Das System Neukölln
Es ist gar nicht so lange her, dass die Integrationspolitik sich zur zentralen Herausforderung unseres kommunalen Wirkens entwickelt und Eingang in unsere Neuköllner Strategien gefunden hat. Noch 1989 war im bezirklichen Wahlprogramm der SPD kein Abschnitt zur Integration zu finden. In den politischen Kernforderungen war das Thema nicht enthalten. Auf 32 Seiten findet sich nur ein einziger Satz: »Die hohe Bevölkerungsfluktuation und die Konzentration der Mitbürger ausländischer Nationalität führen im Innenstadtbereich zu problematischen Strukturverschiebungen im Bezirk.«
Nach der alles überlagernden Euphorie des Mauerfalls waren Mitte der 1990er Jahre die Veränderungen des öffentlichen Raums und die beginnenden sozialen Verschiebungen nicht mehr zu übersehen. Folgerichtig findet sich dann auch seit der Wahl 1995 in jedem Programm ein Abschnitt zur Integration, zu Sprache oder Bildung.
Von 1995 bis 1999 war ich Jugenddezernent. In diesem Job erlebt man Veränderungen in der jungen Bevölkerung in voller Breitseite. Das ging mir nicht anders. Immer wieder forderten Jugendliche lautstark die Einrichtung eines eigenen Jugendclubs. Auf den Hinweis, dass es doch schon einen Club ganz in der Nähe gebe, hieß es dann: »Mit denen da wollen wir nichts zu tun haben.« Ich musste sehr schnell einsehen, dass Jugendlicher nicht gleich Jugendlicher ist. Sondern dass eben arabische Jugendliche Einrichtungen meiden, die von türkischen dominiert werden, und umgekehrt. Besitzansprüche erhielten eine völlig neue Dimension. Jugendliche, die z. B. westlich der Hermannstraße wohnten, wurden im Club, der von Jugendlichen östlich der Hermannstraße beherrscht wurde, weggebissen. Ich lernte zu dieser Zeit, was es heißt, wenn junge Menschen zu Gewalt und zum Egoismus erzogen werden. Entscheidend war, wer der Stärkste in der Gruppe und welche Gruppe die stärkste in der Gegend war. Schon vor meiner Zeit, Anfang der 90er Jahre, musste der Bezirk mehrfach Jugendeinrichtungen aufgrund der Gewaltproblematik schließen. Der damalige Jugenddezernent war ein Grüner.
Wir begannen damals, Stück für Stück ein System von kleineren Stadtteilläden aufzubauen, um den einzelnen regionalen und ethnischen Gegebenheiten Rechnung zu tragen. Im Rückblick glaube ich, das waren die ersten praktischen Reaktionen unserer Bezirksverwaltung, sich auf die veränderten Bevölkerungsstrukturen einzustellen.
Etwa in demselben Zeitraum begannen auch unsere Schulen darüber zu klagen, dass vermehrt Kinder zur Einschulung kämen, deren Sprachstand eine Beschulung eigentlich nicht zulasse. Sie waren nicht schulfähig. Sie zu Hause zu lassen, war aber auch keine Lösung. So fingen wir an, mit der Sprachausbildung in Kindertagesstätten zu experimentieren. Darüber aber mehr im nächsten Kapitel.
Während bei uns in Neukölln die Problemdichte allmählich, aber stetig zunahm, reagierte man in anderen Bezirken oder in der Landespolitik zunehmend genervt auf dieses Thema. »Nicht schon wieder die Neukölln-Nummer«, bekam ich immer wieder zu hören, wenn ich überregional auf die sich abzeichnende Entwicklung hinwies. Einen Hoffnungsschimmer gab es 1998, als der damalige Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen mit riesigem Medienrummel durch die Bezirke zog, um sich über Integrationsprobleme sachkundig zu machen. Er forderte uns auf, alle Dinge, die wir für wichtig hielten, aufzuschreiben und ihm zu schicken. Er werde dann für Abhilfe sorgen. Der Neuköllner Brief muss auf dem Postweg verlorengegangen sein.
Es war wohl die Summe der herben Enttäuschungen, die die SPD Neukölln nach der Rathausübernahme 2001 dazu veranlasste, die Grundausrichtung ihrer Politik völlig zu verändern. Auf eine Kurzformel gebracht, lautete damals unser Credo: Nicht jammern, sondern die eigenen Kräfte mobilisieren und nutzen und die anderen krähen lassen, was sie und wie lange sie wollen. Im Prinzip haben wir das bis heute durchgehalten. Das hat sicherlich die Zahl unserer Freunde in der eigenen Partei übersichtlich gehalten, die Zuneigung unter den führenden Genossen bis an die Nachweisgrenze reduziert, aber unsere Wahlergebnisse kontinuierlich gesteigert.
Im Jahre 2001 war also nach 17 Jahren christdemokratischer Bürgermeister, davon elf Jahre mit absoluter Mehrheit, eine politische Wachablösung erfolgt. SPD, Grüne und Linke schlossen sich zusammen, um eine neue Integrationspolitik zu kreieren, die auch einen Paradigmenwechsel weg von der bisherigen Leitlinie »Wir haben alles im Griff, alles wird gut« bedeuten sollte. Dieser Zusammenschluss, dem viele im politischen Berlin eine Halbwertszeit von maximal sechs Monaten zugetraut hatten, hielt immerhin acht Jahre. Alle für den Bezirk wesentlichen Weichenstellungen sind in dieser Zeit erfolgt. Auch wenn die Partner von einst heute in nur sehr eingeschränktem Maße noch Sympathien füreinander empfinden, so wird man in einer retrospektiven Betrachtung diese Epoche einmal als ausgesprochen fruchtbar für Neukölln beurteilen. Im Geschichtsspeicher zählt das Ergebnis. Für lächerliche Animositäten und kleinkarierte Kindereien ist da kein Platz. Wir konnten zwar die fast naturgesetzlichen Entwicklungen nicht anhalten und auch nicht rückgängig machen, weil eine Bezirksverwaltung nicht über die großen Stellschrauben verfügt. Aber wir haben viele Impulse gesetzt und mit innovativen Projekten bewiesen, dass man Integration machen kann und nicht passiv auf sie warten muss. Ich denke, Neukölln würde heute anders aussehen, wenn nur ein Bruchteil der Sonntagsreden und vollmundigen Versprechungen durch Land und Bund in die Tat umgesetzt worden wären. Es ist eben keine nachhaltige Politik, sich, wenn alle Medien da sind, in einem Konvoi aus schwarzen Dienstwagen vor die Rütli-Schule vorfahren zu lassen, eine Stunde ein wichtiges Gesicht zu machen und dann auf Nimmerwiedersehen abzurauschen.
Wir fingen ganz klein an und setzten erst einmal einen Migrationsbeauftragten und einen Migrationsbeirat ein. In einem Bezirk mit 120 000 Einwanderern gab es beides bis dahin nicht.
