Was zu tun ist

Als Frau Prof. Dr. Böhmer im Sommer 2012 ihren neuen Bericht über »Die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland« vorstellte, war ich erst einmal ziemlich geklatscht. »Paradigmenwechsel von der nachholenden zur vorausschauenden Integrationspolitik: Neben der Reparaturwerkstatt öffnen wir die Zukunftswerkstatt«, verkündete die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung stolz. Jetzt haben sie es ja doch geschnallt, dachte ich, dein Buch kannst du in die Ablage tun. Ich war ziemlich vermault, was sich aber schnell legte, als ich mir die Erfolgsmeldung etwas genauer ansah.

Die Betreuungsquote der migrantischen Kinder unter drei Jahren in Kitas ist zwischen 2008 und 2011 um 53 % angestiegen. Donnerwetter, denkt da doch jeder, jetzt sind wir aber mit Siebenmeilenstiefeln unterwegs.

Dieser »sensationelle« Wert relativiert sich jedoch sehr schnell mit der Feststellung, dass dennoch gerade einmal 14 % der Kinder eine Einrichtung besuchen. Nicht nur, dass die Betreuungsdichte bei deutschen Kindern mit 29 % doppelt so hoch ist, der Abstand zwischen den Kindern mit und ohne Migrationshintergrund hat sich sogar weiter vergrößert. In der Schule sieht es nicht anders aus. Schüler nicht-deutscher Herkunft brechen die Schule mehr als doppelt so häufig ab wie ihre Klassenkameraden ohne Migrationshintergrund. Beim Übergang in das Berufsleben stoßen wir auf eine weitere riesige Baustelle. Der Anteil der Migranten im Alter zwischen 25 bis unter 35 ohne Berufs- oder Studienabschluss lag 2010 mit 31,6 % mehr als dreimal so hoch wie bei den gleichaltrigen Bio-Deutschen (9,2 %). Also, ganz ehrlich, Erfolgsberichte einer Zukunftswerkstatt stelle ich mir irgendwie anders vor.

Das Erklärungsmuster, warum die Trendwende auf dem Ausbildungsmarkt für jugendliche Migranten noch immer nicht gelungen ist, ist rituell abgedroschen. Dass Migranten einen wesentlich schwierigeren Zugang zu betrieblichen Ausbildungen haben, könnte an den »Selektionsprozessen« der Betriebe und daran liegen, dass die Unternehmen pauschal über die Gruppe der Migranten urteilen, meint Frau Prof. Dr. Böhmer. Mit anderen Worten: Die Firmen sind schuld. Sie grenzen aus und sind latent ausländerfeindlich. Das sagt Frau Prof. Dr. Böhmer zwar so nicht, aber das kann man inhaltlich so verstehen.

Da sind sie also wieder, unsere alten Bekannten: die Schönrederei und die beliebte Opferrolle. Ich denke, schon dieser kleine Seitenblick auf den Bericht der Bundesregierung zeigt, dass sich substantiell nicht viel geändert hat. Insofern kann ich mich getrost dem Schlusskapitel widmen, um darzulegen, was aus meiner Sicht zu tun ist.

Egal, wie jeder die einzelnen Teilaspekte der Einwanderung nach Deutschland und ihre Folgen bewertet, in einem müssten wir uns alle eigentlich einig sein: So, wie die Dinge sich in unseren Städten entwickelt und verfestigt haben, so können wir sie keinem weiteren Wildwuchs überlassen. Negativbeispiele der Entwicklung von ausgegrenzten Stadtlagen in anderen Ländern müssten genug Überzeugungskraft besitzen, gleiche oder ähnliche Entwicklungen nicht auch bei uns zuzulassen. Dies setzt eine fordernde und intervenierende Gesellschaft im Einklang mit einer aktiven, mutigen und konfliktbereiten Politik voraus. Die größte Voraussetzung ist allerdings ein Konsens, dass wir das alle so wollen. Ich persönlich glaube, die Integrationspolitik ist der ungeeignetere Ort für parteipolitische Sandkastenspiele, gleichwohl sind alle kräftig am Buddeln. Der jahrzehntelange parteiübergreifende Grundsatz, in allen die Grundfesten unserer Gesellschaft betreffenden Fragen das Einvernehmen zu suchen, war bisher immer ein Garant innenpolitischer Stabilität. Für mich gehört die Integrationspolitik zu den tragenden Säulen unserer Gesellschaft. Ein Fortsetzen der langjährigen Versäumnisse hätte katastrophale Folgen und würde irreparable Schäden für das gesellschaftliche Gefüge hervorrufen.

Aus meiner Sicht müsste eine Übereinstimmung zu folgenden Leitsätzen herstellbar sein:

  1. Wir sind eine für jeden offene, tolerante Gesellschaft.
  2. Jeder, der in dieses Land einwandert oder hier geboren wird, hat ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben frei von existentieller Not.
  3. Jeder hat in diesem Land das Recht auf gleichen Zugang zu Bildung, Arbeit und Wohlstand.
  4. Jeder ist in diesem Land willkommen, wenn er gewillt ist, seine Stärken zum Wohle der Gesellschaft und seiner Familie einzubringen.
  5. Die Gesellschaft erwartet von jedem Hinzugekommenen und jedem noch Hinzukommenden Anerkennung und Achtung der geltenden Gesetze sowie den Willen zur Integration in das kulturelle Leben wie Wertegefüge.
  6. Integrations-, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik bedingen einander und sind nicht voneinander zu trennen.

Die vorstehenden Sätze beschreiben Selbstverständlichkeiten. Dennoch bin ich sehr sicher, dass bereits an dieser Stelle die Emotionen hochschlagen.

Das deutsche Politiksystem hat für Probleme und Fehlentwicklungen immer eine Hauptantwort parat. Die heißt Geld. Tun wir hier und tun wir dort einen zusätzlichen Geldschein hin, dann regelt sich alles von alleine. Bei der Integrationspolitik halte ich diesen Ansatz nicht nur für schädlich, sondern für tödlich. Geldscheine ersticken Aufbruchsstimmung, Aufstiegswillen und die Besinnung auf die eigenen Stärken. Steigende Zahlen für von Armut bedrohte Kinder bekämpft man effektiv nicht durch eine Erhöhung der Transfersätze, sondern mit einer Kompetenzerweiterung der Eltern zum eigenen Broterwerb und einem Jobangebot mit Löhnen, von denen man leben kann. Der Deutschkurs oder das Abitur sind schärfere Waffen gegen prekäre Lebensverhältnisse als zehn Euro mehr Kindergeld oder Hartz-IV-Regelsatz. Politische Spinnereien wie das bedingungslose Grundeinkommen oder die Verdoppelung des Kindergeldes lasse ich an dieser Stelle unkommentiert.

Eine sehr bemerkenswerte Standortmarkierung hat vor einigen Jahren Prof. Barbara John, die frühere Ausländerbeauftragte des Berliner Senats, vorgenommen. Auszugsweise will ich ihre Gedanken hier wiedergeben:

»Herr Buschkowsky will mehr Geld für seinen Bezirk, wo nachweislich Gruppen von Einwanderern ihre soziale und ökonomische Isolation nicht überwunden, sondern sich darin eingerichtet haben. Mehr staatliches Geld auf Probleme ›werfen‹, das war und ist scheinbar noch immer das Allheilmittel. (…)
Trotz dieser Unterstützung über teilweise Jahrzehnte haben viele Einwanderer keine Kompetenzen erworben, um eine Arbeit zu finden und ihre Kinder schulisch zu unterstützen. (…) Die Gründe liegen viel näher: Integration durch Bildung und Arbeit war für Migranten in Deutschland immer nur ein Angebot, nie eine Notwendigkeit, der man nicht ausweichen konnte. Es gab und gibt den Ausweg, auch ohne Aufstieg durch Bildung und Arbeit finanziell abgesichert zu leben, nämlich mit Hilfe öffentlicher Mittel. (…)
Lange Abhängigkeit von sozialen Hilfen lähmt aber nicht nur die Eigeninitiative der Eltern. (…) Migranten über jahrelangen Bezug durch Transfermittel integrieren zu wollen, das konnte nur scheitern. (…) Zuwanderung zahlt sich für alle aus, wenn die Einwanderer über Bildung und Arbeit an unserer Gesellschaft beteiligt werden. (…) Mit den traditionellen Instrumenten des ›fürsorglichen‹ Sozialstaates wird dieses selbstverständliche Ziel nicht erreicht werden. Wie wäre es mal mit einem Konzept not made in Germany: Großzügig mit der Erlaubnis zur Arbeit und knauserig mit der Sozialhilfe?«

Auch der weit über Berlin hinaus bekannte Pastor Bernd Siggelkow hat sich sehr klar zur Frage der Transferleistungen geäußert:

»Es bringt nichts, Hartz-IV-Empfängern mehr zu zahlen und die Sätze zu erhöhen. Die meisten Betroffenen leben ja nicht in einer finanziellen, sondern einer emotionalen Armut (…).
50 oder 100 Euro mehr im Monat ändern daran doch nichts. Heranwachsende brauchen mehr finanzielle Hilfe. Denkbar wäre der vorgeschlagene Bildungschip, mit dem Kinder konkret Mittagessen, Nachhilfeunterricht und Musikstunden bezahlen können. Das wäre auch die richtige Unterstützung für alleinerziehende Mütter.«

Ich teile beide Einschätzungen ohne jede Einschränkung. Der moderne Ablasshandel des Wohlfahrtsstaats – Nimm deinen Scheck, geh nach Hause und sei ruhig – ist keine zeitgemäße Antwort auf das Problem der in bildungsferner Lethargie oder Kriminalität verharrenden Bevölkerungsschichten. Solange es so ist, dass Geringqualifizierte keine Chance haben, mit ihrer Hände Arbeit mehr Geld zu verdienen, als ihnen das Jobcenter ohne Gegenleistung überweist, solange werden wir die emotionale Aufstiegsblockade bei den Menschen nicht beseitigen.

Nicht mehr Geld auf Probleme zu werfen bedeutet natürlich nicht, dass die Lösungen kostenlos sind. Gemeint ist vielmehr ein Systemwechsel. Weg von der teuren und dazu auch noch zukunftsfeindlichen Sozialalimentierung des Einzelnen hin zu Strukturen, die es ihm ermöglichen, sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen. »Wenn ein Volk hungert, so schicke ihm kein Brot, sondern lehre es, die Äcker zu bestellen«, so lautet der alte Grundsatz der Entwicklungshilfe. Zehn Euro Kindergeld weniger werden durch ein kostenloses Mittagessen in der Schule mehr als aufgewogen. Das eine kommt dem Kind direkt zugute und führt auch zu Einsparungen im Portemonnaie der Eltern, das andere geht im Familienbudget manchmal unter.

Die skandinavischen Länder gelten wohl weltweit als die Wohlfahrtsstaaten schlechthin und als die Gesellschaften, die die größten Erfolge bei der sozialen Gleichheit und der Generationen- wie Chancengerechtigkeit für die Jungen vorweisen können. Dass dort auch nicht alles Gold ist, was glänzt, ist nicht Thema dieses Buches. Ein offenes Geheimnis aber ist, dass die Effektivität des allumsorgenden Staates in diesen Ländern inzwischen stark in Zweifel gezogen wird und sich die starke Steuerlast lähmend in der Wirtschaft bemerkbar macht. So hat die dänische Regierung kinderreichen Familien das Kindergeld gekürzt und Migranten während der ersten sieben Jahre ihres Aufenthalts die Sozialhilfe halbiert. Man diskutiert sogar, Einwanderern weitere Sozialleistungen bis hinein in den Gesundheitsdienst zu streichen.

Nun will ich an dieser Stelle gar nicht den Dänen das Wort reden oder auf andere skandinavische Finessen kommen wie den völligen Fortfall von Sozialleistungen bei Arbeitsverweigerung, sondern nur anklingen lassen, dass in anderen europäischen Staaten ebenfalls dem Zusammenhang von Sozialleistungen und ihrer möglichen Kontraindikation zu Eigeninitiative immer mehr Beachtung geschenkt wird. Ich halte das nicht nur für vernünftig und richtig, sondern darüber hinaus auch für zwangsläufig.

Wenn Menschen sich bei der Suche nach mehr Glück und Wohlstand auf die Wanderschaft begeben, folgen sie einem natürlichen Instinkt. Selbstverständlich aber muss eine Gemeinschaft ebenso ihrem natürlichen Instinkt folgen und darauf bedacht sein, dass Hinzukommende sie stärken und ihr nutzen. Wenn weite Kreise der Linkspolitik schon derart triviale Grundprämissen diskreditieren, dann verwundern Auseinandersetzungen um geringere Angelegenheiten nicht.

Genauso verhält es sich nach meinem Dafürhalten mit den politischen Standards, die hochgehalten werden, um den jeweiligen politischen Gegner aus der Reserve zu locken. Sie heißen doppelte Staatsangehörigkeit und Wahlrecht für alle. Beidem stehe ich ablehnend gegenüber und befinde mich damit im Dissens zur Linie meiner Partei. Die Ideologen sagen, die zum Beginn des Integrationsprozesses dargebotene Staatsangehörigkeit ist ein Vertrauensvorschuss und ein Akt der Willkommenskultur. Die Gesellschaft beweist damit dem Neuankömmling ihre Wertschätzung. Sie bietet von Beginn an alle Rechte wohlfeil, über die ein Mensch bei uns als Staatsbürger verfügt. Der theoretische Überbau für das allgemeine Wahlrecht ist sehr ähnlich. Jeder, der legal im Land lebt, soll auch mitbestimmen. Egal, ob er morgen wieder fort ist.

Das allgemeine, gleiche und freie Wahlrecht ist das höchste Gut eines Bürgers in einer Demokratie. Durch Wahlen werden die Grundzüge und die politische Ausrichtung unserer Gesellschaft bestimmt. Deshalb ist dieses Recht für die gesetzgebenden Körperschaften, also für die Parlamente, auf Staatsbürger, bei uns also Deutsche, und auf der kommunalen Ebene auf EU-Angehörige, also Angehörige des Staatenverbundes, begrenzt.

Staatsbürgerschaft und Wahlrecht auf dem Altar der Beliebigkeit zu opfern halte ich für einen fundamentalen Irrweg. Ich glaube nicht, dass auf diese Weise irgendetwas zum Positiven bewegt werden kann. Stattdessen werden tragende Grundsätze über Bord geworfen.

