Die Migration im Grundsatz
Dass ganze Völker sich auf Wanderschaft begeben, ist in der Menschheitsgeschichte nichts Ungewöhnliches. Auch nicht, dass sich Einzelne allein oder gemeinsam mit ihrer Familie auf den Weg nach einem anderen Ort machen. Die Gründe hierfür sind schnell aufgezählt. Vertreibung durch ein anderes, stärkeres Volk, Religionskonflikte, Verlust der Heimat infolge von Kriegen, Naturkatastrophen oder auch nur die Suche nach besseren Lebensbedingungen. Für die Geschichtsbücher sind die Folgen, die Barbarei und Kriege für das Kollektiv haben, sicher bedeutsamer als Einzelschicksale, aber gerade Letztere sind es, die uns in diesem Buch interessieren. Die Auswirkungen der Wanderung auf den Wandernden selbst, aber auch die Stimulanz des Neuen am Ankunftsort sind bei der Betrachtung der verändernden Wirkung der Zuwanderung interessante Aspekte.
Was bringt Menschen dazu, ihre Heimat und ihr vertrautes Umfeld, ihre Freunde und Familien zu verlassen? In die Ferne zu gehen, ohne zu wissen, was auf sie zukommt? Also genau das zu tun, was uns Menschen für gewöhnlich Angst macht: den Schritt ins Ungewisse? In unserer heutigen Zeit gibt es eigentlich in der Summe nur noch zwei wirklich bedeutsame Triebfedern: das Streben nach mehr Wohlstand oder die Flucht vor Gewalt und Verfolgung. Oft mischen sich auch beide.
Doch unterscheiden sich die Wanderungsbewegungen heute von denen in früheren Epochen erheblich. Es geht nicht mehr um die Besiedlung von freiem Land, es geht nicht mehr um die Urbarmachung ganzer Erdteile, sondern es geht um die Suche nach dem individuellen Glück. Die Entscheidung, in ein anderes Land zu ziehen, ist heute auch nicht mehr unumkehrbar. Wer sich vor 150 Jahren nach Amerika aufmachte, der wusste, dass er die Ursprungsheimat für lange Zeit, manchmal für immer nicht mehr wiedersehen würde. Das ist heute anders. Bei regelmäßigen Reisen zurück an den Herkunftsort können die Traditionsakkus wieder aufgeladen werden. Das Auto oder das Sparticket für 49 Euro machen es möglich. Dort, wo es an Lust oder Geld zum Reisen fehlt, erfüllen die Satellitenschüssel und die Telefon-Flatrate denselben Zweck. Dies erschwert natürlich die Konzentration auf die neue Heimat und das neue Leben. Das Gefühl, dass man tatsächlich in einer anderen Welt angekommen ist und in ihr lebt, stellt sich nicht ein. Die alte Heimat bleibt omnipräsent. Sie steht quasi gleichberechtigt neben den neuen Eindrücken. Ja, sie stellt das Neue permanent auf die Waage und fordert eine Entscheidung über »Besser und schlechter als das Gewohnte« heraus. Die soziale Kontrolle funktioniert aktiv oder dezent im Hintergrund, auch über die Entfernung von Tausenden von Kilometern.
Ein zweiter Unterschied zwischen der Auswanderung etwa in die USA, nach Kanada oder Australien und der in die Staaten der EU besteht darin, dass die Menschen sich in ersterem Fall aufmachten, um Amerikaner, Kanadier oder Australier zu werden. Das war ihr Ziel. Sie wanderten aus in die Neue Welt, und sie strebten nach einer neuen Identität. Diesen Spirit haben heute Migranten aus dem Libanon, der Türkei, aus Somalia und so weiter schon seltener bis gar nicht. Nehmen wir als Beispiel die türkischstämmigen Migranten. Machen sie sich in Anatolien wirklich auf und verabschieden sich mit den Worten »Ich gehe und will Deutscher werden«? Wohl kaum. Der Abschiedsgruß lautet vermutlich eher: »Ich gehe Deutschland.« Auslöser für eine solche Entscheidung sind nicht selten glorifizierende Berichte über ein dem Paradies gleichendes Land, in dem Wohlstand und Geld ohne Mühsal auf jeden warten. Was wie eine semantische Stilübung aussieht, ist in Wirklichkeit eine kapitale inhaltliche Differenz.
