mir schicken können, ich habe ihm geschrieben, nicht du. Dass er wieder ins Haus kann und wir nach Sizilien fahren, von dort zurück nach Frankfurt.
Warum hast du ihm das geschrieben? Vila sah durch die getönte Scheibe. Die zwei Kinder mit der Playstation standen vor dem Hotel, daneben die junge Mutter. Es geht ihn nichts an, wo wir hinfahren. Ich lese es jetzt vor, hörst du zu? Sie lehnte den Kopf an die Scheibe und las die Seiten, wie Renz ihr manchmal Drehbuchstellen vorlas, sachlich, ohne Schauspielerei; nur einmal blickte sie auf und sah, dass er sich mit dem Laken zugedeckt hatte. Den letzten Satz kannte sie auswendig, aber schaute aufs Blatt – wir beide sind das, sagte sie: das Kästlein, das besser zubleibt, sind wir. Stell dir vor, wir wüssten plötzlich alles vom anderen, wir könnten uns nur auf der Stelle trennen, nicht wahr? Sie schloss den Vorhang, und Renz deckte sich wieder auf, trotz Polstern um die Hüften auch hager, ein breites Gestell. Wollen wir die Nacht hier bezahlen und weiterfahren? Oder etwas schlafen und nachmittags weiterfahren? Oder tun, was wir immer in Hotels getan haben? Unsere erste Sizilienreise, in jeder stickigen Kammer, war es nicht so? Renz streckte den Arm nach ihr, sie setzte sich auf die Bettkante – das Zimmer in Palermo wurde erst morgen frei, irgendwo mussten sie bleiben. Hinter dem Parkplatz ist ein ausgetrockneter Bach, da lief ein kleiner wilder Hund herum, ich hätte ihn fast gefangen. Und mitgebracht.
Und dann?
Hätten wir wieder einen Hund.
Der war bestimmt nicht geimpft. Ein Biss, und du holst dir die schlimmsten Sachen. Tollwut.
Die hab ich schon, sagte Vila. Die stecke ich weg.
Die steckst du weg – wie lang willst du noch um die Fünfzig sein, zehn Jahre, zwanzig? Renz zog sie neben sich, sie ließ es geschehen, wie ihre Zuschauerin. Der Hund hatte eine wunde Stelle, über den Rippen, vielleicht finde ich eine Apotheke. Wir bleiben bis morgen. Bei dem trockenen Bach gibt es eine Trattoria, da können wir heute Abend essen.
Warum? Das ist das Letzte hier, warum sollten wir bleiben? Renz streichelte ihren Hals, die Brüste, ihren Bauch; er knöpfte die Hose auf, die auch Bühl aufgeknöpft hatte, und schob ihr eine Hand zwischen die Beine: Renz, ältester Betreuer ihres Fleisches. Wieso ging die Mail an dich, fragte er wieder und zerrte jetzt an der Hose, sie hob den Hintern an: kein echtes Entgegenkommen, nur ihr Umgang mit dem Zerren, und Ausziehen musste sie sich sowieso, wenn sie schlafen wollte. Es war drückend im Zimmer, Renz hatte die Klimaanlage abgestellt, seit ein paar Jahren machte ihn jede Klimaanlage binnen Stunden krank, und sie hasste es, wenn er krank war, heiser flüsternd herumlag; seine besiegten Energien waren dann auch ihre besiegten Energien, nur andersherum war es nicht so, sein Verlangen war nicht ihr Verlangen. Lass uns schlafen, sagte sie, aber da war sein Mund schon zwischen ihren Beinen – uralter Brauch, sich nahe zu sein, hatte er beim ersten Mal wie zu seiner Entschuldigung vorgebracht, und später füllte es das Wort intim mit Leben. Sie waren intim miteinander, sich wortlos nah: Der, den man liebt, hat auch ein Gesicht, wo sonst alles verhüllt ist. Wozu denn das, sagte sie, und dabei wäre es mit einem Satz beendet, gib dir keine Mühe, ich hatte das erst vor kurzem, besser kann es nicht mehr werden. Aber kein Wort davon; sie griff ihm ins Haar, in sein schmutzig weißes, zu keiner stabilen Frisur mehr taugendes Haar: auch ein Besiegtsein, wenn sie an sein Filmkritikerhaar dachte, in ihrer Hand so schwer wie das von Bühl, nur damals schon grauer, Renz war von Anfang an älter, viel älter. Also warum ihn nicht das Einzige tun lassen, das ihn noch irgendwie jünger machte, ganz auf ein absurdes Ziel gerichtet.
Er schob sich an ihr hoch, eine Hand jetzt zwischen ihrem und seinem Bauch, ein sich Behelfen, Steuern, Ausrichten: Schiebung, wenn man genau war, aber genau war Renz noch nie. Er wusste nur, was er wollte, in einem Zimmer zum Davonlaufen mit ihr schlafen. Im Grunde missbrauchte er sie oder wenigstens ihre Erschöpfung, aber das war eher ein Gedanke – sie fühlte sich nicht so, dafür brauchte er sie zu sehr. Was sich da auf ihr bewegte, langsam, stumm, durchblutet, war ein großes altes Kind, das sich ausweinen musste, ohne dass ihm Tränen liefen. Ihr alter Renz, immer noch, aber anders als früher; früher hatte er sie und das Leben umschlungen, jetzt umschlang er nur noch sie und klammerte sich an ihr Leben. Ein Akt in der Mittagsstunde, der eigene Anteil unklar – Haut will immer nur andere Haut, sie kennt keine Selbstachtung, keinen Stolz, und als es vorbei war, rollte sie sich auf die Seite, ein Stück Laken zwischen den Schenkeln, im Nacken Renz’ Hand. Die Mail, wieso ging die an dich, fragte er zum dritten Mal. Und sie: Weil der Absender darin von Liebe erzählt, da wendet man sich doch eher an die Frau des Hauses. Wollen wir dann schlafen? Sie drückte die Hand in ihrem Nacken, ein Das war’s, nun lass mich, lass gut sein, und auch Renz drehte sich jetzt auf die Seite, weit weg von ihr.
Ein Schlaf bis weit in den Nachmittag, danach die Müdigkeit noch größer, langsames Aufstehen und ein Gang vor das Hotel, sie zeigte Renz den trockenen Bach, von dem Hund mit der Wunde keine Spur. Später zwei Espresso in der Bar, andere tranken schon Wein; die Frau mit dem Jeansrock bediente noch, Vila fragte nach der Trattoria, ob es dort Fisch gebe. Heute ist Ruhetag, sagte die Barista, morgen dafür Gesang. Und als Fisch nur Sardinen. Oder Polyp. Sie kassierte gleich und zählte bei einem Bier die Tageseinnahmen, während auf dem Parkplatz Stände für einen abendlichen Markt errichtet wurden. Vila rauchte vor der Bar. Wir müssen auch gar nicht nach Palermo, oder müssen wir? Ein Vorstoß nach dem letzten Zug, und Renz sagte, es gehe ihr doch nur um den Hund, diesen Hund. Bitte – such ihn. Willst du ihn suchen? Ich würde lieber etwas essen. Hast du keinen Hunger? Du siehst aus, als hättest du Hunger. Also wohin? Er schaute in jede Richtung, als gäbe es eine Auswahl, Lokale überall, aber es blieb nur das Hotelrestaurant in der Art einer futuristischen Eisdiele; ein Abend bei aufgetauten Putensteaks und lokalem Wein, beides überteuert. Vila kippte den Wein, zwei Gläser, drei. Morgen wird alles besser! Sie streichelte Renz über die Hand, dann ging sie auf die Restauranttoilette, in der Tasche ihr Notebook. Vielleicht war es das schrecklichste Hotel in ganz Sizilien, aber mit dem schnellsten Internet. Von Bühl nichts Neues, und sie schrieb ihm Danke für Franz und Klara. Wie geht es aus mit den beiden? Sich kurzfassen, das konnte sie auch; danach Rückkehr ins Restaurant, an den Tisch, ihre Unschuldsmiene, und später auf dem Zimmer noch eine Flasche Wein und ein kaum erträglicher Film, Fight Club.