Deutschland hatte in den letzten Jahren zweifellos einen Negativsaldo beim Bildungsstand der Ein- und Auswanderer. Nicht nur quantitativ, sondern auch substantiell. Die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise in der EU hat jedoch im Moment zu einer Verschiebung geführt. War es bisher so, dass es sich bei denjenigen, die auswandern, zumeist um gut ausgebildete junge Menschen handelte, während es sich bei den Einwanderern vorwiegend eher um Menschen ohne jegliche Schul- und Berufsausbildung handelte, so ist im Zuwandererbereich derzeit ein Trend zu mehr und höher qualifizierten Fachleuten zu verzeichnen. Sie kommen aus Griechenland, Spanien und Italien. Zumindest ist die Gruppe der Einwanderer heterogener geworden. Man kann nicht mehr nur von einer Einwanderung in die Sozialsysteme sprechen.

Beim Fortzug hochqualifizierter junger Leute stehen meist erhoffte Berufs- und Verdienstmöglichkeiten im Vordergrund, die über denen in Deutschland liegen. Teils werden ihre Erwartungen erfüllt, teils nicht. Ein Aspekt, der mir gegenüber immer wieder geäußert wird, ist die Abgabenlast. Es bleibt einfach zu wenig Netto vom Brutto. Der Solidaritätsgedanke und die Ausstattung des Sozialsystems werden eher defensiv aufgenommen. Auch dann, wenn in der eigenen Familie das Sozialsystem durchaus gegenwärtig ist.

Einwanderung vollzog sich in Deutschland im Wesentlichen völlig ungesteuert. Es wurden an der einen oder anderen Stelle, zum Beispiel im Zuwanderungsgesetz, je nach politischer Tagesform mal Erleichterungen oder Erschwernisse geschaffen. Eine konzeptionelle Einwanderungspolitik und eine daraus abgeleitete, systematisch gesteuerte Einwanderung gab es bei uns nie, und es gibt sie bis heute nicht.

In den Jahren 2000/2001 versuchte die von der rot-grünen Bundesregierung eingesetzte Süssmuth-Kommission diesen Mangel zu beseitigen. Das fiel aber auf keinen fruchtbaren Boden. Die CDU/CSU verschloss sich dem Gedanken einer gewollten, konzeptionell strukturierten Einwanderungspolitik. Und so blieb alles beim Alten. In 2010/2011 wurde versucht, die Ergebnisse der Kommission zu reanimieren. Der politische Diskurs scheiterte ohne Ergebnis. So müssen wir weiter mit der Situation leben, dass Länder wie Kanada oder Australien sehr wohl schauen, wer zu ihnen kommt und was derjenige mit- und einbringt, während wir uns nach dem Prinzip der Wundertüte überraschen lassen, welche Inspiration unsere Bevölkerung durch Zuzug von außen erfährt.

Dass in Kanada die Kinder von Einwanderern im Durchschnitt eine erfolgreichere Schulkarriere mit besseren Abschlüssen als die der Einheimischen erzielen, mag auch an einem anderen Schulsystem und anders ausgebildeten Lehrern liegen. Das kann ich nicht beurteilen. Ein Hauptgrund besteht aber mit Sicherheit darin, dass die Einwandererkinder infolge des Ausleseprinzips der Familien bei der Einwanderung im Durchschnitt einfach bildungsorientierter sind als die Masse der Inländer. Der Taxifahrer oder Hausanstreicher mit akademischem Abschluss wird alles daran setzen, dass seine Kinder einen besseren Job bekommen können als er. Und er wird sie mit positivem Input auf den Weg des Wissenserwerbs begleiten. Das unterscheidet uns von Kanada oder Australien und nicht die Höhe des social transfer.

Wir sind dabei, den globalen Wettbewerb um die klugen Köpfe zu verlieren. Wenn es nicht schon zu spät ist. Nach Erhebungen der Mercator-Stiftung wanderten von 2007 bis 2009 ganze 363 hochqualifizierte Arbeitnehmer nach Deutschland ein. Von Januar bis September 2009, also in nur neun Monaten, waren es in Großbritannien 15 530. Den Sonntagsreden über das internationale Renommee Deutschlands und die Attraktivität des deutschen Arbeitsmarkts machen diese Fakten schlicht den Garaus. Wir haben heute schon einen Mangel an Fachkräften in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (MINT). Umgekehrt gehörte Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten zu den OECD-Staaten, welche die am schlechtesten qualifizierten Einwanderer angezogen haben. Aber vielleicht wird die neue Blue Card dazu beitragen, mehr ausländische Fachkräfte nach Deutschland zu locken. Mussten Zuwanderer aus Nicht-EU-Staaten dem Zuwanderungsgesetz nach bislang ein Jahresgehalt von 66 000 Euro nachweisen, sind es jetzt nur noch 44 8000 Euro. Für die genannten Mangelberufe liegt das Mindesteinkommen mit 35 000 Euro im Jahr noch niedriger. Ausländische Hochschulabsolventen, die im Land bleiben wollen, haben jetzt nicht mehr nur zwölf, sondern 18 Monate Zeit, eine Anstellung zu finden. Unabhängig von dieser gesetzlichen Neuregelung scheint auch die Eurokrise an einer Stelle unser Verbündeter zu sein. Machen sich doch deutlich vermehrt auch hochqualifizierte Menschen aus Südeuropa auf den Weg zu uns.

Ich bin dafür, die gesamte Thematik der Einwanderung sehr viel rationaler als bisher zu betrachten. Einwanderung ist mehr als gewollter oder inszenierter Familiennachzug. Es ist richtig, nicht nur den Benefit für die Ankommenden zu betrachten, sondern auch den, den die Gesellschaft von der Einwanderung hat. Das bedingt sich wechselseitig. Die Einwanderung von Menschen, die nach menschlichem Ermessen in unserer Gesellschaft nur wenige Chancen haben werden, sollte sich auf den Asylbereich beschränken. Die Forderung von sprachlichen Mindeststandards halte ich genauso für zumutbar wie die Erwartung, dass sich ein 23-Jähriger entscheiden kann, mit welcher Staatsangehörigkeit er künftig leben möchte. Die große Politik unterstellt 16-Jährigen die politische Reife für das Wahlrecht, hält aber 23-Jährige für überfordert von der Aufgabe, sich klar darüber zu sein, wo sie hingehören. Logik geht anders.

Was uns weiterhin von anderen Einwanderungsnationen unterscheidet, ist das starre Bildungssystem. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir in der Zeit stehen geblieben sind, als in der Schulfibel Familien abgebildet waren, in denen die Mädchen blonde Zöpfe und weiße Kniestrümpfe und die Jungen kurze Hosen mit Hosenträgern und Linksscheitel trugen. Wie ich in den anderen Kapiteln ausgeführt habe, sieht unsere Gesellschaft so aber nicht mehr aus. Das Bildungssystem hat nicht die Aufgabe, sich eine neue Bevölkerung zu schaffen, sondern die auszubilden, die da ist. Innerhalb des Aufgabenspektrum der OECD gibt es keinen Bereich, in dem so starke Kritik an der Bundesrepublik laut wird wie beim Bildungswesen. Und dennoch stampfen unsere Bildungspolitiker weiterhin trotzig mit den Füßen auf und sagen: »Alles ist gut.«

Mein SPD-Boss Sigmar Gabriel erzählte mir unlängst, dass wir bei den Bildungsaufwendungen dem kleinen Dänemark »nur« um 50 Milliarden Euro hinterherhinken. Immer wieder bestätigt uns die OECD, dass der Lebensweg der Kinder in keinem anderen Industrieland so stark vom gesellschaftlichen und sozialen Stand der Eltern abhängt wie in Deutschland.

Die ungleichen Entwicklungschancen für Kinder beginnen schon bei der Vorschulerziehung. Dass Kinder einen Sozialraum mit anderen Kindern benötigen, dass die Herausbildung der kognitiven Fähigkeiten der Kinder bereits ab dem 13. Lebensmonat einer stürmischen Entwicklung unterliegt, dass das Sprachzentrum mit zwei und drei Jahren extrem belastungsfähig ist, dass Motorik und Feinmotorik stimuliert werden müssen, all diese Dinge sind völlig unbestritten. Dennoch sind bei uns Kindertagesstätten und Krippen nach wie vor mit einem Stigma versehen. Das hat dazu geführt, dass wir zum Beispiel auf dem Gebiet der Plätze für die unter 3-Jährigen ungefähr auf einer Stufe mit Bulgarien und Griechenland stehen. Führend sind hier natürlich die Skandinavier, aber auch die USA sind weiter. Das Gesetz von 2007, bis zum Jahre 2013 die Krippenplätze auf 35 % Bedarfsdeckung auszubauen, wird unser Ranking zwar verbessern, aber noch lange nicht den Durchbruch bedeuten.

Ein Jahr vor Inkrafttreten des Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz pfeifen es alle Spatzen von den Dächern: Das Ziel wird verfehlt werden. Zu langsam und zu zögerlich sind Gemeinden und Städte an die Aufgabe herangegangen. Nicht, weil sie nicht wollen, sondern weil die Finanzierung nicht so reibungslos lief wie versprochen. Auch die Annahme, dass der Bedarf mit 35 % ausreichend gedeckt ist, wird sowohl vom Deutschen Städtetag als auch dem Deutschen Gemeinde- und Städtebund bestritten. Den Anteil der Familien, die auf das Angebot einer Betreuung ihrer Kinder unter dem 3. Lebensjahr angewiesen sind, schätzt man dort auf 60 % bis 65 %.

Nach all meinen Erfahrungen und den Urteilen der Erzieherinnen, der Lehrerinnen und Lehrer wie der Vertreter der übrigen Professionen, die sich in einem Gebiet wie Neukölln um das Wohlergehen von Kindern kümmern, bin ich zu dem Ergebnis gelangt, dass wir um eine Kindergartenpflicht nicht herumkommen werden. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass der Leidensdruck so zunehmen wird, dass auch die heute bei der etablierten Politik noch bestehenden Hemmnisse werden weichen müssen.

Ich habe bewusst von den Widerständen der etablierten Politik gesprochen. Mir scheint es, als wäre der Bewusstseinsstand der Eltern viel weiter. Ich bin bei meinen Vorträgen quer durch die Republik noch nicht ein einziges Mal auf formulierten Widerspruch gegen eine Kindergartenpflicht gestoßen. Bei einer Online-Bürgerbefragung »Zukunft durch Bildung – Deutschland will’s wissen« von Roland Berger, der Bertelsmann Stiftung, BILD und Hürriyet mit 480 000 Teilnehmern haben sich 87 % für eine Kindergartenpflicht ausgesprochen. Übrigens, zwei Drittel der teilnehmenden türkischen Migranten haben ebenfalls eine Kindergartenpflicht verlangt. 67 % sind auch dafür, dass die Kindertagesstätten kostenlos sein sollen. Die Umfrage war nicht repräsentativ, weil die Teilnehmer nicht ausgewählt wurden, sondern über ihre Teilnahme im Internet selbst entschieden.

Im Grundsatz stimmt eine übergroße Mehrheit der Kindergartenpflicht dennoch zu. Einräumen muss ich, dass es zur Frage, ab welchem Lebensalter diese Pflicht gelten soll, unterschiedliche Einschätzungen gibt und dass ich etwa einer Minderheit von 10 % bis 15 % angehöre. Als verschriener Kita-Fanatiker trete ich für eine Besuchspflicht ab dem 13. Lebensmonat ein. Das hat etwas mit den erwähnten Entwicklungsstadien des Kindes zu tun, aber auch mit den generellen Gedanken einer Infrastruktur für Kinder und einer Erwerbstätigkeit der Frauen.

Ich erinnere an die Ausführungen zur demographischen Entwicklung und der zu geringen Geburtenrate in Deutschland von 1,4. Die Gewissheit, dass nach dem sehr engen Mutter-Kind-Beziehungsjahr der ersten zwölf Monate eine umfassende und gute Betreuung des Kindes zur Verfügung steht, würde mit Sicherheit dazu führen, dass auch beruflich erfolgreiche Frauen sich einen Kinderwunsch erfüllen. Welche Probleme Eltern heute haben, für ihr Kind unter drei einen Platz zu finden, wissen Sie vielleicht aus eigener Erfahrung oder aus Ihrem Bekanntenkreis. Oft scheitert der Versuch völlig. Manchmal hilft noch eine Tagesmutter. Berlin ist eine sehr komfortable Region in Sachen Krippenplatz. Trotzdem benötigen die Menschen mehrere Monate, um ihr Kind unterzubringen. Es ist keine Seltenheit, dass bereits Schwangere sich auf die Warteliste für einen heißumkämpften Kitaplatz im nächsten Jahr setzen lassen. Flexibilität hinsichtlich der Entfernung zur Wohnung oder zum Arbeitsplatz wäre auch nicht schlecht. Die Erwartungshaltung, eine Kindertagesstätte muss direkt vor der Tür sein, wird meist nicht befriedigt. Aus diesem Grund bleiben auch viele Einwandererkinder zu Hause.

Es gibt eine ganze Reihe von Studien, die den Nutzen eines möglichst frühen und möglichst langen Kindertagesstättenbesuchs für die Entwicklung der Kinder bestätigen. Legen wir unseren Fokus auf die Einwandererkinder oder auch sonst sozial Benachteiligte, so verbessern sich deren Startchancen beim Schuleintritt deutlich, wenn sie vorher drei Jahre im Kindergarten waren. Interessant ist, dass sich bei einer Verweilzeit von nur einem Jahr keine nachweisbaren Verbesserungen ergeben. Hierbei handelt es sich um eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Wenn die Eltern keinen Bildungsabschluss haben und das Kind überhaupt nicht oder nur kurz in der Kindertagesstätte war, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass es vom planmäßigen Schulstart zurückgestellt wird, bei 50 %.

Die Ergebnisse des DIW zeigen, dass ein Krippenbesuch die spätere Schulkarriere positiv beeinflusst. Dies wird durch die bereits erwähnten Untersuchungen der Bertelsmann Stiftung bestätigt. Den beeindruckendsten Bericht habe ich über ein Vorschulexperiment, das »Perry Preschool Project«, gelesen. Es wurde im Jahre 1962 begonnen. Man wählte damals 123 3- bis 4-jährige Kinder mit niedrigem IQ aus, die unter sozial schwierigen Bedingungen aufwuchsen. Sie kamen aus afroamerikanischen Elternhäusern. Die Eltern waren oft ohne Arbeit, und die Kinder lebten in unvollständigen Familien.