In diesem Zusammenhang begegnen wir immer dem Begriff der Heimat. Was verbinden Menschen mit ihm? Die Erklärungen sind so vielfältig wie individuell. Die einen sagen, Heimat ist da, wo ich geboren bin. Welchen Pass ich in der Tasche habe, ist unwichtig. Andere sagen, Heimat ist da, wo mein Vater, mein Großvater oder meine Vorfahren herkommen. Auch wenn ich dieses Land noch nie gesehen habe. Wieder andere empfinden Heimatgefühle für ein Land, in dem die Felder und die Städte so aussehen wie in ihren Träumen. Es gibt sicher viele weitere Erklärungen. Ich fand die Antwort einer türkischstämmigen Migrantin auf meine Frage, wo für sie Heimat ist, so verblüffend kurz wie nachvollziehbar. Sie sagte: »Heimat ist immer da, wo das Brot ist.« Also da, wo ihr Lebensraum ist, und da, wo sie eine Chance hat, ihr Leben selbstbestimmt so zu gestalten, wie sie es für sich als erstrebenswert empfindet. Meine persönliche Definition ist die, dass die Heimat dort ist, wohin man sich zurücksehnt, wohin es einen zieht, wenn man in der Ferne ist. Sehnsucht ist in diesem Zusammenhang ein schönes Wort.
Ich glaube, dass man den Begriff der Heimat von dem der Integration in eine andere Gesellschaft trennen muss. Um mich in andere als die gewohnten Lebensregeln einzufügen, also zu integrieren, muss ich nicht Heimatgefühle mit Tränen in den Augenwinkeln entwickeln. Man kann auch sagen: Ein türkischstämmiger Migrant muss seinen Integrationswillen nicht dadurch unter Beweis stellen, dass er Lederhosen anzieht, Bier nicht unter einem Mengenmaß von einem Liter in sich hineintut und zum Frühstück Weißwurst isst. Es reicht völlig aus, wenn er die tragenden Grundsätze unserer Verfassung als bestimmende Elemente auch seines Lebens und des Lebens seiner Familie akzeptiert. Wenn er sich bemüht, zumindest die Grundkenntnisse der Landessprache zu erlernen, um mit den anderen Bürgern der Gesellschaft kommunizieren zu können, seine Kinder in die Schule schickt und den Müll zur Mülltonne trägt, anstatt ihn vom Balkon zu werfen.
Wer sich in einen anderen Kulturkreis begibt, muss wissen, dass er dort auf andere Regeln des Zusammenlebens trifft. Er muss sich vorher entscheiden, ob er bereit ist, diese anderen Lebensweisen für sich und seine Familie zu übernehmen.
Der, der neu in einen Sportverein kommt, stellt die Frage: »Wie läuft das hier bei euch?« Und wer in einen Handballverein eintritt und dort Fußball spielen will, wird schnell merken, dass die geltenden Regeln sich ungünstig auf seine Erwartungshaltung auswirken. Er wird dann ein Haus weiter ziehen (müssen). Übertragen wir diese Banalität auf die Integration fremder Kulturkreise in bestehende, über Jahrhunderte hinweg erkämpfte und herausgebildete Kulturriten, so kommen wir zu der wahrlich nicht überraschenden Erkenntnis, dass der Zuwanderer sich den Normen der Zielgesellschaft anpassen muss. Ja, dass er mit der Forderung, dass er sich anzupassen hat, konfrontiert wird. Seine etwaige Erwartung, dass die neue Gesellschaftsordnung ihn aufgrund ihrer Toleranz trotz seiner abweichenden Verhaltensweisen akzeptieren wird oder gar zu akzeptieren hat, führt ihn dagegen in den klassischen Konflikt. Denn er befindet sich damit automatisch auf einem permanenten Prüfstand, ob er nicht auf Kollisionskurs mit dem gesellschaftlich akzeptierten und praktizierten Wertegerüst der Mehrheitsgesellschaft ist. Die Spaltung der Familie oder eine aufreibende Auseinandersetzung mit den Kindern kann die unerwünschte Folge sein. Wer sich nicht anpassen will oder kann, sollte nicht wandern.
