XIX

GOTT, wie schön ist das hier! Marion Engler oder die flüchtige Spur einer Müdigkeit, nicht in den Augen oder ihrer Haltung, im Erschöpftsein der Worte, Gott, wie schön ist es am Hafen von Torri, weil es so schön ist: eine Tautologie wie die wesensverdoppelnden Dinge, die zu ihr gehörten, im Schoß ein berühmter Roman, in der Hand ein Glas Averna, vor ihr auf dem Tisch ein Notizbuchklassiker plus Stift, das Ganze unter den Hotelarkaden, die typische Spätsommernachmittagsstimmung, fern im Dunst die Silhouette der Isola del Garda. Die Ex-Pastorin und jetzige Mediatorin lesend in einem Jeanshemd mit locker umgeschlagenen Ärmeln; einziger Schmuck eine Longines-Herrenuhr, die sie vor ihren Predigten in der Frankfurter Lukaskirche immer ausgezogen und auf die Kanzel gelegt hatte, um sie nach dem Segen mit eleganter Bewegung wieder anzuziehen – eine Art Minimal-Striptease, wie Renz, durch Marion Engler zum zeitweiligen Kirchgänger geworden, eines Sonntags zu Vila gesagt hatte.

Renz saß mit am Tisch und auch Thomas Engler: der aber nur in Form einer Zeitung, die er vor sich hielt; zwei Lesende also, während Renz den Hoteleingang im Auge hatte. Vila war schon vor einiger Zeit dort verschwunden, sie wollte das Menü für den Festabend besprechen, Ich mache das, hatte sie gesagt, folglich lief er ihr nicht hinterher. Ein stures Warten, bis er sich einen Ruck gab und auf das Buch in Marion Englers Schoß zeigte, eine schlichte Ausgabe von Stendhals Rot und Schwarz, noch vor seinem Filmkritikerleben hatte er es gelesen. Etwas langatmig, sagte er, und sie machte ihm klar, warum die Geschichte von Julien Sorel nicht auf hundert Seiten passt, eine kleine Privatpredigt – ihre allzu privaten Predigten hatten sie mit der Landeskirche entzweit –, am Ende schlug sie das Buch sogar auf und las das Motto vor, das der Autor gewählt hatte, Die Wahrheit, die bittere Wahrheit! Danton. Und das in Kurzform für faule Leser? Sie deutete mit dem Roman eine Kopfnuss für Renz an, und der hatte Dante verstanden, nicht Danton. Dante war auf der Isola Lechi, wie die Insel dort drüben früher hieß, im Exil, sagte er, als Vila endlich aus dem Hotel kam, auf ihn zuging, Alles erledigt! Und jetzt? Warum fahren wir nicht auf den See? Ein Vorschlag im richtigen Moment, Heide und Jörg trafen gerade ein, doch nicht per Flugzeug gekommen, sondern im Auto von Barcelona, acht Stunden, eine Pause, für beide normal. Jörg holte dann mit Renz auch gleich das Boot von der Boje, und natürlich ging die Fahrt zur Insel im Dunst, nicht dabei Katrin, die saß an ihrer Arbeit über die Kamayurá-Indios. Dafür lag Heide auf dem Bug, der sonst Katrins Platz war – gestern noch Mallorca, heute schon Torri, und der See sofort mit einem Highlight, da nahm man für das lange Wochenende auch gern eine Pension in Kauf. Bis auf Marion und Thomas hatte Vila alle Gäste, auch die Wilfingers, in der Pension Speranza unterhalb des Hohlwegs einquartiert.

Wahnsinn, ja Wahnsinn, rief Jörg – auch in der Sprachmüdigkeit aller Erstbesucher am See –, als sie an der schmalen Insel entlangfuhren, darauf ein Schloss im venezianischen Stil, an den Seiten wie gespickt mit Zypressen, ein Besitz, bei dem sich alle Neulinge fragten, wem er wohl gehöre und warum: für Renz Gelegenheit zu einem Vortrag, den Vila auswendig kannte. Sie lag neben Marion auf den hinteren Polstern, nicht im Badeanzug wie sonst, sondern in Hosen und T-Shirt, unter beidem nur ihre Haut, noch gespannt von einem Kurzbesuch im Eckbalkonzimmer. Renz stellte den Motor ab; sie waren in der Bucht der Neider, wo immer Boote im Flachen ankerten, mit Blick auf das private Paradies, der übliche Platz für seinen Vortrag über die Insel, und kaum war der Anker geworfen, fing Renz auch schon an, gleich mit einer Zahl, achthundertneunundsiebzig: die erste Erwähnung der Insel in einem Dekret Karlmanns, König von Bayern und Norditalien, es ging um ihre Schenkung an die Ordensbrüder von San Zeno. Ab elfhundertachtzig dann Teil des Lehngutes, das Friedrich Barbarossa Vorfahren des Biemino da Manerba gewährt hatte – Renz setzte sich auf den Bug, immer noch die Ankerkette in der Hand –, und um zwölfhundertnochwas kam Franz von Assisi als Gast von Biemino auf die Insel. Er veranlasste den Bau einer Klause, aus der später eine Theologieschule wurde, mit langer Blütezeit, Dante war dort im Exil. Dante! Renz sah zu Marion – immer noch seine Dantonverwechslung –, und von ihr und Dante ein Sprung zu Napoleon: Der ließ die Klosterschule dichtmachen, und im Zuge seiner Reformen wurde die Insel erst Staatsbesitz, dann privatisiert. Eine Zeitlang gaben sich die Besitzer die Klinke in die Hand, bis wieder Ruhe in die Geschichte kam, das kleine Paradies ging an den Duca de Ferrari aus Genua. Und der ließ mit seiner Frau, der russischen Erzherzogin, einen Park anlegen und gab um die vorige Jahrhundertwende das Schloss in Auftrag, schon damals nicht billig. Das Ganze fiel dann an das einzige Kind der beiden, Anna Maria, die den Prinzen Scipione Borghese heiratete, daraus entsprang ebenfalls eine Tochter, Livia, die heiratete den Grafen Cavazza. Und erst aus dieser Ehe ging ein Sohn hervor, mit der Folge, dass den Cavazzas noch immer die Isola del Garda gehört – Leute, die wissen, was sie haben, und wissen, wer sie sind. Will jemand schwimmen?

Immer das Schlusswort des Vortrags, will jemand schwimmen, Vila hätte darauf wetten können, und beide Gästepaare hüpften wie Kinder ins Wasser, nach ihnen Renz mit Kopfsprung. Im Boot also nur noch sie: die Bühl nicht von sich abwaschen wollte, sie auf dem warmen Motorblock mit Blick zur Insel der Cavazzas, die wissen, was sie haben, und wissen, wer sie sind. Sie wusste nur in der Umarmung, was sie hatte und wer sie war, danach verlor sich dieses Wissen – es zerrann, wenn man mit anderen auf einen See fuhr. Komm doch auch, rief Renz, und sie winkte ihm mit zwei Fingern.

Ich weiß nur, wer ich bin, wenn wir uns umarmen: eher der Schluss eines Briefs von Hand als eine kurze Botschaft, rasch mit dem Daumen geschrieben und abgesendet, während die anderen schwammen, ein Stück Wiederholung, das ihr über den Abend half, das Essen an der Promenade von Salò. Die Rückfahrt dann im Dunkeln, sie tranken Grappa aus der Flasche, dazu renzsche Lieblingssongs und ein glatter See. Die Nacht, das Boot, der See: alles noch einmal in Bestform. Vila saß auf dem Bug, die Flasche in den Händen, so fuhr sie auch in den Hafen, im Eckbalkonzimmer noch ein Licht. Die Frauen stiegen aus, die Männer versorgten das Boot; Marion und Heide wollten noch etwas trinken, sie nicht, sie wollte allein zum Haus gehen. Und im Hohlweg wählte sie die Nummer, die längst ein Gedicht ohne Reim war, oder nur mit dem eines knappen, halb fragenden Ja, als wüsste der Angerufene nicht, wer anruft, und sie, noch etwas atemlos vom Anstieg: Ichbines. Darauf Bühl, in gespieltem Zweifel, Du? Und sie: Wer denn sonst. Und nach einer Pause: Es ging heute nicht anders, ich hatte nur ein paar Minuten, und morgen geht es gar nicht, morgen kommen noch Gäste an, um die muss ich mich kümmern, siehst du das ein? Kein Appell an den Verstand, ein Appell an das Mitgefühl, und er fragte, wann mit Kilian-Siedenburg zu rechnen sei. Mit deinem Schulfreund, bist du seinetwegen hier? Sie hörte ihre Stimme zwischen den Mauern, die Theatralik darin, eine Nachtszene: Frau im Hohlweg, telefonierend. Seinetwegen oder meinetwegen? Sie wollte es jetzt wissen, und als Antwort Laute, mit denen man Kinder aus Schmollwinkeln holt, am Schluss noch ein Bitte, leicht gereizt, eins wie: Denk bitte nach, nimm deinen Kopf zusammen, natürlich bin ich deinetwegen hier, auch wenn es noch etwas anderes gibt, du bist nicht das Einzige auf der Welt! Schön und gut; nur was will man sonst sein.