Sie schliefen bis in den Vormittag, dann fuhren sie ins Land, ziellos zwei Stunden, schmale Straßen, karge Hänge, einmal Ziegen und zwei Esel. Mittags waren sie in Montalbano, ein Bergkaff mit Kirche und Piazza, Tischen im Freien, einer Parkmöglichkeit. Sie aßen Salat und Pasta; der große schwarze Wagen glänzte in der Sonne, Leute blieben stehen, Männer ohne Arbeit, einer trat seine Zigarette vor dem Kühlergrill aus. Verkauf ihn, sagte Vila. Wenn es sich ergibt, sagte Renz, sein erstes Einlenken in der Sache. Ein fast schwüler Septembertag, hinten im Wagen ihr Gepäck, sie hatten das Zimmer bezahlt, aber angedeutet, dass sie eventuell zurückkämen; für Vila war es der erste Tag einer neuen Zeit, wenn sie und Renz sich nichts mehr vormachten. Sie trug Jeans und ein weißes Hemd, er seine alten Tennissachen. Was heißt, wenn es sich ergibt, nichts ergibt sich. Du musst dich entscheiden, Renz, ihn irgendwo anbieten, bei AutoScout24 platzieren, Monsterjaguar, schwarz, gepflegt, zweite Hand. Oder ergibt es sich, dass wir uns trennen? Vila langte über den Tisch, fast ein Griff nach Renz’ Hand, aber dann nahm sie nur die Flasche mit dem Öl neben seinem Teller und gab sich etwas auf den Salat, ein sämiges Öl, wie das von ihren Bäumen, als sie die Ernte noch zu Leuten mit eigener Presse gebracht hatte, ganze Säcke schwärzlicher Oliven. Nein, es ergibt sich nie etwas, wenn es ums Loslassen geht. Renz hat das Messer aufgehoben und die Schnur zu dem Fisch gekappt, ein bleibender Schrecken. Und vielleicht macht er es sogar: sein gutes Stück verkaufen, sich befreien davon. Sie stellte das Öl in die Tischmitte und sah über den Platz mit blassgelber Kirche, ein paar grauen Häusern und zwei Palmen, davor der Jaguar neben kleinen Fiats und einem Motorino. Er war nicht schön, der Platz, keine Piazzetta zum Seufzen, aber es reichte, sich dort ein Fest vorzustellen, Fähnchen, Blasmusik, Monstranzen, Frauen in Schwarz, Mädchen mit Lackschuhen und ein Pfarrer, der auch Pferde segnet. Überleg lieber, was wir tun sollen, sagte Renz. Nach Palermo fahren? Er aß den Rest seiner Nudeln, die Sugo aus Auberginen und eingelegten Tomaten, dazu Oliven, Koriander und noch irgendetwas – wenn das Leben zu schwierig wird, geht man auf Reisen oder fängt an zu kochen, notfalls im Kopf. Entscheide du, sagte sie, aber er sah nur zu seinem Wagen, als würde er schon über den Preis nachdenken, und fragte, ob sie einen Espresso wollte. Nein, wollte sie nicht, nicht im Moment, und er bestellte einen für sich, seine alte Taktik: Wenn es kritisch wird, mit gewohnten Dingen die Zeit vergehen lassen, wenig reden. Wer zu viel redet, bekommt ein exponentielles Problem, er muss immer noch mehr reden. Wir können hier auch ewig sitzen bleiben, sagte sie, als Renz schon an dem Espresso nippte, die Lippen am Tassenrand, nicht diese Italienerart, erst lange in dem schwarzen Schluck zu rühren, um ihn dann wie einen Schnaps zu kippen; es hatte eher etwas von Küssen oder einem Sicherinnern an die große Zeit des Küssens. Seine Augen schienen nirgends mehr hinzusehen, etwas Abgeschlossenes lag in ihnen, als hätten sie nichts mit den Lippen an der Tasse zu tun. Schläfst du hier ein, fragte sie – es wäre nicht das erste Mal, dass er mit offenen Augen einschlief, es war ihm sogar schon in der Umarmung mit ihr passiert, wenn nur ein Teil von ihm noch aktiv war, als müsste es stur dem Gesetz des Lebens folgen, damit die Gattung nicht von der Erde verschwindet, auch wenn ihr Körper über diese Sache längst hinaus war. Und dann sagte er plötzlich, wie auf eine Frage nach seinen Gedanken, er habe vor x Jahren einmal mit dem schon alten Willy Brandt im selben Flugzeug gegessen, nur eine Reihe hinter ihm, und Brandt habe die ganze Zeit, eineinhalb Stunden lang, ein Gesicht gemacht, als sitze er allein in der vollen Maschine. Ich glaube, sagte Renz, diese Reise, egal zu welchem Zweck, hatte für ihn nicht mehr den geringsten Sinn. Nur für die beiden Beamten, die ihn bewacht haben, das war ihr Job. Seiner war getan. Aber er flog noch irgendwohin, um dort aufzutreten. Einfach, weil er noch am Leben war, so wie wir. Oder ist das zu negativ? Renz lachte und strich ihr über die Hand, er bestellte noch einen Espresso, einen für sie beide, und von ihr nicht etwa die Frage, warum er jetzt erst mit dieser Geschichte kam: natürlich weil sie ihn damals nicht hatte fragen sollen, wohin er geflogen sei, eineinhalb Stunden lang, und warum. Stattdessen teilte sie mit ihm den Espresso, er einen Schluck, sie einen Schluck, und sah dabei über den Platz. Eine Frau kam mit Kinderwagen aus einem der Häuser, sie schob ihn an den Palmen vorbei in Richtung einer Gasse, immer zu dem kleinen gebetteten Wesen gebeugt, auch Renz sah jetzt hin – eine Frau mit einzelnem Kind im Wagen, in Frankfurt schon eine Seltenheit. Überall jetzt die Doppelgefährte auf der Schweizer Straße, weil die Dinge ab vierzig nicht mehr von selbst gehen. Man kann noch ins Bett miteinander, aber es kommt dabei nichts mehr heraus, nichts, das am Ende länger als ein paar Herzschläge dauert, zehn, wenn es hochkommt, für alles darüber hinaus, alles Dauerhaftere, muss schon die Medizin her, muss die Spermien platzieren wie eine Anzeige: Hallo, Eizellen, Kind gewollt, ich nehme auch zwei in Kauf, nur um überhaupt eins zu kriegen. Fahren wir weiter? Renz strich ihr wieder über die Hand, und sie wusste, dass er keinen Willen mehr hätte weiterzufahren, den Wunsch ja, aber nicht mehr die Energie. Wir können Palermo auch canceln, sagte er, ich muss nicht in dieses Hotel. Weißt du, dass dein kleiner Finger etwas krumm wird? Er wollte den Finger massieren, aber sie zog die Hand zurück. Es war nicht seiner, es war ihr kleiner Finger, und sie wusste schon eine ganze Weile, dass er nicht mehr gerade war, ihre Mutter, die hatte am Ende nur krumme Finger, es gab auch ein Wort dafür, wie es für jede Krankheit eins gibt, bloß war sie nicht bereit, es auszusprechen, ja überhaupt von diesem Finger oder sonst etwas, das sich an ihr verändert hat, zu sprechen – Schweigen ist nicht immer eine Form von Lügen wie bei Renz’ Flugzeugstory, es kann auch Diskretion sein. Diese leichte Krümmung ihres kleinen Fingers: eine Intimität, Bühl hatte darüber hinweggesehen. Was eine lange Ehe zur Prüfung macht, ist das immer Offenere des eigentlich Geheimen, alles liegt bloß, keiner kann mehr wegsehen. Dann ruf in deinem Traumhotel an, cancel die Woche dort, sagte sie, und Renz stand zum Telefonieren auf. Aber eine Nacht ist schon abgebucht, macht das nichts? Er ging ein Stück auf den Platz, den Kopf leicht geneigt – ihr Mann, der etwas regeln wollte für sie beide. Nein, das macht nichts, rief sie und hörte ihn dann englisch reden, etwas, das sie immer gemocht hatte an ihm; sein Ton war amerikanisch, als Student hatte er in Kalifornien Eis verkauft, sie hätte sich sicher in ihn verliebt. Damals hatte sie sich ständig verliebt. Sie war nicht wie diese Facebook-Leute, die immer den Kopf über Wasser behalten wollen, nicht rauchen, nicht trinken und sich nicht verknallen. Die Praktikanten im Sender, die sie höflich grüßen und weitergehen, als wäre sie keine Frau. Sie halten sogar Türen auf oder geben ihr bei Gelegenheit die Hand und verschwinden dann auf die Toilette. Aber nur, um sich die Hände zu waschen nach der fremden Hand, nicht etwa um heimlich zu heulen, weil sie unglücklich sind. Oder es sich selbst zu machen, weil alles zu viel ist, die Hormone, die Reize, das Leben. Aber so ist es mit zwanzig. Bei ihr war’s so, bei Renz war’s so, und als Nächstes verknallt man sich und heult, wenn es schiefgeht. Und dann kommt plötzlich die Liebe. Und wen es einmal erwischt hat, den erwischt es auch wieder. Sie ist dreiundfünfzig und hat den Kopf noch nicht über Wasser. Katrin hat es irgendwie gemerkt auf dem Fest und sie ein-, zweimal angesehen, als sollte sie sich rechtfertigen. Tut mir leid, Süße, aber ich bin krank. Nur lässt sich die Sehnsucht nicht rechtfertigen, weil sich Liebe nicht rechtfertigen lässt. Renz schwenkte die Hand mit dem Telefon: Das war’s, sie schreiben uns die eine Nacht sogar gut für ein Jahr! Er kam an den Tisch zurück und winkte dem Mann, der bedient hatte. Was ist mit dir? Seit wir hier sitzen schon, bist du müde?