Aus dem Vorstehenden folgt für mich der Lehrsatz Nummer eins: Integration und die Bereitschaft dazu sind an erster Stelle eine Bringschuld der Hinzukommenden. Dieser Grundsatz ist so selbstverständlich, dass es schon fast an eine Verspottung der Leser grenzte, hierzu noch lichtvolle Ausführungen zu machen. Und doch ist es erforderlich. Denn wer den Satz so formuliert, wie ich ihn formuliert habe, zieht bereits argwöhnischste Blicke auf sich: Ist es denn nicht so, dass derjenige, der sich aus seiner bisherigen Gesellschaftsordnung verabschiedet, dies deswegen tut, weil sie ihm nicht die Freiheit, den Lebensstandard, den Wohlstand und die Perspektiven geboten hat, von denen er träumt? Er macht sich auf den Weg, um eine Gesellschaft zu finden, die ihm all das bietet, was er für sich mit Lebensglück umschreibt. Das neue Land soll ihm all das geben, was er zu Hause vermisst. Wenn er es gefunden hat, was ist dann falsch daran, von ihm zu fordern, dass er all seine mitgebrachten Fähigkeiten einbringen möge, um in der neuen Gesellschaft einen Platz zu finden und sie damit zu stärken?
Die Gesellschaft, in der er angekommen ist, ist nicht von allein entstanden. Und sie existiert auch nicht Tag für Tag von allein. Sie ist, wie sie ist, weil über Generationen Menschen an ihr gebaut, Werte zusammengetragen und um einen gerechten Weg gerungen haben. Sie existiert, weil auch im Alltag immer wieder um die Grundlagen einer solidarischen und demokratischen Gesellschaft gestritten wird. Gesellschaft ist nichts Statisches. Sie ist nicht einfach da und entsteht nicht qua Naturgesetz. Nein, sie muss von den Bürgerinnen und Bürgern jeden Tag aufs Neue gelebt und, wenn es sein muss, auch verteidigt werden. Einem Einwanderer zu sagen: »Herzlich willkommen, schön, dass du ein Gewinn für unsere Gemeinschaft sein willst, dann zeig, was du kannst und mach mit! Ja, mach nicht nur mit, sondern zeige auch, dass du mit uns leben willst, wie man in Deutschland lebt« – was ist daran verwerflich?
Verfolgt man diesen Gedanken konsequent weiter, kommt man unausweichlich zu der Frage: Darf eine Gesellschaft von den Hinzukommenden erwarten, dass sie nicht nur zur kulturellen Bereicherung beitragen, sondern auch zur sozialen und wirtschaftlichen Stabilität? An dieser Stelle werden nicht wenige die Augenbrauen hochziehen. Das riecht ja nach Verwertungsprinzip: Der Mensch wird nicht in seinem ethisch-humanistischen Sein gesehen, sondern nach seiner Vermarktbarkeit kategorisiert. Pfui, da ist sie ja, die entlarvende Stelle. Aber welchen Sinn sollte Einwanderung denn sonst haben, außer dem, dass der Hinzukommende eine Bereicherung ist? Besteht der Sinn und Zweck der Einwanderung denn darin, den Mühseligen und Beladenen einen Silberstreifen am Horizont zu bieten? Und wenn ja, allen oder nur einigen, und wenn, welchen? Ist es nicht eher so, dass die Völker es selbst in der Hand haben, darüber zu entscheiden, in welcher Staatsform, mit welchen Freiheitsrechten und mit welchen materiellen Wohlstandsnormen sie ihr Land gestalten wollen?
Wir sind mit den Regeln, die wir haben, zufrieden. Wer zu uns kommt, muss sie bejahen und sich an der Mehrung des Wohlstands dieser Gesellschaft aktiv beteiligen – ist es nicht das Recht einer jeden Gesellschaft, das zu sagen? Wem eine demokratische, liberale und tolerante Gesellschaft, aufgebaut auf der Würde und Freiheit des Individuums, zu unmoralisch, gottlos und verdorben ist, der muss seine Suche nach der vollkommenen Reinheit und seinen spirituellen Erwartungen fortsetzen. Deutschland ist kein Gottesstaat, und wer solchen Gedanken nachhängt, kann nicht zu uns gehören.