Sie ließ jetzt einen Arm an der Mauer schleifen, an Resten gekappter Brombeerzweige und entlang von Muschelabdrücken im uralten Stein, Siegel einer Zeit ohne Sehnsucht, Bist du noch da?, die ewige Frage, während Dornen und Vorzeitliches ihr die Armhaut öffneten, Schicht um Schicht. Ja, sagte Bühl. Und ich werde auch an dem Fest da sein, komm einfach nach oben, wenn es unten zu viel wird. Geht es dir gut? Endlich auch seine Frage, nur weniger fragend als sonst, eher mit einem Punkt oder drei Punkten dahinter, und von ihr ein Nein – nein, warum, warum sollte es mir gutgehen?, die Verbindung nach dem Nein schon von ihr unterbrochen, die letzten Worte nur für sich im Weitergehen, immer noch hart an der Mauer, das Schlussstück fast im Laufschritt, als folgte ihr jemand, und im Haus ging sie sofort ins Bad. Ihr linker, stärkerer Arm: seitlich ein Netz aus roten Fäden, mehr erschreckend als schmerzhaft, es brannte nur, wie ihr Gesicht nach zu viel Sonne brannte, ihr Geschlecht nach zu viel Wollen. Sie wusch die feinen Wunden aus und desinfizierte sie, dann zog sie ein altes Hemd von Renz an und ging zu Bett. Noch war sie zweiundfünfzig, für einen Tag, und das Brennen würde zu diesem Tag gehören – Klara, von der Bühl erzählte, als hätte er sie gekannt, muss ganz aus dieser Feuerhaut bestanden haben, ich verbrenne vor Sehnsucht, erlösche vor Sehnsucht. Sie hörte Renz ums Haus gehen, den schleppenden Schritt nach Seeüberquerungen, weil alles zu viel war, erst das Boot vom Möwenkot säubern und es später im Dunkeln wieder abdecken, dazwischen die Sonne, das Essen, der Grappa. Er schwamm noch im Pool, ein einsames Paddelgeräusch, und plötzlich nur noch leises Anklatschen von Wasser, dann Stille. Sie stieg aus dem Bett und schob die Balkontürläden auf. Im Pool Renz als Toter Mann, Arme ausgebreitet, Augen zu, er kann das: so atmen und sein Gewicht verteilen, dass ein Wasser ihn trägt, ihren nur reglosen, noch lebendigen Mann, für sie auch eine Art Wasser: das Einzige, das trägt, wenn sie vernünftig genug ist.

Und der ganze nächste Tag, obwohl spätsommerlich warm, ein Tag im langärmligen Hemd, um nichts erklären zu müssen, das Hemd jetzt aus eigenem Bestand und nur unverdächtig durch offene Knöpfe, in dem sie mehr zeigte, als sie zeigen wollte, vor allem den Wilfingers. Die trafen am späten Nachmittag ein, er mit Rotweinpräsent, Franzose, Grand Cru, sie gleich mit dem Geschenkpaket, selbst das Papier ihr Design, lauter Buchstaben, angeblich ein Goethe-Zitat. Renz brachte die beiden zu der Pension, sie blieb mit Elfi und Lutz auf der Terrasse, die Freunde per Flugzeug gekommen. Und der gemeinsame Abend eher kurz, kein Hineinfeiern, Katrin lief noch mit den anderen in den Ort, aus irgendeiner Torri-Ecke kam Musik, dort wollten alle hin. Sie und Renz also allein, und auf einmal die Versuchung, ihm den krustigen Arm hinzuhalten, sieh, wer ich bin – ein Sekundenimpuls, dann ging sie auf ihr Zimmer und fand eine Nachricht. Setz mir den alten Freund so, dass er gut zu sehen ist, und denk daran: Du wirst jünger!, ein Wort, das sie noch vor dem Mitternachtsläuten einschlafen ließ. Sie wurde dreiundfünfzig, ohne dass sie es merkte, fast so perfekt wie ein Tod im Schlaf.

DER alte Freund, der bei dem Abendessen mit dem Gesicht zum Eckbalkon sitzen sollte, war einziger Passagier der eleganten Villa-Feltrinelli-Barkasse, eine Ankunft im Hafen von Torri zur Stunde des Aperitifs, als unter dem Balkon schon vier Tische für zwölf Personen zusammengerückt waren.

Kilian-Siedenburg in sommerlich hellem Anzug, gestreiftem Hemd und mit burgunderroter Krawatte, im Arm einen großen eingewickelten Blumenstrauß. Der Kapitän der Barkasse – wenn man Mütze und Uniform ernst nahm – half dem Passagier beim Aussteigen, beide wechselten noch ein paar Worte, dann trat Cornelius mit Schritten auf den Hafenplatz, als würde er dort erwartet. Aber um ihn nur das Sonntagsgeschehen bei schwülem Wetter, der Seedunst mehr schwefelfarben als golden, im Süden zu Wolken getürmt, ein letztes Flanieren im Warmen, umschlungene Pärchen, bieder aufgeputzt, ganze Familien aus einem Guss, Vater, Mutter, Kinder, dahinter die Alten, Männer bei Männern eingehängt, Frauen bei Frauen. Der Ankömmling mit Rundbrille und Blumenstrauß im italienischen Frühabendtreiben auf der Suche nach einem bekannten Gesicht, einem Halt – fast mochte man ihm zurufen, komm herauf, Komiteedirektor, warte bei deinem Begleiter durch die Verse Catulls, bis unten das Fest beginnt. Direktor war in Aarlingen sein zweiter Name, er gab die Internatszeitung heraus nach Direktorenart, er war Schulsprecher mit Blazer und Einstecktuch, er hielt direktorenhaft die Abschlussrede, Marc Aurel oder vom Nutzen des Guten. Nur an den Sonntagnachmittagen im Schilf war Cornelius, wie er im Moment auf dem Platz stand, unsicher, ob er es wert war, auf der Welt zu sein, ein Zustand, der geendet hatte, sobald es Publikum gab, wie er auch jetzt abrupt endete: Er winkte mit dem Strauß, und Vilas Mann kam ihm entgegen, gefolgt von einem Kellner mit Tablett, darauf blassgrüne Drinks, der Aperitif.

Die beiden bedienten sich, ihre Worte überlagert von fernem Grollen, als fielen hinter Salò Berge in sich zusammen, die Tage des Zehenspitzensommers gingen zu Ende. Renz zeigte auf den See, er trug ein weißes Hemd mit schwarzer Weste; nur das Glas in der Hand passte nicht zum älteren Oberkellner. Und dann tauchte auch Vila auf, das Geburtstagskind in platingrauem Seidenkleid mit Ärmeln, dazu die falschen Veronaschuhe, in der Hand drei lange rote Rosen von Renz, eine für jedes Jahr über fünfzig. Sie hielt sie am pendelnden Arm, die Blüten nach unten, und trat auf den Ankömmling zu, eine Begrüßung mit Hallo, ohne Namen, und dabei schon sein Auswickeln des großen Blumenstraußes, erst eine Lage Papier, dann Zellophan, übrig blieb ein Orchideengebinde, als würde sie heiraten, eine späte Braut.

Vila stieß einen Laut aus, ihre Würdigung für die Orchideen, der Kellner brachte eine Vase, während die Gästepaare mit ihren Drinks auf den Laut hin an die Tafel kamen, Elfi und Lutz, Heide und Jörg, die Wilfingers, die Englers, und am Ende Katrin, Katrin mit Vilas Gang aus dem Kreuz heraus und Renz’ ehedem dunklem Haar. Sie trug ein enges weißes Top, gut für die schönen Schultern, dazu weite flatternde Hosen und Sandalen, die sie in der Hand hielt; Wind war aufgekommen, nicht stark, nur stark genug, das Tischtuch an einer Seite über die Gedecke zu heben. Vila nahm Katrin am Arm, sie machte sie mit Kilian-Siedenburg, ihrem Tischnachbarn, bekannt, beide mit dem Gesicht zum Eckbalkon. Die Sitzordnung war ihre Sache, schon immer, sie selbst hatte den Platz am Tischkopf, halb schräg zum Balkon, ihr zur Seite Marion und Katrin, dann Fritz Wilfinger, gegenüber von Kilian-Siedenburg, damit sie über Missbrauch reden könnten. Und Renz am anderen Ende der Tafel mit dem Rücken zum Hotel, bei ihm Friederike Wilfinger und die Nachbarpaare, der ausgleichende Jörg neben Friederike, um ihre Designerphilosophie zu ertragen. Vila sammelte die Runde, sonst immer Sache von Renz, aber sie wollte den Abend gleich in die Hand nehmen und sagte etwas zu jedem, sogar zu dem Mitjubilar Goethe, als sei er anwesend, und am Schluss der kleinen Rede ein Anlauf für ein paar Worte zu sich selbst, jetzt eingerahmt von den Wilfingers, er mit einem Turniertänzerlachen und getöntem Haar, sie sehnig sportsüchtig und komplett gebräunt, beide auch um die Fünfzig und ihre Jugendlichkeit wie eine Entstellung, nur dass man erschrocken hinschauen musste, nicht wegschauen. Vila hatte sich ihre Worte genau überlegt – noch bin ich nicht die Frau, die man bewundert, weil man sie auf einfache Art nicht mehr lieben kann –, aber dann sagte sie: Ich bin jetzt dreiundfünfzig, wer dabei sein will, ist herzlich eingeladen, sofern er mit mir auch älter werden möchte, egal, wie jung er sich fühlt! Und damit hob sie ihr Glas, als schon die Vorspeisen auf den Tisch gestellt wurden, alles sehr ländlich, Weißspeck, Salami, Tiroler Schinken, dicke Bohnen, Zucchini und Auberginen, eingelegt, Parmesanstücke, kleine Bufalakugeln in ihrer Milch, dazu Olivenöl und Balsamico, frisches Brot, grobes Salz, der Wein in Karaffen. Und beim Trinken schließlich ihr Blick über den Glasrand zum Balkon, wie ein kurzer Blick nach dem Wetter, schon beunruhigt von nur einer kleinen Wolke.