Nein, sagte Vila, im Gegenteil. Oder war ich unaufmerksam, habe ich etwas verpasst? Sie stand auf, während Renz noch zahlte, und ging zum Wagen: an dem sie auch irgendwie hing, obwohl sie kein gutes Wort für ihn hatte. Ein Jahr, da konnte viel passieren, alles. Am Morgen hatte Renz auf Elfis Mailbox gesprochen, dass er gleich die Grippeimpfung wollte nach der Rückkehr. Er war angezählt seit seiner letzten Winterkrankheit, sie gab ihm noch fünfzehn, sechzehn Sommer, ein Infarktkandidat – auch eine Intimität. Nach seinem Tod würde für sie das Alter anfangen, und das kann dauern, bei ihrer Mutter zwanzig Jahre, zuletzt auf allen Ozeanen. Renz schloss zu ihr auf, und sie stiegen in den Wagen und fuhren wieder zur Autobahn, die am Meer entlangführt, da hätten sie noch nach Palermo abbiegen können, tun wir’s einfach, gehen wir in diese Villa Igea! Aber sie bogen Richtung Messina ab und fuhren zurück, ohne darüber zu reden. Ihr Betonhotel hieß Miramare, nur müsste man schon aufs Dach steigen, um das Meer zu sehen; sie machten noch nicht einmal die Vorhänge auf im Zimmer. Renz stellte den Fernseher an, er fand einen deutschen Nachrichtenkanal. Mit Griechenland ging es bergab, auch mit Italien, mit Spanien, und der Euro gab immer mehr nach. Eigentlich war nur noch das Haus etwas wert, eine Immobilie mit Seeblick, alles andere schien sich aufzulösen – verglichen mit der Finanzwelt führten sie fast eine solide Ehe. Ich geh noch einmal nach dem Hund schauen, sagte sie.
Ein vergeblicher Gang, in dem trockenen Bachlauf nur zerwühlte Mülltüten, das kleine Hundewesen hatte nach Resten gesucht, also ein Tier ohne Heim, womöglich auch ohne Namen. Sie ging weiter als beim ersten Mal, immer dem Müll nach, Canelino! Ein Gerufe nach allen Seiten, bis zwei rauchende Jungs mit einem Melonenkarren auftauchten, sie wohl für verrückt hielten, und von ihr nur ein Salve, dann ging sie zurück. Auf dem Parkplatz und seinen Ausläufern zu den drei Häusern wieder der Aufbau für den Abendmarkt, an vielen Ständen schon Waren, und Leute drängten sich; der hotelnahe Teil des Platzes jetzt voller Autos, wie eine Wagenburg um den Jaguar. Und dann entdeckte sie Renz in dem Gedränge zwischen den Buden, Renz im T-Shirt, ein Jackett über der Schulter, das Haar noch nass vom Duschen, so dunkel wie in der Zeit, als Katrin zur Schule kam. Sie wollte ihn rufen, aber es gab schon genug Rufe von den Marktfrauen, und sie versuchte nur, ihm zu folgen, vorbei an Ziegenköpfen und Bergen glänzender Oliven, an Tischen voller Spielzeug und Buden mit Perücken und Hochzeitskleidung, dort war Renz stehen geblieben – immer noch ein Mann für den ersten Blick. Aber die für den zweiten Blick waren die zum Anlehnen, einer wie Thomas Engler mit unaufgeräumtem Bart und einer Stimme, die auch deutlichen Worten noch Milde gab. Wind kam auf, und in den Ständen pendelten die Lampen; es wurde schon dunkel, sie hatte fast eine Stunde in dem Bachlauf herumgesucht. Renz ging weiter, und sie folgte ihm, wie sie ihm in all den Jahren nie gefolgt war, auch als sie wusste, dass er wegging, um sich mit einer Frau zu treffen. Er drang immer tiefer in das Gewühl ein, und je länger sie ihm folgte, desto mehr rührte er sie – ein Mann jenseits der besten Jahre, aber auch noch nicht richtig alt, ein unklares Zwischenalter wie ihr eigenes, und auf einmal drehte er sich um. Warum gehst du mir nach? Wolltest du nicht den Hund suchen?
Ich habe ihn bis eben gesucht, er ist weg. Und plötzlich sehe ich dich! Sie log ihn einfach an und war dann mit ein paar Schritten bei ihm, er küsste sie auf die Stirn, und sie gingen zusammen weiter. Die Stände nahmen kein Ende, immer wieder Fische auf Bergen von Eis, manche gemustert wie feine Handtaschen, glänzende Leiber im Licht heller Neonröhren, andere bläulich oder schamlos rot, die Mäuler so aufgespreizt, dass sie am liebsten hineingefasst hätte, sich an den Zähnen gerieben. Und immer wieder hielt man ihr Fische hin unter heiseren Rufen, ihr, der man ansah, dass sie hier keine Küche hatte, aber das Geld, den Fisch zu bezahlen, und sie bahnte sich einen Weg durch das Gedränge, Renz mit sich ziehend, weg von den Rufen, weg von den gespreizten Mäulern, etwas anderem entgegen, auch heiser und laut, nur getragener, einem Gesang aus der Trattoria. Woher wusstest du, dass ich hinter dir bin?
Ich sah dich in einem der Spiegel, die bei den Brautkleidern hängen: der einzige Lichtblick in dieser Umgebung.
Hast du deshalb mit Palermo nachgegeben?
Nachgegeben, nein, sagte Renz. Ich glaube nur nicht mehr, dass alles besser wird in einem Fünf-Sterne-Hotel. Oder was willst du dort von mir, was willst du überhaupt? Dass ich irgendwann bequem sterbe, nicht als Pflegefall, ein glatter Infarkt, ja? Renz lief jetzt etwas schneller als sie, immer noch eine Hand in ihrer oder umgekehrt – wer hält wen, von Anfang an ungelöst. Was redest du da, sagte sie. Wollen wir nun in diese Trattoria? Sie wusste genau, was er redete, irgendeine Schleuse war in ihm aufgegangen, nicht weit, aber weit genug für die ersten Worte seit Jahren, die ihr Angst machten, weil sie kein Spiel waren, kein renzsches Theater. Sie ließ ihn los, und er ging ein Stück vor ihr her, auf die Trattoria zu. Die Tür war halb offen, und man sah lauter Männer an einem länglichen Tisch, die Blicke alle in die Richtung, aus der das Singen kam. Renz drehte sich um, Gehen wir hinein und hören zu. Und ich rede gar nichts mehr, dann gibt es kein exponentielles Problem. Du hast Staub im Haar, soll ich ihn wegpusten? Er beugte sich zu ihr, und sie schloss die Augen.
DIE Trattoria Sette Bello – der Name nur provisorisch an die Tür geschrieben – war an dem Abend ein Männerlokal, ein Ort des Exils. Paarweise oder in Trauben saßen sie an langen Tischen, vierzig, fünfzig, die meisten rauchend, jenseits aller neuen Gesetze. Paradiesisch, sagte Renz beim Hereingehen, einen Arm um die Hüfte der einzigen Frau in dem folglich auch paradiesischen Dunst. Noch bemerkte sie keiner, alle sahen zu dem Sänger, obwohl er halb abgewandt saß, verkehrt herum auf einem Stuhl, auf die Lehne gestützt, auch mit Zigarette; vor ihm auf einem Tisch Laptop und Maus und zwei mächtige Boxen. Über den Schirm liefen die Textzeilen, die aktuelle markiert, aber der Sänger – gestreifter Anzug, weißes Hemd, weit offen, und im Haar eine Polizeisonnenbrille – hatte die Augen geschlossen. Vila fiel es auf, als sie einen Platz suchten; und erst jetzt kurze, ungläubige Blicke auf sie.
Das Lied ging zu Ende, eins wie aus Filmen, die einen beglücken, aber traurig zurücklassen, und nach dem letzten Ton kam ein Bärtiger hinter dem Tresen hervor, in der Hand ein Tablett mit Wassergläsern voll Wein, der Wirt oder sein Gehilfe. Mit der freien Hand sorgte er für zwei Plätze, Plätze mit gutem Blick auf den Sänger, und gab Zeichen, dass sie sich setzen sollten. Und kaum saßen sie, standen schon Gläser vor ihnen, ein bernsteinfarbener Wein, der kühl über die Hand lief, wenn man das Glas hob. Worauf trinken wir? Vila sah zu dem Sänger, ein Mann in ihrem Alter, tiefe Stirnfalten, dunkles welliges Haar, und von Renz nur ein Achselzucken; also trank sie auf nichts oder nur ihren leeren Magen, einen Wein, der schon ins Blut ging, als der Sänger das nächste Lied anstimmte, von einem Älteren mit langem Schal durch Gesten ermuntert, sich der einzigen Frau etwas mehr zu zeigen. Und das tat er dann auch, er lachte ihr sogar zu, um den Mund etwas zurückgeblieben Junges – früher sicher der Star seines Viertels, einer, der beim Singen mit den Fingern schnippte, und hier noch immer ein Star. Vila bat den Tischnachbarn um eine Zigarette, Ende ihrer guten Vorsätze, sie hatte den Rest der Stange nach dem Fest tatsächlich in den Müll geworfen. Der Nachbar, enge Augen und ein Adamsapfel, gab ihr Feuer, sie sah durch den ersten Rauch auf Renz; seine Hand suchte ihr Bein, einen Halt wie ein Kletterer in beginnender Panik. Woran denkst du? Eigentlich eine Frage für Anfängerpärchen, zwei, die im Bett noch staunen. Was weiß ich, sagte er, und sie: Du denkst, was soll diese Reise, über tausend Kilometer durch Italien, was wollen wir beide hier. Was wollen wir überhaupt noch? Keine Frage für Anfänger, und Renz leerte sein Glas, Wein lief ihm über die Uhr. Der mit dem Bart, doch der Wirt, stellte ihm ein neues randvolles Glas hin, sie fragte nach Essen. Da mangiare, wiederholte er, zu ihr gebeugt, und zählte die paar Dinge auf, die es gab, als hätte er keinen Markt vor der Tür, und sie bestellte Sardinen, Käse und Brot, eingelegte Tomaten und Zwiebeln. Renz griff nach dem Glas. Ich denke nur, dass du gehen solltest, wenn es einen anderen gibt.