58 Kinder wurden bis zum Schuleintritt täglich 2½ Stunden mit einem Programm, das dem in unseren Kindertagesstätten ähnelt, und einem 90-minütigen wöchentlichen Besuch der Erzieherin zu Hause betreut. Mit den anderen 65 Kindern geschah nichts, sie wurden nur regelmäßig beobachtet. Die Kinder von damals wurden im Alter von 40 Jahren abschließend befragt. Die Ergebnisse sind frappierend. Obwohl der Einfluss nur zwei Jahre im Kleinkindalter andauerte, waren die Erwachsenen lebenstüchtiger, intelligenter, mit einem höheren Schulabschluss versehen, verdienten mehr Geld, kamen seltener ins Gefängnis und hatten weniger Drogenprobleme als die nicht geförderten. Die Unterschiede betrugen bis zu 50 %. Ich kann die Ergebnisse dieser Langzeituntersuchung natürlich nicht bestätigen, ich war nicht dabei. Aber der amerikanische Nobelpreisträger James Heckman hat sie evaluiert und für belastbar erklärt. Also ein Plädoyer für die Kindertagesstätte als Bildungseinrichtung.

Ich will Ihnen auch nicht verschweigen, was ein leidenschaftlicher Gegner zu diesem Thema zu sagen hat. Der FOCUS-Online-Autor Alexander Kissler kam in einem Beitrag zu der Erkenntnis: »Brave Bürger züchtet sich der Staat desto leichter, je früher er ihrer habhaft wird. Schon das Kleinkind soll die Wonnen der Staatstreue auskosten. Erziehungs- und Bekenntnisfreiheit müssen hintan stehen. (…) Die Kita-Pflicht soll den Staatsbankrott verhindern. ›Alle Kinder‹ sollen durch Fremdbetreuung einen frühkindlichen Beitrag zum Bruttosozialprodukt leisten. Ihr Daseinszweck ist es, die ›Steuern und Sozialabgaben‹ der Eltern anwachsen zu lassen (…).« So etwas kann man in deutschen Politmagazinen lesen. Ist doch unterhaltend.

Dabei waren wir schon einmal viel weiter. Die SPD präsentierte 2005 einen radikalen Neuanfang in der Bildungspolitik. Für Kinder unter drei Jahren sollte ein flächendeckendes, ganztägiges und kostenloses Betreuungsangebot geschaffen werden. Und für die 3- bis 6-jährigen Kinder war eine verpflichtende und kostenfreie Ganztagsvorschule vorgesehen. Ab dem 6. Lebensjahr sollten alle Kinder eine ganztägige Gemeinschaftsschule besuchen. Die Auflösung des drei- bzw. viergliedrigen Schulsystems rundete die Vorschläge ab.

Natürlich kam von konservativer Seite sofort die Gegenwehr. Gleichmacherei und Zentralisierungswahn, hieß es da. Ganz ohne Wirkung blieben die Vorschläge der SPD aber anscheinend doch nicht. Die damalige Bundesfamilienministerin Dr. Ursula von der Leyen und die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung Prof. Dr. Böhmer wiesen zwar den Gedanken an eine Kindergartenpflicht mit Abscheu von sich, erklärten aber in trauter Zweisamkeit, dass die Kindergartenbeiträge mittelfristig abgeschafft werden sollten.

Nun, an ihre eigenen Vorschläge erinnert sich die SPD heute nur noch ungern, und von kostenfreien Kindertagesstätten redet die CDU auch schon lange nicht mehr. Der Fortschritt für die Kinder war so nah und ist doch inzwischen wieder so fern. Heute setzen wir uns mit dem Rollback auseinander, Kinder gegen Geldprämie von der Kindertagesstätte fernzuhalten. Arme Kinder in Deutschland.

Mir ist schon bewusst, dass meine Radikalforderung nach der Kindertagesstättenpflicht ab dem 13. Lebensmonat wohl noch einige Zeit, eine sehr lange Zeit, benötigen wird, um sich durchzusetzen. Vielleicht schafft sie es auch nie. Generationen von Müttern werden ihr dann nachtrauern. Von den Gegnern einer Kindertagesstättenpflicht werden immer zwei Argumente ins Feld geführt. Zum einen würde sie gegen die Verfassung verstoßen, und zum anderen wäre es ein Generalverdacht gegen alle Eltern, sie könnten ihre Kinder nicht vernünftig erziehen. Beides ist Quatsch.

Artikel 6 unseres Grundgesetzes formuliert das Elternrecht wie folgt: »Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.« Der zweite Satz wird meist schamhaft verschwiegen. Er postuliert nämlich ein staatliches Wächteramt über unsere Kinder. Ich kann auch nicht nachvollziehen, wieso eine Kindertagesstättenpflicht das Grundrecht auf Pflege und Erziehung aushebeln sollte. So eine Verpflichtung bedeutet mitnichten automatisch eine Ganztagsbetreuung Montag bis Freitag von morgens bis abends. Auch zwei- oder dreimal vier Stunden die Woche kann diese Pflicht beinhalten. Das wäre dann eine Kopie der früheren Mini-Clubs der Kirchengemeinden.

Schon vor Jahrzehnten haben Eltern im Bildungsbürgertum völlig zu Recht erkannt, dass die Kleinfamilie Kindern den Erfahrungsraum unter Gleichaltrigen geraubt hat. Eine ganze Sozialisationsebene ist weggebrochen. Deshalb schuf man die Mini-Clubs. Das hatte mit Jugendhilfe und Erwerbstätigkeit überhaupt nichts zu tun. Durch einen Teilzeitaufenthalt in der Kindertagesstätte das Grundrecht in Gefahr zu sehen ist einfach albern. Aber selbst bei einem Ganztagsbesuch steht das Erziehungsrecht der Eltern überhaupt nicht in Frage. Keine noch so gut ausgebildete Erzieherin vermag es, in das Beziehungsgeflecht und die engen emotionalen Bindungen zwischen Kindern und ihren Eltern einzudringen. Wenn immer wieder die sozialistische Einheitserziehung beschworen wird, dann dient das nur dazu, Eltern zu verschrecken, so, wie man Kindern Angst einjagt, indem man ihnen von dem bösen Schwarzen Mann erzählt.

Auch die Schule greift in das Bestimmungsrecht der Eltern ein. Schule ist staatlich angeordnete Freiheitsberaubung. Warum darf der Staat das, sobald das Kind fünfeinhalb oder sechs Jahre alt ist, mit 3-Jährigen aber nicht? Seit wann hängt ein Grundrecht vom Lebensalter ab? Zu guter Letzt, auch Grundrechtsartikel kann man ändern. Das ist eine Frage politischer Mehrheiten. Nicht mehr und nicht weniger. Eines will ich zu bedenken geben. Eine Pflicht für den Einzelnen bedeutet für die Gesellschaft auch immer eine Verpflichtung, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass der Einzelne diese Pflicht erfüllen kann. Nämlich die Plätze zur Verfügung zu stellen und für Kostenfreiheit zu sorgen. Mir wird immer gesagt, wir brauchen keine Kindertagesstättenpflicht, weil doch ohnehin schon alle hingehen. Das stimmt zwar nicht, aber mal angenommen, es wäre so: Dann können wir es ja erst recht machen. Es dürfte dann niemanden stören.

Bis wir an dieser Stelle einen Schritt weiter kommen, wird es wohl so bleiben, dass die Kinder des Bürgertums wie selbstverständlich in den Kindergarten gehen und die, die es am nötigsten hätten, ihrem Schicksal überlassen bleiben. Eine Gesellschaft muss sich immer daran messen lassen, wie sie mit den Schwächsten umgeht. Das sind nun einmal die Kinder. Es ist unsere Pflicht, nach ihnen zu schauen und uns auch um sie zu kümmern, wenn die Eltern es nicht ausreichend können oder wollen. Kinder sind eigenständige Lebewesen und keine Sache im persönlichen Eigentum ihrer Erzeuger. Deshalb müssen wir unser Wächteramt eben anders wahrnehmen als bisher. Nicht erst im Konfliktfall eingreifen und versuchen zu reparieren, was dann meist gar nicht mehr zu reparieren ist. Sondern vorher, präventiv, leitend und begleitend, helfend und fördernd. Eine Bekannte von mir hat sich nach Schottland verheiratet und bekam dort eine Tochter. Über eineinhalb Jahre erschien in den schottischen Highlands engmaschig eine Sozialarbeiterin und schaute nach dem Kind. Beide Elternteile sind Akademiker und fanden das völlig normal. Ich stelle mir das in Deutschland vor. Oder lieber nicht?

An die Vorschulerziehung schließt sich konsequenterweise die Schule nahtlos an. Unser Schulsystem hat es bis heute nicht geschafft, zur Kenntnis zu nehmen, dass es sich bei der Schule in vielen Teilen des Landes nicht mehr nur um ein Institut der Wissensvermittlung handelt, sondern dass ihr auch die Rolle einer Integrationsinstanz zugewachsen ist. Sie muss bei vielen jungen Menschen insbesondere aus dem Einwanderermilieu die Aufgaben des Elternhauses mit übernehmen, weil das beschriebene Dreieck hier nicht funktioniert. Die Vertiefung des Lehrstoffs, also die Übungs- und Trainingsphase, die Erziehung im Sozialverhalten, das Vermitteln von Umgangsformen, Benehmen und die Akzeptanz von Normen, all das sind Dinge, die über die klassische Aufgabenstellung der Schule natürlich hinausgehen. Bei vielen unserer Kinder ist die Schule aber auch Elternersatz. Da reicht die Einflusssphäre der klassischen deutschen Halbtagsschule bei weitem nicht aus. Gerade in diesen Verhältnissen heißt Schulschluss um 13.30 Uhr Fernsehen ab 13.45 Uhr. Das klingt barsch, ist aber leider nicht aus der Luft gegriffen.

Die meisten europäischen Länder kennen eine Halbtagsschule überhaupt nicht. Schule ist fast immer ganztags. Auch bei uns sind Privatschulen für viel Geld natürlich Ganztagsschulen. Langes, gemeinsames Lernen heißt die Zauberformel. Alle Studien, die ich zu diesem Thema kenne, kommen zu dem eindeutigen Ergebnis, dass die Ganztagsschule der Teilzeitschule in allen Belangen überlegen ist. Das Aggressionspotential der Schüler ist niedriger, ihr Sozialverhalten verbessert sich, aber am überzeugendsten sind die Leistungswerte. Der Anteil der Klassenwiederholer, auf Deutsch Sitzenbleiber, beträgt bei der Teilnahme am offenen Ganztagsbetrieb lediglich 2,4 %. In gebundenen Ganztagsschulen sogar nur 1,4 %. Im Vergleich dazu beträgt ihr durchschnittlicher Anteil bei traditionellen Schulen mit 8,4 % das Sechsfache des Wertes der gebundenen Ganztagsschulen. Beim Sozialverhalten wurde speziell die Phase der Pubertät betrachtet. Das Störverhalten der Jugendlichen wird beim Ganztagsbetrieb als dezenter beschrieben, und fast 13 % der Schüler gaben an, dass sich, seit sie eine Ganztagsschule besuchen, ihr Verhältnis zu den Eltern verbessert hat. Ich stütze mich dabei auf Erkenntnisse, die vier Forschungsinstitute im Auftrag des Bundesbildungsministeriums erarbeitet haben.

Ich spreche mich also für einen weiteren Ausbau der Ganztagsschulen in Deutschland aus. Die erste Programmphase startete unter der rot-grünen Bundesregierung und war eine Antwort auf den Pisa-Schock. Von 2003 bis 2009 wurden vier Milliarden Euro investiert, um gut 7000 Schulen auf Ganztagsbetrieb umzustellen. Von den bundesweit rund 35 000 allgemeinbildenden Schulen hatten 2009 etwa 12 000 Schulen einen Ganztagsbetrieb. Also ein gutes Drittel. Leider hat sich die jetzige Bundesregierung entschlossen, nicht weiter in die Ganztagsschulen zu investieren. Auf die Frage, ob sie das Programm fortführen möchte, antwortete die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Frau Prof. Dr. Schavan: »Nein, gebaut ist jetzt genug.«

Zum Thema Ganztagsschulen muss man noch wissen, dass es zwei Formen dieser Schulorganisation gibt. Die offene Ganztagsschule und die gebundene. Die offene Form bietet Nachmittagsangebote, die freiwillig wahrgenommen werden können und eventuell auch kostenpflichtig sind (Hortbetreuung). Also, normale Grundschule plus Hort gleich Ganztagsschule. Diese Formel streut Sand in die Augen. So schmückt sich das Land Berlin damit, dass über 83 % der allgemeinbildenden Schulen Ganztagsschulen seien. Richtig ist jedoch, dass noch nicht einmal 20 % der Berliner Grundschulen die gebundene Ganztagsbetreuung anbieten und bei den Sekundarschulen knapp die Hälfte. Auch trifft es nicht zu, dass jede Schule selbst entscheiden kann, ob sie offenen oder gebundenen Ganztagsbetrieb anbieten will, und die Verwaltung je nach Entscheidung das Personal servicemäßig bereitstellt. Richtig ist vielmehr, dass eine Genehmigung erforderlich ist, die versagt werden kann und auch versagt wird. Es lässt sich bei diesem Thema gut deutlich machen, wie verwirrend Informationen gestreut werden. Nur Insider sind noch in der Lage, die tatsächlichen Sachverhalte zu durchblicken. Dass es noch ein weiter Weg bis zur flächendeckenden Versorgung mit gebundenen, also echten Ganztagsschulen ist, sieht man auch daran, dass in Neukölln gerade einmal 28 % aller Grundschüler in einer solchen Einrichtung betreut werden.

In diesen Schulen ist die Betreuungszeit bis 16.00 Uhr für alle Pflicht, und sie ist natürlich kostenlos. Es wird niemanden verwundern, dass ich mich konsequent für den gebundenen Ganztagsunterricht ausspreche und alle kleineren oder größeren Schummeleien (das Angebot geht nur bis 15.00 Uhr, der verlängerte Betrieb ist nur an einigen Tagen eingerichtet) als Etikettenschwindel ablehne. Ganztagsschule heißt aber nicht ganztags pauken. Dann würden die Schüler schnell die Lust verlieren. Gefordert ist ein Konzept zum Wechsel zwischen Unterricht und Freizeit (außerunterrichtliche Aktivitäten). Eigentlich gehören ein Freizeitgebäude und eine Mensa zur selbstverständlichen Ausstattung.