Die Frau, die man noch nicht bewundert – am Morgen kam Renz in ihr Zimmer, um mit einer Dreiundfünfzigjährigen zu schlafen, das waren seine Worte. Wir beiden Alten, sagte er, die Rosen in der Hand, und ihm fiel nicht einmal auf, dass sie sein altes Hemd trug. Lieb, aber ich bin zu kaputt: ihre Worte, ein fast wahrer Satz, und er gratulierte und überreichte seine drei Rosen, offenbar kaum enttäuscht. Dann verschieben wir’s auf den Sechzigsten, rief er ihr noch von der Treppe her zu, und sie tat, was sie seit Mädchenjahren nicht mehr getan hatte, aus verrücktem Sehnen ein Kopfkissen umarmen.

Sie gab sich mit Essen beschäftigt, obwohl sie kaum etwas aß, mehr so tat, während Bühls früherer Freund und Wilfinger schon darüber sprachen, wie dokumentarisch ein Missbrauchszweiteiler sein sollte. Originalzeugen, O-Töne, reale Menschen wie bei den Weltkriegsdokus, die Opfer eines verschwiegenen Krieges zeigen, Wilfingers Konzept. Wozu sei er denn da, wenn nicht, solchen Leuten ein Gesicht zu geben: Herrgott, wozu mache ich Fernsehen? Er kam gar nicht mehr herunter von seinen arglosen Schweineansichten, sekundiert vom erklärten Vertreter der Opfer, wenn nicht selbst Opfer. Natürlich hat es Versuche gegeben, aber nicht meine Welt, diese Dinge, zurückgeblieben ist nur der Schock: O-Ton Kilian-Siedenburg, und Renz zeigte sich vom Tischende aus beeindruckt. Die Schockwellen, darum muss es gehen, rief er, als schon für den nächsten Gang, das Trüffelrisotto, Platz geschaffen wurde, und sie, die Jubilarin, stocherte noch in den Antipasti; es fiel ihr schwer, überhaupt etwas aufzunehmen, im Grunde umarmte sie weiter ihr Kopfkissen, wie als Kind tatsächlich eine Nacht lang, im Stich gelassen von einem Vater, der sie am Vortag königlich spazieren gefahren hatte. Ein zweihundertzwanzig SL, elfenbeinfarben, rote Sitze, schwarzes Verdeck, das Schönste, das je bei Mercedes vom Band lief. Der Vater fuhr mit ihr von Hannover nach Bremen und retour, einfach so, und war danach verschwunden, ein Möchtegern, den sie aber weiter liebte, ihr frühes Phantomglück – dein und mein Schicksal, so nannte es ihre Mutter, ein Schicksal, wie man es heute leicht oder locker von sich fernhalten kann.

Vila, warum sind Sie so ruhig? Eine Frage über den Tisch, dabei das Glas gehoben und leicht gegen ihres getippt: Wilfingers Charme, und die Antwort von Renz: Vila ist nachdenklich, wie unsere Tochter, nicht wahr? Er wandte sich an Katrin, sie sollte vom Rio Xingu erzählen, von ihren Indianern, aber Katrin wollte ihr Risotto essen, also wandte er sich wieder an Wilfinger, ob nicht in dem Film ein Geburtstag Anlass sein könnte, die alten Missbrauchsdinge hochkommen zu lassen? Auch eine Frage an den Experten, und auf einmal beteiligte sich die ganze Runde. Marion Engler fand die Idee logisch, und ihr Thomas wollte gleich die Figuren klären, das Opfer, Junge oder Mädchen?, und Heide rief: Junge, auf jeden Fall ein Junge, und richtig schön! Noch ein Stichwort, richtig schön, was hieß das? Elfi war gegen den ganzen Begriff – ja müsse man überhaupt schön sein, um ein Opfer von Missbrauch zu werden. Unsinn, sagte Lutz, und Jörg schloss sich an, während Kilian-Siedenburg vorsichtig dagegenhielt. Etwas schön wohl schon, sagte er mit Blick auf Katrin, die sich ganz auf das Risotto konzentrierte. Aber was war, bitte, etwas schön? Die nächste Frage, und gleich vier, fünf Antworten, von Mona Lisa bis zum Kanzleramt. Und deine neuen Schuhe sind auch etwas schön – leise Katrinworte –, aus Verona, ja? Ein Nachhaken mit der Gabel am Mund, so, als wüsste sie, woher die Schuhe stammten, aus der Weltmode in Magugnano, nicht aus Verona, und Vila ließ sich von Fritz Wilfinger Feuer geben, damit sie aufstehen könnte, vom Tisch wegkäme.

Sie ging mit der Zigarette zum Hafenbecken, ganz sicher, dass Bühl sie vom Zimmer aus sah. Wenn sie einen Wunsch frei hätte: mit ihm heute Nacht zurück in den Hochsommer fahren, bis nach Sizilien, wie sie es mit Renz gemacht hatte vor bald dreißig Jahren im alten Käfer, in der Tasche kaum Geld. Glutnachmittage auf durchgelegenen Betten und gegen Abend das Lärmen der Vögel, Tausender in den Bäumen vor Hotels wie dem Albergo Lampedusa, sie so alt wie Katrin heute. Damals kam sie zum ersten Mal, wie es nach allgemeiner Ansicht sein sollte, und musste vor Erschütterung weinen, obwohl es mehr Zufall war, irgendwie hatten sie alles richtig gemacht, zwei liebende Laien, die danach Rotwein mit Eisstückchen tranken und die Spaghetti klein schnitten und später Arm in Arm durch Palermo zogen, jeder mit Zigarette in der freien Hand. Die in einer Bettkuhle Hintern an Hintern schliefen und sich schon morgens liebten, im Schweiße ihres Angesichts, dann halbnackt weiterfuhren auf staubigen Landstraßen, durch reglose Orte, die Häuser unverputzt, roh. Und zwischendurch ihr Baden in kleinen Buchten oder Liegen auf Kieseln, die Hemden als Sonnensegel, und nachmittags wieder ein Hotel, das billigste, Hauptsache, ein Bett, um darin das eigene Leben in ein anderes zu schütten, bis an den Rand der Erschöpfung und weiter – Begierde ist, wenn einem zu fehlen scheint, was man eigentlich hat, und man geben möchte, was man nur zu haben glaubt, wieder und wieder; man weiß nicht, warum es einen gibt, warum man lebt, aber dass man lebt, wird zur Gewissheit. Sie stieß die Zigarette an einer der Steinbänke am Hafen aus und drehte sich um – Bühl stand in seiner offenen Balkontür, eine Flasche Wasser im Arm, wie man ein Kind hält. Er trug nur eine Hose mit Gürtel, sie war ihm über die Hüftknochen und den Bauch gerutscht, was auch etwas Schönes hatte, so still überwältigend schön wie ein Ichliebedich von Hand geschrieben, blau auf weiß. Der Fisch, rief Renz über den Hafenplatz, schau ihn dir an!