Das Ziel unserer Politik war nicht der nächste Workshop, nicht die nächste Resolution und nicht die nächste Seminarübung. Unsere Arbeit sollte (und soll immer noch) nachprüfbare, praktische Ergebnisse haben. So entstand unser Kollege UDO: unmittelbar, direkt, operativ – das war und das ist unser Handlungsansatz. Im Laufe der Jahre entwickelten sich daraus Grundsätze und ein ganzes Konzept. Mit unserer Berufung in den Kreis der Intercultural Cities erhielten wir dafür sogar internationale Weihen. Aus dem Konzept nach außen entstand zwangsläufig ein Leitbild zur interkulturellen Öffnung der Verwaltung des Bezirksamtes Neukölln.***
An dieser Stelle möchte ich lediglich die Präambel unserer Integrationspolitik und die zehn Grundsätze wiedergeben:
»Präambel
Integrationspolitik vollzieht sich weder von allein noch ist sie die Angelegenheit Einzelner. Sie ist vielmehr ein hochkomplexer wie hochsensibler Vorgang, der eine offene und aufnahmebereite, aber auch konfliktfähige Gesellschaft erfordert.
Die Hinzukommenden hingegen müssen Integrationswilligkeit, Lernfähigkeit und Anpassungsbereitschaft mitbringen. Für die individuell beteiligten Personen können die einzelnen Schritte bis zur erfolgreichen Bewältigung dieses Prozesses, also bis zum Abschluss einer erfolgreichen Integrationskarriere, als anstrengend, widersprüchlich und voller Zweifel empfunden werden, einschließlich einer Identitätsreflexion. Die Aufnahmegesellschaft läuft gleichzeitig immer Gefahr, aus Gleichgültigkeit, Ignoranz und Überfremdungsängsten die notwendigen Anstrengungen zu unterschätzen oder auch zu unterlassen, die Migranten zu über- oder unterfordern bis zu falsch verstandener Liberalität, die Integrationsnotwendigkeit in die Beliebigkeit zu stellen. Die Folgen gescheiterter Integrationspolitik sind immer gefährdete bzw. verlorene Wohnquartiere einerseits und misslungene Lebensentwürfe und Lebensverläufe andererseits. Schuldzuweisungen erfolgen stets wechselseitig in Form der beklagten Opferrolle wie der postulierten Integrationsverweigerung.
In Neukölln versuchen wir, diesen Zyklus zu durchbrechen. Dieses ehrgeizige Vorhaben kann weder in Neukölln noch gesamtgesellschaftlich durch singuläre Aktionen oder Einzelkämpfer zum Erfolg geführt werden. Nur ein Netzwerk mit umfassenden Kompetenzen, vielfältigen Ansätzen und Möglichkeiten, gebündelten Ressourcen auf und aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen ist in der Lage, die multiplen Herausforderungen zu meistern. In Neukölln besteht dieses Netzwerk aus so gut wie allen Akteuren des Sozialraums. Öffentliche wie freie Träger, Bezirks-, Landes- und Bundesinstitutionen, Verbände und Vereine, politische Initiativen wie bürgerschaftliches Engagement, deutschstämmige Bürger wie Neuköllner mit Migrationshintergrund arbeiten gemeinsam am Laboratorium Neukölln, einem Schmelztiegel und Dienstleister der Integration für die Gesamtstadt.
Zehn Grundsätze:
- Alle Menschen in Neukölln leben nach den Werten und Regeln der freiheitlichen, demokratischen Grundordnung. Es gilt der Grundsatz der sozialräumlichen Mischung.
- Wir nehmen Zuwanderer als gleichberechtigte und gleichverantwortliche Partner ernst.
- Jeder erhält die Chance auf einen eigenen Lebensentwurf und ein selbstbestimmtes Leben.
- Ein tolerantes Neukölln akzeptiert jeden und hat klare Regeln. Wer gegen diese Regeln verstößt, muss mit der Intervention der Gemeinschaft rechnen.
- Leistungsbereitschaft und die eigenen Fähigkeiten wie Kompetenzen sind der Motor für den gesellschaftlichen Aufstieg.
- Bildung ist der Schlüssel zur Integration.
- Integrationspolitik kann nie durch Projektpolitik gelingen.
- Regelsysteme müssen sich dem Bevölkerungswandel anpassen.
- Unsere Integrationspolitik orientiert sich an den konkreten Lebenslagen und Problemen der Menschen.
- Wir definieren und lösen Probleme gemeinsam.«
Es ist sicher nur eine Petitesse, aber sie ist symptomatisch: An welcher Stelle der zehn Grundsätze, glauben Sie, haben sich leidenschaftliche Diskussionen entfacht? Richtig, Grundsatz vier, zweiter Satz. Es ist bei uns eben gesellschaftspolitisch immer noch so, dass allein schon die Erwähnung von Sanktionen gegen die Verletzungen von Gemeinschaftsregeln als anstößig und totalitär empfunden wird. Dahinter steckt diese Lebensphilosophie: Regeln sind für die gut, die sich daran halten. Aber sie sind ein unverbindlicher Vorschlag. Wenn jemand sich nicht daran halten will – auch gut. Dass die Regelverweigerung so gut wie immer zu Lasten der Allgemeinheit geht, ist halt der Preis, den die Gemeinschaft für die Individualität Einzelner zu tragen bereit sein muss. Das ist eine Logik, die mir fremd ist, aber eine nette Reinwaschargumentation von gesellschaftlichen Parasiten.
Den Startschuss gaben damals die Sprachkurse der Volkshochschule Neukölln. Auslöser war, dass mehr Bewerber eine Ablehnung zum Sprachkurs erhalten mussten, als wir Zusagen erteilen konnten. Das passte aus unserer Sicht nicht so sehr zur Aufforderung, alle Einwanderer sollen Deutsch lernen. Wir bauten unsere Volkshochschule um drei weitere Sprachzentren aus, und so ist das kleine Neukölln heute einer der größten Einzelanbieter auf dem Sektor »Deutsch als Zweitsprache«. Im Jahr 2011 haben in 580 Sprachkursen 6800 Teilnehmer aus 110 Nationen 62 000 Unterrichtsstunden erhalten.
Ein weiterer Schritt hin zu einer Willkommenskultur gelang mit der Umgestaltung unserer Einbürgerungen. War das Überreichen der Einbürgerungsurkunde früher ein bürokratischer Vorgang in einem schmucklosen Büro, so ist es heute Teil einer zweimal monatlich stattfindenden feierlichen Zeremonie. Der Vorsteher der Bürgervertretung, der Bürgermeister oder ein Dezernent begrüßen die Einzubürgernden, führen mit jedem einen kleinen Smalltalk und stehen für ein Erinnerungsfoto zur Verfügung. Alles wird umrahmt mit Musik, und zum Abschluss singen alle mehr schlecht als recht die deutsche Nationalhymne. Letzteres ist kein nationalistischer Fahnenappell. Den Neubürgern soll lediglich die Gelegenheit gegeben werden, einmal bewusst zur Kenntnis zu nehmen, wie sich die Nationalhymne anhört, die nun auch die ihrige ist.