Ein besonderes Kapitel ist sicher der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdoğan. Bereits zweimal hat er Kostproben seiner nationalistischen Innenpolitik in Deutschland abgeliefert. Er inszeniert Fahnenmeere, um die türkische Diaspora als solche zu stabilisieren. Er wirft Deutschland die Verletzung von Menschenrechten vor, weil wir von Neueinwanderern einen minimalen Grundstock an Sprachkenntnissen verlangen. Er behauptet, Assimilierung sei ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und lässt sich dafür bejubeln. Ich verstehe zwar, was er damit meint, halte die Aussage aber schon inhaltlich für Unsinn. Man kann einen Menschen nicht gegen seinen Willen assimilieren, also zur Aufgabe seiner kulturellen Identität und Gepflogenheiten zwingen. Assimilierung kann eine Folge von Integration sein. Sie ist ein Prozess, der stattfindet oder auch nicht. Den Menschen geschehen lassen, vielleicht sogar wollen oder auch nicht. Sie ist aber keine gezielt steuerbare Maßnahme.
Der Höhepunkt von Erdoğans Entgleisungen in Deutschland war sicherlich die Theaterpose, dass die türkischstämmigen Menschen unter der Garantie der großen türkischen Republik stehen, die sie mit allen seinen Möglichkeiten unterstützen und schützen werde. »Unterstützen – wobei? Schützen – vor wem?«, fragt man sich da doch automatisch. Wie sieht diese Unterstützung denn in der Praxis aus? Etwa so, dass man türkischen Staatsbürgern Geldbeträge für einen nicht geleisteten Militärdienst abpresst, wenn sie die Entlassung aus der türkischen Staatsangehörigkeit beantragen? Schützen vor Deutschland und den Deutschen? Wie darf man das denn missverstehen? »Mit all seinen Möglichkeiten« – meint das die Luftwaffe oder die Marine? Das ist zwar nur eine rhetorische Frage, aber schon eine Lehrstunde aus dem Kapitel »Wie treibe ich Menschen auseinander?«. Ich möchte gar nicht wissen, welche Reaktionen eine ähnliche Inszenierung der Kanzlerin oder auch eines hohen christlichen Würdenträgers in der Türkei hervorrufen würden. Dazu wird es aber auch nicht kommen. Denn wir verbinden Gastfreundschaft auf der einen Seite immer auf der anderen Seite mit höflicher und respektvoller Zurückhaltung des Gastes.
Wie weit geht kulturelle Identität? Inwieweit muss eine Gesellschaft gemessen an ihren eigenen Freiheitsnormen abweichendes Verhalten nicht nur tolerieren und dulden, sondern auch bewusst fördern? Darf eine Gesellschaft in einer beobachtenden Rolle verharren, oder gehört es nicht zu ihren Aufgaben, den Prozess der Integration aktiv zu steuern und dort, wo er auf Kollisionskurs zur staatlichen Ordnung gerät, intervenierend einzugreifen? Ist Kulturrelativismus eine hinzunehmende Erscheinung, weil die Menschenrechte Teil westlicher Kultur sind und sie daher für Muslime nur nachrangige Wirkung entfalten? Aus meiner Sicht natürlich nicht. Und auch an dieser Stelle befinde ich mich in guter Gesellschaft mit Cem Özdemir, dem Vorsitzenden der GRÜNEN, der »keinen kulturellen Relativismus, der die Menschenrechte in Frage stellt«, dulden will.
Dort, wo die Dinge aus dem Ruder laufen, muss die Gesellschaft einschreiten. Die Probleme müssen benannt werden. »Alle große politische Aktion besteht im Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist«, so sagte es einst Ferdinand Lassalle. Wegducken und Schönreden haben noch nie Probleme gelöst. Die Political Correctness ist häufig lediglich ein willkommenes Alibi für das Nichtstun, für das Schweigen und die Ignoranz. Die sozialromantische Multikulti-Gesellschaft, in der sich aus jeder Kultur das Gute Bahn bricht und aus all den positiven Einflüssen die Symbiose einer neuen, menschlichen Kulturform entsteht, ist lieb gedacht, aber grenzenlos naiv. Sie hat etwas von der Vision, das Paradies durch Religion zu schaffen, und gibt dem ewigen Traum nach Vollkommenheit im Guten lebensreal bezogenen Raum.