Der Fisch, das waren vier große Branzinos in der Salzkruste, die jeweils noch abzuklopfen war, eine Art Schlagzeugtätigkeit für drei Kellner, von jedem am Tisch kommentiert. Also konnte sie in Ruhe von einem zum anderen schauen, in Gesichter, die sonst niemand sah, zehn, fünfzehn Jahre älter als im Moment, ohne Chance, noch einmal geliebt zu werden, höchstens bedauert. Die Wilfingers: nur noch Lederhaut und Design, er mit gefärbten Locken, rossbraun, sie die Lippen noch verzweifelter rot. Oder Elfi und Lutz – ihre liebe alte Elfi, kein Hausbesuch mehr mit Arztköfferchen, auch keine Tanzkurse, und ihr ohnehin schon feines Haar noch feiner, rötliche Watte. Und Lutz mit Eintrachtdauerkarte, ohne dass man ihn dort noch brauchte, ihn irgendein verdrehtes Knie einrenken ließ. Alle zwei Wochen würden sie es tun, hatte Elfi einmal nach ein paar Grappas erzählt, aber das war gestern, morgen käme es nur noch alle zwei Monate vor, wenn überhaupt. Elfi sprach ja auch schon von betreutem Wohnen, vom Umzug in ein Haus mit Fahrstuhl, von Rente und Essen auf Rädern: Dinge, mit denen sie, Vila, nichts zu tun haben wollte, so wenig wie mit betreutem Sex. Und Heide, ihre bestaunte, lebenstüchtige Heide: So viele Teelichter konnte es gar nicht geben, um sie dann noch erstrahlen zu lassen, mädchenhaft, frech, und Heide war so liebend gern frech. Mit keiner sonst lachte sie so oft über Frauengeschiss, bis die heidesche Müdigkeit kam, jetzt noch abends um neun, dann spätestens um sieben, schlaf, Heide, schlaf ein, und Jörg wird Fotos bearbeiten. Nichts, das Jörg nicht verbesserte, da einen Telefonmast wegnahm, dort einen Hund platzierte, wie Heide ihre Lichter – Photoshop-Jörg und Teelicht-Heide nach Verkauf ihrer Firma Cleanlight, das Konto gefüllt, die Tage leer auf der Finca, nur voller Hoffnung auf Besuch, wie sie hier am See immer auf ein Erscheinen hoffen: das ihrer göttlichen entschwebten Tochter. Bei Heide und Jörg gab es wenigstens noch die spanische Gemeinsamkeit emoción, beides Gefühlsmenschen, während sie und Renz auf die Epiphanie setzten. Und vielleicht wären das später die Besuche der Englers, sie immer noch Mediatorin, die Grande Dame der Mediatorinnen, dann auch in Talkshows zu sehen, ihr Mann weiterhin bodenständig, aber mit Sinn für die Sterne, nach denen man greifen könnte. Und Katrin? Die war noch im Werden, die käme erst richtig aus ihrer Schale, mit etwas Glück an der Seite eines Dokumentarfilmers. Blieben sie und Renz, das war schon die Zukunft, er hatte sein Altershaar, sie ihr Grauen vor dem Alter, und als letztes Bühls früherer Freund, der mit Katrin Konversation machte, lebhaft über Brasilien, und nur am Tisch saß, weil er gebraucht wurde: Der Herr Cornelius, wie Renz ihn inzwischen nannte, für sie auch in zehn Jahren noch der, der jetzt aufstand zu einem Toast, die Brille zurechtschob und beim Reden dann auf seinen Schuhspitzen wippte, eine Art Hervorwippen von Nettigkeiten, die kaum in ihr Ohr drangen. Sie sah nur, wie sich die Nasenlöcher beim Sprechen leicht blähten und ein Glanz auf dem Haar lag, das Bühl, wer weiß, als Schüler im Schilf gestreichelt hatte. Alles erschien ihr auf einmal denkbar, alles, selbst eine Flucht in dieser Nacht wie die von Klara aus ihrem Adelsturm.

Und nach dem Prosit die Branzinos, das Fleisch weiß und saftig, sie aß wieder ohne Appetit, dazwischen auch ihre Bemerkungen vorsichtig, ohne Biss, über das Leben am See und das Leben in Frankfurt, die ersten Herbsteinladungen, bei den Hollmanns, bei den Schaubs, lange Essen am Tisch, keine Sofarunden. Wenn Paare feiern, wird das Eis schnell dünn, sagte sie, Worte, die fast untergingen in Windstößen über das Hafenbecken und den Platz, Wind, der einer jungen Frau den Rock zwischen den Beinen verwickelte, Italienerin mit wehendem Haar: die sich scheinbar geschlagen gab, in Wahrheit mit dem Wind und ihrem Rock spielte, auch noch als Renz nach dem Fischgang das Wort ergriff. Er begann mit einer Eloge, sie, sein vertrautester Mensch, eine unerschöpfliche Frau, in sich schön, also auch strahlend – sie kannte jedes Wort, auch die rückblickenden. In unseren Anfängen, sagte er, war ich fassungslos, wenn sie im Kino geweint hat, weil etwas das erhoffte Ende nahm. So war es doch, oder nicht? Er sah sie an, und sie nickte ihm zu, rede ruhig weiter, sag, was du willst, aber das tat er ohnehin, dabei schon sein Glas erhoben. Inzwischen schauen wir nur noch DVDs, meistens die alten Sachen, ihr Lieblingsfilm ist Frühstück bei Tiffany, meiner What Ever Happened to Baby Jane?, es kommt nicht ganz zusammen. Aber einmal im Jahr einigen wir uns auf Tod in Venedig. Und so trinken wir auf den Kompromiss, auf das Leben, wie man damit fertigwird, auf Vila und die Zeit!

Neuer Wind trieb welke Blättchen vor sich her, in den Oliven auf der Mole ein Zittern, noch mehr Welkes riss von den Zweigen und wirbelte bis an die Tafel mit zwölf erhobenen Gläsern. Renz sah jeden an, eine Runde endend bei ihr, der Moment, in dem sie aufstand. Sie ging zum Tischende und stieß ihr Glas an seins, ein stummer oder nur leise klirrender Dank, dann leerte sie das Glas, schon ihr viertes, fünftes, als seien sie allein, allein in ihrer Küche in der Schadowstraße nach einem Essen mit Freunden. Ihr entschuldigt mich, sagte sie, ein Wort, das schon zu viel war, aber das einfache Weggehen gelang ihr nicht. Sie winkte sogar noch Heide zu, Heide, der Vertrauten in heiklen Dingen, und Heide winkte zurück, frech solidarisch wie immer, und Marion Engler schloss sich an, aber ein Winken wie von weither, traurig im Grunde, warum verlässt du uns schon, während Katrin kurz den Daumen aufstellte, halb ironisches Zitat, halb Unterstützung: ja, man kann hier nur abhauen, und das tat sie. Sie lief zum Hoteleingang in einem Gewirbel von Blättchen wie alte Seide in tausend Fetzen, hinter ihr die Stimmen der Wilfingers: dass man sie natürlich entschuldige! Aber nicht gerne gehen lasse! Und auch Renz war noch zu hören, als sie schon an der Rezeption vorbei war, Preisfrage: Wie alt wäre Goethe heute geworden?, seine Stimme mit dem Wind vermischt, Wind, der bis ins Treppenhaus fuhr, auch ihr das Kleid zwischen den Beinen verwickelte, sie so jung machte wie die Italienerin mit dem wehenden Haar, als sie die Stufen nach oben nahm.

HIER bin ich: ihre Worte, als die Tür aufging, etwas anderes fiel ihr nicht ein, und sie wiederholte es, Hier bin ich! – wer liebt, hat nichts weiter zu sagen, als dass er liebt, mal leiser, mal lauter, ein Wiederholen, bis selbst Tränen vor Glück eine stumme Leier sind. Und fast hätte sie es erneut gesagt, hier bin ich, aber Bühl zog sie rechtzeitig ins Zimmer und drückte die Tür zu, Alles Gute zum Geburtstag – nicht ein Wort zu viel, nicht eins zu wenig und bei ihr schon zweimal drei zu viel.

Ich habe kein Geschenk für dich, schlimm? Leise, aber ohne Bedauern kam das, als sie zwischen Tür und Bett standen. Nein, warum schlimm – die Chance für drei Worte, die keine Wiederholung wären, nur tat es ihr weh, dass er nichts für sie hatte, war also schlimm. Irgendein winziges Geschenk, selbst eine Bastelarbeit, hätte sie glücklicher gemacht als alle großen, die oben im Haus lagen, von Renz etwa ein Premierenabo für die Frankfurter Oper oder von Marion ein antiquarisches Buch, der Roman Rot und Schwarz mit Ziegenledereinband. Du bist das Geschenk, sagte sie, und er zog sie aufs Bett, zu Recht nach solchen Worten: die sie gar nicht hatte sagen wollen, wie sie auch nicht für eine Minutensache mit ihm ins Bett wollte, nicht um den Preis, dafür den Mund zu halten oder noch mehr Unsinn zu reden an ihrem Geburtstag. Was sie eigentlich wollte, mehr als jede Umarmung, was sie erst ins Treppenhaus, dann vor seine Tür getrieben hatte, das war der Wunsch nach einer Antwort auf diesen Tag, auf ihr Dreiundfünfzigsein. Und seine Antwort: das grauseidene Kleid hochzustreifen, mit ihrem Einvernehmen, wenn Stillhalten schon Einvernehmen hieß, und die Hand unter den Slip zu schieben, einen Weg in sie zu suchen. Also musste sie sich selbst antworten, selbst ihre Geschichte erzählen: unhaltbar bei dem, was sie dann sagte, über ihn gebeugt, ihr Haar auf seiner Stirn. Ich liebe dich, und ich sage das nur ein einziges Mal, nüchtern, obwohl ich getrunken habe, mach damit, was du willst. Und jetzt gehe ich wieder – schlimm? Ein Kontern, aber nicht nur, sie war auch in Sorge, wie er den Abend über zurechtkäme – sie wieder unten am Tisch, abgelenkt, eingespannt, womöglich mit seinem alten Freund beschäftigt, er allein im Zimmer mit dem Verlangen nach ihr. An seiner Stelle wäre sie davongelaufen, auch das ihre Sorge. Sie sah ihn immer noch an, das Gesicht, von dem sie nicht genug bekommen konnte, wie als Kind von dem ihres Vaters, weil er kaum einmal da war. Und dann wollte sie vom Bett, und Bühl hielt ihren Arm fest, während sein Blick zur Seite ging, fast verlegen. Ja, schlimm, sagte er, knappe Worte aus dem Mund, den sie noch gar nicht geküsst hatte an diesem besonderen Tag, und nach einer Pause, wie um Kraft zu sammeln, alle Kraft, die nötig ist, sich einem anderen zu erklären, sagte er Bitte bleib – noch zwei knappe Worte, die Betonung ganz leicht auf dem Bleib, und sie blieb.