Ich habe im Laufe der letzten Jahre ungefähr 6500 Menschen eingebürgert. Die Auswirkungen sind auf der Straße spürbar. Oft winken mir Menschen zu oder sprechen mich an. Sie kennen eben ihren Bürgermeister von der Einbürgerung. Übrigens: Nicht wenige Neu-Neuköllner haben Spaß an der Feierstunde. Viele bringen Angehörige und Blumen mit, haben ihren feinsten Anzug an und sind sichtlich gerührt. Manche kommen auch mehrfach, nur so zum Zuschauen. Die paar, die mir die Hand nicht geben oder vor der Nationalhymne rausrennen, verkrafte ich da leicht. Selbst meine Streetfighter benehmen sich. Na also, geht doch.
Seit 2004 haben wir im Rathaus die Aktion »Bürger helfen Bürgern«. Türkische und arabische Vereine bieten wochentags Beratung in ihrer jeweiligen Muttersprache an. Es werden Briefe erklärt, Anträge ausgefüllt oder auch Hilfestellungen beim direkten Behördenkontakt geleistet. Gut 2500 Beratungsgespräche im Jahr finden so statt. Bis jetzt etwa 20 000. Ein schöner Erfolg. Die Selbsthilfe-Aktion entstand aus der Forderung des Türkisch-Deutschen Zentrums und des Vereins AKI (Arabisches Kulturinstitut) nach mehr Orientierungshilfe für die Einwanderer im Behördenverkehr. Ich bot damals an, Räume, Telefon und Computer kostenlos zur Verfügung zu stellen. Nicht jammern, sondern eben tun, riet ich. Der Hinweis wurde aufgenommen. Der Start war schwierig. Und für einige politische Mandatsträger war das Überlassen eines Rathaus-Raumes schon die Vollendung der Landnahme. Es gab Testanrufe, Kontrollbesuche und Ausspähungen. Eigentlich war das auch fast wieder unterhaltend.
Entsprechend unserem Leitbild zur interkulturellen Öffnung haben wir seit 2006 auch ein besonderes Augenmerk darauf gelegt, dass vorhandene Ausbildungsplätze mit jungen Leuten aus Migrantenfamilien besetzt werden. In Zahlen bedeutet das, dass wir seither von 183 Auszubildenden für den Beruf des Verwaltungsfachangestellten 72 junge Leute mit Migrationshintergrund ausgebildet haben bzw. noch ausbilden. Das sind knapp 40 %. Bei diesen jungen Leuten gibt es zwei Auffälligkeiten. Männer sind eindeutig unterpräsentiert. Ein Beruf im Büro entspricht nicht dem, was aus ihrer Sicht die Aufgabe eines Mannes ist. Als ich einmal einen jungen Mann fragte, ob er nicht Lust habe, sich im Rathaus zu bewerben, lautete seine Antwort: »Glaubst du, ich bin schwul, oder was?« Die verquere Erziehung mit dem Männlichkeitswahn früherer Zeiten begegnet einem immer wieder.
Der zweite Aspekt ist, dass wir bei der Ausbildung lernen mussten, wie extrem unterschiedlich die Ausstattung mit sozialen Kompetenzen ist. Die Ausschläge sind enorm. Die Zeiten, in denen ein gewisser Grundlevel an Benehmen, Pünktlichkeit und Lernbereitschaft vorausgesetzt werden konnte, sind offenbar vorbei. Einige der jungen Leute kriegen sich auch nach mehrfachen Beratungen und Ermahnungen nicht ein. Sie nehmen arbeitsrechtliche Maßnahmen in Kauf, fühlen sich dann aber sofort diskriminiert und verfolgt, weil sie doch Ausländer sind. Diejenigen allerdings, die rundlaufen und bei denen die Basics, also Grundrechenarten und Umgangssprache stimmen, sind dann wiederum auch gleich wieder Vorbilder für die deutschen Azubis. Nur um Missverständnissen vorzubeugen, gebe ich den Hinweis, dass wir fehlende schulische Kompetenzen mit Nachhilfe während der Arbeitszeit auszugleichen versuchen.
Trotzdem sind wir schließlich um die Erkenntnis nicht herumgekommen, dass uns als einer nicht im Produktionsprozess stehenden Behörde Grenzen gesetzt sind. Eine Ausbildungsstelle kann nun einmal nicht die Erziehung von Mama und Papa oder die Grundschule ersetzen. Unser stolzes Vorzeigeprojekt zur Ausbildung benachteiligter Migranten haben wir letzten Endes nach drei Jahren einstellen müssen. Unsere Ausbilderinnen und Ausbilder waren einfach nicht länger bereit, Prellbock für die vorhandenen massiven Defizite unfertiger und leider auch zum Teil unwilliger junger Menschen zu sein. Jedem Sprücheklopfer nach dem Motto »Da müssen sich die Arbeitgeber eben anstrengen, den maßgeschneiderten Azubi gibt es nun mal nicht« empfehle ich die Probe aufs Exempel bei sich selbst.
Wir legen großen Wert auf die Förderung von Begabungen außerhalb des Standardbereichs. Ein Ansatz ist hierbei der Ausbau unserer Musikschule. In den letzten Jahren haben wir erhebliche Mittel investiert, um schon eine frühkindliche Förderung in der Musikschule zu ermöglichen. Das soll ein Baustein gegen die Segregation sein. Keine Familie verlässt Neukölln, weil das Kind hier keinen Geigenunterricht bekommt, lautet das einfache Konzept. 200 Honorarkräfte kümmern sich tagtäglich um die Musikschüler. Es gelingt uns auch immer wieder, der Musikschule neue Übungsräume und Aufführungsmöglichkeiten zu verschaffen. Das Projekt »Musik – Sprache – Bewegung« soll jedem Neuköllner Kind zwischen drei und sieben Jahren die Möglichkeit geben, ein Jahr kostenlose Förderung durch Musik zu erhalten. Der Unterricht findet in den Kindertagesstätten oder in der Musikschule in Gruppen von acht bis zwölf Kindern statt. Beim gemeinsamen Musizieren wird die Teamfähigkeit von Kindern mit unterschiedlicher sozialer, ethnischer und kultureller Herkunft gestärkt. Sie sollen lernen, aufeinander zuzugehen, dem anderen zuzuhören und ihn mit seinen Schwächen und Stärken zu akzeptieren. Die Musikschule ist eine wichtige Kulturwerkstatt der Integration, ohne dass es draußen dran steht. Leider ist es so, dass bildungsferne Eltern die Bedeutung des Musizierens für ihre begabten Kinder nicht erkennen wollen und sich nach dem Jahr der Kostenfreiheit zurückziehen. Wenn es anfängt, Geld zu kosten, ist Schluss mit lustig. Diese Erfahrung hatten wir bereits mit Schnuppertanzkursen gemacht, die nach der kostenlosen Phase nur noch auf geringes Interesse stießen. Da hilft auch BuT nicht – das Bildungs- und Teilhabepaket, das einen Teil der Kosten übernimmt.