All diese dem Alltag entrückten Vorstellungen lassen den Menschen an sich außer Acht. Meine Erfahrung ist: Niemand will beliebig sein. Jeder will wissen, wo er herkommt, wo seine Wurzeln sind und wo er hingehört. Oder klarer formuliert: Niemand will multikulturell sein. Das hat nichts damit zu tun, dass er seine Nachbarn oder seine Arbeitskollegen nicht schätzt. »Multikulturell« heißt im Grunde genommen nichts anderes als »austauschbar«. Das stellt das Individuum und seine unverletzliche Würde in Frage. Zweifelsohne eine Anlehnung an die »-ismus«-Lehren, die alle nur das Kollektiv und die Unterwerfung des Einzelnen unter einen Willen kennen.
Die Realität sieht dort, wo wir eine multiethnische Gesellschaft aus 150 Nationen wie in Neukölln haben, ganz anders aus. Die Menschen gehen nicht mit weit ausgebreiteten Armen aufeinander zu. Im Gegenteil, die Ethnien grenzen sich – von Einzelfällen abgesehen – strikt gegeneinander ab. Mitunter ziehen unterschiedliche Lesarten einer Religion Trennungslinien nicht nur zwischen Menschen, sondern auch in den Wohngebieten.
An dieser Stelle fällt mir eine Begebenheit in einer Schule ein. Bei der Elternversammlung hatte der arabischstämmige Elternvertreter das Wort ergriffen. Er sprach davon, dass wir »im Moment noch sehr stark auf der Grundlage unserer heimatlichen Kulturen miteinander diskutieren, das wird sich aber in zwei Generationen immer mehr verwachsen und einebnen, und wir werden zu einem gemeinsamen kulturellen Leben finden«. Was sich daraufhin in dem Saal erhob, war ein Proteststurm, wie ich ihn noch nie zuvor erlebt hatte. Die türkischstämmigen Eltern schrien den Elternvertreter derart nieder, dass ich Sorge vor Handgreiflichkeiten hatte. Wir Türken werden unsere türkische Kultur und unser Türkischsein nie verlieren! Es mag sein, dass die Araber so mit ihrer Kultur umgehen, aber wir türkischen Eltern verbieten Ihnen ausdrücklich, weiter so in unserem Namen zu reden!
Das ist sicher ein Einzelfall. Aber er zeigt, wie weit Sozialromantik und die tatsächlichen Empfindungen der Menschen divergieren können.
Natürlich hat die Beantwortung dieser Fragen auch etwas mit dem Selbstbewusstsein zu tun. Unmissverständliche Ansagen wie: »Hier sind die Niederlande, hier gelten niederländische Sitten, niederländische Gesetze und sonst nichts«, oder entsprechend: »hier ist Frankreich …«, »hier ist Österreich …«, sind für sich genommen nicht zu kritisieren. In Deutschland allerdings ist solch ein Satz schon arg verdächtig, aus dem Wahlprogramm einer rechtsradikalen Partei entnommen zu sein. Wer so etwas ausspricht oder niederschreibt, ist mindestens ein deutschtümelnder Konservativer, wenn nicht gar ein Rassist und Neonazi. Die organisierte Links-Empörung ist gut vernetzt und erfolgreich in unsichtbaren Repressionen. Es geht flink und leise, und unbotmäßiges Verhalten wird durch Auftragsentzug bestraft. Unser geschichtliches Erbe, das kollektive Schuldbewusstsein und der andauernde, rituelle Entschuldigungsdrang sind für einen gesellschaftspolitischen Diskurs nicht förderlich. Auch begünstigen sie Schubladendenken und jedwede Totschlagargumentation. Es ist schön, in und von Deutschland zu leben. Aber es ist peinlich, ein Deutscher zu sein. Die Antwort der griechischen Medien auf die Hilfe aus Deutschland in Form einer Karikatur der deutschen Regierungschefin als neuer Hitler verdeutlicht diesen Gedanken. Dieses Mantra empfinden viele als ungerecht und missachtend. Man stelle sich vor, in Deutschland würden Medien so mit der Staats- und Regierungsspitze eines anderen Landes umgehen.