Stimmen und Lachen von unten hatten jetzt etwas Unwirkliches, wie die Stimmen aus einem Fernseher innerhalb eines Films. Sie ging das alles nichts an, nur gab es keinen Schutz davor, nicht einmal beim Küssen. Bühl wollte mit ihr schlafen, was sonst, im Grunde auch ihr Wunsch: etwas mitzunehmen von ihm an den Tisch, wo längst das Dessert stehen würde, eine Zabaione, wie man sie kaum noch bekommt, schaumig süß, aber nicht zu süß, ihre dann schon eingefallen. Nein, sagte sie, noch halb an seinen Lippen, wir reden, und danach werde ich gehen. Was willst du von mir? Sie sah auf ihre Uhr, die alte Reverso, aber mit neuem, geflochtenem Lederband, darin feine Goldeinlagen, Katrins Geschenk, seltener Indioschmuck; zwanzig Minuten gab sie sich und ihm. Der Wind hob die Vorhänge, von den Booten im Hafen das Klöppeln der Masten, dazwischen Stimmen, auch die von Renz, ein Wort wie Hissen oder Missen – man vermisste sie schon, bald würde Renz sie suchen, aber am Tisch noch Entspanntheit, Gelächter, deutlich das von Heide, Heide, die gar nicht müde wurde, ihr zu Ehren durchhielt, und dann Bühls Nichtmehrfreund oder Dochnochfreund mit kleinen Ergänzungen zu Renz, wie ein Weiterreimen von Hissen oder Missen. Du weißt nicht, was du von mir willst, sagte sie. Und bei deinem Ex-Freund, weißt du es da? Warum sollte der heute hier sein? Warum versteckst du dich vor ihm? Er hat mir Orchideen geschenkt, Blumen für die Frau in mittleren Jahren. Weißt du wenigstens, wie alt ich geworden bin? Dreiundfünfzig, Bühl, sprich es mir nach, sag: Du bist dreiundfünfzig, sag es! Sie zerrte an seinem Hemd, der einzige geschlossene Knopf sprang ab, und er griff sich ihre Hand und drückte sie in eins der immer zu vielen Kissen in besseren Hotels, die anderen fegte er mit einer Bewegung, als würde sie ihr gelten, vom Bett. Dein Alter, das ist mir egal.

Aber mir nicht! Ein fast zu lauter Ausruf, vielleicht bis an den Tisch gedrungen, und statt es ihr nachzusprechen, zu sagen, du bist dreiundfünfzig, mein Gott, packte er ihre Arme und zog sie auseinander wie für eine Kreuzigung, Anlauf für etwas, das aber ausblieb; zum ersten Mal schien er nicht weiterzuwissen, Bühl am Ende seines Lateins oder am Beginn einer anderen Sprache. Los, tu mir weh, mach, rief sie, Worte wie aus einem Film, den sie nicht bis zum Schluss anschauen würde. Was ist, worauf wartest du? Sie hielt ihm ihr Gesicht hin, und das Einzige, was er tat, war, sie loszulassen und seine Hände im Nacken zu falten, ein Rückzug wie im Goldenen Adler, als sei sie es nicht wert, dass man ihr wehtut und sich selbst gleich mit. In Unterried hättest du alles von mir haben können, sagte sie, alles. Aber du passt auf dich auf, du willst in nichts hineingeraten, aus dem du nicht wieder sauber herauskommst, in keine Scheiße mehr, wie damals im Internat, du bist dein eigener Leibwächter, ich nicht – ich nehme auch Scheiße in Kauf, wenn dabei Glück herausspringt. Und du, was willst du? Meine Schwäche für dich? Oder noch mehr, meine Welt, willst du meine Welt ficken? Und wie oft nach diesem Sommer? Alle drei Monate für eine Nacht? Denkst du, das reicht, um in meine Welt einzudringen? Sie befreite den linken Arm und sah wieder auf die Uhr, nur wusste sie gar nicht mehr, wann sie vom Tisch aufgestanden war, die Zeiger hatten keine Bedeutung, sie zeigten nur, dass die Zeit verging, auch sein Bleib bitte: schon Vergangenheit. Sag etwas oder tu irgendetwas, sagte sie, und er legte sich neben sie auf den Rücken, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, das offene Hemd ging dadurch noch mehr auf. Seine Brust hob und senkte sich, auch die Bauchdecke: unter dem Gürtel immer wieder ein Spalt, in den sie gern die Hand geschoben, ja sich selbst verkrochen hätte. Und vom Hafenplatz jetzt ein Klatschen von Markisen, Rufe und hastiges Hin und Her, das Klirren zerspringender Gläser; Windstöße bauschten die Vorhänge, das einzige Licht im Zimmer wurde schwächer und wieder stärker.

Vila! Auf einmal unter dem Balkon ihr Name, Renz’ ganze Ungeduld, vielleicht auch Sorge, also war sie nun die Vermisste. Dein Mann, willst du nicht zurückrufen? Bühl streichelte ihre Stirn, ihren Mund. Wie lange bleibt ihr noch am See, wenn das Wetter umschlägt? Er strich ihr Haar zurück, sie nahm seinen Daumen und umschloss ihn. Es schlägt nicht um – eine stürmische Nacht, dann kommen die besten Tage, Renz und ich nennen sie Gnadentage. Ich sollte jetzt gehen. Oder stiehl uns einen Wagen, und wir fahren die ganze Nacht bis Sizilien! Sie boxte ihn gegen die Brust, den Bauch, seine Gürtelschnalle und rief leise Sizilien, drei Silben, dreimal die Faust. Und dann, fragte er, was tun wir in Sizilien? Für immer dort bleiben, für immer, bis deine Tochter oder eine der Frauen dort unten anruft: Vila, was ist los? Er schob wieder ihr Kleid nach oben, er zog an seinem Gürtel, und sie schaute den Vorbereitungen für den animalischen Teil der Liebe zu, ein Wort ihrer Mutter, der animalische Teil der Liebe, um das eigene Verlassensein auszuhalten, die Sehnsucht nach einem Blick, einem Mund. Ich kann jetzt nicht, Bühl, und ich will auch nicht, obwohl ich es möchte. Ist das zu verstehen? Sie hielt seine Hand fest, die Hand, die schon dort war, wo sie alles noch schwerer machte, unlösbar. Küss mich, sagte sie, ein Risiko, und noch während des Kusses das Gegensteuern, sie zog ihr Kleid wieder über die Schenkel, aber halbherzig, ein kindisches Ringen mit seiner Hand, das sie verlor, und um noch irgendetwas in der Hand zu haben, nun doch der Griff unter seinen Gürtel und auch dabei ein Gegensteuern, jetzt mit Worten, Dein alter Freund, sagte sie, weiß er alles über dich von damals? Weiß er, was zwischen dir und diesem Rudertrainer war, weiß er, wie der umkam? Hatte er doch etwas mit ihm? Oder hattet ihr beide etwas? Sieh mich an! Sie hielt ihn jetzt, wo er Renz am ähnlichsten war, nur pulsierender, wie ein klopfendes schlankes Herz, und sein Blick ging weiter auf den Boden neben dem Bett, auch in der Schläfe ein Pulsieren, eins, das sie noch nie gesehen hatte an ihm. Ruhig nur die Stimme, aber wie von einem anderen, Unbeteiligten, zuständig für alle persönlichen Auskünfte. Cornelius und ich, das war Freundschaft, sagte er, meine einzige während der Schulzeit. Und mit Heiding hatte er nie etwas. Und dieser Mann ist ertrunken.

Einfach ertrunken, ein Sportlehrer?