Aufgrund unserer Erfahrungen, dass kleine Schlampereien wie häufiges Zuspätkommen, beginnende Aggressivität gegenüber Lehrern und asoziales Verhalten gegenüber Mitschülern die Vorboten von schwerwiegenden Verhaltensauffälligkeiten sind, haben wir in Neukölln das System der Schulstationen immer weiter professionalisiert. Ursprünglich hatte der Senat dieses Projekt angestoßen. Als es dann darum ging, es zu verfestigen und auszubauen, versiegte der Geldstrom. Da die Schulstationen jedoch eine solch positive Wirkung erzielten, entschlossen wir uns, das Netz aus eigenen Mitteln weiter auszubauen. Im Jahre 2005 verfügten wir über vier Schulstationen, 2006 waren es schon sechs, und 2008 erweiterten wir das Angebot um zusätzliche zehn. 2013 kommen sieben Schulstationen hinzu, so dass dann 23 Grundschulen über diese aus Bezirksmitteln finanzierte Hilfestellung verfügen.
Schulstationen sind bei uns ethnisch gemischte Sozialarbeiterteams, die auf Hinweis aus der Lehrerschaft die Betreuung einzelner Schülerinnen und Schüler schulbegleitend übernehmen. Sie machen präventive Angebote zur Vermeidung von Schuldistanz, beraten bei Konflikten und suchen Problemlösungsstrategien. Auch die Kontaktaufnahme zu den Eltern, Hausbesuche und die Stärkung des Selbstwertgefühls von Schülerinnen und Schülern gehören in das Aufgabenspektrum. Die Schulstationen stellen also eine Erweiterung der Professionalitäten und des Leistungsspektrums über das reine Lehrerkollegium hinaus dar. Sie übernehmen Einzelaufgaben, kümmern sich um Schulschwänzer, helfen Schülern bei der Bewältigung ihrer Probleme oder schlichten Konflikte zwischen den Kids. Das alles erfordert oftmals weit mehr Zeit, als eine Lehrkraft aufbringen könnte. Die Kosten pro Schulstation belaufen sich auf 75 000 Euro im Jahr.
Beim Start hatten wir die Schulstationen organisatorisch dem Jugendamt zugeordnet. Das entsprach einer üblichen Regelung im Land Berlin. In der Praxis verschoben sich die Tätigkeitsfelder jedoch immer mehr in Richtung Jugendhilfe und allgemeine Jugendarbeit. Die Aufgaben der schulbegleitenden, insbesondere schulunterstützenden Arbeit traten in den Hintergrund. So war das aber nicht gedacht, denn nun entstand ein Konkurrenzdenken und Konkurrenzverhalten. Eigentlich die traditionelle Hassliebe zwischen Jugendarbeit und Wissensvermittlung oder Sozialpädagogik und Pädagogik. Jugendamt und Schulamt, Jugendeinrichtungen und Schulen mochten sich in Berlin noch nie. In Schulzentren eingelagerte Jugendclubs scheiterten. Additive Vorklassen in Kindertagesstätten scheiterten ebenfalls. Und sozialpädagogisches Personal hat sich stets vom pädagogischen schlecht behandelt gefühlt (und umgekehrt).
Aus den im Alltag hinderlichen »Menscheleien« haben wir die Konsequenzen gezogen. Seit dem Schuljahr 2011/2012 sind die Schulstationen organisatorisch und personell den Schulen zugeordnet. Das gefällt natürlich dem Jugendwesen nicht, und so beschäftigen wir uns wieder mit uns selbst, statt uns unseren gesellschaftlichen Aufgaben zu widmen. Nichts ist so schön wie die Verwaltungsonanie und das Gerangel um Zuständigkeiten.
Eigentlich beschränke ich mich in diesem Kapitel auf Dinge, die der Bezirk ins Leben gerufen hat, die also in der öffentlichen Hand liegen. Ich will bei zwei Initiativen davon abweichen, weil sie für das Gesamtthema wichtige Fingerzeige geben. Das eine ist das Projekt »Hürdenspringer«, das einen sehr positiven Verlauf nimmt. Das andere ist das Projekt »Hauptschüler in den Beruf« (HiB), mit dem wir gescheitert sind.
Der Träger von »Hürdenspringer« ist das Unionhilfswerk. Nach einer Aufbauphase 2008 hat das Projekt 2009 seinen regulären Betrieb aufgenommen. »Hürdenspringer« ist ein Mentorenprojekt 1:1 für Schülerinnen und Schüler ab der 8. Klassenstufe. Derzeit sind zwei Neuköllner Sekundarschulen und ein Gymnasium einbezogen. Das Prinzip ist schnell erläutert. Ein ehrenamtlicher Erwachsener begleitet als Pate einen Jugendlichen aus prekären Familienverhältnissen bis zum Abschluss der 10. Klasse. Der Pate inspiriert das Freizeitverhalten, kümmert sich begleitend um den Schulbesuch und die Hausarbeiten, berät beim Berufswunsch, hilft bei der Praktikumssuche und ist einfach für seinen Jugendlichen immer da. Er ist Elternersatz. Über 150 Tandems gibt es inzwischen. Der Erfolg kann sich sehen lassen. Die schulischen Fehlzeiten wurden zu 100 % beseitigt, und in 90 % aller Fälle gab es eine erfolgreiche Berufswahl mit einem Ausbildungs- oder Studienplatz. Hier zeigt sich wieder einmal: Wenn ein Dritter einspringt und die vakante Stelle einnimmt, die eigentlich das Elternhaus besetzen müsste, nimmt das Leben der jungen Menschen einen anderen Verlauf. Es sprengt aber die Möglichkeiten der Gesellschaft, allen Einwanderern und ihren Kindern einen individuellen Betreuer an die Hand zu geben, der ihnen alle Wechselfälle des Lebens abnimmt und für sie regelt. Also das Rundum-Sorglos-Paket.
Das Projekt HiB unter der Trägerschaft der Arbeiterwohlfahrt verfolgte die gleiche Zielrichtung, aber auf einem anderen Weg. Es wandte sich ebenfalls an junge Menschen der 8. Klasse. Wenn sie zwei Jahre lang freitags und samstags einige Stunden »Nachhilfeunterricht inklusive Firmenpraktika« im weitesten Sinne wahrnahmen, dann sollten sie dafür einen garantierten Ausbildungsplatz erhalten. Das Projekt startete mit 24 Schülerinnen und Schülern, am Ende der Laufzeit waren vier davon übriggeblieben. Der Rest hatte nicht durchgehalten. Ich weiß, dass diese Form der Unterstützung in anderen Städten der Bundesrepublik erfolgreich durchgeführt worden ist. Vielleicht ist der Großstadt-Effekt ein zu starker Gegner gewesen.