Wer für Ganztagsschule ist, der ist bei der CDU/CSU falsch. Die SPD hält hier nach wie vor die Fahne hoch. An dieser Stelle ist sie noch nicht eingeknickt wie bei den Kindertagesstätten. Erst 2011 hat die SPD ein Programm vorgelegt, in dem sie 7000 neue Ganztagsschulen bis 2015 verspricht. Bis zum Jahr 2020 sollen dann alle übrigen Schulen zu Ganztagsschulen erweitert werden mit dem Ziel, einen Rechtsanspruch auf einen Platz in einer Ganztagsschule zu schaffen.

Wie sollte es anders sein – natürlich gibt es auch Widerstände gegen die Umstellung aller Schulen auf einen Ganztagsregelbetrieb. Sie kommen erwartungsgemäß aus dem bürgerlichen Lager. In der Theorie sind wir uns ja immer alle sehr schnell einig. »Überwindung sozialer Schranken, Chancengleichheit für alle und langes, gemeinsames Lernen«, so lauten dann immer die Fanfarenstöße. Viele denken aber noch einen Halbsatz hinzu, der da lautet: »… aber natürlich nicht mit meinem Kind.« Ich erinnere an das Fiasko der Verlängerung der Grundschulzeit von vier auf sechs Jahre in Hamburg. Da haben die Häuser mit dem Blick auf die Elbe einmal gezeigt, wie das so ist mit der Übereinstimmung von Reden und Handeln.

Der Vollständigkeit halber erwähne ich, dass bei der bereits zitierten Online-Umfrage von Berger/Bertelsmann 81 % der Befragten für die Ganztagsschule votiert haben. 42 % als Pflicht und 38 % als freiwilliges Angebot.

Das hört sich alles gut an, weist nach vorne, und jedes Auditorium nickt beifällig. Wir sollten aber nicht vergessen, dass auch Lehrer mitunter den Drang verspüren, den Weg des Wassers zu wählen. Es ist ein Irrglaube, davon auszugehen, dass alle Kollegien Jubelschreie bei dem Angebot ausstoßen, eine Ganztagsschule zu werden. Erst im Jahr 2012 hatte ich das Erlebnis, dass ein Kollegium die Idee wenig prickelnd fand. Arbeitszeit bis 16.00 Uhr? Igitt, igitt! Außerdem kenne man viele Eltern in der Umgebung, die gar keine Ganztagsschule wünschten. Deshalb trete man für Angebotsvielfalt ein. Bla, bla, möchte man nur sagen. Die zuständige Schulaufsicht erklärte daraufhin, gegen den Willen des Kollegiums, ja, da könne sie auch nichts machen. Ein schönes Beispiel dafür, wie Theorie und Praxis auseinanderklaffen.

Die Schulorganisation ist sicherlich das eine, aber die Binnenstruktur ist der andere Baustein, der zu einem verbesserten Output führen muss. Auch an dieser Stelle leben wir immer noch mit dem Aufbau von vor Jahrzehnten. Es gibt Lehrer, eine Leitung, einen Schulrat als Aufsicht und ein Bildungsministerium. Und alles schön hierarchisch von oben nach unten organisiert. Dieser Zentralismus führt natürlich dazu, dass die Dinge nach Schema F beurteilt und gestaltet werden. Schule ist Schule. Nein, ist sie eben nicht! Auch Schule muss sich anpassen. In gutbürgerlichen Bezirken heißt der Gegner Wohlstandsverwahrlosung, und die Schulleitung muss sich mit der Klage von Vati Rechtsanwalt gegen die 4 minus in der Physikarbeit herumschlagen. Bei mir in Neukölln heißt der Gegner in vielen Fällen Bildungswüstenei und Asozialität. Beide Formen erfordern unterschiedliche Reaktionen. Persönlichen Vulgärattacken muss man anders begegnen als akademischer Schaumschlägerei.

»Bildungseinrichtungen in Stadtteilen mit besonderem Handlungsbedarf bedürfen einer besonderen Ausstattung – materiell und personell. Neben Schulsozialarbeit und Ergänzungsdeputaten ist es hier zwingend erforderlich, zügig Ganztagsangebote vorzuhalten«, so schreibt es der Regierende Bürgermeister. Darunter verstehe ich, dass eben Schule im sozialen Brennpunkt nicht gleich Schule in der Schlafstadt ist. Die besten Lehrer, so sagt man immer wieder, sollen zu uns nach Neukölln. Und die Schulen sollen die besten Profile haben, um das Wegziehen der Eltern zu verhindern. Und die Realität? Nach wie vor zwangsversetzte Lehrer, unbesetzte Schulleiterstellen, Burnout und innere Emigration in den Kollegien. Eine Folge davon ist, dass in den Neuköllner Grundschulen knapp 60 % und in den integrierten Sekundarschulen knapp 30 % des Deutsch- und Mathematikunterrichts nicht fachgerecht vermittelt werden. Das ist mitunter aufgrund verschiedener Gegebenheiten durchaus auch gewollt, aber in den genannten Größenordnungen natürlich nicht. In den Gymnasien liegt der Anteil bei unter 5 %. Als Zeichen der gerade zitierten »besonderen Ausstattung« möchte ich nicht vergessen zu erwähnen, dass im aktuellen Schuljahr 2012/2013 in 23 Neuköllner Schulen rund 410 Stunden für Förderunterricht und Klassenteilungen, nein, nicht etwa zusätzlich bewilligt, sondern gestrichen wurden.

So kann man den Teufelskreis nicht durchbrechen. Schulen in sozialen Ausnahmegebieten müssen freier werden, müssen individueller handeln können, und sie müssen sich vor allen Dingen ihr Personal selbst aussuchen dürfen. In London geht das, müsste dann doch eigentlich auch bei uns gehen. Ich weiß: das Beamtenrecht, der personelle Überhang, der untergebracht werden muss, der Personalrat, die Kosten, das Schulverfassungsgesetz und so weiter und so weiter und so weiter.

Nein, die Schulen müssen weg von der Gängelei durch mittelmäßige Schulaufsichtsbeamte. Sie müssen in der Lage sein, sich ihr Kollegium direkt von der Uni zu holen. Warum kann es nicht verpflichtend sein, dass junge Lehrer nach ihrem Studium einen gewissen Zeitraum von zum Beispiel zwei Jahren in einem sozialen Brennpunkt tätig sein müssen? Die Arbeit in schwierigen Gebieten muss einen Punktevorteil geben beim Auswahlverfahren für spätere andere Aufgaben. Zulagen für die Arbeit in Brennpunkten. Reduzierung der Unterrichtsverpflichtung, abgesenkte Klassenfrequenzen, eigene Budgetverantwortung. Das alles sind Vorschläge, die die Schullandschaft verändern würden. Genauso wie erweiterte Kompetenzen der Schulleitungen. In finanzieller Hinsicht, aber auch in disziplinarischer. Ich weiß, dass alle diese Vorschläge Stirnrunzeln hervorrufen. Bestimmt ist auch einiges schwierig wie die Ablösung einer Schulleitung durch das Kollegium. Aber ich weiß genauso, dass wir mit einem »Weiter so wie bisher« mit Vollgas an die Wand fahren. Wir brauchen andere Schulen: autark, interdisziplinär und visionär.

Ich befinde mich mit der Fokussierung auf »Stärkung der Schulen vor Ort« übrigens in guter Gesellschaft mit der Robert-Bosch-Stiftung. In deren Studie über die Bildungsreformen in New York und Berlin wird festgestellt, dass beide Städte vor vergleichbaren Herausforderungen stehen, die am Hudson River aber der an der Spree bei so wichtigen Reformen wie Schulautonomie, Leistungsverantwortung und Ausbau von Führungskompetenzen zehn Jahre voraus ist. In New York wird die Stärkung der schulischen Eigenverantwortung als ein wesentlicher Baustein für einen »Schul-Turnaround« gesehen, also das Umdrehen einer schwierigen Schule. Dementsprechend haben die New Yorker Einrichtungen weitreichende Freiheiten in Finanz- und Personalangelegenheiten. Die Stiftung und der Berliner Senat wollen nun gemeinsam ein »Programm für Schulen in kritischen Lagen« initiieren. Ob wir davon Honig saugen können, kann ich natürlich noch nicht beurteilen. Ich kenne das Programm ja noch gar nicht. Aber die Hoffnung, dass der Knoten platzt und unsere Schulen fit gemacht werden für ihre Aufgabe als Integrationsinstanz, stirbt bekanntlich zuletzt. Vielleicht sind London und New York ja gute Paten, und die Landesschulverwaltung in Berlin hört endlich auf damit, vom grünen Tisch aus in jede Schule, ja, bis in jede Klasse hineinzuregieren und zu glauben, die Zusammensetzung der Schüler bestimmen zu müssen. Von Schulautonomie, Eigenverantwortung und Kompetenzzuweisung für die einzelnen Schulleitungen sind wir hier heute weiter entfernt als früher – trotz weiter Reisen wichtiger Personen.

Im Zusammenhang mit der Frage, wie Schulen auf die Verhältnisse umzustellen sind, wird auch immer wieder die Begrenzung des Anteils an Einwandererkindern vorgeschlagen. Da die Schüler aber nun einmal da leben, wo sie leben, ist ihre Zuordnung zur Schule nicht beliebig gestaltbar. »Bussing« heißt der dann sofort ins Spiel gebrachte Begriff. Er bedeutet, dass die Kinder in andere Stadtgebiete zur Schule gefahren werden, um eine Durchmischung zu erreichen. Da es aber keine leeren Schulen gibt, müsste in dem anderen Stadtgebiet ein Teil der dortigen Kinder ihre Schulplätze für die Neuköllner freimachen und ihrerseits nach Neukölln gebracht werden. Organisatorisch ist das leistbar, finanziell auch. Ob es sich allerdings auch politisch durchsetzen ließe, da habe ich so meine Bedenken, wenn ich an die gescheiterte Grundschulreform in Hamburg oder meine aus Neukölln weggezogenen Eltern denke. Irgendwie ist die Vision amüsant. Uns entfliehen Eltern, und wir bringen ihre Kinder mit dem Bus wieder nach Neukölln. Ich glaube, so ein Modell umzusetzen ist schwieriger, als die Kindertagesstättenpflicht einzuführen. Trotzdem hält sich der Vorschlag seit vielen Jahren.

Das Thema Schuluniformen ist ebenso ein Dauerbrenner. Fällt aber in Deutschland in die Kategorie »Man könnte, man sollte, man müsste«. In anderen Ländern klappt das reibungslos, bei uns kommt es in den Schulen über Diskussionsabende nicht hinaus. Wir haben es in Neukölln unseren Schulen freigestellt, Schuluniformen einzuführen. Davon Gebrauch gemacht hat bisher noch keine. Für Zwang mit der Folge endloser Auseinandersetzungen wiederum ist die Frage nicht bedeutend genug. Ich persönlich fände es aber durchaus sinnvoll und identitätsstiftend. Der ständige Wettkampf, wer welche Klamotten anhat, würde aufhören. Und es wäre allemal hübscher als kleine Mädchen mit Kopftüchern schon in der Grundschule. Eine Schulleiterin hat mir so nebenbei erzählt, dass ihr Versuch, das Tragen von Kopftüchern in ihrer Grundschule zu unterbinden, mit einer unverblümten Morddrohung quittiert wurde.

Kindertagesstätten und Schulen sind die beiden Instanzen der Gesellschaft und des Staates, die besonders dicht an den Menschen sind. Wir nutzen sie aber nicht ihrer Bedeutung entsprechend. Ich halte das für einen Fehler, einen sehr schweren Fehler. Natürlich kosten alle von mir angesprochenen Veränderungen Geld. Aber die öffentliche Infrastruktur kostet immer Geld. Wir haben mit dem Albert-Schweitzer-Gymnasium und der Rütli-Schule den Beweis erbracht, dass wir auch junge Leute ins Boot holen können, denen es nicht in die Wiege gelegt ist. Die Gymnasiasten im Albert-Einstein-Gymnasium, Bio-Deutsche wie Einwandererkinder, sie finden ihren Weg sicher alleine. Falls nicht, helfen Papa und Mama. Dort sind schon tolle Mädels und Jungs. Und es macht richtig Spaß, sie zu beobachten und ihre Leistungen zu bewundern. Um sie muss niemandem bange sein. Aber wenn wir die Rohdiamanten bei Rütli oder in der Albert-Schweitzer-Schule begeistert und zu funkelnden Brillanten geschliffen haben, dann entfalten sie das gleiche Feuer. Es geht. Was wir brauchen, ist ein echter Veränderungswille und eine Aufbruchstimmung.

Zum Schuljahreswechsel 2012/2013 konnte zum Beispiel die Rütli-Schule 30 % Neuanmeldungen von bio-deutschen Eltern verzeichnen. Noch vor kurzem hätte man jemanden, der einen solchen Wert für möglich gehalten hätte, ausgelacht. An anderen Schulen ist das noch immer so. Auf Nachfrage erklärten mir andere, ebenfalls in Nord-Neukölln beheimatete Grundschulen, dass im Extremfall nicht eines der Kinder aus deutschen Familien, die im Einzugsgebiet der Schule wohnen, bei ihnen angekommen ist. Es ist offenkundig, dass Veränderungen, Engagement und ein neues Profil in der Bewohnerschaft sehr wohl zur Kenntnis genommen werden und eine positive Resonanz erfahren. Hieraus kann und muss man die Lehre ziehen, dass die Stadtviertel der Segregation, die wir soziale Brennpunkte nennen, nicht alleingelassen werden dürfen. Wer dies tut, versündigt sich an den Menschen, die dort leben. Er betrügt die nächste Generation um ihre Lebenschancen, er erhöht die Soziallasten, füllt die Gefängnisse und spaltet die Gesellschaft. Man kann individuell diesen Vierteln durch Fortzug entfliehen, den gesellschaftlichen Folgen entgeht man dadurch allerdings nicht.

Ich kann und will Ihnen hierzu allerdings nicht die Information ersparen, dass 80 % der Teilnehmer an der schon mehrfach zitierten Online-Studie den Reformwillen der Bildungspolitiker als gering oder sehr gering einschätzen. Ein Vertrauensbonus sieht anders aus. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass 92 % der Teilnehmer an derselben Studie für einheitliche Lehrpläne in allen Bundesländern sind. Wie erwähnt, gilt diese Studie als nicht repräsentativ. Doch auch einer Forsa-Umfrage zufolge wünschen sich 91 % aller Eltern, dass die Verantwortung für die Schulen ihrer Landesregierung aus der Hand genommen wird – und auf die nationale Ebene kommt. Offensichtlich sind es die Menschen leid, dass nach jeder Landtagswahl das Schulwesen bei den Koalitionsverhandlungen zum Gegenstand von Sandkastenspielen der Parteiarbeitsgruppen wird.