Nein, nicht einfach, man ertrinkt immer elend. Wir hatten den Zweier, Heiding und ich, ein später Juniabend, und nach dem Rudern sind wir noch schwimmen gegangen, weit hinaus im letzten Licht, aber zurückgekehrt in der Dunkelheit ist nur einer, da war der andere schon ertrunken. Und nach drei Tagen die Leiche bei Steckborn, ein Fall für die Schweizer. Musst du nicht gehen? Er löste ihre Hand von dem, was sie hielt, noch ein Eingreifen des Unbeteiligten in ihm, auch als er aufstand, das Hemd in die Hose steckte und den abgesprungenen Knopf aufhob; die Adern in seinen Schläfen jetzt so geschwollen, als könnten sie jeden Moment reißen.

Ja, ich muss gehen, sagte sie und ließ sich aufhelfen, seine ausgestreckte Hand wie ein Stück Freundschaft auf Probe. Sie ging vom Bett ins Bad, der normale Weg, und zog sich die Lippen nach, das Rot, das sie zuletzt in Mailand dabeihatte für das Treffen mit Michele Flaiano, der noch im Koma lag. Was ist da passiert auf dem See, sag es mir! Ein Ruf ins Zimmer, mit dem Gesicht nah am Spiegel, weil es idiotisch war, sich mit Lesebrille einen schönen Mund nachzuziehen, ihr unverdientestes Geschenk; den Stift fasste sie kürzer als sonst, wie ein Kind, das schreiben lernt. Bühl erschien in der Tür, er schaute ihr zu, seine Augen, auch unverdient, folgten dem Stift, ihren Fingern, der Hand. Heiding wollte sich mitten auf dem See, als wir schon zurückschwammen, an mir festhalten, Kräfte sparen für das Ruderhaus, aber auch vorglühen. Man sagte das damals noch nicht, man tat es wortlos, nur war er für mich zu schwer, ein nasser Muskelsack. Ich schwamm also weiter, und er rief nach mir, wie verrückt, dabei schluckte er Wasser, und ich machte noch einmal kehrt, bin getaucht. Aber nachts ist alles schwarz, wenn man taucht, ich spürte nur einmal sein langes Indianerhaar, er hätte nach meiner Hand greifen können. Vielleicht wusste er, dass es besser so für ihn war, für mich war es sicher besser. Cornelius glaubt, darüber mehr zu wissen, auch deshalb will ich ihn hier irgendwo treffen nach zwanzig Jahren, sagen wir, in Campo.

Warum nicht gleich in der Kapelle, wo wir uns getroffen haben? Sie steckte den Stift ein und kämmte sich noch, Bühl stand jetzt neben ihr: zum ersten Mal sie beide in einem Spiegel, ein Paar wie zwei Sonnen in einem Spielautomaten, fast ein Gewinn. Ja, daran dachte ich, sagte er. Ich werde ihm die Koordinaten der Kapelle mailen, damit er nicht herumirrt.

Eine gute Idee – Vila ging aus dem Bad, sie strich noch ihr Kleid glatt –, weißt du, was er über die Frau erzählt hat, die du geküsst hast, als sie noch jung und süß war? Die, die sich samt ihrem Krebs an Renz geworfen hat und jetzt unter der Erde liegt? Dein Freund Cornelius hat sie nicht zufällig in einem Münchner Café sitzen sehen, er hat sie in München systematisch gesucht, noch in den Zeiten vor GPS. Möchtest du meine Koordinaten? Ich habe sie vorhin genannt – drei Worte statt lauter Zahlen. Gehst du noch ein Stück mit, nur die erste Treppe hinunter? Sie legte ihm eine Hand auf die Brust, noch ein Risiko, aber jedes Weiterreden wäre ein größeres. Mit Renz hatte sie damals bis in den Neujahrsmorgen geredet, sich hineingeredet in eine Verklammerung, ohne dass sie es merkten, als seien die Sätze, die Geschichten, ja selbst die Pausen dazwischen, schon Zähne eines Reißverschlusses, und am Ende fehlen die Worte, ihn wieder zu öffnen. Bühl legte ihren Kopf an seine Wange, diese auch leicht hohle, schrecklich schöne Wange, ein Sekundenakt, bevor er mit einer Hand ihre beiden Hände in eine Art Fessel nahm, als sei sie das Lamm über dem Bett seiner alten Kinderfrau, agnus Vila, und ihr zwei Finger der anderen Hand gegen die Stirn drückte, kein Schmerz, nur ein sachtes Stempeln. Und beim Loslassen ihrer Hände das Versprechen, immer an sie zu denken, anderenfalls hätte er nie an sie gedacht – das alte Gesetz, sagte er und hielt sich die geäderten Schläfen. Dann ging er mit zur Tür und von dort, wie gewünscht, noch über die Treppe bis zum Flur, einen Arm um ihre Schulter, vielleicht das einzige Stück Weg, das sie gemeinsam zurücklegten.

DIE Geburtstagsrunde jetzt unter den Hotelarkaden, obwohl erst einzelne Tropfen fielen, aber alles suchte schon Schutz, Gäste, Kellner, die Musik, ein lautes Zusammenrücken; Renz und die Übrigen an drei Tischen anstatt vier, längst bei Espresso und Grappa, nur am einzigen freien Platz noch eine Dessertschüssel, mit Folie bedeckt, für Vila ein Fingerzeig: sieh, was ich getan habe für dich, während du verschwunden warst. Wir wollten schon die Polizei holen, rief Renz ihr entgegen. Er zog die Folie ab, die Zabaione so eingefallen wie erwartet, er probierte sie – Noch warm. Und wo warst du so lang? Eine Frage für die ganze Runde, ratet mal, und von ihr nur ein kurzes Handheben, als wüsste sie es selbst nicht. Wie lang überhaupt? Sie nahm sich einen Grappa und stieß mit Katrin an, Katrin, die kein Kind gewollt hatte, aber von weither gekommen war, vielleicht selbst noch ein Kind unter der Forscherinnenschale. Eine halbe Stunde, sagte Renz, und sie, ihr Glas am Mund: Darf man keine halbe Stunde für sich sein? Sie tauchte einen Finger in die Schüssel und leckte ihn ab, eine süße Suppe, da war ihr der Grappa lieber, flüssige Fäulnis. Sie leerte das Glas und weinte um ein Haar, Katrin strich ihr über die Hand, mehr war in dieser Schlussrunde ihres Geburtstags vom Leben nicht zu verlangen, höchstens noch eine Zigarette, ihre waren im Haus. Wer gibt mir eine Zigarette? Sie hielt zwei Finger in die Luft, und Bühls früherer oder Immer-noch-Freund trat zu ihr. Er rauchte kleine Zigarillos, wie abgezählt in einem Lederetui, sie nahm sich eins, er gab ihr Feuer, sie rauchte, und alle schauten ihr zu, wie einer, die alleine tanzt, und dabei saß sie doch nur für sich da in der Runde.

Kilian-Siedenburg steckte das Etui wieder ein, er bedankte sich für die Einladung, den Abend, die Gespräche, das Ganze; ein Aufbruch vor Mitternacht, mit Hinweis auf den Barkassenführer, der bedenklich zum See zeigte. Und für Vila dann noch ein Handkuss plus Kompliment, strahlende Frau, für Katrin nur ein Kompliment, rasend gescheit, und für Renz eine Beruhigung: den Kontakt zu halten, in der Missbrauchssache an einem Strang zu ziehen. Alle Übrigen bekamen einen Händedruck mit freundlichem Wort, und kurz darauf sah man ihn davonfahren, wieder als einzigen Passagier, ein letztes Winken zu der Gruppe, als Renz schon diskret den Abend bezahlte. Aber es war noch nicht das Ende; es kamen noch Grappas auf Kosten des Hauses, und auch die Musik hob im Schutz der Arkaden noch einmal an, einige tanzten sogar, die Wilfingers halb entfesselt, Elfi und Lutz eher streng mit gelernten Schritten, Heide und Jörg als Stehbluespaar, sie todmüde, eine reife Frucht an Jörgs Hals. Geht schlafen, geht ins Bett, rief ihnen Vila zu, andate a letto! Sie nahm sich den Hausgrappa und trank auf den Hotelbesitzer Lorenzini, der an den Tisch kam, dankte ihm für den perfekten Ablauf, das gute Essen, die aufmerksamen Kellner, eine Flucht ins Italienische, bis Marion Engler von ihrem Italienischkurs sprach, den Mühen des Anfangs, auch wenn sie es zu zweit machten, Thomas und sie sogar abends beim Essen italienisch zu reden versuchten. Ach ja, sagte Vila, miteinander? Sie sah auf ihr neues Uhrband, auf seine rätselhaften schimmernden Intarsien. Was man ja lange nicht kapiert, wenn man diese Sprache lernt: dass die Italiener alle Verben, die ein Gefühl ausdrücken, mit einer Konjunktivform verbinden. Sie sagen nicht, Ich fürchte, du bist erledigt für mich, sie sagen: Ich fürchte, du seist erledigt. Oder: Ich wünsche, du liebtest mich. Und so weiter. Und ihr redet also abends beim Essen italienisch? Schön.