Mein Eindruck ist, dass wir den Irrweg der nur beobachtenden Gesellschaft schon viel zu weit gegangen sind. Allein der Überlebenswille und der Fortentwicklungsdrang beinhalten den Anspruch, die Kraft der Gestaltung nicht dem Zufall oder bewusst außerhalb der Gesellschaft stehenden Kräften zu überlassen. Eine Gesellschaft ist nicht die zufällige und gewillkürte Menschenmenge, die in einem Staatsgebiet nach gleichen Gesetzen lebt und nach dem Prinzip der Windrose beliebig auswechselbar ist. Eine Gesellschaft ist eine Gemeinschaft. Wir sprechen die gleiche Sprache, wir haben eine gemeinsame Historie, wir erfreuen uns der Leistungen und sind stolz auf die Errungenschaften unseres Volkes im Laufe der Menschheitsgeschichte, aber wir tragen auch gemeinsam Verantwortung für Schuld und Verbrechen. Wir verneigen uns vor der Vergangenheit und suchen gemeinsam Inspiration zur Gestaltung unserer Zukunft. Schon aus dieser Überlegung heraus gefährden Parallelgesellschaften unseren Staatsaufbau. Weil sie außerhalb dessen stehen, was Bürger unseres Staates verbindet. Sie machen ihr Ding. Und deswegen können sie nicht Teilhaber und Partner der Integration sein. Sie sind eben kein Kegelclub. Sie sind Auswüchse des Separatismus.
Die Normensetzung darf nicht auf der Straße erfolgen. Auch nicht in Hinterzimmern, auch nicht in Religionsschulen. Die Normensetzung in der Demokratie erfolgt ausschließlich und ausnahmslos durch die verfassungsgebenden Organe, die unter der Prämisse, alle Gewalt geht vom Volke aus, durch freie Wahlen dazu legitimiert werden. Unsere demokratisch verfasste Gesellschaft steht nicht zur Disposition. Für niemanden, mit welcher Begründung auch immer. Die Gesetze dieses Landes gelten für jeden. Egal, ob, was und woran er glaubt.
Die Würde des Menschen ist unantastbar. So lautet nicht zufällig der erste Satz unserer Verfassung. Das heißt, die Würde jedes Menschen. Ob jung oder alt, Mann oder Frau, religiös oder nicht, Ethno-Deutscher oder Migrant, egal mit welcher sexuellen Orientierung – jeder Einzelne hat das Recht, in diesem Land als eigenständiges Individuum, als Träger von Rechten und Pflichten respektiert und geachtet zu werden. Niemand hat das Recht, einen anderen in seiner physischen oder psychischen Integrität zu beeinträchtigen. Die Würde und das Selbstbestimmungsrecht haben nicht hinter eine selbstdefinierte Familienehre zurückzutreten. Gewalt, auch familiäre Gewalt ist geächtet. Mädchen und Jungen gehen gemeinsam zur Schule. Wir respektieren die körperliche Integrität jedes Einzelnen. Und wir verheiraten niemanden gegen seinen Willen und ohne rechtlichen Schutz. Kulturelle Identität bedeutet nicht, dass wir uns ins 19. Jahrhundert zurückbeamen. Wir führen ja auch die Kinderarbeit und das Dreiklassenwahlrecht nicht wieder ein. Ein Serientäter ist keine kulturelle Bereicherung, sondern ein Störer des sozialen Friedens.
Beim Schreiben dieser vorstehenden Zeilen war ich sehr im Zweifel, ob alle Leser nachvollziehen können, welche Beweggründe es für sie gibt. Es sind Selbstverständlichkeiten, teilweise abgeschrieben aus dem Grundgesetz. Warum muss man sie dann wiederholen? Erklären uns doch alle Protagonisten des konfliktfreien Integrationsprozesses, das sei alles selbstverständlich: Es gebe niemanden, der dieses Wertegerüst in Frage stelle. Mit Verlaub, liebe Leserin und lieber Leser: Das ist Quatsch und hat mit dem wirklichen Leben nichts zu tun. Gerade in den Vierteln der Bildungsferne sind Welten entstanden, in denen religiöser Fundamentalismus, archaische Familienriten und die alles legitimierende Gewalt bei sogenannten Ehrverletzungen eine Dominanz ausstrahlen, die fassungslos macht. Selbstjustiz, Scharia-Richter und -Vollstrecker sind keine Episoden aus dem Märchenbuch (siehe Joachim Wagner, Richter ohne Gesetz).