Ich? Sie zog an der Zigarette, alte Geste, die leichtsinnig machte. Warum nicht du? Geh aus meinem Leben.
Aus deinem Leben, welchem? Renz versuchte, leise zu reden, seine Wangen und die Haut am Hals in Unruhe. Es gibt nicht dein Leben, es gibt auch nicht mein Leben. Das Leben gehört uns nicht. Etwas, das ich bei Marlies gelernt habe.
Bei Marlies, warum gehst du dann wieder nicht zu ihr? Vila hob ihr Glas. Auf das Leben, das keinem gehört!
Der Alte mit dem langen Schal trat vor die Tische, er begann zu tanzen, als würde ihn jemand führen, und der Sänger präsentierte ihn zwischen zwei Liedern wie eine Stripperin, Nicolò Cali! Nach dem Namen noch ein paar Worte zu den Fremden im Raum, ein Dialekt, den Vila kaum verstand, sie verstand nur, dass der Tänzer fünfundachtzig war, biblisch alt und dennoch jung an Wünschen. Cali drehte sich mit wehendem Schal um seine Achse, von den Tischen Beifall und Getrampel, dann schon das nächste Lied, und jeder Lärm hörte auf. Der Sänger wandte sich jetzt den Tischen zu, er kannte den Text, ein Lied, das gleich alles heraufzubeschwören schien, was den Männern heilig war und sie dabei in Schrecken versetzte; erst nach zwei Strophen der dunkel getönte Refrain, Femmena, jede Silbe ausgesungen, und der hagere Nachbar sang mit, die Augen geschlossen, mehr ein Mitgemurmel als Singen, bis zum letzten, bitteren Wort, Malafemmena. Vila löschte die Zigarette, der Rest qualmte noch, Renz drückte ihn aus. Hat Bühl dir schon vorher geschrieben, ist das eine kleine private Serie, Franz und Klara? Was passiert in Folge eins?
Er hat vorher nie etwas aus dem Buch gemailt.
Und warum jetzt gerade das?
Ich weiß es nicht – Vila wollte aufstehen, auf die Toilette gehen, den wie aus dem Wein und der Zigarette gemachten Wörterstrom unterbrechen, aber Renz hatte die Hand auf ihrer Schulter. Denk nach, sagte er, und sie sah zu dem Alten: der sein Alleintanzen leid war. Er wählte sich einen Partner, umwarb ihn erst und nahm dann seine Hand und machte aus ihm eine Tänzerin, unter Tischeklopfen der Männer im Takt der Musik, jetzt ein Evergreen für einfache Gemüter, Una lacrima sul viso. Alle steckten sie hier, hinter dem Rücken der Frauen, unter einer Decke der Sehnsucht. Und immer noch Renz’ Hand auf ihrer Schulter; sie hob sie an und legte sie wie einen Gegenstand auf den Tisch. Ich habe nachgedacht: Weil wir auch ein altes Paar sind. Und damit ich es dir vorlese.
Hat er das dazu geschrieben, ja. Lies es ihm bitte vor, Vila, aber langsam. Das hat er nicht. Und er hat es auch nicht an uns beide geschickt, nur an dich! Renz drückte noch einmal an dem Zigarettenrest herum, als der Wirt das Essen brachte; auf den gebratenen Sardinen grobes Salz, die eingelegten Tomaten schon auf Brotscheiben verteilt, dazu Öl in einer Dose und ein Teller mit den Zwiebeln. Vila stellte alles in eine Ordnung, für sich und für Renz, und sie aßen, während der Sänger mit Mausklicks ein Verzeichnis durchging, bis er mit einem Lied anhob, das ihr noch mehr zusetzte als der Wein, Vivrò per lei. Und nun stand sie doch auf, ließ alles stehen und liegen, Dass mir noch was übrig bleibt, rief sie, schon auf dem Weg zum Tresen; der Wirt zeigte die Richtung zu den Toiletten, eine halbe Treppe hinunter. Und kaum hatte sie hinter sich abgesperrt, schaltete sie ihr Telefon ein, alles Weitere eine Sache von Sekunden, in keinem anderen Bereich lag Italien so vorn. Aber von Bühl keine Nachricht, dafür von Katrin, Katrin mit erregter Stimme, eine Seltenheit, die dringende Bitte um Rückruf: Es ist etwas passiert, nicht mit mir, aber dem, der zu dem Fest mit der Barkasse kam. Wo seid ihr überhaupt? Eine schon besorgte Frage, noch eine Seltenheit, und sie legte sich für Renz einen Satz zurecht, lass uns Katrin anrufen, ihr sagen, wie toll es hier ist, ein Stamm wilder Männer, die bei Gesang zahm werden. Sie wusch sich die Hände, Teil ihrer Routine, um nicht aufzufliegen, dann lief sie zurück an den Tisch und sagte den Satz noch im Stehen. Also los, rief Renz, ruf Katrin an! Er sah auf den Sänger, der eine Pause machte, bei dem Alten mit dem Schal stand; andere trauten sich offenbar nicht zu singen. Vila trank ihr Glas aus und bekam ein neues – ein Wein wie aus Erde, Fels und Trauben, erst aufkratzend, dann steinschwer. Auf ihren Stuhl gestützt, probierte sie die eingelegten Tomaten und aß von den Sardinen, ließ sich das Salz auf der Zunge zergehen und löschte alles mit noch mehr Wein.
Was ist mit dir, warum stehst du? Renz nahm ihr das Glas ab, und sie setzte sich endlich, mehr ein Fallen auf den einfachen Stuhl, und der Tischnachbar – mit der flachen Stirn von Leuten, die man gern unterschätzt – bot jetzt seine Zigaretten an. Sie bediente sich und rauchte und begann, die Nummer vom Haus einzugeben, null null drei neun, vier fünf, sechs eins, dann vertippte sie sich, also alles von vorn, man musste ruhig sein, so ruhig, so abgebrüht wie die Mädchen, die sie in Frankfurt morgens mit Spielzeug in der Hand oder am Ohr zur Schule gehen sah, die nichts vermissen würden außer ihren Smartphones. Sie musste sich zusammenreißen, wenigstens in einer Fingerkuppe, ein paar Ziffern treffen, und endlich gelang es auch, sie stellte noch den Lautsprecher an, und schon hörte man das Freizeichen und auch gleich Katrin, als hätte sie das Telefon in der Hand gehabt. Polizei war heute im Haus, zwei Carabinieri: ihre ersten schnellen Worte, die sie für Renz wiederholen musste, und nun kamen sie mit Unterton, he, kapier es doch, und danach etwas wie ein Stück Vorabend. Ein Schuss auf Kilian-Siedenburg in der Kapelle von Campo, er lebensgefährlich verletzt, gestern Notoperation in Verona, heute die erste Aussage. Kein Wort zum Täter, nur Angaben, warum er am See war, wegen eines Festes in Torri, gefeiert vor dem Hotel Gardesana. Und die Polizei erfuhr, wer das Fest bezahlt hatte, und schon tauchten sie auf, sagte Katrin. Ob bei dem Abend etwas vorgefallen sei, ein Streit. Sie wollten die Namen aller Gäste, und dann kam der eigentliche Punkt, die gefundene Tatwaffe, der alte Revolver, den du nach dem Fest gesucht hast. Sie haben mir Fotos gezeigt, Vergrößerungen, unten am Griff eingeritzt vier kleine Buchstaben, renz. Ich habe mich dumm gestellt, eine Waffe bei uns im Haus, nein. Und das Ergebnis ist, dass sie euch vernehmen wollen, ihr müsst zurückfahren. Wo seid ihr, in Palermo? Und Renz rief es ihr zu, in einer Kneipe in der Gegend von Messina, Vila die einzige Frau, sonst nur Männer und einer mit Liebesliedern. Und der Sänger hob auch schon wieder an, volltönend aus den Boxen, sie konnten sich gerade noch verabschieden, bevor es zu laut wurde. Renz leerte sein Glas. Nur einer wusste von dem Versteck, unser Franz-von-Assisi-Mieter, der lange Mails an dich schickt. Er hatte mich einmal nachts angerufen, beunruhigt von Geräuschen im Garten, und ich sagte es ihm. Da liegt zur Not eine Waffe. Ein Fehler. Jetzt hat er damit auf seinen alten Schulfreund geschossen. So sind die Heiligen.
Und du wusstest, dass die Waffe weg war?
Nach dem Fest war ich noch wach und wollte den Gide einsortieren und sah, dass sie weg war. Ich habe sie hinter allen möglichen Büchern gesucht, Katrin hat geholfen.
Warum hast du mir das nicht erzählt?
Erzählst du alles. Also wozu.
Was willst du wissen?
War Bühl an deinem Geburtstag in Torri? Hast du ihn gesehen, etwa bei dem Essen, als du verschwunden warst?