Ja, schön und falsch! Eine Antwort, als die Musik noch einmal in Fahrt kam; der Mann am Keybord mit einem Gesicht wie aus Teig und Schatten spielte das finale Lied für den Abend, schon nach den ersten Takten kam Renz um den Tisch. Es sah nicht aus, als wollte er tanzen, nur irgendwie gehalten werden, solange es um eine Welt ging, die sich weiter und weiter dreht, auch wenn man gerade verlassen wurde, gira, il mondo gira. Vila stand auf und nahm seinen Arm, ein Zeichen zum allgemeinen Aufbruch; und die Abschiede dann fast überstürzt, während der Regen schon auf den Hafenplatz schlug. Wo steht der Jeep, wir müssen los! Sie winkte Katrin, mehr ein Fuchteln, die andere Hand noch um Renz’ Arm, Du bist zu erledigt zum Fahren, gib mir die Schlüssel, ja? Keine Bitte, ein Befehl, und als sie dann zum Jeep liefen, schüttete es. Renz hatte bei der Kirche geparkt und das Verdeck nicht geschlossen, im Fußraum stand schon das Wasser, und Katrin rief Wie bei uns!, womit sie ihr Flussdelta meinte, und im selben Atemzug: Ich fahre, ich! Sie ließ sich die Schlüssel geben, sie verteilte die Plätze, der Mann nach hinten, die Frau nach vorn, und so ging es den Hang hinauf, immer noch offen, es lohnte nicht mehr, das Verdeck umständlich zu schließen, eine Fahrt unter Sturzbächen. Und kaum im Haus, lief jeder auf sein Zimmer, die klebende Kleidung loszuwerden, schnell in ein Bad zu kommen, es gab ja nur zwei Bäder, und sie waren zu dritt. Ihr beide zuerst, sagte Renz, aber Katrin wollte noch schwimmen, sie rief schon ihr Gutenacht von draußen.

Vila also allein im Bad, und dabei hätte sie es gern mit Katrin geteilt. Sie stand unter der warmen Dusche, angetrunken, aber wach, und seifte ihre Beine ein, den Bauch, die Brüste, ihr altes Dasein – schwierige Ehen können immer noch glorreich enden, schwierige Liebschaften nie, ein Badewannengedanke, obwohl sie gar nicht in der Wanne saß. Und Liebschaft, eins ihrer Zufluchtsworte. Wie Glück. Oder Schönheit. Nur war Schönheit für sie Bewegung, Bühls Gang, seine Gesten, seine Blicke, er konnte einen ansehen, als werde man getauft. Ich taufe dich im Namen des weiblichen Geistes, der kranken Sehnsucht, des Verlangens. Und Glück, das waren solche Taufen, die sich nicht fassen ließen, auch nicht hinterher. Sie wusch ihren Arm mit dem Krustengitter, sie kratzte am Schorf, bis wieder Blut kam, und zog eine der Krusten samt feiner Haut langsam ab. Schmerz, ihr stilles Laster, wer weiß. Und dann wusch sie noch, was sich in der Zeit ihrer Abwesenheit von der Tischrunde oder Anwesenheit in dem Zimmer über der Geburtstagstafel immer wieder sinnlos geweitet und sinnlos zusammengezogen hatte, auch ein Schmerz.

Darf ich herein? Renz vor der Tür, sie hob den Kopf und strich sich das Haar von den Augen – auf den Kacheln ihr vages Spiegelbild, der weiche Mund, lange Hals, die etwas schwere Brust. Sie wollte nicht, dass er hereinkommt, wollte nichts hören, ihn nicht sehen, nichts fühlen, Vila, die Äffin. Warum, wir frühstücken morgen zusammen! Ein zu schwaches Nein, und folglich kam er ins Bad, ihr Mann in Boxershorts und dennoch alt, auf jeden Fall älter als sie, mehr als zwölf Jahre, ihr Abstand zu Bühl, im Gesicht das Einzige, das wirklich alt macht, älter als alle Falten, alles Hängen: ein Ausdruck von Unsicherheit, ja Angst, den sie nicht kannte an ihm. Was willst du? Sie spülte weiter ihre Mitte, Renz sah den wunden Arm. Die Brombeeren am Parkplatz, sagte sie, ich bin irgendwie hineingeraten beim Aufräumen, hau sie morgen weg, tust du das? Sie winkte ihm zu, ihr Gutenacht, und er machte kehrt. Die Brombeeren, sicher, wenn du es willst. Ein schönes Fest, oder war es zu viel, bist du deshalb verschwunden? Renz sah noch auf seine Füße, dann schloss er die Tür hinter sich und tat ihr leid, wie einem alte Hunde oft leidtun. Ja, deshalb, rief sie, es war alles etwas viel. Warum verreisen wir nicht ein paar Tage? Fahren wir einfach nach Sizilien! Sie spülte sich die Seife von den Beinen, und an der Tür ein leises Trommeln, der renzsche Zweifingertakt, sein Ja.

JA, warum nicht, warum nicht verreisen? Renz stand mit einer Büchse Bier in der Hand am Esstisch, er war mehr als nur angetrunken, dabei wacher als Vila, die vom Bad gleich ins Bett gegangen war – irgendetwas musste noch geschehen in dieser Nacht, am liebsten hätte er mit Katrin geredet, aber sie war vom Pool ohne ein Wort in ihr Zimmer geeilt, nur eingehüllt in ein Handtuch, hinter ihr die Spur der nassen Füße, auch jetzt noch auf den Kacheln. Er stellte die Büchse neben die Gide-Tagebücher, die immer noch auf dem Tisch lagen, als hätte keiner mehr die Kraft, sie einzusortieren, dann riss er ein paar Blätter von der Küchenrolle und wischte den Boden auf, wie er schon alle Tropfen hinter Katrin aufgewischt hatte, als sie noch klein war, immer vom Pool barfuß ins Bad lief. Sizilien, da war auch Vila noch klein, groß gewachsen zwar, strahlend, lebendig, aber mädchenhaft versponnen, ihre erste lange Autofahrt, sie eine kleine große Schwester. Er warf die Blätter in den Müll und schloss die Doppeltür zur Terrasse und sah sich im Glas, seinen Schädel, seine Brust, das graue Vlies in der Mitte und die umflorten Spitzen, wo früher Muskeln waren, er sah den Bauch und seine Arme, seine Füße, all die Teile, die zuletzt mit Marlies ein Ganzes waren, und das auch nur wenige Male, ehe bei ihr schon die Auflösung anfing. Als er jung war, ja auch noch mit vierzig, hatte er gedacht, er würde sich am Beginn des Alters erschießen, der eigenen Auflösung vorgreifen, einen Schrei ausstoßen und abdrücken, anstatt noch Jahre stumm zu schreien.

Er nahm die Tagebuchbände vom Tisch, in dem einen der Vermerk, der sich bald wieder jährte, Gides Verzweiflung in Torri am siebten September, weil eine lange Folge prächtiger Tage nur irgendwann enden könnte, eingebrannte Worte, die er nicht suchen musste, so wenig wie den Platz für die Bände neben Faulkners Schall und Wahn. Die Lücke hatte sich fast von selbst geschlossen, so eng standen die Bücher dort, seit er den belgischen Gegenstand seines Vaters dahinter versteckt hatte; nicht einmal Vila kannte die Stelle, das Ding sei hinter den Büchern am Kamin, mehr hatte er dazu nie gesagt, mehr wollte sie auch nicht wissen. Er zog Schall und Wahn heraus und auch gleich Licht im August und noch Soldatenlohn – der Titel hatte ihn auf den Platz hinter den Faulkner-Bänden gebracht –, jetzt eine mehr als handbreite Lücke und dahinter nichts. Der belgische Gegenstand lag nicht mehr da, und nur einem hatte er von dem Versteck erzählt, ein Fehler, wie man ja oft nachts beim Telefonieren Dinge sagt, die man später bereut. Bühl muss sich die Waffe aus Neugier angesehen haben, womöglich hatte er sie auch in der Nacht bei sich behalten und am Morgen dann an etwas anderer Stelle hinter den Büchern wieder versteckt, wer geht schon mit einer Waffe vernünftig um, auch er hatte sie nur alle paar Jahre in die Hand genommen und noch nie damit geschossen. Er holte sich das Bier und trank es aus, dann fing er an, die übrigen Bücher aus dem Regal zu nehmen, erst eins nach dem anderen, dann zwei, drei auf einmal, bis er sie herausriss, einfach auf den Boden fallen ließ, die Paul-Heyse-Novellen, die hier am See spielen, seinen Nietzsche, seinen Kafka, den restlichen Faulkner – irgendwo musste der alte Fünfschussrevolver sein, Bühl war nicht so dumm, ihn ganz woanders hinzutun, und er war sich absolut sicher, ihn zuletzt hier und nicht oben hinter Büchern versteckt zu haben, vielleicht nicht mehr hinter Faulkner, weil Soldatenlohn auch wie eine blöde Parole klang, aber dann in den Reihen darunter oder darüber, also mussten auch dort die Bücher heraus, die Waffe war hier unten oder nirgends, oben war nur Geld versteckt. Erst vorigen Sommer hatte er einen Hundertmarkschein in Woody Allens Manhattan-Drehbuch gefunden, Geld aus der ersten Zeit des Hauses, an der Wand über dem Kamin noch kein Ölbild aus der Gegend, sondern ein Poster aus seinen bewegten Jahren, Che Guevara auf dem Beifahrersitz eines Jeeps, Kopf leicht zurückgeworfen, eine Hand im Haar, das hinter einer Baskenmütze mit Sternchen über den Nacken quoll, wie sein eigenes zu der Zeit noch, in der anderen Hand eine kurze Zigarre, den Blick halb nach hinten gerichtet: zu einer jungen Genossin, konnte man meinen, einer, die ihn verehrte. Jedes Detail war ihm präsent, wie überhaupt dieser ganze erste Sommer, noch mit Telefonmast am Pool, dort hatten sie sich einmal nachts geliebt, Vila und er, das vom langen Tag erwärmte Holz der Telefongesellschaft Enel im Rücken, als machten sie es in aller Öffentlichkeit, Hund und Hündin verkeilt am Straßenmast; und in ihm noch die romantische Idee, er würde im Alter durch eine Kugel sterben, so aufrecht wie sein Posterheld.