Eine engagierte und erlebbare Integrationspolitik muss das Wertegerüst der Gesellschaft nicht nur verteidigen, sondern die Werte auch einfordern. Kulturelle Identität ist kein Freibrief für tradierte oder archaische Lebenswelten oder Familienriten. Wieder nehme ich gerne Bezug auf Cem Özdemir. Er formulierte es einmal so: »Wer möchte, dass Kreuzberg im besten Sinne multikulturell bleibt, der muss eben nicht nur Schulen und Lehrer unterstützen sowie an die Verantwortung der Eltern appellieren. Der muss auch für Sicherheit sorgen und darf keine Parallelgesellschaft bzw. Parallelgerichtsbarkeit dulden, wo radikale Organisationen ›Abtrünnige‹ bestrafen, Schutzgelder erpresst werden, Arbeitgeber ihre Angestellten verprügeln und Drogenhändler unbehelligt ihren Geschäften nachgehen können.« Ich teile diese Sichtweise uneingeschränkt. Integrationspolitik muss auch fordernde und leitende Elemente beinhalten. Gerade Menschen aus Ländern mit gesellschaftlichen Systemen ohne feste Sozialstrukturen, ordnende Zentralinstanzen und Bindungen an humanitäre Werte brauchen eine neue Orientierung, manchmal auch Führung. Elementare Dinge sind nicht nur Bestandteil sozialpädagogischer Hinwendung, sondern müssen auch Bestandteil von Verbindlichkeiten und Sanktionen sein.
Die Gewissheit, dass alle Bürgerinnen und Bürger die Grundrechte eines jeden Menschen akzeptieren und im Zweifelsfall auch schützen, ist die Voraussetzung für gesellschaftliche Solidarität. Wenn sie fehlt, kann es weder ein Gefühl der Sicherheit geben noch die Überzeugung, Teil einer großen Familie zu sein, in der einer für den anderen einsteht.
Das Pflichtenheft des Miteinanders hat aber nicht nur Seiten für die Einwanderer. Eine Gesellschaft muss sich auch als integrationswillig und integrationsfähig definieren und präsentieren. Die Aufnahme neuer kultureller Einflüsse geht nicht immer reibungslos. Sie erfordert Toleranz und an vielen Stellen auch Hilfe wie eigene Rücknahme. Sich an Fremdes zu gewöhnen fällt Menschen mitunter schwer. Abwehr ist dann die Konsequenz. Abwehr führt zum Gefühl der Ausgrenzung beim anderen. Aus Abwehr und Ausgrenzung kann auch Feindschaft entstehen. An dieser Stelle ist die beobachtende Gesellschaft ebenso völlig fehl am Platze.
Da es eine solidarische Gesellschaft nicht ohne ein Gefühl der Gemeinsamkeit geben kann, ist es Aufgabe der gesellschaftlichen Kräfte, aktiv einzugreifen, um das Trennende abzubauen und das Verbindende zu stärken. Dazu reicht es aber nicht, persönliche Referenten schöne Formulierungen niederschreiben zu lassen und sie dann vor den Fernsehkameras moralisierend zu wiederholen. Nein, das erfordert entschlossenes Handeln. Ich wiederhole: Wir haben in Deutschland keinen Erkenntnismangel, sondern ein Handlungsdefizit! Gerade die Integrationspolitik ist bis heute ein gigantisches Spielfeld der Eitelkeiten, der Selbstgerechtigkeit und des Verbalradikalismus. Mir ist eigentlich kein Bereich der Politik geläufig, in dem so viel mit gekreuzten Fingern auf dem Rücken geredet wird wie hier. Ich komme später in anderen Kapiteln auf diesen Aspekt noch mehrmals zurück.
Jede Gesellschaft muss sich daran messen lassen, wie sie mit den Schwachen umgeht. Starke können sich einen schwachen Staat leisten. Schwache brauchen einen starken Staat, der sie schützt und der sie fördert. Deshalb müssen die staatlichen Institutionen Offenheit gegenüber Minderheiten zeigen. Sie müssen Diskriminierung ächten. Sie müssen ihnen helfen, sich in der neuen Heimat zurechtzufinden, ihnen verständlich machen, welche Erwartungen an sie gehegt werden und welche Unterstützung sie erhalten können, um diesen Erwartungen gerecht zu werden. Integration ohne die ausgestreckte Hand der Gemeinschaft ist nur schwerlich möglich. Ich glaube sogar, es geht gar nicht.