Nach der vorschulischen Erziehung in der Kindertagesstätte und der Epoche der Wissensaneignung in der Schule folgt mit der Berufsausbildung die nächste Weichenstellung. Ich erinnere daran, dass 28 % aller Neuköllner Hartz-IV-Empfänger über keinen Schulabschluss verfügen und 67 % über keine Berufsausbildung. Konsequenterweise hat sich die Bundesregierung mit den Regierungschefs der Bundesländer in der »Qualifizierungsinitiative für Deutschland« 2008 das Ziel gesteckt, die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss bis zum Jahr 2015 auf 4 % im Bundesdurchschnitt zu halbieren und dies gleichermaßen bei den ausbildungsfähigen jungen Erwachsenen ohne Berufsabschluss von 17 % auf 8,5 % zu erreichen.

Es sind nur noch zweieinhalb Jahre Zeit. Im Jahr 2010 haben 6,5 % der Schüler keinen Abschluss erreicht (Ausländer 12,8 %). Der Anteil der Migranten im Alter von 25 bis unter 35 Jahren ohne Berufs- oder sonstigen Abschluss betrug rund 32 %. Ohne Migrationshintergrund waren es rund 9 %. Diese Werte noch einmal zur Wiederholung aus dem bereits zitierten Bericht der Bundesregierung. Der Anteil der Einwandererkinder, die in Neukölln ohne Abschluss die Schule verlassen haben, betrug im Jahre 2006 erschütternde 22 %, die sich bis 2011 auf 18 % vermindert haben. Die Berliner Werte liegen im gleichen Zeitraum mit 18 % und 14 % zwar etwas niedriger, aber immer noch weit vom Bundesdurchschnitt entfernt. Von den Zielwerten ganz zu schweigen.

Für Neukölln bedeuten die Prozentwerte in absoluten Zahlen ohne Differenzierung nach Herkunft rund 350 Schüler pro Jahrgang ohne Schulabschluss. Hinzu kommen etwa 700 Schüler mit Hauptschulabschluss, so dass allein in Neukölln gut 1000 von etwa 2500 junge Menschen jedes Jahr in ein Berufsleben entlassen werden, dessen Start mindestens mit Schwierigkeiten behaftet ist, ja für viele nicht stattfinden wird.

Aufgrund der demographischen Entwicklung gleichen sich die Ausbildungsplatzangebote und die Bewerberzahl immer mehr an. In Brandenburg gab es 2011 bereits mehr unbesetzte Plätze in Betrieben als junge Leute, die einen Ausbildungsplatz suchen. Ende September 2011 registrierte die Bundesagentur für Arbeit bundesweit 30 000 offene Ausbildungsplätze für 12 000 unversorgte Bewerber. In Berlin ist die Nachfragesituation bisher nicht gekippt. In der Schlussphase für das neue Ausbildungsjahr 2012 standen noch 5000 Angebote für 7500 Bewerber zur Verfügung.

Im Juli 2012 bewarben die Industrie- und Handelskammer (IHK) und Handwerkskammer (HWK) 1500 freie Ausbildungsplätze mit intensiver Öffentlichkeitsarbeit. Die HWK bot sogar eine App an. Trotzdem konnten nur 350 Plätze besetzt werden. Der alljährlich letzte Versuch, Ausbildungswillige mit einer Anschreibe-Aktion doch noch zu erreichen, steht für 2012 noch aus. Allerdings stimmen die Ergebnisse aus den Vorjahren nicht überbordend optimistisch.

Im Jahr 2011 wurden bei der Last-minute-Aktion 1300 Suchende wie alljährlich angeschrieben. Es kam gut ein Viertel. Das war kein Novum, sondern entsprach den Erfahrungen vergangener Jahre. 2009 konnten bei der Nachvermittlungsaktion von IHK und HWK für 2000 Jugendliche ohne Ausbildungsplatz mangels Masse an Interessenten nur 60 Ausbildungsverträge geschlossen werden.

Die Fachwelt geht davon aus, dass inzwischen jeder fünfte Ausbildungsplatz unbesetzt bleibt. Dabei suchen die Unternehmen nicht den Super-Azubi. Deutschlandweit organisiert bereits jedes zweite Unternehmen eine betriebliche Nachhilfe, in Berlin sind es sogar über 60 %. Auch die Neuköllner Verwaltung hat sich mit einem Projekt »Zweite Chance« an bis dato gescheiterte junge Leute mit Migrationshintergrund gewandt. Wie im Kapitel »Das System Neukölln« geschildert, sind wir gescheitert. Die Defizite in den sozialen Grundkompetenzen waren einfach zu groß. Über solche Erfahrungen berichten mir immer wieder auch die Neuköllner Betriebe einschließlich der türkischen Friseurmeisterin und des arabischen Bäckermeisters. Es gibt in Neukölln freie Ausbildungsplätze. Dass jemand keinen Ausbildungsplatz erhält, kann sein. Es liegt dann aber nicht daran, dass es keine freien Plätze gäbe. Im Übrigen hat der Schlamper- und Unlustvirus längst auf viele junge Leute ohne Migrationshintergrund übergegriffen.

Man muss zu diesem Themenkreis noch wissen, dass ein erheblicher Teil der Ausbildungsverhältnisse vorzeitig wieder gelöst wird. In Berlin sind das immerhin 27 %. Alles in allem ist davon auszugehen, dass in Deutschland jedes Jahr 150 000 Jugendliche ohne Ausbildungsabschluss bleiben, obwohl ein großer Anteil von ihnen sogar über einen Realschulabschluss verfügt. Das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung hat einmal errechnet, dass die Kosten für einen so hohen Anteil junger Menschen ohne Ausbildung sich auf 1,5 Milliarden Euro pro Jahrgang summieren. Das bedeutet, wenn wir zehn Jahre lang weiter zusehen, wie junge Leute an der Hürde zum Berufsleben scheitern, dann haben wir das Sozialsystem allein dadurch um weitere 15 Milliarden Euro »bereichert«.

Ich habe ja schon berichtet, welche Konsequenzen man in den Niederlanden aus einer vergleichbaren Situation gezogen hat. Zum einen werden Berufsbilder geschaffen, die speziell auf die Jugendlichen mit Handicap zugeschnitten sind. Sie haben eine kürzere Ausbildungsdauer und verlangen ein geringeres Einstiegswissen. Zum anderen werden alle arbeits- und ausbildungslosen Jugendlichen vom Arbeitsamt ständig in sogenannten Speedmeetings mit Angeboten von Arbeitgebern konfrontiert. Ungefähr 200 junge Leute wandern im Dreiminutentakt von Tisch zu Tisch. Hinter jedem Tisch sitzt ein Arbeitgeber, der eine Beschäftigungsmöglichkeit anbietet. Man wird sich schnell einig oder nicht. Auch hier gilt die bekannte Regel: Erscheinen die jungen Leute zu diesen Speedmeetings nicht, ist die Sozialhilfe futsch. Eine derart enge Führung könnte man bei uns genauso organisieren. Wir hatten in Neukölln vor Jahren ein Jobcenter nur für unter 25-Jährige eingerichtet. Dies führte dazu, dass die Leine kürzer wurde. Nicht alle jungen Kunden fanden das positiv. Wir störten ihren gewohnten Tagesablauf. Einige verabschiedeten sich freiwillig aus dem Leistungsbezug.

Außer mit dem Jugend-Jobcenter haben wir mit einer allgemeinen Filiale in einem Wohnblock experimentiert. Auch das hat sich als Erfolg herausgestellt. Die Aufhebung der Anonymität, der direkte Kontakt, die entstehende soziale Kontrolle durch die stärkere Nähe und Bekanntschaft führen dazu, dass viele Hartz-IV-Empfänger sich doch in die Verantwortung nehmen lassen. Es gibt auch die, die eigene Lösungen zum Bestreiten des Lebensunterhalts finden und sich auf Nimmerwiedersehen aus der liebevollen Umarmung des Jobcenters lösen. Insbesondere bei den »marktfernen« Kunden konnte die Jobcenter-Filiale fast bessere Ergebnisse erzielen als das Haupthaus.

Ich plädiere für kleinteilige Vor-Ort-Jobcenter. Im IT-Zeitalter dürfte das technisch kein Problem sein. Die Kunden unter 25 Jahren sollten aus dem allgemeinen Betrieb ausgegliedert und einer besonderen Organisationseinheit mit speziellen Betreuungsformen zugeführt werden. Wenn es dann noch gelingt, die Ausbildungsbereitschaft in der ethnischen Ökonomie zu steigern, dann sehe ich gute Chancen, ein Stück Perspektivlosigkeit gerade bei Einwandererkindern zu beseitigen. In Deutschland gibt es etwa 300 000 migrantische Unternehmen mit rund 1,5 Millionen Arbeitsplätzen. Davon allein 80 000 türkische Selbständige mit 400 000 Beschäftigten und einem jährlichen Umsatz von 34 Milliarden Euro. Bei der Ausbildung hapert es jedoch. Sie kostet Geld und macht Mühe. Davor scheinen sich migrantische Unternehmer gern zu drücken. Ich kann schwer beurteilen, ob die Verbände und Kammern nicht doch den Druck auf ihre Mitglieder in diese Richtung erhöhen könnten und sollten.

In diesem Zusammenhang sollte man auch über eine Wirtschaftsförderung für soziale Brennpunkte nachdenken. Ein ähnliches Instrument hatten wir früher mit der Zonenrandförderung. Denkbar wäre aus meiner Sicht, Unternehmen steuerlich zu begünstigen, die in sozialen Brennpunkten Arbeitsplätze, aber vor allem Ausbildungsplätze schaffen und besetzen.

Ein Thema, das immer wieder zu leidenschaftlichen Diskussionen und Gefühlsausbrüchen führt, ist die Frage der Anwendung von Ordnungs- und Sanktionsprinzipien in der Integrationspolitik. Die Formulierung einer Berliner SPD-Abgeordneten ist dafür symptomatisch: »Dass man Eltern in die Pflicht nimmt, finde ich ok. Sanktionen, vor allem finanzielle, sind aber nicht der richtige Weg.« Ich stehe immer etwas ratlos vor solchen Sprechblasen. Wie soll ich jemanden, der sich verweigert, in die Pflicht nehmen, ohne Sanktionen anzuwenden?

Warum gilt das, was die Gesellschaft mit mir und Millionen anderer Menschen tagtäglich macht, für Einwanderer plötzlich nicht? Nämlich regelkonformes Verhalten durch die Androhung von Sanktionen zu stimulieren. Unser gesamtes tägliches Leben ist ohne »Wenn-Dann«-Situationen überhaupt nicht denkbar. Wenn du dieses oder jenes tust, dann droht dir Folgendes! Wenn du das und das nicht machst, dann musst du blechen! Selbst wenn mir das Statistische Landesamt einen Fragebogen schickt, wird die Aufforderung mit einer Bußgeldandrohung garniert, nur so für den Fall, dass ich den Bogen nicht zurücksende. Jeder einzelne von uns kann Dutzende von Beispielen aufzählen, bei denen der Staat eine vorgetragene Bitte mit dem Hinweis auf die Gehorsamspflicht beziehungsweise die drohende Sanktionskeule verbindet. Das falsche Abstellen eines Autos ist bei uns geächteter und hat spürbarere Konsequenzen als zum Beispiel die Nichtwahrnehmung der Vorsorgeuntersuchungen U1 bis U9 der Kinder. Letztere trauen wir uns nicht einmal zu Pflichtveranstaltungen für Eltern zu erklären. Die Maßstäbe in unserem Land sind nicht für jeden verständlich. Verstehen Sie sie?

Lassen Sie mich bei dem Beispiel bleiben. Es wird ein gutes Gesetz im Rahmen des Kinderschutzes erlassen, mit dem die Vorsorgeuntersuchungen zur Pflicht werden. Das Gesetz enthält aber bewusst keine Klausel einer Bußgeldandrohung – mehr käme hier sowieso nicht in Frage –, falls Eltern diese Pflicht verletzen. Also wie immer: Musste nicht machen, passiert sowieso nix. Die Teilnahme am Sprachunterricht für Vorschüler ist erst vor kurzem dem Schulbesuch gleichgestellt worden. Und damit wurde das Nichterscheinen des Sohnes oder der Tochter in den Bußgeldkatalog aufgenommen. Vorher war es auch beliebig. Ich erinnere an meine Ausführungen zu den Eltern, die freiwillig keinerlei Kontakt zum Amt wünschen.

Schulschwänzen und Sanktionen sind ein wunderbares Thema in diesem Zusammenhang. Wir haben durchaus die theoretische Möglichkeit, nach einer Schulversäumnisanzeige ein Bußgeldverfahren einzuleiten und mit einem Bußgeldbescheid in Höhe von 50 bis 300 Euro abzuschließen. Dann wandert der Vorgang zum Gericht. Ich habe bereits über den Fortschritt berichtet, dass seit einiger Zeit wenigstens die Jugendrichter damit befasst werden und nicht mehr die Verkehrsrichter. Das Ordnungswidrigkeitsverfahren ist jedoch sehr formell, langwierig und kompliziert. Es ist eben ein dem Strafrecht vorgeschaltetes System. Sechs bis zehn Monate gehen da schon ins Land.

»Kommt das Kind nicht in die Schule, kommt das Kindergeld nicht aufs Konto« wäre einfacher zu handhaben und für jeden verständlich. Es würde sich auch sehr schnell die Erkenntnis durchsetzen, dass das Fernbleiben der Kinder von der Schule teuer wird. Wie die Erfahrungen in den Niederlanden gezeigt haben, kann bereits das bloße Vorhandensein einer Sanktion ausreichen, um eine Verhaltensänderung zu bewirken, so dass von der Sanktion vielfach erst gar nicht Gebrauch gemacht werden muss. Die Befürchtung von Klaus Wowereit, dass die Kinder verhungern würden, wenn Schulschwänzen in die Haushaltskasse einschlägt, halte ich, ehrlich gesagt, für ziemlichen Quatsch.