Das willst du wissen? Das willst du nicht. Wir sollten gehen, du solltest schlafen, das tut dir gut. Schlafen, essen, Bücher sortieren, über andere herziehen, ficken, was noch? Sie trank von dem Wein und versuchte, das Glas ruhig zu halten, überhaupt Ruhe zu zeigen, nur machte die Hand nicht mit, auch nicht ihr Atem, nicht die Haut. Schweiß lief ihr aus dem Haar, hinter den Ohren den Hals herunter, Wäsche und Zunge klebten, und sie trank noch mehr, die Wirkung des Weins jetzt ein Halt – ich bin nur die, die trinkt. Ihre andere Hand griff um das Stuhlbein, am Holz ein hervorstehender Splitter, den drückte sie sich ein Stück unter den Daumennagel, noch ein Halt. Und es geht dich auch alles einen Dreck an, sagte sie. Vielleicht gehört mir nicht das ganze Leben, aber ein Teil, ein paar Stunden, ein paar Tage, ja? Sie stellte das Glas ab, stellte es ruhig auf den Tisch, ein Akt der Gewalt, dazu das Beherrschen der Stimme, nicht einfach loszuschreien wie die Frauen in Renz’ Serien. Der Nachbar hielt ihr wieder die Zigaretten hin, und sie bediente sich. Woher weißt du, was ich will, rief Renz. Woher weißt du, was für mich gut ist. Sei doch nur ein einziges Mal etwas klein!
Der Greis mit dem Schal drängte sich an den Tisch, er hob einen Finger, benimm dich hier, kein Krawall mit deiner Frau, und Renz nahm sich ihr Glas und trank auf ihn, Salute, ballerino! Er leerte das Glas, schon brachte der Wirt zwei neue. Der Sänger, sagte er, heißt Calmelo da Palermo und nimmt auch Wünsche an, Mi dica! Er beugte sich herunter, und Renz wollte noch einmal das Lied, bei dem alles still wurde, Femmena. Oder was möchtest du? Er griff nach ihrer Hand, wie er sich den Wein genommen hatte, und sie machte eine Faust, als der Wirt schon mit dem Star des Abends sprach. Renz stieß sein Glas an ihres. Den Gide, sag, warum wolltest du den, du kennst die Tagebücher doch. Oder wolltest du sie für jemand außerhalb des Hauses?
Und wenn? Vila nahm die andere Hand vom Stuhlbein, sie bog den Daumen unter die übrigen Finger. Wie klein soll ich werden, bis man mich nicht mehr sieht? Ein ruhiges Fragen zwischen zwei Zügen, die Zigarette jetzt auch ein Halt, wer raucht, schlägt nicht um sich, er schreit auch nicht. Nichts würde besser werden mit einem Geschrei, nichts war je besser geworden, und für wen auch das Theater, für Renz, damit er denkt, toll, eine Frau, die alles hat, was ich nur aufschreiben kann, das Herz, die Kraft, den Mut in einem Lokal voller Männer loszulegen als einzige Frau, die allen ihre Wunde zeigt, seht her, wenn ihr euch traut, seht meinen Wahnsinn: Soll sie das tun, damit der Wirt die Polizei ruft, zu feige, um sie vor die Tür zu werfen, die Carabinieri werden es schon regeln, sie samt ihrem Mann auf die Fähre nach Kalabrien setzen, haut ab in euer Land ohne Ehre, ohne Schande, wo Psychologen solche Dinge regeln und nicht die Mafia.
Wer hätte Bühl das zugetraut, auf seinen alten Freund zu schießen, sagte Renz. Trinken wir auf das Opfer, dass nichts zurückbleibt. Oder worauf willst du trinken? Er stieß wieder sein Glas an ihres, das hatte schon damals, in der Nacht zum Orwell-Jahr, angefangen, worauf trinken wir, das Leben, den Zufall, uns beide, und sie hob das Glas, auch wenn ihr Kilian-Siedenburg egal war. Sie hob es im Stillen auf den Täter, auf seine guten Gründe, und noch bevor sie es am Mund hatte, damit der Wein darin weniger würde, wurde er mehr, in Spuren salzig verdünnt – Tränen wie eine Abfuhr an Renz, du trinkst auf den Falschen, du weißt von mir nichts, und er wollte ihr das Glas abnehmen, sie womöglich trösten, also hielt sie es fest. Ein Hin-und-her-Gerucke, Wein schwappte ihr auf den Arm, auf die Brust, und auf einmal kippte sie ihm den Rest ins Gesicht, ein Herstellen von Gleichheit, nichts weiter, beide jetzt mit nassen Wangen, und dann schon ein Stück Wiedergutmachung, ihre alte Schwäche. Sie zog mit der anderen Hand seinen Kopf heran und musste lachen, ein Rotz-und-Wasser-Lachen, Hilf mir, Renz, hilf mir: Worte, gegen die sie nicht ankam, und er streichelte ihr Haar, während die Männer an den Tischen mal zu ihnen, mal zu dem Sänger sahen, als hätte er eine Antwort auf das fremdartige Paar. Denn er begann mit dem Lied, um das Renz gebeten hatte, der Wirt brachte noch schnell volle Gläser, Renz gab ihm Geld für den Sänger, zwanzig Euro, und tat auch gleich Geld für Wein und Essen auf den Tisch, einen glatten Fünfziger.
Calmelo da Palermo, wenn er so hieß, trug jetzt seine Polizeisonnenbrille und saß wieder zugewandt beim Singen oder singenden Erzählen von einer Frau mit immer leuchtenden Augen, die dieses Jahrhundert – gemeint das vorige – mit ein paar Falten mehr beendet, finisci questo secolo con qualche ruga in più. Ein Lied auf eine Frau samt ihren künftigen Falten, sagte Vila. Eine, die nicht erschöpft sein wird von zu wenig Liebe, nur vom Einkaufen und Kochen, vom Kindergroßziehen und Wäschewaschen, Putzen und Geldverdienen und auch noch Schönsein fürs Bett, phantastisch! Sie trank ihren Wein, jetzt in kleinen Schlucken, und als das Lied ausklang, kam der Tanzgreis noch einmal zu Renz und wischte ihm mit dem Schal übers Gesicht, wie einem Jungen, der geheult hat; von allen Tischen Applaus, den der Alte dämpfte. Und in die Stille hinein wandte sich Nicolò Cali an Vila. Lascia perdere, sagte er, lass gut sein, es reicht, ein freundlicher Rat, bevor er sich den Schal um den Hals warf, erneuter Applaus, rhythmisch jetzt, und Renz winkte mit dem Geldschein den Wirt heran, aber der wollte nur die Hälfte – Venticinque!, ein ehrlicher Wirt, einer, der sie vor die Tür gesetzt hätte, statt die Polizei zu rufen. Renz aber drängte ihm das Geld auf, für die gute Zeit in seinem Lokal, er schlug auf den Schein, sich aufstemmend, schwankend, vom Wirt und von ihr gehalten, nur schwankte sie selbst, und der Nachbar half ihr zwischen den Tischen hindurch zur Tür. Eine kleine Prozession: vorn der Bärtige mit Rückwärtsschritt, um das Paar abzufangen, hinter ihnen, stützend, der mit der flachen Stirn und als Türöffner der wahre Held des Männerabends. Lascia perdere, sagte er noch einmal, dann waren sie sich selbst überlassen.
Der Markt war schon abgebaut, neben dem trockenen Bachlauf Berge von Abfällen, halbe Melonen, Fischköpfe, Innereien, leere Kartons, Kühleisbrocken, Schalen und weißliches Fett, und in dem Durcheinander ein Hin und Her von Lebewesen, Katzen, Möwen, Hunde, drei, vier magere Exemplare, darunter auch der kleine grauweiße – Vila sah ihn und wollte hinlaufen, nur machten die Beine nicht mit, und sie hielt sich an Renz. Der kleine Hund, rief sie, wir müssen ihn holen, die Wunde versorgen, dann bleibt er bei uns, er ist noch ganz jung, wir nennen ihn Agostino! Sie löste sich von Renz, ihr gelangen jetzt doch Schritte, die Möwen flogen auf, sie trat in die Abfälle, ihre Schuhe in einem Brei aus Obst- und Fischresten; zwei Katzen liefen davon, und dann sah sie ihn wieder, seine Wunde glänzend wie die Fleischfetzen im Müll, für Sekunden schaute er sogar zu ihr, um schon im nächsten Moment in Sprüngen das Weite zu suchen, quer durch den Bachlauf auf die Autobahn zu, und sie stolperte hinterher, fiel in das Kühleis und kam noch einmal auf die Beine und lief durch das Bachbett und eine Böschung hinauf, bis Renz sie von hinten packte. Willst du auf die Autobahn, willst du dich umbringen? Lass diesen Hund, lass uns gehen!
Wohin denn gehen, wohin jetzt? Sie schlug nach ihm, er hob die Hände, Hör auf damit, beruhige dich! Renz jetzt lauter als die Laster, die vorbeifuhren, und plötzlich drehte er sich zur Seite, übergab sich in einem Schwall, und sie verschränkte die Arme, bis es vorbei war, Renz nur noch eine bebende Hülle, der sie aufhalf. Und er ließ sich helfen, stützen, führen, zum ersten Mal in all den Jahren, aber auch er eine Stütze, wankender Halt, sie beide ein wankendes Gebilde. So ging es über den Parkplatz, vorbei an dem Jaguar, der dort einsam stand, und vor dem Hotel ein zweites Erbrechen, jetzt nur noch glasige Fäden. Renz weinte und hielt sich an ihr, sie führte ihn in die Halle mit Notlicht und fuhr an seiner Seite nach oben und half ihm ins Bett und wusste – ein Wissen wie das um das wahre Alter, nicht das gewünschte –, es ist der Beginn ihrer späten Jahre, zwanzig, dreißig, die Dauer spielt keine Rolle, nur die Bewegung in der Zeit. Sie bewegt sich mit ihm auf einen Frieden zu, den sie beide nie erreichen.