Unser Jugendamt beteiligt sich an dem Jugendberatungshaus des Neuköllner Netzwerkes Berufshilfe, das junge Menschen beim Übergang von Schule zum Beruf begleitet. »Ich bin Jugendlicher in Neukölln und habe den beruflichen Anschluss verpasst. Ich will etwas tun, weiß aber nicht, wie …« beschreibt dessen Zielgruppe: Jugendliche, die es ohne Hilfe Dritter nicht packen. Das Projekt ist wieder ein gutes Beispiel für die Verzahnung verschiedener Träger. Arbeitsagentur, Jobcenter, berufsbildende Schulen und Jugendhilfe wursteln nicht jeder vor sich her, sondern ziehen Honig aus ihren Schnittstellen. Im Jugendberatungshaus werden im Jahr etwa 4000 Neuköllner Jugendliche beraten, darunter über 60 % mit Migrationshintergrund. Ein durchaus beachtlicher »Gebrauchswert« der Einrichtung.
Zwei Projekte führen wir derzeit im Versuchsstadium. Das eine nennt sich die »Task Force Okerstraße«. Es richtet sich gegen die Verwahrlosung des öffentlichen Raums und kümmert sich um überforderte Nachbarschaften. Das andere ist ein Schulschwänzer-Internat – offiziell »Schulwohnprojekt« genannt – für junge Leute, die eigentlich willig sind, aber immer wieder den Versuchungen des Milieus erliegen.
Die Task Force ist in einem Gebiet tätig, das gekennzeichnet ist durch einen mit randständigen Menschen hoch belasteten öffentlichen Raum und vielfach illegal vermietete, völlig verwahrloste Häuser, an denen sich Mietabzocker eine goldene Nase verdienen. Denn hier werden nicht Wohnungen, sondern bis zu 20 Schlafplätze pro Wohnung à 100 bis 300 Euro pro Monat vermietet. Die Begleiterscheinungen solcher Vermietungsstrategie kann sich jeder vorstellen: Die hygienischen Bedingungen sind katastrophal, ein ständiges Kommen und Gehen »neuer Nachbarn« schafft Unruhe und Unsicherheit im Wohnumfeld.
Das Quartiersmanagement Schillerpromenade hat darauf reagiert und die Idee für ein Projekt entwickelt, welches von seinem Quartiersrat als Bewohnervertretung mit großer Mehrheit beschlossen wurde. Die TFO, wie sie in Kurzform genannt wird, ist eine Kooperation zwischen Quartiersmanagement, tangierten Verwaltungen und Polizei. Vor Ort wurde ein Träger der Sozialarbeit damit beauftragt, Einfluss auf die Verhältnisse zu nehmen und mit der TFO zusammenzuarbeiten. Es geht um die Organisation eines halbwegs friedlichen Miteinanders und eines einigermaßen belastungsarmen Lebens für alle. Dafür müssen einige Problemgruppen ihr Verhalten ändern: Wir lassen die Leute nicht in Ruhe. Das ist natürlich repressiv. Deswegen gibt es aus der bekannten politischen Szene auch militanten Widerstand gegen das Projekt. Immer wieder eingeschlagene Scheiben, beschmierte Wände, verwüstete Büros, immer wieder bedrohte Mitarbeiterinnen. Das sind die Methoden, zu denen diejenigen greifen, die Begriffe wie »Demokratie«, »Toleranz« und »Freiheit« ständig im Munde haben, aber nur sich selbst meinen.
Weil vorhersehbar bei solch »bösen« Maßnahmen, bei denen eigentlich gar nichts passiert, die doch nur dazu dienen sollen, einigermaßen erträgliche und zivilisierte Lebensverhältnisse für alle Bewohner des Kiezes herzustellen, mit Ärger zu rechnen war und auch der Senat Dinge nicht liebt, an denen er sich die Hände schmutzig machen könnte, hat er seine offizielle Teilhaberschaft an dem Projekt abgelehnt. Er fördert uns lieber still und unerkannt. Positiv sei erwähnt, dass Klaus Wowereit nach einem der Überfälle auf das Büro dort einen demonstrativen Solidaritätsbesuch gemacht hat. Das hat den Mitarbeiterinnen gut getan.
Beim Schulschwänzer-Internat ist die Zielgruppe ein Kreis von Jugendlichen, die eigentlich noch nicht ganz verloren sind, gute Ansätze haben, aber immer wieder den Verhältnissen zu Hause oder im Kiez nicht widerstehen können. Ihnen geben wir Gelegenheit, Montag bis Freitag im Internat zu leben und zur Schule zu gehen. Von Freitagabend bis Sonntagabend können sie nach Hause, wenn sie wollen. Das Gelände ist nicht verschlossen, die Häuser auch nicht. Das Programm beruht nur auf Freiwilligkeit.
Als mir die Idee das erste Mal vorgestellt wurde, war ich völlig begeistert. Es hörte sich alles so gut und rund an. Nach inzwischen gut zwei Jahren Probebetrieb muss ich gestehen, dass uns der Durchbruch bisher nicht gelungen ist. Viele Jugendliche schaffen auch mit Unterstützung in dieser besonderen Form der Beschulung nicht den gewünschten Sprung zurück in einen regelmäßigen Schulbesuch. Wir haben uns jetzt noch ein Jahr Zeit gegeben bis zu einer Entscheidung Hopp oder Topp.
Muslimische Jugendliche trinken keinen Alkohol und nehmen keine Drogen, so heißt es. Ein Problembereich, um den wir uns also nicht zu kümmern brauchen, dachten wir. Inzwischen müssen wir feststellen, dass Allah auch nicht alles sieht und dass es immer eine Lösung gibt. Bei den Drogen heißt sie Tilidin. Ein starkes Schmerzmittel, das bei krebskranken Menschen im finalen Stadium eingesetzt wird. Es macht schmerzunempfindlich und euphorisch. Etwa 3000 Rezeptfälschungen fliegen jedes Jahr in Berlin auf. Die Dunkelziffer ist groß. Außerdem kommt Tilidin häufig aus Polen und den Niederlanden, wo ein 50-ml-Fläschchen rund 60 Euro kosten soll. Der Stoff wird häufig in Hinterzimmern von Shisha-Bars u. ä. verkauft. Auch an Jugendliche. Wenn Sie sechs bis zehn Polizeibeamte benötigen, um einen 14-Jährigen zu bändigen, dann ist Tilidin im Spiel. Und was den Alkohol betrifft, ist es mittlerweile schlicht so, dass immer mehr auch muslimische junge Männer mit dem Saufen anfangen. Die Folgen sind dieselben wie bei Angehörigen anderer Religionen. Eine Religion hat offensichtlich keinen Einfluss auf die Wirkung des Alkohols. Ist ja auch eine Erkenntnis.