Bespielen, bespaßen, alimentieren und über den Kopf streicheln, ist das wirklich eine glaubwürdige und vor allen Dingen effektive Integrationspolitik? Für mich nicht. Für mich ist das nichts anderes als Wegsehen, Beruhigen, Ignoranz und Faulheit. Die Gesellschaft darf nicht nur beobachten, nicht nur reparieren, sie muss auch agieren, intervenieren und vor allen Dingen gestalten. Die Normen gelten für alle. Inländer, hinzugekommene »Inzwischen-Inländer« und Ausländer. Sie sind von allen zu beachten und von der Staatsgewalt durchzusetzen. Eine Gesellschaft, die ihre Normen nicht exekutiert, macht sich nicht nur zum Kasper, sondern darf sich auch nicht wundern, wenn das entstehende Vakuum sofort durch alternative Lebensregeln gefüllt wird.

Die Demokratie ist eine sehr anstrengende Gesellschaftsform. Sie setzt das aktive Engagement und die Partizipation ihrer Bürger voraus. Das mag für den Einzelnen mühselig sein. Demokratie ist aber nicht gleichzusetzen mit Beliebigkeit. Das wäre bequem und wird daher immer wieder versucht. Natürlich muss der Staat mit seinen demokratisch legitimierten Organen die Rechtsordnung durchsetzen. Nur er hat das Primat dazu. Er darf keine rechtsfreien Räume oder einen »Gegenstaat« zulassen. Das fängt bei einer »anderen« Straßenverkehrsordnung an und hört beim Ehrenmord auf.

Ein Land kann sich auch zu Tode liberalisieren. Ich bin nicht bereit, barbarische Unkulturen, die ich in einer zivilisierten Welt für immer verschwunden glaubte, plötzlich als normal und tolerabel zu akzeptieren. Am Rande des Prozesses vor dem Landgericht Detmold über einen Familienritualmord an der Tochter erklärt nach einem Medienbericht ein angeblich hochstehender Religionsgelehrter: »Man kannte unsere Regeln, als man uns Asyl gab. Jetzt sagen immer mehr, wir dürfen so nicht leben. Wir werden unsere Religion aber nicht aufgeben.« Dieser Äußerung lässt sich unschwer entnehmen, dass der Religionslehrer das Geschehen für durchaus vereinbar hält mit den tradierten Werten der archaischen Einwanderer-Lebenswelt. Dazu dürfen wir nicht schweigen. Wenn, wie im Frühjahr 2012 geschehen, ein Muslim einem anderen das Messer ins Gesicht rammt, weil dieser angeblich seine Frau zu lange angeschaut hat, dann empfinde ich für ein solches animalisches Verhalten nur Abscheu. Meine Gedanken sind hierzu klar sortiert: So etwas will ich nicht. Ich möchte auch keine Religionsfanatiker, ob sie sich nun Salafisten oder sonst wie nennen, die scheinheilig Bücher Gottes und des Friedens verteilen, aber Polizisten angreifen und unsere demokratische Grundordnung zugunsten eines Gottesstaates abschaffen wollen. Das Grundrecht auf freie Religionsausübung muss dort seine Schranken finden, wo es den sozialen Frieden der Gemeinschaft stört. Die demokratischen Grundrechte bieten zu Recht Schutzräume vor Willkür und Unterdrückung. Es ist direkt perfide, die eigenen Schutzräume dann als Vehikel gegen die Grundrechte anderer missbrauchen zu wollen.

Unter das Stichwort »Unkulturen« fällt bei mir auch die Vielweiberei, die in der muslimischen Bevölkerung in erschreckendem Maße zugenommen hat und nach meinem Eindruck weiter zunimmt. Im Kapitel »Neukölln heute« habe ich das Thema bereits angesprochen. An dieser Stelle geht es mir um den Aspekt, inwieweit wir auch im Zivilrecht gesellschaftliche Rückschritte unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit dulden dürfen. Wenn wir die Rechtsvorstellungen des Alten Testaments wieder für gesellschaftlich akzeptiert erklären würden, dann gute Nacht demokratischer Rechtsstaat. Wir nennen es als Straftatbestände Bigamie und Polygamie. Und plötzlich ist eine Vielehe eine kulturelle Bereicherung. Im Zweifel steht unser Sozial- und Gesundheitssystem für die Folgen solcher Urzeitfamilienverhältnisse ein. Wo sind eigentlich die Frauenrechtsorganisationen geblieben bei dieser Entwicklung? Imam-Ehen sind nach deutschem Recht nicht anerkannt und entfalten keinerlei rechtliche Wirkungen. Dreimal »Ich verstoße dich«, und die Frauen können sehen, wo sie bleiben. Das hört sich nach Mittelalter an. Ist aber Realität in der Bundesrepublik Deutschland. Ein arabischstämmiger Familienhelfer schätzt, dass 30 % aller Ehen in seiner Ethnie mit dem Begriff »islamisch getraut« umschrieben werden können. Diese Frauen gelten als alleinerziehend mit allen Konsequenzen für sich selbst, für die Kinder und die deutschen Behörden.

Verbal ist selbst die ordnungspolitische Welt der Integrationspolitik meist in Ordnung. Formale Angriffsflächen werden strikt vermieden, es sei denn, es rutscht jemandem eine unachtsame Bemerkung heraus. Niemand ist gegen Ordnungsprinzipien. Da ist häufig vielmehr die Rede von Druck, Bestrafung, Riegel vorschieben, klare Kante zeigen und von staatlichen Eingriffen sowie Konsequenz. Im Text von Klaus Wowereit liest sich das dann so:

»Natürlich dürfen wir nicht zulassen, dass junge Menschen nicht mehr zu Schule kommen, dass der Schwimmunterricht gemieden wird, dass Religion als Deckmantel für Diskriminierung genutzt wird oder gar zur Rechtfertigung krimineller Auseinandersetzung. Wir müssen einfordern, dass Aufstiegswille zur akzeptierten Haltung wird. Denn dort, wo er nicht mehr da ist, sowohl bei Deutschen als auch bei Einwanderern, muss dieser Aufstiegswille geweckt werden – durch Hilfestellungen, wo sie nötig sind, aber auch mit Druck. (…) Ebenfalls unbestritten ist, dass es auch Menschen gibt, die unser System ausnutzen wollen. Das ist überall auf der Welt so. (Ja? Wie kommt er darauf?) Und solche Versuche gehören bestraft. Dem muss ein Riegel vorgeschoben werden mit allen Gesetzen und Maßnahmen, die heute vorhanden sind. Das Instrumentarium steht zur Verfügung. Es ist ausreichend und muss bei Bedarf konsequent angewandt werden. (…)
Klare Kante gilt es auch beim Thema Jugendgewalt zu zeigen oder bei Tendenzen, die Religion über das Recht zu stellen. Ja, es gibt Clans, die Deutschlands freiheitliche Gesellschaft für kriminelle Machenschaften ausnutzen. Ja, es gibt Milieus, die sich abkapseln. Ja, es gibt archaisch organisierte Familien, Gewalt und Unterdrückung. Gegen diese Strukturen gehen wir vor. (…) Nicht jede Kritik ist gleich rassistisch zu verstehen, nicht jeder Einwanderer ist heilig und will den ganzen Tag in seiner Nationaltracht Folklore aufführen. (…) Jede und Jeder ist an das Grundgesetz gebunden. Hier wird geregelt, was geht und was nicht geht. Ebenso klar ist, dass wir von Jeder und Jedem einfordern, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden und ihren Beitrag zu leisten. (…) Dort, wo das nicht geschieht, muss der Staat eingreifen. (…) Aus diesem Grund darf sich ein Staat nicht damit zufrieden geben, durch sozialstaatliche Maßnahmen Menschen zu alimentieren, oder sagen wir es etwas forscher: ruhig zu stellen.«

Das sind starke Worte. Genauso wie sein Ansatz, die Integrationswilligkeit einzufordern und Mehrfachtäter abzuschieben.

Der frühere Fraktionsvorsitzende der Berliner SPD und heutige Senator Michael Müller machte vor Jahren den Vorschlag, die Sozialleistungen zu kürzen, wenn Eltern ihren Pflichten nicht nachkommen. Der damalige GRÜNEN-Fraktionschef nannte das »populistischen Unsinn«. Die SPD-Abgeordnete und heutige Integrationssenatorin fand, dass Sanktionen nur die Atmosphäre vergiften. Inzwischen will sie aber Eltern in die Pflicht nehmen: Die Schulen sollen Zielvereinbarungen mit ihnen schließen, was ihre Pflichten sind. Und was machen wir mit den Eltern, die sich weigern, eine Vereinbarung zu schließen? Oder mit denen, die sie nicht einhalten? Ich vermute einmal, natürlich nichts.

In Hannover will man seit 2011 andere Wege gehen. Dort fallen monatlich 200 Bußgeldverfahren wegen Schulschwänzens an. »Es geht darum, den Kindern mit 13, 14, wenn die Pubertät zuschlägt, nicht jegliche Bildungschancen fürs Leben zu nehmen«, sagt ein dortiger Jugendrichter. Deshalb will man, wenn Kinder mehr als 20 unentschuldigte Fehltage haben und massive Probleme in der Familie vorliegen, den Eltern das Sorgerecht in schulischen Angelegenheiten entziehen. Ich finde, mit meiner Drohung, das Kindergeld zu kürzen, bin ich dagegen noch recht human. Wer sagt aber eigentlich, dass es nicht auch Eltern gibt, die es schick finden werden, wenn sie das Sorgerecht für die Schule los sind? Prima, könnten sie denken, kümmert sich jetzt ein anderer darum.

Bei dieser Gelegenheit sei erwähnt, dass den rund 2500 Bußgeldbescheiden in Hannover bei gut 500 000 Einwohnern rund 900 bis 1000 Bußgeldbescheide in Berlin bei 3,4 Millionen Einwohnern gegenüberstehen. Allerdings scheint Berlin aufzuwachen. Bereits 2011 teilte der Regierende Bürgermeister mit, dass die Eltern vom ersten Tag, an dem ihr Kind die Schule schwänzt, per Telefon, SMS und E-Mail informiert werden. Zum Schuljahr 2012/13 soll jetzt ein Testbetrieb dafür gestartet werden. Mit einer endgültigen Einführung ist frühestens 2013/2014 zu rechnen. Aber selbst diese Terminangaben sind noch mit einem dicken Fragezeichen versehen. Seien wir nicht zu streng und ungeduldig. Wenn es 2015 wird, ist doch auch gut. Für manche ist Schulschwänzen eben nur ein nachrangiges Problem, eine Art Kavaliersdelikt. Viel bemerkenswerter als die Zeitfrage finde ich etwas anderes. Wie man hört, will man die Eltern vorher darum bitten zuzustimmen, dass mit ihnen auf diese Art Kontakt aufgenommen werden darf.

Also, wir fragen Eltern, ob sie es uns erlauben, ihnen mitzuteilen, dass ihre Kinder die Schule schwänzen. Es könnte ja schließlich sein, dass sie das nicht interessiert und sie in Ruhe gelassen werden wollen. Ist doch echt rücksichtsvoll, oder? Solange wir uns wie Waschlappen zur Schau stellen, kann man nur sagen: Lieber Gott, lass Abend werden.

Schneller sollte nach meinem Dafürhalten aber der Unfug beendet werden, dass Eltern für ihre Kinder, die im Knast sitzen, Kindergeld bekommen. »Wie verrückt muss eine Gesellschaft eigentlich sein, die noch Kindergeld für Kinder zahlt, die andere halb totgeschlagen haben und im Knast sitzen« – so nochmals das Zitat des Jugendrichters. Ich finde, er hat recht.

Der Gedankenansatz, den Sanktionskatalog des Staates auch auf Kürzungen von Geldbeträgen im Transferbereich zu erweitern, ist nicht neu und entstammt auch nicht nur dem verirrten Denken eines Bezirksbürgermeisters. Bei der Reform des § 1666 BGB im Jahr 2006 leitete der Berliner Senat eine entsprechende Forderung der Berliner Richterschaft an das Bundesministerium der Justiz weiter. Der Text der Empfehlung lautete damals: »Hierzu hat uns seitens der richterlichen Praxis die Anregung erreicht, dass in diesen Fällen, sofern die Voraussetzungen für eine Herausnahme der Kinder aus der Familie nicht sicher vorliegen oder unverhältnismäßig erscheinen, der Entzug finanzieller Mittel, beispielsweise eine Kürzung der Kindergeldleistung oder anderer staatlicher Leistungen, geeignet erschiene, die Eltern zur Erziehung ihrer Kinder zu motivieren.« Die Anregung wurde von der Bundesregierung nicht aufgegriffen. Vielleicht sieht man das heute dort anders.

Sigmar Gabriel sagte einmal zu mir, er würde als Berliner Innensenator ständig eine Einsatzhundertschaft in Neukölln demonstrativ sichtbar in Position bringen, die jederzeit in der Lage ist, die Normen des Zusammenlebens durchzusetzen. Er ist bisher nicht Berliner Innensenator geworden, so dass wir seinen Vorschlag nicht gemeinsam ausprobieren konnten.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich stimme den zitierten Aussagen von Klaus Wowereit und Michael Müller zu. Meine Kritik richtet sich lediglich darauf, dass derartige Ansagen über ihr verbales Stadium nicht hinauskommen. Natürlich hat auch Sigmar Gabriel recht. Der öffentliche Raum muss der kriminellen Szene entzogen werden. Das geht aber nicht mit Wattepusten. Da muss Staat schon Staat zeigen. In welcher Form auch immer. Es muss zumindest aufhören – und ich finde, das ist eine lächerliche Minimalforderung –, dass sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Polizei, des Ordnungsamtes und selbst der Rettungsdienste tagtäglich bedrohen, beschimpfen und angreifen lassen müssen. Es kann auch nicht sein, dass unser Melderecht inzwischen so liberalisiert ist, dass es zu nichts mehr taugt. Jeder kann sich überall beliebig anmelden und somit eine »amtliche« Anschrift besorgen. Davon wird auch reichlich Gebrauch gemacht. Wundern Sie sich nicht, wenn Sie eines Morgens um 6.00 Uhr das SEK in Ihrer Wohnung haben, weil es die Person X sucht, die bei Ihnen angemeldet ist, ohne dass Sie davon überhaupt wissen. Bei der Zustellung von Lohnsteuerkarten oder Wahlbenachrichtigungen haben wir allein in Neukölln bis zu 10 000 Scheinadressen aufgedeckt. Das ist zwar kein originäres Thema der Integrationspolitik. Aber natürlich erleichtern die Liberalisierungen und die Stärkung der Bürgerrechte denjenigen das Handwerk, die sie zu missbrauchen gedenken. Freiheit und Sicherheit sind nun einmal kommunizierende Röhren. So weit der Stand bis Ende Juni 2012. Inzwischen hat der Deutsche Bundestag das Melderecht wieder stärker formalisiert. Bei An- und Abmeldungen müssen Bestätigungen des Vermieters vorgelegt werden. Das ist gut so. Damit wird einigen Tausend Straftaten der Nährboden entzogen.