EIN wankendes Gebilde – von weitem gesehen auch jemand mit Stock in langem Mantel nach Tagen fast ohne Schlaf und Essen, auf Sandalen unterwegs in waldiger Berggegend. Bühl hatte den Stock gleich in der Macchia oberhalb von Campo aus einem Haselnussstrauch gebrochen und seitdem nicht mehr aus der Hand gegeben, weder im Bus nach Verona noch im Zug über Bologna nach Pésaro und auch nicht, wieder in einem Bus, auf dem Stück bis nach Urbino an den Ausläufern des Apennins – den wollte er überqueren auf seinem Weg nach Assisi, nicht besser ausgerüstet als Franziskus, außer mit Dingen, die weder den Magen füllen noch in den Frühstunden wärmen oder ein Kopfkissen bilden, Notebook, Pass und Mastercard. Die Sandalen ohne Fußbett und der Mantel, brauner Filz, waren aus einem Laden in Urbino, wo er den Rest seiner Kleidung samt Schuhen und Rucksack zwei Afrikanern überlassen hatte, die von Sierra Leone kamen und bis nach Deutschland wollten. Als Rucksack dienten jetzt zwei ineinandergeschobene Müllbeutel, schwarzes Plastik, darin regensicher das Schreibgerät, Papier und Stifte sowie die persönlichen Sachen, aber keinerlei Proviant. Er suchte sich Feigen in Tälern oder auf Rastplätzen Essensreste, er trank aus Bächen und schlief im Laub – wer den anderen verstehen will, muss zu dessen Körper werden. Ihm war schwindlig, wenn er beim ersten Licht auf die Beine kam, er hatte Krämpfe, Fäuste im Magen und Darm; in der Mittagssonne brannten ihm die Augen, wie sie Franz wohl gebrannt hatten, und die Wangen wurden schon dunkel vom Bart. Seine letzte Rasur: am Morgen vor dem Treffen mit Cornelius, bevor er das Hotel verließ, hinauf nach Campo ging, da war es noch Sommer, jetzt war Herbst, obwohl nur Tage dazwischenlagen, Tage unterwegs, ohne Pause immer weiter Richtung Süden. Er war schon in der Gegend des Monte Cerrone und wollte nach Gubbio, wo Franz den Wolf gezähmt hatte, ein schweres Gehen durch Buschwald, bergauf, bergab, bis er auf einer Lichtung vor einem Wiesenrinnsal, kaum breiter als sein Arm, einknickte. Die Sonne schien, und ihm war kalt trotz Mantel. Er tauchte eine Hand in das Wasser und wollte trinken, sein Brechreiz war größer als der Durst. Der Körper und er jetzt fast dasselbe, dazwischen nur die Gedanken, aber nicht frei wie im Lied dazu, eher so wie beim Einschlafen, wenn sie umherschweifen, noch gelenkt sind und doch schon tun, was sie wollen – weiter die Hand in dem Wasserlauf, nun um wach zu bleiben, bei Verstand, ging er Campo noch einmal durch, als könnte man sich unschuldig erinnern oder aus etwas Gewesenem ausbrechen. Er will vor Cornelius an der Kapelle sein, sie sind dort mittags verabredet, also geht er rechtzeitig los, kaum mehr als das Nötigste bei sich, und als die Sonne noch steigt, ist er schon bei der alten Riesenzypresse und greift in den Hohlraum an ihrem Fuß. Der Revolver, den Renz vermisst, liegt noch dort, und er steckt ihn in den Rucksack, um ihn nachts in den Garten des Hauses zu werfen. Dann durchstreift er den Ort, verlassen von seinen Olivenbauern, weil sich das Ernten nicht mehr gelohnt hat. Alle Häuser schon krumm, Fenster, aus denen Feigenbäume ihre Zweige strecken; löchrige Dächer, in rußschwarze Küchen gesunken, und an Südwänden rote Kapernsträucher, als hätten sich Vögel im Sturzflug daran erschlagen; Treppen und Höfe ein Efeu- und Brombeergestrüpp, darin nur der Durchgangspfad. Und in der Mittagssonne auf manchen Holztüren die Schatten toter Leitungsdrähte wie Harfen, die nie erklingen, dafür der hohle Flügelschlag einer einzelnen Taube. Der alte Freund wird pünktlich sein, also geht er durch hohe und niedere Gräser zur Kapelle zurück, durch Thymian und Geißblatt, Salbei und Lavendel, im Lavendel eine Katze, wie schlafend, aber ein Ohr in Bewegung, lauernd auf die eine Taube, wer weiß. Die Kapellentür ist angelehnt, er zieht sie auf und tritt ein. Der Plastikstuhl steht noch in Türnähe auf den Granitplatten, über die er für Vila und sich die Decke gebreitet hat, er rückt den Stuhl etwas mehr in den Raum, dann setzt er sich auf die Altarstufe, zwischen den Knien sein Rucksack. Die Katze, von gelblichem Grau wie der Boden, erscheint in der offenen Tür; es gibt Schwalbennester im Gebälk, gut erreichbar über Altar und Kreuz. Sie schleicht auf ihn zu, bis zu dem Stuhl, dann macht sie jäh kehrt und läuft davon. Er hätte sie gestreichelt, aber damit konnte sie nicht rechnen. Nur Menschen rechnen damit, gestreichelt zu werden, ja hoffen darauf und glauben, zugrunde zu gehen, wenn sie nicht gestreichelt werden. Er selbst scheint höchstens schneller zu altern ohne Streicheln. Und auf einmal sein Name, das alte Bühle? Der gewohnte Ruf, und auch die Antwort wie früher, Hier, mein Freund!
Und zwei, drei Herzschläge noch, dann verschwindet die Helligkeit in der offenen Tür, Cornelius füllt sie fast aus, Warum gerade hier, gibt es nicht nettere Orte am See, eine Gestalt mit Stimme, seiner mal angenehm rollenden, mal metallischen Stimme, mit der er die Leute herumbekommt. Weil uns hier keiner stört, schließ die Tür, nimm dir den Stuhl, einfach setzen: Worte wie unter verschärften Bedingungen, einer Flucht, und er schließt die Tür und setzt sich, ohne den Stuhl zu verrücken, zwischen ihnen keine vier Meter, und nun erst das Anschauen, die stumme Begrüßung. Der alte Freund, die Beine übereinandergeschlagen, in moosfarbener Cordhose und einer Wetterjacke mit Jack-Wolfskin-Zeichen, in den Händen auf dem Schoß, wie ein schmales Gebetbuch, das kleine Gerät, das ihn hergeleitet hat. Und die Rundbrille ein Stück Kalligraphie in dem etwas groben Gesicht mit Kinnspalt; fein nur wie eh und je der Mund und die Pupillen, er schaut ihn an: Bühle, wie geht’s, was machst du? Kein Lehreramt mehr, wie man hört, dafür ein Buch im Kopf, gut. Es geht nichts über Projekte, bekanntlich habe ich auch eins. In den letzten Tagen über hundert Mails, zum Glück in schönster Umgebung. Du weißt, wo ich wohne? Und kein Abwarten der Antwort, auch wie eh und je, sondern gleich ein Weiterreden, Konversation über die Villa Feltrinelli, gegen Kriegsende Domizil von Mussolini, heute Luxushotel mit nur sechzehn Zimmern, in den Klosettschüsseln Rosenblüten, der Pool aus jadegrünem Marmor und eine Augenweide auch das Cricketfeld, dazu Sterneküche, serviert in einem Pavillon, und immer himmlische Ruhe: sein Stichwort für die toten Eltern, sie nun ja beide Vollwaisen. Dieser tragische Autounfall, kurz Thema an dem Geburtstagsabend, sagt er, ich wusste ja von all dem nichts, mein Beileid. Und worüber wollen wir reden, über Aarlingen, Anfang des Jahres, odi et amo auf einer verschneiten Kühlerhaube? Auf dem Podium im Hesse-Saal wäre noch ein Platz gewesen. Aber du hältst dich ja lieber zurück. Hast du eine Freundin oder nur das Projekt? Franz von Assisi, warum gerade der? Ein gespaltener Charakter, nehme ich an, oder war er einfach verrückt nach Gott? Und bei den letzten Worten, verrückt nach Gott, hebt er sein kleines alles könnendes Ding und fixiert ihn über das Display, macht ein Foto mit Blitz und sieht es sich gleich an – Ex-Lehrer mit Rucksack zwischen den Knien auf Altarstufe sitzend, sagt er. Und die Schüler heute, sind sie wirklich unerträglich? Er macht noch ein Foto, und eine Schwalbe schießt aus dem Gebälk, ein Zickzackflug wie eine Fledermaus durch die Kapelle, bis sie durch einen Spalt zwischen Gemäuer und Dachstuhl ins Freie entkommt. Cornelius sieht sich auch das zweite Foto an, wie die Schüler in seinem Unterricht ihre Handyfotos von ihm, er mit dichtem Bart, eine Macht aus vergangener Zeit, den Ovid in der Hand oder Kleist, Kleist, den er wie einen Trojaner in die Ethikstunden geschleust hat, den Briefwechsel mit Henriette Vogel, alles vergebens. Am Ende stand er vor fünfzehn Mädchen und Jungs, die Liebe für eine Erfindung ihrer Tage hielten. Oder verändert bei ihnen die Erinnerung alles, macht es bitterer, als es war, auch das Wiedersehen mit Cornelius. Und die Leute aus deiner Welt, fragt er ihn, sind die erträglich? Wovon lebst du? Keine leichte Frage, im Grunde eine der schwersten, aber Cornelius tut sich damit gar nicht schwer, er sagt, von dem Geld reicher