Die meisten Regale waren schon leer, auf dem Boden vor dem Kamin ein Berg von Büchern, als wollte er sie wegwerfen. Es fehlten noch die obersten Regale, da müsste er auf einen Stuhl und das Gleichgewicht halten, nur hätte es keinen Sinn gemacht, die Waffe so zu verstecken, dass niemand sie erreichen kann. Auch sein Vater hatte sie eher bequem versteckt, im Kleiderschrank hinter den Hemden, ein Mann der weißen Kragen und soliden Krawatten, Renz sah ihn vor sich, wie er den Windsorknoten machte, ohne Spiegel, ja sah ihn überhaupt, den belesenen Allgemeinarztvater; seine Brille würde er unter Hunderten von Brillen erkennen, auch seine Schuhe oder die Hosenträger aus einem beinblassen Gummi. Tausend Dinge hatte dieser Mann ihm beizubringen versucht, von der Liebe zur Mathematik über das Zeichnen männlicher Körper bis zur Ersten Hilfe bei Fleischwunden, aber er selbst war der Stoff, den er ihm mitgegeben hatte fürs Leben. Renz zog sich einen Stuhl heran, er wollte nun doch wissen, was hinter den obersten Büchern war, manche versteckten gefährliche Dinge oberhalb ihrer Reichweite, andere unterhalb, für Vila konnte ein Versteck gar nicht nah genug am Boden liegen, am besten im Boden – vielleicht hatte sie auch ihre halbe Stunde so versteckt. Natürlich fragte er sich, was sie gemacht hatte in der Zeit, aber im Grunde war es nur die Frage, warum sie nicht wie alle anderen am Tisch geblieben war. Er warf die ersten Bücher von oben herunter, Alberto Moravia, altes Taschenbuchzeug, innen noch Reklame für Pfandbriefe.

Was wird das hier?

Katrin stand mitten im Raum, nur in dünnen Hosen und einem Top, das schwarze Haar halb im Gesicht, seine Kleine, die ihn im unverputzten Haus getröstet hatte. Er wollte vom Stuhl, aber wusste nicht, wie, mit welchem Bein zuerst, und sie half ihm, Was machst du da? Sie zeigte auf den Bücherberg, und er erklärte es ihr, leise und nah an dem warmen Gesicht, nah wie zuletzt, als er sie in den Schlaf gesummt hatte, Katrin noch so zierlich, dass man sich sorgte um sie, wenn sie alleine im Garten war. Und nur einer, sagte er, wusste von dem Versteck, unser Mieter, der irgendwo durchs Land wandert – kein anderer, ich bin ganz sicher. Warum schläfst du nicht? Er wollte ihr das Haar aus der Stirn streichen, aber sie zog den Kopf weg. Wenn du dir sicher wärst, hättest du nicht dieses Chaos angerichtet. Du bist betrunken, warum trinkst du überhaupt? Katrin führte ihn zum Sofa, und er setzte sich an den Rand, Hände im Schoß, und sie begann, die Bücher wieder zu sortieren mit ihren ruhigen Bewegungen, und ebenso ruhig erzählte sie von ihrem Fluss und den Menschen dort, aber auch anderen Menschen in anderen Ecken der Welt. Im Schneidersitz saß sie auf dem Boden, wie als Kind vor dem brennenden Kamin, ordnete die Bücher und redete leise, und er hörte ihr zu und spürte sein Herz, als sei es auch betrunken, taumelnd. In China, sagte sie, herrschen Zustände wie in der Hölle, die Gefängnisse, die Wanderarbeiter, die Kohleminen. In Afrika verhungern Hunderttausende, ganze Völker sterben aus. Und die Indianer in Brasilien verkommen in immer kleineren Gebieten, sie berauschen sich, dämmern dahin, treiben Inzucht, wissen nicht mehr, wer sie sind. In Afghanistan werden täglich Leute von Bomben zerrissen, im Iran will man Frauen steinigen, in Syrien schießt man auf Kinder. Und du suchst nach etwas, das kein Mensch braucht – den Faulkner, chronologisch oder alphabetisch? Katrin stand vom Boden auf und sah über die Schulter, mit Vilas Blick aus den ersten Jahren, als sie noch offen war, an ihn geglaubt hatte, seine Ehrlichkeit, das Fehlen jeder Niedertracht, und er stemmte sich aus dem Sofa und ging zu seinem erwachsenen Kind, das die Bücher jetzt wieder einräumte. Mach es, wie du willst, sagte er und horchte nach draußen, wo es stiller war als in ihm. Das Schütten hatte aufgehört, nur noch leichter Regen, morgen früh wäre alles vorbei, reiner Himmel und ein beruhigter See, Beginn der Gnadentage – vielleicht sollten sie morgen schon fahren. Warum wolltest du dein Kind nicht, fragte er, warum?

Und Katrin nahm seine Hand, zum ersten Mal, seit sie erwachsen war, außer Haus: die töchterliche Hand, die eine väterliche suchte, und sie erzählte die Geschichte mit ihrem Kubaner, vom Moment eins auf dem Parkplatz einer Mall in Orlando, als er auf einmal neben ihr herging, eine Gucci-Brille gegen das grelle Licht anbot und dazu ein Gedicht seines berühmten Onkels über die sozialistische Sonne aufsagte, bis zum letzten Moment in der Pablo-Neruda-Suite des Copacabana Hotels bei Havanna, als er rauchend vor dem Fernseher hockte und eine alte Mannix-Folge ansah und sie einfach wegging. Sie sparte nichts aus, nicht die erste, leichtsinnige Nacht in einem Holiday Inn und nicht die Stunde, in der sie auf einer Station für Frauen und Töchter von Funktionären unter einem Bild von Castro als Freund aller Frauen ausgeschabt wurde, die Sache selbst schmerzlos, ohne Bewusstsein, nur nicht davon gelöst – den wirklichen Schmerz kann nichts betäuben! Und immer noch hielt sie seine Hand oder suchte darin Nachsicht, und er sagte, Schlaf jetzt, ich mach hier weiter, und meine Frage, die kannst du mir verzeihen? Er sah Katrin an, ihr klares Gesicht erstmals gezeichnet, skizzenhaft seinem ähnlich, und sie legte ihm kurz die Hand an die Wange und drehte sich auch schon weg und ging in ihr altes Zimmer, gerade noch rechtzeitig, bevor er weinen musste.

Kein Ausbruch war das, nur etwas wie bei entzündeten Augen; er räumte noch die übrigen Bücher ein, dann nahm er sich den ältesten Grappa und trank auf einen Gestalter der Vorabendwelt, dem die eigene Welt entgleitet. Der zweite Schluck ging auf Katrin, die eine Hand in seine Welt gestreckt hat, der dritte auf Vila: mit der sich kaum noch Schritt halten ließ, ja er wusste nicht einmal mehr, wohin ihre Schritte führten. Fest stand nur, dass es andere als seine waren, wie auch fest stand, oder auf der Hand lag, bei wem sich der Gegenstand finden würde, den sich sein Vater unter den Feldarztkittel gerissen hatte, um sich im Falle eines Nazisiegs damit zu erschießen – Lauf in den Mund und abdrücken, die Worte dazu. Renz verkorkte die Flasche und ging ins Gästezimmer und legte sich dort ins Bett, das ersparte den Weg nach oben – es müsste endlich ein Geländer an die Treppe, eins aus weichem Lindenholz. Er drehte sich zur Wand, schauernd unter der Sommerdecke, ein Erschauern wie das in den Olivenblättern, wenn noch gar kein Wind geht, keiner, den man spürt oder an etwas anderem als dem Blättchenbeben bemerkt, Wind, der nur in der Luft liegt, Atem einer geduldigen Katastrophe.

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