Ein ganz wesentlicher Punkt zur Stärkung der Interventionsfähigkeit staatlicher Institutionen muss eine neue Form der Zusammenarbeit werden. Weg von der Versäulung in vorgegebenen Zuständigkeiten hin zu einem tatsächlich gemeinsamen Arbeitsauftrag. Hier sind andere Länder weiter. Es geht darum, die Anonymität der Großstadt zu beseitigen, Strukturen offenzulegen und, soweit es geht, das Instrument der sozialen Kontrolle zu nutzen. Ob es in Deutschland sinnvoll erscheint, etwas Ähnliches wie die Police Cadets oder die Neighbourhoods Police ins Leben zu rufen, mögen andere entscheiden. Ich denke aber, es ist vernünftig, dass die Polizei in Brennpunkten einen engen Schulterschluss mit den Bürgern und den anderen staatlichen Stellen pflegt. Die Gegenseite ist organisiert und changiert chamäleonhaft. Dem kann man nur mit einem gut funktionierenden Informationsnetz beikommen.

Das Vor-Ort-Prinzip in anderen Städten hat mich überall beeindruckt. Wenn wir tatsächlich in die Alltagsgeschehnisse eingreifen wollen, müssen die staatlichen Akteure den Sozialraum kennen, wissen, wie er tickt, und vor allem schnell sein. Staatliche Reaktionszeiten von mehreren Monaten sind wirkungslos. Aus all den Gründen rede ich Möglichkeiten der Vernetzung das Wort, wie sie etwa im Safety House in Tilburg und im Transfer Informatie Punt in Rotterdam bestehen. Eines ist dafür aber zwingend notwendig. Der Datenschutz in seiner bisherigen Form müsste novelliert werden. Es müssten zumindest, wie in den Niederlanden, Möglichkeiten geschaffen werden, durch öffentliche Verträge einen Datenfluss zwischen den beteiligten Stellen zu gewährleisten.

Unter dem Stichwort Ordnungsprinzipien will ich einige kurze Bemerkungen zum Thema Kopftuch- und Burkaverbot machen. Beide Bekleidungsstücke für Frauen halte ich für entbehrlich. Sie passen nicht nach Mitteleuropa und auch nicht in unsere Zeit. Sie sind Sendboten einer Geschlechterhierarchie und des Eigentumsrechts des Mannes über die Frau. Aus diesen Gründen lehne ich beides ab. Bei Schulkindern sagt mir mein Gefühl, dass man es zumindest in der Grundstufe verbieten sollte. Auch im hoheitlichen Bereich der Verwaltung haben derartige Bekennerutensilien einer anderen Gesellschaft als der unsrigen nichts zu suchen. Man kann sich nicht in Distanz zu einer Gesellschaftsform begeben und gleichzeitig ihr Vertreter sein.

Aber wir sind ein liberales Land. Es kann sich jeder in Cowboy-Kleidung, Bhagwan-Kutte oder mit Kopf- und Körperverhüllung nach der Art der Muslime in der Öffentlichkeit zeigen. Das ist so, und das Toleranzgebot schützt die Individualität eines jeden Menschen. Ob sich das auch auf eine Bekleidungsform wie die Burka erstreckt? Da habe ich erhebliche Zweifel. In unseren Breiten schaut man sich an, wenn man miteinander redet, wir zeigen dem anderen offen unser Gesicht. Mit unserem Gesicht und unserer Mimik geben wir auch ein Stück unserer Persönlichkeit preis. Wer das nicht möchte, wer sich selbst oder einen anderen mit einem Textilgefängnis verschandeln will, hat aus meiner Sicht in Mitteleuropa nichts verloren. Ob man allerdings wie Belgien und Frankreich zu einem Verbot der Burka greifen sollte, halte ich für genauso fragwürdig. In Frankreich, sagte man, gibt es 2000 Burka-Trägerinnen. Für Deutschland kenne ich keine Zahl. Ich weiß nur, dass ich in Neukölln regelmäßig auf Burka-Trägerinnen stoße. Wie viele es sind, weiß ich nicht. Denn ich kann ja nicht erkennen, ob es immer dieselben sind. Eigentlich habe ich mich zum Ertragen in Gelassenheit entschieden. Interessant ist allerdings der Gedankenansatz des Rotterdamer Bürgermeisters Aboutaleb. Er meint, mit einer Burka führt ein Mensch seine Arbeitslosigkeit vorsätzlich selbst herbei. Er verliert damit den Anspruch auf Unterstützung durch die Gemeinschaft.

Seit etwa zwei Jahren ist Neukölln ein beliebter Zuzugspunkt für Menschen aus Südosteuropa. Bis vor kurzem nannte man sie auch Wanderarbeiter oder Zigeuner. Die letztere Bezeichnung gilt inzwischen als diskriminierend und verletzend. Man spricht von den Volksgruppen der Sinti und Roma. Meist sind es Roma, die aus Bulgarien und Rumänien in die übrigen EU-Staaten einwandern. Sie machen sich auf die Suche nach mehr Wohlstand, als ihnen ihre Heimatländer zu bieten haben. Es geht ihnen dort nicht besonders, und behandelt werden sie auch nicht gut. Sie haben also nichts zu verlieren. Seit der Aufnahme von Bulgarien und Rumänien in die EU unterliegen die Bürger dieser beiden Staaten der gleichen Freizügigkeit innerhalb des Schengenraumes wie Sie und ich.

Wenn die Lebensstandards verschiedener Länder extrem voneinander abweichen, dann ist bei herrschender Freizügigkeit eine Armutswanderung unausweichlich. Deutschland hat als einziges EU-Land die völlige Freizügigkeit für Rumänien und Bulgarien bis zum 1. Januar 2014 hinausgeschoben. Bis dahin gilt eine maximale Aufenthaltsdauer von 90 Tagen ab Grenzübertritt. Da der sich jedoch unkontrolliert und ohne Sichtvermerk im Pass vollzieht, kann niemand kontrollieren, ob die 90-Tage-Frist eingehalten wird. Verstöße gegen das Freizügigkeitsrecht der EU sind darüber hinaus folgenlos. Sie stellen noch nicht einmal eine Ordnungswidrigkeit dar. Das Überschreiten der Aufenthaltsdauer führt zwar zu einer gewissen Form der Illegalität, die aber niemand verfolgt. Mit der Perspektive 1. Januar 2014 schon gar nicht. Zumal es noch ein weiteres Schlupfloch gibt. Selbständig Gewerbetreibende sind von der Beschränkung des Aufenthalts ausgenommen. Und so haben wir in Neukölln in den letzten zwei Jahren einen ganz erstaunlichen Wirtschaftsboom durch die Gründung von 2500 Gewerbebetrieben durch rumänische oder bulgarische Staatsangehörige erlebt. Die Branchen sind Reinigungsgewerbe, Bauhilfsarbeiten, Transporte oder promotion assistent (Zettelverteiler). Die angebliche Gewerbetätigkeit öffnet ihnen den Zugang zum Sozialsystem, und so kommen sie meist als vielköpfige Familie gut zurecht. Einige erliegen auch den Verlockungen der Kriminalität. Wie das immer so ist.

Die Menschen leben in überbelegten Wohnungen, werden je nach Verweildauer mit Kopfmieten von 100 bis 300 Euro im Monat abgezockt, campieren im Freien und arbeiten für zwei bis drei Euro die Stunde, um die sie am Ende des Tages auch noch betrogen werden. Rechnen Sie mit mir mit: 20 Köpfe mal 100 Euro in einer Wohnung ergibt 2000 Euro pro Monat. In einem Jahr sind das 24 000 Euro Einnahmen aus einer einzigen Wohnung. Wenn das Haus mit Seitenflügel über 20 Wohnungen verfügt, ergibt das 480 000 Euro Mieteinnahmen für Substandard, den sonst keiner akzeptieren würde. Ich habe Ihnen nur die Minimalvariante vorgerechnet. Für ein Haus mit »Dauergästen« kommen schon mal 1 440 000 Euro im Jahr zusammen. Man kann also mit den Roma »prima« Geschäfte machen. Das passiert auch reichlich. Für das Ausfüllen eines Kindergeld- oder Hartz-IV-Antrages werden bis zu 2000 Euro aufgerufen. Die Begleitung zum Amt kann schon einmal 500 Euro Freundschaftssalär auslösen. Es gibt in jeder Ethnie Typen, die sich noch an den Ärmsten gesund stoßen.

Ich spreche das Thema an dieser Stelle bewusst an, obwohl es mit der originären Integrationspolitik eigentlich nichts zu tun hat. Wir dürfen nicht die gleichen Fehler ein weiteres Mal machen. Die Roma werden nicht wieder zurückgehen. Sie werden bleiben und sagen das auch ganz offen. Eine sehr große Mehrheit dieser EU-Einwanderer spricht kein Deutsch. Wenn wir nicht das Entstehen einer weiteren Parallelgesellschaft stillschweigend fördern wollen, muss der Fokus auf der Vermittlung der deutschen Sprache liegen. Das heißt: Sprach- und Integrationskurse für Bulgaren und Rumänen. Es bedeutet Beschulung der Kinder, und zwar vom Zeitpunkt ihres Eintreffens an. Die Kinder und Jugendlichen haben zum Teil noch nie eine Schule besucht und sprechen kein Wort Deutsch. In Neuköllner Schulen unterrichten wir inzwischen rund 700 eingewanderte Roma-Kinder. Jeden Monat kommt eine neue Klasse hinzu.

Anderthalb Jahre haben wir gekämpft, damit unsere oberste Schulbehörde die sich erneut verändernde Schülerschaft überhaupt zur Kenntnis nimmt. Man hat uns sogar Lug und Trug vorgeworfen. Da müsse der Bezirk mit seinen vorhandenen Ressourcen eben flexibel umgehen. Wir sollten doch die Kinder ins »Sprachbad« der Regelklasse tun, lautete der kluge Ratschlag, als wir Sprachmittler für Rumänisch und Bulgarisch anforderten. Uns fehlt es heute massiv an Aushilfslehrern, die wenigen, die wir haben, sind meist nicht ausreichend qualifiziert. Und an Sprachmittlern, die sich um die Kinder in der Schule kümmern, um sie möglichst schnell schulfähig zu machen. Ich weiß nicht, wie viele Roma inzwischen in Neukölln leben. Gehe ich von unseren 700 Schülern aus und multipliziere diese Zahl mit drei Geschwistern und Papa und Mama, dann sind das gut 4000 Personen. Zuzüglich der Illegalen ist wohl von einer Größenordnung um 7000 bis 9000 Menschen auszugehen. Nehme ich allerdings die Zahl der »Gewerbebetriebe« und multipliziere sie mit fünf Personen, ergibt das schon 12 500. Nichts Genaues weiß man nicht.

Im Land Berlin hat man nach zwei Jahren nun als Ad-hoc-Maßnahme Arbeitsgruppen eingerichtet, und vor Ort steppt inzwischen der Bär. Es gibt Probleme, insbesondere mit der türkischen und arabischen Nachbarschaft. Man mag sich nicht. Ich erspare Ihnen die kaum zu glaubenden Details. Nur eine kleine Geschichte, sie ist harmlos, aber symptomatisch. Mich fragte ein türkischstämmiger Imbissbetreiber, wie lange die in seiner Nachbarschaft zugezogenen Roma noch bleiben. Ich antwortete ihm: »Vermutlich sehr lange, denn sie sind eingewandert und bleiben hier. Als EU-Bürger haben sie das gleiche Recht hier zu leben wie Sie.« Ich dachte, der Imbissbetreiber lyncht mich. Er schrie mich an, dass er sich jede Gleichsetzung mit den »Zigan« verbitte. Er lebe seit 40 Jahren in Deutschland, arbeite hier und zahle Steuern. Dass ich ihn auf eine Stufe mit den Roma stelle, disqualifiziere mich als seinen Bürgermeister.

Wenn ich öffentlich mehr Lehrer und mehr Geld fordere, erhalte ich E-Mails der deutschen Bevölkerung, warum ich das tue und ob ich nicht wisse, dass auch für die deutschen Kinder Lehrer fehlen. Wir baden vor Ort das aus, was die große Politik mit Lächeln im Blitzlichtgewitter unterschrieben hat. Ich weiß von meinen Besuchen in anderen deutschen Städten, dass dort die Situation identisch ist. Ein Jugendamtsleiter sagte auf einer Tagung zu mir: »Wenn ich das Kinder- und Jugendhilfegesetz auf die Roma-Familien bei uns anwende, ist meine Stadt in einem Jahr pleite. Die Menschen leben in einer anderen Kultur nach anderen Gesetzen.« Ich denke, er hat recht. Auf unser Sozialsystem kommt eine neue Herausforderung zu. Auch bei den Roma gibt es zur Integration keine Alternative.

Wir berieten eines Tages auf Verwaltungsebene eine Stellungnahme des Senats zur Roma-Einwanderung. Es war davon die Rede, dass Berlin Europas Referenzstadt für die Integration der Roma werden solle. Als ich anregte, dann aber wenigstens eine pauschale Formulierung in den Text aufzunehmen, dass auch Gelder hierfür bereitgestellt werden, lautete die Antwort eines Senatsmitglieds: »Sind Sie verrückt? Wir machen es denen hier doch nicht noch bequemer!« So weit zum Problembewusstsein und zur Glaubwürdigkeit von Politikersprüchen.

Der Vollständigkeit halber möchte ich hier eine Lanze für das Programm »Soziale Stadt« brechen. Seit 13 Jahren wird mit diesem System der Städtebauförderung versucht, in die scheinbar naturgesetzlichen Abläufe der sozialen Brennpunkte einzugreifen. Auf diesem Weg gab es viele Erfolge. Dennoch konnte der große Durchbruch nicht gelingen. Denn auch Quartiersmanagement ist wieder nur ein unverbindliches Angebot. Man kann es annehmen und mitmachen oder es sein lassen. Die Konsequenz aus dieser Philosophie ist, dass es ein Instrument für die in den Gebieten verbliebenen deutschen Bürger ist. Bei Veranstaltungen frage ich häufig: »Wo sind denn die Migranten?« Ich denke, die Kraft des Quartiersmanagements müsste gestalterischer wahrnehmbar werden. Dazu gehört auch, dass ihm eine mitbestimmende Funktion im Sozialraum eingeräumt wird. Vielleicht machen dann auch mehr mit. Die Quartiersräte werden im Wohngebiet gewählt. Die Wahlbeteiligung ist so lächerlich gering, dass ich mich nicht traue, sie hier zu nennen. Mitunter genügt ein intakter Bekanntenkreis im Hausaufgang oder ein großer Stammtisch in der Eckkneipe, um seinen Platz im Quartiersrat sicher zu haben. Das ist ein bisschen bösartig, ich weiß. Quartiersmanagement ist eine tolle Sache, nur die Verzahnung mit der Bevölkerung in ihrer ganzen Breite, die haben wir noch nicht überall hinbekommen.