Erben, das er vermehre, heutzutage ein Sisyphos-Job. Und du, hast du auch geerbt? Er holt im Spaß sein Kärtchen aus der Jacke, Cornelius Kilian-Siedenburg, Consulting, oder was dort steht, dann erfährt er, dass ein kleiner Böcklin noch kein Erbe macht, der Tod nicht immer zum großen Geld führt. Wohl wahr, erwidert er nur und kommt auf Marlies zurück, ihre Beerdigung. Ein kleiner Dorffriedhof, viele Menschen, Bienengesumme am offenen Grab und zwischen den Blumen ein Foto von ihr aus den besten Jahren. Sie war ja eine dieser Schönen, mit denen die Alpen gesegnet sind, die Mutter im Kaffeehausgeschäft, der Vater Veterinär. Man trifft sie auf Kirchweihfesten und in der Tourismusbranche, immer lachend, aber einige zieht es in die großen Städte, Hamburg, München, Berlin. Und dort gehen sie dann irgendwann kinderlos ein, verenden an einem Krebs. Es gibt auch Selbstmissbrauchsopfer, da kommt jede Entschädigung zu spät – wir stehen im Moment vor dem Problem der Summe, welcher Betrag wäre angemessen, etwa für ein Heiding-Opfer? Nenn mir eine Zahl, oder wäre jede zu niedrig? Cornelius hebt wieder sein smartes Ding und macht noch ein Foto mit Blitz, das Opfer beim Nachdenken. Schon in Aarlingen hat er ihn ohne zu fragen fotografiert, meist aus dem Hinterhalt, aber noch mit Geräusch, und die Filme wurden dann zur Drogerie gebracht, jedes Warten auf die Entwicklung wie ein Lauern auf die digitale Revolution. Und er hat den Freund mit Kamera sogar beneidet: um den Blick des Fotografen, so präzise wie ein Name, der sich deklinieren lässt, Cornelius, Cornelii, Cornelio, Cornelium, Cornelio, das Ablativ-o leicht betont, so hat er es einmal vorgebetet, und das beim Schwimmen. Ein Junitag, der See noch kühl, und als sie sich trocknen ließen, Schulter an Schulter mit Gänsehaut, die Lippen blau, servierte er ihm noch den Catull, Wenn ich dich nicht inniger liebte als meine Augen, mein Calvus, würde ich für dieses Geschenk dich nun hassen. Und so weiter. Bald darauf schon die Sommerferien, Cornelius fuhr nach London, um sein Englisch zu verbessern, er fuhr nach Hause, dort für Wochen nur mit der zusammen, die ihn geboren hatte. Der Vater, noch nicht Entdecker der Thaiseide, nur der Annehmlichkeiten von Paris, kauft in Frankreich Stoffe, und seiner Frau fehlt an den flautenstillen Mittagen eine Hand, also holt sie ihn für ein Schläfchen, das gar kein Schläfchen ist. Sie tut bloß, als würde sie schlafen, und lässt es durch Trägheit und leise Töne so weit kommen, dass er sie erforscht, wie er sonst den Finger in Kuchenteig tauchen darf. Und in der zweiten Ferienhälfte kam dann der Freund, vom britischen Akzent wie geadelt, und sie streunten zwischen Zartenbach und Unterried, der Beginn ihrer künftigen Jagden. Also keine Zahl, sagt Cornelius, keine Bewertung der Dinge von deiner Seite. Und warum nicht? Weil Heiding damals bezahlt hat, ja? Einer für alle. Ertrinken, ein qualvoller Tod. Aber ohne eine Zahl komme ich in meiner Sache nicht weiter. Wir sind dabei, eine Stiftung zu gründen, da geht es immer um Geld. Oder nehmen wir dein Buch: Was wird es kosten, welcher Betrag für welche Erkenntnis? Dass es heute an Heiligen fehlt? Allenthalben. Die Prominenz hat das Heilige ersetzt, auch das Wahre. Wahrheit ist nur ein Gefühl von vielen, Heiligkeit ein Wahnsinn unter anderen. Und gut ist, was Bekanntheit hat. Bleibt nur noch das Schöne als Wert, alter Freund! Und wieder hebt er sein elektronisches Wunder, es blitzt, und eine zweite Schwalbe schießt unter dem Dachstuhl hervor, noch ein Zickzackflug, länger jetzt, und dann landet sie am Gebälk, klammert sich dort fest, ein regloses Wesen und Ziel. Dein Luftgewehr, sagt Cornelius, gibt es das noch? Ich habe noch meine Gasdruckpistole. Manche Dinge behält man ewig. Und was macht unsere Hug Tulla, lebt sie? Keine Scheinfrage, es interessiert ihn wirklich, und er sagt Ja, ja, in einem Heim, bei Unterried. Und er will noch sagen, dass er sie besucht hat, will von Gewehr und Pistole weg, aber so läuft es nicht, es kommen ganz andere Worte. Das Luftgewehr, es hat seinem Namen Ehre gemacht, sich in Luft aufgelöst. Dafür habe ich jetzt einen alten Revolver, sogar dabei, nur sind die einzigen Patronen kaputt. Erodiert, heißt es so? Zu viel Feuchtigkeit, darunter leidet der Kupfermantel, also auch die Füllung. Oder ist es kein Kupfer? Noch ein Versuch der Ablenkung, aber gesagt ist gesagt, Cornelius will die Waffe sehen, ein Zeig schon, zeig her, wie früher in ihrer Bucht, wenn sie das vom Schwimmen Geschrumpfte voreinander versteckt hatten, und er holt den belgischen Gegenstand aus dem Rucksack, zielt aufs Gebälk und drückt ab, es klickt. Wie gesagt: uraltes Teil, Weltkrieg, und von Cornelius ein Schade in spaßigem Ton, Schade, da war eine Katze draußen, jetzt kann man sie nur noch fotografieren, bei dir im Arm, das Bild für deinen Buchumschlag. Mein Vater hätte es verachtet – künstlerische Menschen mit Haustier, der Gipfel des Leutseligen. Aber seine Zeit ist vorbei. Das ist jetzt unsere Zeit, Bühle! Und noch einmal das Zücken seines kleinen flachen Geräts, der Blick auf das Display, dazu ein Sitzen fast auf der Stuhlkante, halbschräg zur Altarstufe, wieder das Zielen mit dem Kameraauge auf ihn, nur hat er, Bühle, jetzt auch etwas zum Zielen und tut es über Kimme und Korn und drückt mit dem Blitzen ab, das helle Licht und helles Krachen wie eins, als würde die Kapelle bersten, und die Schwalbe in rasendem Zickzack über Cornelius, jetzt ohne blitzendes Gerät, das kleine Ding auf dem Steinboden, dafür seine Hände seitlich an der Jacke, ein ungläubiges Tasten, während er langsam vom Stuhl rutscht, den Mund weit offen.
Ewige Freundschaft, ewige Liebe, das wäre ewiges Vergessen, ein Leben im Moment bis zum Tod, und sie hatten beide nichts vergessen, keinen Aarlinger Tag, keine Stunde, wie auch die Stunde in der Kapelle Gegenwart ist, mit jedem Wort in ihm wach – er hatte immer noch die Hand in dem Wasserlauf, sie tat schon weh vor Kälte, ein Schmerz, der dem Erinnern die Waage hielt. Cornelius wand sich auf den Steinplatten und schrie, seine Jacke wurde dunkel in der Nierengegend, zwischen den Schreien hechelnder Atem, auch ein Hilf mir, aber wer weiß schon, was in so einem Fall zu tun ist. Zum Glück kannte er die Notrufnummer, weil sie im Haus auf dem Telefon stand, es gab auch gleich Verbindung, eine Frauenstimme. Und in einer Mischung aus Latein und Italienisch sagte er, was passiert war, ein Unfall mit einer Waffe, Blut, sehr viel Blut, und wo es passiert war, in der Kapelle von Campo oberhalb von Marniga am Ostufer des Sees, und verlangte den Hubschrauber, der sonst über Ertrunkenen kreist. Danach das Warten, das Ausharren, während Cornelius ihn vom Boden aus ansah, das Gesicht menschlich vor Schmerz, wie entzerrt. Atme, alter Freund, bleib wach, aber sprich nicht: seine Worte an ihn, die Worte, an die er sich erinnern konnte oder wollte; er kniete neben ihm, er hatte sich das Hemd ausgezogen und presste es auf den Blutstrom, die Wunde darunter, die auch seine war. Der Krieg unserer Väter hat uns eingeholt mit dieser einen Patrone, sagte er, und Cornelius nickte ihm zu, als würde er es verstehen, als sei alles in Ordnung, seine Schmerzen, das Blut, die Dinge zwischen ihnen; etwas von früher, aus den Nachmittagen im Schilf, lag in seinen Augen, du und ich, wir halten das aus. Geh ruhig, gelang es ihm zu sagen, geh – fast eine Absolution, und er nahm den Freundeskopf in den Arm. Es gibt auch solche, die ihr Gutes besser verstecken als alles Schlechte, die es verbergen wie eine Entstellung, derer sie sich schämen, ein Leben lang; und dann auch schon das Geräusch des Hubschraubers, der Moment, um tatsächlich zu gehen, lebe wohl, wir sind uns nichts mehr schuldig, seine letzten Worte, mehr gedacht als gesprochen. Die Waffe aber ließ er zurück, einziger Beweis, dass es ein Unglück war, und den Hubschrauber sah er noch unweit der Riesenzypresse landen, sah die Helfer mit Ausrüstung in die Kapelle eilen, dann lief er in die Macchia und brach sich den Stock aus dem Strauch, ein Wanderer von da an, quer durch Gestrüpp bis Casteletto, wo der Linienbus hält.