Aufgrund der vorstehenden Erfahrungen haben wir Ende 2008 im Rathaus die »AG Jugendschutz« – im Jargon der Mitarbeiter: »Soko Suff« – gegründet. Rund 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bilden eine Einheit, die am Wochenende von 19.00 bis 2.00 Uhr wechselnd im Bezirk unterwegs ist, um den Alkohol- und Drogenmissbrauch zu bekämpfen. Sie alle engagieren sich ehrenamtlich. Bei ihrer Tätigkeit sind sie am Körper passiv geschützt und aktiv durch sie immer begleitende Polizeibeamte. Die »Soko Suff« hat bisher in rund 1900 Lokalen, Verkaufsstellen und Jugendtreffs 5900 Personen überprüft. Einige Jugendliche verdanken ihr das Leben. Wahrscheinlich können sie sich daran aber nicht mehr erinnern.
Die neue Armutswanderung aus dem südosteuropäischen Raum findet an dieser Stelle nur mit dem nachrichtlichen Hinweis Erwähnung, dass sie im letzten Kapitel behandelt wird.
Die Leuchttürme der Neuköllner Integrationspolitik sind das Albert-Schweitzer-Gymnasium, der Mitmachzirkus, die Stadtteilmütter und der Campus Rütli.
Das Albert-Schweitzer-Gymnasium, das Sie bereits kennengelernt haben, ist ein unumstößlicher Beweis dafür, dass wir doch in die Entwicklung der Stadtgebiete, aber vor allen Dingen in die Entwicklung der Persönlichkeiten der jungen Leute erfolgreich eingreifen können. Die Volksweisheit »Doof bleibt doof, da helfen keine Pillen« ist gar nicht so weise. Da trifft doch eher der Refrain eines Kinderliedes, das ich vor kurzem bei einer Schulaufführung zu hören bekam: »Doof geboren ist keiner, doof wird man gemacht …«
Unsere Schulen müssen in die Lage versetzt werden, auf veränderte Bevölkerungsstrukturen auch mit veränderten Schulorganisationen und angepassten pädagogischen Konzepten antworten zu können. Das Modell der Albert-Schweitzer-Schule als Ganztagsgymnasium mit spezieller Sprachförderung kostet jährlich 220 000 Euro mehr als die übliche Schulform. Das ist der Gegenwert von fünf Jugendknastplätzen. Die Gesellschaft kann sich also entscheiden, ob sie fünf Knackis ernähren oder 690 Gymnasiasten zum Abitur führen will. Diese Aussage ist so banal, dass man sie nicht für möglich hält. Und doch ist es so. Die Frage ist also, wieso gelingt es nicht, diese Erkenntnisse in das generelle Politikraster zu übernehmen? Es gibt mit Sicherheit noch andere gelungene Schulversuche und Beispiele für erfolgreiche Integrationsarbeit durch Engagement und Kreativität. Das Wissen ist im Land vorhanden. Es fehlt nur am Willen der Politschwätzer, es umzusetzen.
Der Mitmachzirkus entstand im Jahr 2007. Der Kern besteht aus einer richtigen Zirkusfamilie. Also nicht aus Sozialarbeitern mit roter Pappnase. Neuköllner Grundschüler können mit ihrer Klasse dort eine Woche lang Artisten werden. Sie jonglieren, sie laufen über Scherben, sie hängen am Trapez, sie führen Tierdressuren vor und machen gewagteste Akrobatik in Form eines Purzelbaums. Letzteres ist für manche Neuköllner Kinder eine echte Herausforderung. Der Sinn dieser Aktionswoche ist nicht, den Kindern das Diktat oder das Rechnen ersparen zu wollen. Wir zeigen ihnen eine andere Lebenswelt, die sie nicht kennen und die sie herausfordert. Wir wollen ihnen Solidarität vermitteln. Du kannst stehend auf dem Rücken des Pferdes reiten, wenn dich dein Klassenkamerad an der Longe festhält. Das macht er aber nur, wenn du ihn anschließend auch festhältst, und nicht, wenn du ihm eine reinhaust. Die Zirkusleute sprechen mit den Kindern in deren Sprache. Klar und unmissverständlich. Revierverhalten nach dem Motto »Was soll der Babykram hier? Ich bin ein harter Kämpfer« wird im Trainingszelt mit einer Viertelstunde auf der Matte geklärt. Das hält für eine Woche.
Nach fünf Tagen gibt es eine Abschlussvorstellung. Mit Glitzer, Schminke, Scheinwerfer und Musik. Die Eltern sollen kommen, um ihren Kindern zuzuschauen. Wie viele Mamas und Papas tatsächlich erscheinen, hängt von der sozialen Situation im Einzugsgebiet der Schule ab. Sind die Kinder aus dem Einfamilienhausgebiet, reichen die 400 Plätze nicht aus. Ist knallharter Kiez aus dem Norden angesagt, sitzen 20 bis 30 Eltern auf den Bänken. Den anderen ist es egal, was ihre Kinder machen. Kinder, die wichtige Einzelrollen in der Vorstellung haben, erscheinen plötzlich nicht. Irgendetwas in der Familie war wichtiger als die Aufgabe des Kindes. Heulende Kinder am Eingang des Zirkuszeltes stehen zu sehen, die bis kurz vor Beginn hoffen, dass ihre Eltern doch noch kommen und ihnen zuschauen, macht echt zornig. Nicht nur den Zirkusdirektor, sondern auch mich.
Die Erfolge dieser Maßnahme sind unglaublich. Außenseiter sind plötzlich in den Sozialverbund der Klasse integriert, Kinder, die im Unterricht nie den Mund aufmachen, treten als Ansager auf, und Hasenfüße schweben am Trapez unter der Zirkuskuppel. Jährlich 80 000 Euro kostet der Mitmachzirkus. Geschenkt für die 5000 Kinder pro Jahr oder die 25 000 Kinder seit wir ihn haben. Es kann so einfach sein, Kindern aus einer prekären Welt etwas Glanz in ihren Alltag zu bringen. Sogar Königin Beatrix nebst Kronprinz Willem und der bezaubernden Prinzessin Maxima bestanden darauf, ihn bei ihrem Staatsbesuch 2011 zu besuchen. Eine hohe Ehre für die Zirkusfamilie und für Neukölln.
2004 war die Geburtsstunde der Stadtteilmütter. Nach dem Campus Rütli wohl das zweitbekannteste Neuköllner Projekt. Wir wollten eine Art Kopie der Rucksack-Mütter aus Rotterdam ausprobieren. Das sind Migrantinnen, die als Botschafter des Vertrauens die eigene Ethnie aufsuchen. Der Unterschied zu Rotterdam war, dass die Frauen nicht mit Rucksäcken in die Kindergärten gehen sollten, um ihr Wissen zu verbreiten, sondern sie sollten mit der Stadtteilmutter-Tasche hinter die Wohnungstüren kommen. Hinter die Türen von Familien, bei denen der Bürgermeister mit der Amtskette zehnmal klingeln kann, und sie gehen trotzdem nicht auf. Das sind Familien, zu denen auch die Migrantenorganisationen keinen Kontakt haben.