Kostenlose Kindergärten und ihr flächenmäßiger Ausbau, die Umstellung unseres Schulsystems komplett auf Ganztagsschulen, eine besondere Ausstattung für Brennpunktschulen, die Fortführung des Quartiersmanagements, eine Wirtschaftsförderung für soziale Brennpunkte, all diese Strukturverschiebungen werden nicht kostenlos zu realisieren sein. Wir werden Geld in die Hand nehmen müssen. Und zwar nicht wenig. Eine neue Infrastruktur für Kinder herzustellen, um damit gleichzeitig auch der Integrationspolitik völlig neue Impulse zu verleihen, ist ein Stück soziale Revolution. Das geht nicht von heute auf morgen, nicht mit einem Parteitagsbeschluss und auch nicht aus der Portokasse. Aber wir werden irgendwann begreifen müssen, dass uns die Entwicklung überhaupt keine Handlungsspielräume mehr lässt. Die weitaus erfolgreicheren Schwerpunktsetzungen anderer Länder zeigen, dass wir uns bei den Bildungsfragen, die der Kulminationspunkt von allem sind, von der Entwicklung in den OECD-Staaten abgekoppelt haben. Der Vorsitzende des Vorstands der Bertelsmann Stiftung, Jörg Dräger, beschreibt in seinem Buch Dichter, Denker, Schulversager sehr eindringlich die Notwendigkeiten eines Kurswechsels.

Doch wo sollen die Milliarden nun herkommen? Zum einen muss Einvernehmen darüber hergestellt werden, dass Deutschland mehr Geld in die Bildungspolitik investieren muss. Ich glaube, die Streitphase zu diesem Thema ist überwunden. Auf dem Bildungsgipfel 2008 wurde vereinbart, den Anteil der Bildungsausgaben bis 2015 auf 7 % (10 % für Bildung und Forschung) des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen. 2008 lagen die Bildungsausgaben in Deutschland bei 4,9 %, der OECD-Durchschnitt bei 5,9 % und in Dänemark bei 7,4 %. Damit stehen wir auf Platz 30 von 36 Ländern, für die entsprechende Daten erhoben werden. Bei den Bildungsausgaben ist Deutschland also nach wie vor eindeutig unterbelichtet.

Um das Ziel des Bildungsgipfels zu erreichen, müssen wir noch ordentlich zulegen und mindestens 25 Milliarden Euro in die Hand nehmen. Allerdings muss ich darauf hinweisen, dass es für einen Laien ausgesprochen verwirrend ist, die unterschiedlichen Zahlen, die vorgelegt werden, zu interpretieren. Die OECD und die Bundesregierung definieren Bildungsausgaben unterschiedlich. Bei den Erhebungen der OECD bleibt ein Teil der Bildungsausgaben, die in das nationale Bildungsbudget einfließen, unberücksichtigt. Hierunter fallen Weiterbildungsausgaben sowie sonstige bildungsrelevante Aufwendungen beispielsweise für Krippen, Horte und Volkshochschulen. Deutschland würde sich unter Einbeziehung dieser Posten sicherlich um ein, zwei Plätze verbessern können. Doch wie Deutschland bei Erweiterung der engen OECD-Kriterien etwas zulegen würde, so wäre das auch bei anderen Ländern der Fall. Man kann es also drehen und wenden, wie man will. Wir können uns die Bildungsausgaben nun einmal nicht schöner rechnen.

Gut im Rennen liegen wir hingegen bei den Ausgaben des Gesundheits- und Sozialsystems. Bei der Familienförderung können wir mit 3 % des Bruttoinlandsprodukts, das sind etwa 180 Milliarden Euro, stärker punkten. Hier geben wir das meiste Geld aller OECD-Staaten aus. Bei der Effizienz belegen wir allerdings nach einer Wertung aus 2008 den drittletzten Platz. Nur Nord-Korea und die Slowakei sind hinter uns. Woran liegt das? Weniger Geld und bessere Ergebnisse in anderen Ländern. Die anderen geben etwa 50 % der Fördermittel in die Institutionen der Kindererziehung, also Krippen, Kindergärten, Horte, Ganztagsschulen, Erzieher, Lehrer. Bei uns sind es nur 20 % bis 25 %. In Deutschland liegt der Schwerpunkt bei den Direktleistungen an die Eltern. Gelänge es, an dieser Stellschraube zu Veränderungen zugunsten der Institutionen zu kommen, dann würde sich auch der Bildungs-Input für die Kinder und damit letztendlich der Output der Leistungsfähigkeit verändern.

Es ist ein völliger Wildwuchs entstanden. Nach Angaben des Bundesfamilienministeriums gibt es über 150 verschiedene Leistungen für Familien in Deutschland, die mit 125 Milliarden Euro zu Buche schlagen. Hierin sind steuerliche Erleichterungen noch nicht einmal enthalten. Von Erfolg jedoch keine Spur. Die Geburtenrate ist auf einem historischen Tiefstand. Plakativ formuliert, kann man sagen: Noch nie hat Deutschland so viel Geld für die Familienförderung ausgegeben. Noch nie war die Geburtenrate so niedrig wie heute. Noch nie war die Familienpolitik so erfolglos wie im Moment. Es ist einfach nur ein Desaster. Wir glauben, mit punktuellen Geldprämien die Strukturmängel für Familien kompensieren zu können. Das ist jedoch kindisch. Für 20 Euro mehr Kindergeld, 150 Euro Herdprämie oder 1800 Euro Elterngeld für 14 Monate treffen Menschen keine Grundsatzentscheidung und wandeln ihre Skepsis nicht in Zustimmung für eine Familiengründung. Dazu gehört mehr. Nämlich ein dauerhaftes System an optimaler Betreuung der Kinder und Flexibilität in der Arbeitswelt. Die vorhandenen Programme sind zum großen Teil ein Lehrstück für Mitnahmeeffekte. Familienförderung ist wie Integrationspolitik. Man muss sie wirklich wollen und dann Nägel mit Köpfen machen. Ein bisschen rumkleckern hier und da bringt gar nichts.

Hinzu kommt, dass die frühkindliche Bildung bei uns im Vergleich zu den Hochschulen nicht besonders gut angesehen ist. In den USA ist das genau umgekehrt. Jörg Dräger bemängelt zu Recht, dass bei uns Studiengebühren von 83 Euro im Monat als sozialschädlich wieder abgeschafft, aber bis zu 600 Euro im Monat Kosten für einen Kita-Platz als völlig normal akzeptiert werden. Dahinter steht natürlich die Ideologie, dass Kindererziehung Sache der Eltern ist und den Staat nichts angeht.

Die klassische Form der Finanzierung von zusätzlichen Staatsaufgaben ist die Kreditaufnahme. Das geht leicht und ist auch bequem. Die Rückzahlung dieser Schulden bürdet man künftigen Generationen auf. Ein bisschen das System Griechenland, wenn es da die dumme Schuldenbremse nicht gäbe. Als bei der Finanzkrise unsere Bankenwelt am Zusammenkrachen war, klappte das System aber noch ganz gut. Ich habe den Überblick verloren, wie viele Milliarden Euro der sprichwörtliche Steuerzahler beisteuern musste. Ich erinnere mich aber gut daran, dass unser Finanzminister befragt wurde, ob er für eine Kindergartenpflicht sei. Er sagte, nein, das wäre zu teuer, weil zu viele Plätze gebaut werden müssten. Zwei Tage später kam dann die Meldung, dass die Hypo Real Estate weitere 100 Milliarden Euro Risikoabschirmung benötigt. Der Commerzbank musste mit 18 Milliarden Euro unter die Arme gegriffen werden. Die bundesweite Umstellung aller Schulen auf Ganztagsbetrieb kostet, nach Berechnungen des Bildungsexperten Klaus Klemm für die Bertelsmann Stiftung, bis 2020 jährlich zehn Milliarden Euro. Die SPD rechnet mit 20 Milliarden Euro inklusive der zusätzlichen Personalkosten. Wenn man, wie Peer Steinbrück 2006 meinte, für vier bis sechs Euro Kürzung des Kindergeldes die gesamte Vorschulerziehung in Deutschland kostenfrei anbieten könnte, dann dürfte diese Maßnahme mit etwa zwei Milliarden Euro zu Buche schlagen. Das ließe sich gut mit dem freiwerdenden Geld verrechnen, wenn die Herdprämie wieder eingestampft wird.

Welche Maßnahme welchen Finanzbedarf im Einzelnen hervorruft, ist an dieser Stelle nicht von entscheidender Bedeutung. Für mich geht es vielmehr um einen Paradigmenwechsel bei der Bildungs- und Familienpolitik. Wir müssen unser Geld in eine Infrastruktur für Kinder und nicht in das Familienbudget stecken. Konkret bin ich für jedwede zusätzliche Förderung von Kindern. Aber als Sachleistungen und nicht in das Portemonnaie der Eltern. Beispiele hierfür sind gebührenfreie Krippen, Kindergärten, Ganztagsschulen, Mittagessen in den Schulen und Förderungen durch die Musikschule, die Sportvereine oder Nachhilfeunterricht. Ich fand die Idee von Ministerin von der Leyen mit einer Förder-Chipkarte für Kinder gut. Sie war nicht mehrheitsfähig, und der politische Kompromiss lautete dann BuT (Bildung und Teilhabe). Ein Bürokratiemonster zum Kindererschrecken. Das Ziel ist richtig erkannt, nur der Weg dorthin ist grottenschlecht.

Sachleistungen suggerieren im ersten Augenblick, man würde den Eltern in die Tasche greifen wollen. Doch das trifft nicht zu. Die Eltern erhalten die Unterstützung lediglich auf eine andere Art. Es geht nicht darum, die Leistungen für Familien und Kinder zu kürzen, sondern es geht um ihren Ausbau, um ein stärkeres gesellschaftliches Engagement. Viele sagen, Kindergeld für Gutbetuchte solle abgeschafft werden. Wenn es denn rechtlich geht, habe ich damit kein Problem. Die direkte Alimentation jedoch noch zu erhöhen auf 320 Euro, wie die SPD es will, halte ich für den völlig falschen Weg. Kinder werden dadurch immer stärker zum Einkommensfaktor und zu einem Absicherungsfaktor gegen die Wechselfälle des Lebens. Das gilt im Allgemeinen, aber ganz besonders in den sozialen Brennpunkten.

Bei der Finanzierungsdiskussion spielen natürlich auch sofort Steuererhöhungen eine Rolle. 1 % Mehrwertsteuer bringt acht Milliarden Euro, eine Anhebung des Spitzensteuersatzes auf 49 % mindestens fünf Milliarden Euro, und zusätzliche Besteuerung von Finanzgeschäften schlägt mit zweistelligen Milliardenbeträgen zu Buche. Wenn es denn gelingt, auf diese Art Geld für die Bildung herbeizuschaffen, nun gut. Die Erbschaftssteuer hatte ich noch übersehen. Die ist auch immer gut für Finanzierungsvorschläge. Das hat alles etwas von Robin Hood. Nimm den Reichen, gib den Armen.

In Deutschland erhalten die Familien das dritthöchste Kindergeld innerhalb Europas. Nur die Schweiz und Luxemburg zahlen mehr. Insgesamt wendet die Gesellschaft für das Kindergeld und die korrespondierenden Steuerabschläge durch die Kinderfreibeträge bei der Einkommenssteuer jährlich rund 38 Milliarden Euro auf. Kürzte man diese Summe auf die Hälfte, bliebe ein spürbarer direkter Finanztransfer in die Familien erhalten, aber es würden jährlich 19 Milliarden Euro freigesetzt für den Aufbau eines neuen Bildungssystems. Ohne ungerechte Erhöhung der Mehrwertsteuer.

Ich bin davon überzeugt, dass man dafür eine Mehrheit gewinnen könnte. Allerdings müsste über ein Stiftungs- oder Fondssystem sichergestellt werden, dass das Geld auch wirklich dort ankommt, wo es hin soll, und die Bildungsmaßnahmen auch tatsächlich stattfinden. Die Menschen sind der Politik gegenüber misstrauisch geworden. Mit dem Wegnehmen geht es immer schnell, nur mit dem Einhalten von Zusagen gibt es häufig Probleme, die weitschweifig erklärt werden. Das interessiert aber die Bürgerinnen und Bürger wenig.

Es sind ja alles nur Gedankenspiele. Es besteht nicht die Gefahr, dass in unmittelbarer Zukunft tatsächlich etwas passiert. Es muss erst alles noch sehr viel schlimmer kommen. Selbst wenn morgen alle notwendigen Entscheidungen für ein neues Bildungs-, Einwanderungs- und Integrationssystem getroffen werden würden, so würde eine spürbare Veränderung doch nicht vor 2025 oder 2030 eintreten. Das ist ein langer Zeitraum. Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, als mich damit abzufinden, dass der Fortschritt nun einmal eine Schnecke ist. Andere Völker haben auch schöne Töchter. Schauen wir uns doch einfach um. Es muss nicht jeder jeden Fehler von anderen wiederholen. Ohne Integration wird es nicht funktionieren. Ohne Bildung wird die Integration nicht funktionieren. Und ohne Bildung und Integration wird unsere Wirtschaft nicht funktionieren. Deswegen wird der Leidensdruck die Politik irgendwann zum Handeln zwingen. Ich möchte mit einem trefflichen Zitat von Klaus Wowereit schließen: »Wenn wir aber weiterhin ideologische Debatten führen, während die Spaltung der Gesellschaft weiter voranschreitet, dann muss einem vor unserer Zukunft Angst und Bange werden.«

Siehe da, ich bin doch nicht der einzige, der von Spaltung und Parallelgesellschaften spricht. Noch liegt es in unserer Hand, ob diese düstere Vision zur Realität wird.