Er zog die Hand aus dem Rinnsal und stand langsam auf, der Stock eine Hilfe, und doch schien es Minuten zu dauern, bis er einen Fuß vor den anderen setzte, und noch viel länger, bis er die Lichtung hinter sich hatte, wieder im Wald war, Laubwald, der bergab ging. Ein Stolpern und Rutschen, den Plastiksack vor der Brust wie ein Kind, dem nichts zustoßen darf, und plötzlich das Ende des Walds vor einer Straße. Sie war schmal und führte in Kehren abwärts, zu einem Ort nicht größer als Campo, aber noch bewohnt, Rauch aus den Kaminen, und am Ortsende eine Bar, grün die drei Buchstaben, und am Dach eine Schüssel. Er versuchte jetzt, schneller zu gehen, und ein Stück vor den ersten Häusern das Ortsschild, Piccione, dort drehte sich sein Magen um. Wasser und Feigenbrei spritzten auf die Straße, Franz hätte nur gelacht, was will mein Bruder, Wein und gebratene Täubchen und ein Lager aus Samt? Das Plastikbündel jetzt über der Schulter und die Hand, die den Stock hielt, am Magen, so zog er weiter, fröstelnd am Rücken und heiß im Gesicht, ein Pochen hinter den Augen; er löste sich auf, während Cornelius geheilt wurde, eine Klinik in Verona, Einzelzimmer, Satelliten-TV und der Orden einer nicht tödlichen Schusswunde. Ein Junge mit BMX-Rad kam ihm entgegen. Wie weit bis Gubbio, rief er, und der Junge zeigte in seine Fahrtrichtung, venti, ventitre. Und bis Assisi? Ein schon kraftloser Ruf, und der Junge deutete rückwärts, hinter den kleinen Ort, uguale!, ebenso weit. Er war schon über Gubbio hinaus, ein Tagesmarsch, und er wäre am Ziel. Und das letzte Stück bis zu der Bar dann fast im Laufschritt, er konnte es noch, konnte sich noch bewegen, auch vorwärtsdenken, etwas anpeilen, jetzt fehlten nur Tisch und Stuhl, das Internet und ein Glas heißer Tee.
Die Caffè-Bar hieß Piccione wie der Ort, hinter dem Tresen eine junge Frau, Diesel-Shirt, langes Haar, auf dem Arm ein Tattoo, Fantasy; außer ihm in der Bar nur ein Alter vor einem Glas Rotwein. Er zeigte die Mastercard, und die junge Frau, eher ein früh erwachsenes Mädchen, schüttelte den Kopf, No cards. Also musste er bitten, um Tisch und Stuhl und Strombenutzung, sein Akku war leer; hinter dem Tresen auf der Arbeitsplatte ein alter PC. Internet? Er legte bittend die Hände aufeinander, Parola?, eigentlich nur das Wort für Wort, aber sie verstand, was er wollte, während er schon sein Gerät aus dem Plastiksack zog. Auf ihrer Stirn noch ein Abwägen, dann sagte sie Rosetta, ein Name als Passwort, der eigene womöglich. Er setzte sich, und seine Finger fanden kaum die Tasten, es braucht nur Tage ohne Essen und Bett, schon kann man nichts mehr, außer sich am Leben erhalten; ein Suchen, ein Tippen, und endlich das Netz, seine Belange, und er begann als Mail festzuhalten, was nach schlaflosen Nächten im Laub schon wie auf inneren Blättern vorgemerkt war. Der Alte verließ die Bar, sie waren allein. Rosetta? Er versuchte es einfach, und das Mädchen strich ihr Haar zurück und kam auf ihn zu, und wieder konnte er nur bitten. Er bat um einen Tee, Kamille, wenn möglich, und sie lief hinter den Tresen und kam mit einem Glas heißem Wasser wieder, darin ein Beutel Kamillentee, Lipton; sie stellte es auf den Tisch und setzte sich ihm gegenüber. Von hier komme man bloß weg, wenn einen jemand mitnehme, ob er sie mitnehme. Sie lachte, aber nicht nur. Und er wärmte sich die Hände an dem Glas und sagte, nein, er müsse allein weiter, auf dem Rückweg vielleicht. Nur will er gar nicht zurück und auch nicht mit ihr durchbrennen, er kann das nicht, aber kann auch kein Heiliger sein, höchstens sich selbst ein Bruder. Das Mädchen oder die junge Frau stand auf, sie steckte sich eine Zigarette an, Come ti chiami? Eine Frage vor dem ersten Zug, wie heißt du, wenn du schon meinen Namen kennst, und er sagte etwas, und sie wiederholte es und ging mit der Zigarette ins Freie, er konnte weiterschreiben. Von draußen ihre Schritte, tippend wie sein Arbeiten; die Finger spielen endlich mit, sie wissen um jeden Buchstaben, sie fallen genau auf ihn nieder. Er ist allein und schreibt wieder, und am Anfang scheint sich alles zu gleichen, weil es nur sechsundzwanzig Buchstaben gibt, bis das Erzählen alles sich Gleichende, den Sand der Wörter durchbricht. Er erzählt von Franz und Klara, und als die Junge mit dem Fluchtwunsch vom Rauchen kommt, schreibt er die letzte Zeile und schickt sofort alles an Vila und schließt das Gerät und schiebt es ins Plastik zurück. Er dankt für den Tee, den Strom und das Internet, nimmt Stock und Bündel und verlässt die Bar, und die Mädchenfrau ruft ihm noch etwas nach, wohin er gehe, jetzt am Abend, Dove vai, Franz?, und er, über die Schulter: Weiter, immer weiter.
Franz zeigt sich nicht, er wandert, keiner kann ihn aufhalten, keiner in ihn hineinsehen, solange er sich bewegt. Und wenn es am Ende nur noch seine Lippen sind, die sich bewegen, Worte in andere Ohren hauchen, kann nichts das eigene Ohr erreichen. Ihm hört man zu, nicht umgekehrt: Jedes Wort von ihm ein Nagel mehr an dem Kästlein in ihm. Er ist das, was er spricht, was er singt. Und ist sein Tanz, sein Fasten, die Keuschheit, ein stummer Bruder Esel. Er ist der, der die Arme ausbreitet, dürr wie Winteräste, und doch die Vögel anlockt. Und nicht der, der sich um einen Leib schlingt und am Ende einen Vogelschrei ausstößt, wenn er ein Kind macht. Er ist der, der ohne Kleid vor die Leute tritt, und weiß, was er nackt wert ist. Und der, der schreibt, wenn die Augen es dulden, Verse auf den Leidenssohn, Gesänge an den Höchsten. Tu sei forte, Tu sei grande, Tu sei altissimo, Tu sei onnipotente! Er ist der Erzähler und das Erzählte, sein Messer und sein Chirurg. Und auch die Wundmale, die man ihm glaubt: Es sind seine Worte, in anderer Ohren gedrungen, bis sie ein Bild erzeugt haben. Er ist wie Gott, nur kleiner. Aber mächtig auf Erden: so einer hat für sich zu bleiben – keine Frau, die ihm nicht erliegen würde, um es ihm später zu vergelten, je mehr sie erlegen ist. Also muss er allein lieben, unter der groben Kutte eine zarte, immer offene Haut.
Kurz hinter Piccione wurde die Straße breiter, und er kam an eine Rotunde, ehedem Kreuzung mit Ampel, jetzt in ihrem Rund bepflanzt, in der Mitte eine Agave, an die trat er heran und ließ die Hand auf eine ihrer Spitzen fallen. Sein Vater hatte ihm Kopfnüsse gegeben, wenn er mit aufgeschlagenem Knie kam und weinte. Der Gegenschmerz muss nur stärker sein als der wahre Schmerz, und es hilft. Blut lief über den Arm, und eine Art Frieden kehrte ein. Bis Assisi waren es noch elf Kilometer, so stand es auf einem Schild. Zwei Tage würde er bleiben, es gab reichlich Agaven in der Stadt.
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