Es begann mit einem kleinen Projekt im Quartiersmanagement Schillerpromenade. Damals stiegen 27 Einwandererfrauen ein, die weder einen Beruf erlernt hatten noch erwerbstätig waren. Die meisten lebten von Hartz IV. Sechs Monate lang haben sie damals gebüffelt und gelernt. Gesunde Ernährung, gewaltfreie Erziehung, was ist ein Kindergarten, warum gibt es Impfungen, wie funktioniert das Schulsystem und welche Gründe gibt es dafür, einen Sprachkursus zu belegen?
Zwei Dinge mussten die Stadtteilmütter als Voraussetzung mitbringen: den guten Willen und die deutsche Sprache. Und dann machten wir sie zu Botschafterinnen der deutschen Gesellschaft. Sie erhielten als Erkennungszeichen einen burgunderfarbenen Schal und die markante Stadtteilmütter-Tasche. Der Erfolg dieses kleinen Projektes war so groß, dass wir uns entschlossen, die Stadtteilmütter zum Markenzeichen von Neukölln zu machen.
Seit 2007 haben wir inzwischen 309 Stadtteilmütter ausgebildet, und diese haben 5200 Familien mindestens zehnmal besucht. Unterstellen wir nur eine durchschnittliche Kinderzahl von drei in jeder Familie, haben wir den Lebensraum von rund 15 000 Kindern erreicht. Gönnen wir den Stadtteilmüttern keinen Erfolg und nehmen wir an, in 90 % aller Fälle waren ihre Bemühungen vergebens, dann waren sie immerhin bei 1500 Kindern erfolgreich. Nicht schlecht für ein Hartz-IV-Projekt, jedenfalls kein Vergleich zu Blätter in die Luft werfen und wieder zusammenfegen. Insgesamt sind einschließlich der Hartz-IV-Kosten 9,2 Millionen Euro in das Projekt geflossen. 600 000 Euro hat der Bezirk bezahlt, 1,2 Millionen Euro der Senat und 7,3 Millionen Euro das Jobcenter. Die Stadtteilmütter wurden bisher zehnmal national und international ausgezeichnet. Berlin erhielt für ihre Leistungen den Metropolitan Award. Gelobt werden sie viel, kopiert werden sie Gott sei Dank inzwischen auch häufig. Aber ihre Finanzierung ist alle zwei Jahre eine blamable Schacherei. Der Regierende Bürgermeister hat ihnen schon 2009 versprochen, dass sie in die Regelfinanzierung kommen. Den Spickzettel muss er wohl verloren haben. Im Jahr 2012 kämpften wir wieder mal um das Überleben des Projekts, weil die Finanzierung auszulaufen drohte. Letzte Meldung: Es ist wieder geschafft.
Die Stadtteilmütter haben ihr Zuhause im Rathaus Neukölln. Sie werden geführt und geleitet durch das Diakonische Werk. Bundesminister haben die Frauen besucht, Vizekanzler Müntefering hat mit ihnen diskutiert, Bundestagsfraktionen wollten sie hören und sehen. Überall wird ihnen hohe Anerkennung gezollt. Auch im Jobcenter, dort wird ihre Tätigkeit über den öffentlichen Beschäftigungssektor gefördert. Ich erinnere mich gut an eine Begebenheit beim Besuch von Franz Müntefering. Eine Stadtteilmutter erzählte ihm, dass sie das erste Mal das Gefühl hat, im Leben Verantwortung zu tragen und etwas Sinnvolles zu machen. Eine andere Frau berichtete, dass es in der Schule für die Kinder eine Ehre ist, sagen zu können: »Meine Mutter ist Stadtteilmutter.« So ganz nebenbei haben wir den Einwandererfrauen also zu einer neuen Identität verholfen. Und die eine oder die andere haben wir an den ersten Arbeitsmarkt verloren. Wir tragen das mit Fassung. Übrigens: Kinder von Stadtteilmüttern benehmen sich in der Schule völlig anders als ihre Straßenkumpels.
Das engagierteste, finanziell aufwändigste, aber inzwischen wohl auch berühmteste Projekt der Neuköllner Integrationspolitik ist der Campus Rütli – CR2.
Auslöser war 2006 der Brandbrief des damaligen Lehrerkollegiums mit der ultimativen Aufforderung, die Schule in der jetzigen Zusammensetzung zugunsten einer neuen Schulform zu schließen, weil die Lehrerschaft der dortigen Verhältnisse nicht Herr wird. Einen Abdruck des Briefes finden Sie im Anhang des Buches. Nachdem der Presserummel und die zum Teil wirklich widerliche Geilheit nach Skandalfotos abgeklungen waren, blieb trotzdem die Frage: »Und wie gehen wir mit der Situation weiter um?« Ein zu zwei Dritteln aus dem Ostteil der Stadt zwangsversetztes Lehrerkollegium, das jeden Tag einen Kulturschock erlebte, auf der einen Seite. Andererseits eine von dauergeduldeten, arabischen jungen Männern dominierte Schülerschaft, die nichts weiter im Kopf hat, als Stress raushängen zu lassen. Ich sprach damals mit Sozialarbeitern, die mit Projekten versuchten, die jungen Leute irgendwie zu motivieren. Sie berichteten, dass der Konzentrationshorizont der Jugendlichen etwa bei 20 Minuten liegt. Wenn dann keine Abwechslung erfolgt, drehen sie am Rad.
Bei meinen Gesprächen mit den Schülerinnen und Schülern stellte ich immer wieder fest, dass ihre Wünsche an das Leben sehr kleinbürgerlich normal waren. Friseurin, Schneiderin, Mechatroniker. Dass die Erfüllung genau dieser ihrer Wünsche in einem direkten Zusammenhang mit der Schule und dem Beherrschen bestimmter Grundlagen des Lebens steht, verstanden sie nicht. Ich will hier raus, ich will hier raus, ich will endlich Verkäuferin lernen. Ich hörte mir das an und wusste, dass eine herbe Enttäuschung auf die junge Frau wartete. Als ich eine Sportstunde von zwei Klassen besuchte, sollten eigentlich 18 junge Damen in der Halle sein. Sechs machten mit einer Lehrerin ein Programm. Sechs saßen auf einer Bank und relaxten. Auf meine Frage, warum sie denn nicht mitmachen würden, nannten sie mir nicht, wie erwartet, biologische Vorgänge, sondern hatten die kurze Botschaft »Wir haben keine Lust«. So war das damals.