Über allem aber muss die Überschrift stehen: Für jeden ist klar, was man tut und was man nicht tut. Denn genau aus der Missachtung dieses lapidaren Grundsatzes entspringen die Reibungen im Alltag. Unser Alt-Bundespräsident Johannes Rau hat es in seiner Berliner Rede im Jahr 2000 so formuliert:
»Das Zusammenleben ist auch schwierig, und es ist anstrengend. Wer das leugnet oder nicht wahrhaben will, ist mit allen Appellen zu mehr Toleranz, Freundlichkeit und Aufnahmebereitschaft unglaubwürdig.
Es hilft nichts, vor Problemen die Augen zu verschließen oder allein schon ihre Beschreibung als Ausländerfeindlichkeit hinzustellen.
Es ist nicht schwer, in wohlsituierten Vierteln eine ausländerfreundliche Gesinnung zu zeigen. Schwerer ist es da, wo sich immer mehr verändert, wo man als Einheimischer die Schilder an und in den Geschäften nicht mehr lesen kann, wo in einem Haus Familien aus aller Welt zusammenwohnen, wo sich im Hausflur ganz unterschiedliche Essensgerüche mischen, wo laut fremde Musik gemacht wird, wo wir ganz andere Lebensstile und religiöse Bräuche erfahren.
Schwer wird das Zusammenleben dort, wo sich manche alteingesessene Deutsche nicht mehr zu Hause fühlen, sondern wie Fremde im eigenen Land.
Im klimatisierten Auto multikulturelle Radioprogramme zu genießen ist eine Sache. In der U-Bahn oder im Bus umgeben zu sein von Menschen, deren Sprache man nicht versteht, das ist eine ganz andere.
Ich kann Eltern verstehen, die um die Bildungschancen ihrer Kinder fürchten, wenn der Ausländeranteil an der Schule sehr hoch ist. Ich kenne das aus eigener Erfahrung.
Ich kann auch verstehen, wenn überdurchschnittlich hohe Kriminalität junger Ausländer und Aussiedler vielen Menschen Angst macht.
(…)
Ich engagiere mich von ganzem Herzen für einen Dialog der Kulturen und Religionen weltweit. Das ist eine wichtige Aufgabe. Ich habe sie allerdings nie als Ersatz dafür verstanden, dass wir uns ganz handfest um die praktischen Probleme des Alltags kümmern, die sich aus dem Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen im eigenen Land ergeben.«
Johannes Rau stand nicht im Verdacht, ein Sympathisant des verdeckten Rassismus zu sein. Nicht umsonst trug er den Beinamen »Bruder Johannes«. Seine mahnenden Worte sind zwölf Jahre her. Haben wir daraus wirklich einen Arbeitsauftrag entwickelt und ihn entschlossen umgesetzt? Ich denke, nein. Gleichzeitig ist die Rede aber ein Beleg dafür, dass es schon im Jahre 2000 emotionale Bewegungen der Art in der Bevölkerung gab, dass der Bundespräsident sich veranlasst sah, das Thema aufzugreifen.
Das erinnert mich an ein weiteres Zeichen, das wir schon viel früher unbeachtet zur Seite getan haben. Der erste Ausländerbeauftragte der Bundesrepublik, Heinz Kühn, legte im Jahr 1979 ein Memorandum zur Ausländerintegration vor. Und er schrieb uns ins Stammbuch:
»Die schulische Situation der ausländischen Kinder und Jugendlichen ist durch einen unzureichenden Schulbesuch, eine extrem niedrige Erfolgsquote bereits im Hauptschulbereich und eine erhebliche Unterrepräsentation ausländischer Schüler an weiterführenden Schulen gekennzeichnet.
(…)
Beachtlich sind ferner auch die bei den ausländischen Eltern bestehenden Hemmnisse, die Bedeutung des Schulbesuchs für die Zukunftsentwicklung ihrer Kinder richtig einzuschätzen und ihnen schulbegleitend die notwendige Förderung zu vermitteln.«
Dieser Text hätte auch in der Süddeutschen Zeitung oder der FAZ vom letzten Sonntag stehen können. Immer wieder stellt sich die Frage, warum diese Signale nicht beachtet und in politisches Handeln umgesetzt wurden. Nun ja: Deutschland ist kein Einwanderungsland. – Die Gastarbeiter gehen alle wieder nach Hause. – Multikulti regelt alles wie ein Naturgesetz. Solche wenn auch widersprüchliche Lebenslügen haben unsere Gesellschaft in den letzten 30 bis 40 Jahren geprägt. Es wird Zeit, dass wir uns von ihnen befreien.