Im Jahr 2007 kam der ehemalige Senator Volker Hassemer für die Stiftung Zukunft Berlin auf mich zu. Er fragte, ob ich eine Idee hätte, wie man für die Rütli-Schule ein zukunftsträchtiges Konzept entwickeln könnte, ein Konzept, das sich auf andere Schulen übertragen ließe? Gleichzeitig nahm die Freudenberg-Stiftung das Quartier in ihr Programm »Ein Quadratkilometer Bildung« auf. Beim nächsten Treffen präsentierte ich der Stiftung die Grundidee des Campus Rütli. Ich gab zu bedenken, dass man dafür Geld brauche. Dieses Geld müsse vom Senat kommen. Millionen Euro für ein Projekt von Buschkowsky? Niemals! In dieser Phase erschien der rettende Engel in Form einer Schirmherrin: Christina Rau. Das wurde zur Sternstunde für den Campus. Spötter meinen auch, CR2 stehe für »Christina Rau«.
Unsere Schirmherrin machte sich auf den Weg, um Klinken zu putzen. Das tut sie übrigens heute noch. Es begannen jetzt all die Dinge, die geschehen müssen, um ein Großprojekt zum Laufen zu bringen. Es wurde ein Konzept erarbeitet, eine Lenkungsgruppe ins Leben gerufen, Finanzverhandlungen wurden geführt, ein Bebauungsplan wurde festgesetzt, und es wurden zwei Architektenwettbewerbe durchgeführt. Die Schule selbst hat sich inzwischen zur ersten Gemeinschaftsschule Neuköllns gemausert. Das Gebäude ist umfangreich umgebaut. Es wurden Prozesse über Prozesse geführt, um Zwischennutzer von den Grundstücken des Landes Berlin zu holen und darauf den Campus zu verwirklichen. Der erste Neubau, die Quartiers(sport)halle, wird Ende 2012 eingeweiht werden können. 2014 ist der geplante Baubeginn für die Schulerweiterung, die Arbeitslehre, das Elternzentrum, die Beratungsdienste und die Berufswerkstatt. 2016 soll alles fertig sein. Der Finanzaufwand wird dann etwa bei 35 Millionen Euro gelegen haben.
Wo es um so viel Geld geht, ist auch der Neid nicht weit. Selbst Neuköllner Schulen beklagen sich, dass dem Campus Rütli alles »vorne und hinten rein gesteckt wird« und sie gar nichts bekommen. Letzteres stimmt zwar nicht, macht sich aber aus dramaturgischen Gründen immer gut. Es haben immer noch nicht alle verstanden, dass Campus Rütli mehr ist als eine modernisierte Schule.
Campus Rütli ist ein neuer Anlaufpunkt in der Größe von über 40 000 Quadratmetern für eine Einwohnerschaft von 20 000 Menschen. Dieser Sozialraum will die sozioökonomischen Kompetenzen im Gebiet ganzheitlich erfassen. Unter Aufbrechen aller bisher bestehenden Ressortstrukturen sowie traditioneller Versäulungen der öffentlichen Infrastruktur soll dort ein Zentrum des Lernens, der Freizeit, der Begegnung und des Heranwachsens entstehen. Krippe, Kindergarten, Hort, Grundschule, Mittelstufe, Oberstufe, Jugendclub, Berufsfindungswerkstätten, Elternzentrum, Jugend- und Gesundheitsamt, Spielplätze, Musik- und Volkshochschule – all diese Angebote sollen die Menschen des Quartiers auf den Campus führen, Identität und Wiedererkennungseffekte stiften und aus anonymen Anwohnern Nachbarn machen. Es ist der Versuch, mit einer neuen und anderen Form der Stadtstruktur auf den Wandel der Bevölkerung zu reagieren. Die Menschen haben ihre gewohnten Strukturen verloren, und wir müssen ihnen neue bieten.
So weit, so theoretisch. Das Konzept des Campus Rütli wird im In- und Ausland mit großem Interesse verfolgt. Das Auswärtige Amt warb mit ihm auf seiner Website weltweit für die Integrationsleistungen Deutschlands. Nach einigem Zögern entdeckte auch der Senat die Chancen, die in diesem Projekt für das internationale Renommee Berlins liegen. Insbesondere der ehemalige Schulsenator Prof. Zöllner entwickelte sich zu einem ausgesprochenen Förderer. Bis Mitte des Jahres 2012 haben über 300 nationale und internationale Gruppen den Campus besucht, und das Auswärtige Amt hat Staatsgäste zu uns geführt. Ich selbst werde die Einweihung des Gesamtareals nicht mehr im aktiven Dienst erleben. Es erfüllt mich aber mit Befriedigung, zum Gelingen beigetragen zu haben. Ein besonderer Gruß gilt an dieser Stelle noch einmal Christina Rau. Sie ist eine phantastische Frau, und wer weiß, ob Campus Rütli ohne sie jemals das Licht der Welt erblickt hätte.
Ein kleines Zwischenresümee: Früher war der fehlende Schulabschluss ein tragendes Kennzeichen der Leistungen der Schüler der Rütli-Schule. Bei der Jahrgangsprüfung 2011 haben vier Schüler keinen Abschluss hingekriegt. Die Schulleiterin legt aber Wert auf die Feststellung, dass es sich nur bei zwei Schülern um solche handelt, für die sie seit längerem Verantwortung trägt. Die anderen beiden Schüler waren aus anderen Schulen zwangsversetzt worden. Von den restlichen 120 Prüflingen erreichten 36 die Berechtigung zum Übertritt in die gymnasiale Oberstufe (!), und alle anderen Schüler schafften einen Abschluss in unterschiedlicher Güte. Beim letzten Schulinspektionsbericht erhielt die Schule in elf von 14 Bewertungskategorien die Bestnote. Auf 96 freie Schulplätze zum Schuljahreswechsel 2011/2012 meldeten sich 105 Schüler an. Das heißt, die Rütli-Schule ist inzwischen eine übernachgefragte, ja, eine der beliebten Schulen. Sie hat eine eigene Oberstufe und ist heute so weit, dass ein Drittel des Jahrgangs Abitur macht. Von Mobiliar, das aus dem Fenster im dritten Stock fliegt, keine Rede mehr.
Das Ziel ist noch nicht erreicht. Bis dahin ist es noch ein langer Weg. Ein chinesisches Sprichwort sagt: »Hast du es weit, geh mit Freunden.« Die Rütli-Schule hat inzwischen viele starke Freunde. Sie ist eine Gemeinschaftsschule geworden, mit einer Grundschule und einer Realschule verschmolzen. Auch das war nicht einfach. Ein türkischstämmiger Vater der Realschule schrieb mir damals, dass die Eltern gegen die Fusion mit der Rütli-Schule protestierten. Er beendete seinen Brief mit der Formulierung: »Unsere Kinder fühlen sich zur Zeit wohl, und wir als Eltern werden unsere Kinder von der Heinrich-Heine-Schule abmelden, wenn es zu einer Zusammenlegung kommt.« Es ist eben nicht immer leicht, den Fortschritt zu erkennen. Egal, davon spricht heute niemand mehr. Die Rütli-Schule, ein Ort für Loser, das ist Geschichte.
*** Abrufbar unter: http://www.berlin.de/ba-neukoelln/migrationsbeauftragten/integrationspolitik.html