Unsere Schulen
In Neukölln besuchen 29 500 Schülerinnen und Schüler 66 öffentliche und drei private Schulen. Die öffentlichen Schulen unterteilen sich in 39 Grundschulen von der 1. bis zur 6. Klassenstufe, die mit einer Durchschnittsfrequenz von 21,5 Kindern je Klasse von 14 000 Kindern besucht werden. Im Jahr 2012 wurden 2350 Kinder eingeschult.
Die 18 weiterführenden allgemeinbildenden Schulen werden von 12 000 Schülerinnen und Schülern besucht, wovon die sechs Gymnasien 5000 Jugendliche unterrichten.
Ergänzend gehen 1300 Kinder in neun Schulen mit sonderpädagogischem Schwerpunkt. Die drei Neuköllner Privatschulen versorgen 2000 Schülerinnen und Schüler. Hierbei handelt es sich um eine katholische, eine evangelische und eine privat betriebene Einrichtung, die allerdings mit 100 Schülern im Bezirk keine wesentliche Rolle spielt.
Rund 18 000 Schülerinnen und Schüler sind nicht-deutscher Herkunftssprache, also Kinder von Einwanderern. Ihr Anteil beträgt 61 % an der gesamten Schülerschaft, in Gymnasien 51 % und in den Grundschulen 66 %. Für Nord-Neukölln liegt dieser Wert, wie gesagt, bei 87 %, wobei in nicht wenigen Schulen die 90-%-Marke weit überschritten ist. Es sind im Schuljahr 2011/2012 immerhin 25 Schulen, deren Schülerschaft zu 80 % und mehr aus Einwandererkindern besteht. Ergänzend sei gesagt, dass von den rund 800 Berliner Schulen inzwischen jede dritte über einen Anteil von mehr als 40 % an Schülern nicht-deutscher Herkunftssprache verfügt.
Die Schulen sind an der Basis der stärkste Partner der Integration. Sie sind ihr bedingungsloser und konsequenter Förderer, sie sind das Bollwerk gegen Bildungsferne und der Hoffnungsträger für Kinder aus prekären Verhältnissen. Ohne die Schule und ohne das Bildungswesen mit dem Versuch, Chancengerechtigkeit herzustellen, lassen sich gesellschaftliche Barrieren nicht überwinden. Ich verbreite hier keine neue Erkenntnis, das ist seit über 150 Jahren Allgemeinwissen. Gesellschaften haben darauf unterschiedlich reagiert. Mal mehr, mal weniger erfolgreich.
Das deutsche Bildungswesen galt lange Zeit als vorbildlich. Diese Zeiten sind allerdings vorüber. Bei internationalen Vergleichsstudien dümpeln wir stets am Ende des Zuges oder schaffen es gerade mal ins untere Mittelfeld. Natürlich gibt es Beispiele, auf die Schönredner gern verweisen, und natürlich gibt es Vorzeigeschüler. Darum geht es aber nicht, sondern vielmehr um die Frage, wie unser Schulwesen mit den kompletten Jahrgängen des Nachwuchses umgeht. Werden alle mitgenommen? Wird die ganze Bandbreite der Bevölkerung erreicht oder doch nur der Teil der durch die elterliche Herkunft ohnehin schon Privilegierten, und wie viele lassen wir zurück?
Erinnern Sie sich an die ersten Pisa-Studien? Was war das für eine Aufregung! Keine Ausrede war zu flach, als dass sie nicht als Beweis dafür herhalten musste, dass die Ergebnisse für Deutschland natürlich falsch sein müssten. Inzwischen sind wir zwangsläufig etwas realistischer geworden, auch wenn der Aufprall für viele etwas hart war.
Zu einem deutlichen Kritiker unseres Bildungswesens hat sich unser Ex-Außenminister Klaus Kinkel, heute Vorsitzender der Telekom-Stiftung, entwickelt. Aus seiner Sicht sind unsere Schulen eher als ein Reparaturbetrieb zu bezeichnen. Er fordert, dass eine Top-Wirtschaftsnation konsequent mehr Geld in die Bildung investieren muss. Deutschland nimmt auf dem Technologie-Ranking nur Platz 11 in der Welt ein. Von Verbesserung könne keine Rede sein, wir müssten uns schon anstrengen, diese Position zu halten. Hier einige Sätze aus einem Interview, das die tageszeitung im November 2010 mit ihm geführt hat:
»Ich habe nicht wirklich gewusst, wie sehr wir mit unseren Schulen hinterherhinken. Ich habe in meinen acht Jahren als Stiftungschef viel dazu gelernt und bin auch erschrocken. (…)
Wir tun vor allem zu wenig für jene Schulen, in denen es wirklich brennt. Es geht nicht nur um die Hauptschulen, sondern auch um bestimmte städtische Viertel, in denen sich die Probleme der Migranten und des schwachen sozialen Hintergrundes oftmals konzentrieren. (…)
Zu spät, zu wenig, zu zögerlich. Mit 1000 Bildungslotsen beheben wir nicht das strukturelle Problem, das wir haben. Wir müssen zuerst das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern aufheben, damit wir gemeinsam an der Zukunft arbeiten können.«
Klaus Kinkel bemängelt in einem weiteren Zitat auch die frühkindliche Bildung in unserem Land: »Wir verlieren zu viele Jugendliche, weil wir in der frühkindlichen Bildung zu spät und zum Teil auch falsch mit den Kindern lernen.«
Klaus Wowereit unterstreicht in seinem Buch die Aussagen des früheren Außenministers. Er wird an dieser Stelle auch ganz konkret, indem er sagt, dass die Bildungseinrichtungen in »Stadtteilen mit besonderem Handlungsbedarf«, wie er die sozialen Brennpunkte nett zu verpacken pflegt, einer besonderen Ausstattung bedürfen. Materiell wie personell. Nahtlos schließt sich seine Ankündigung aus dem Jahre 2009 an, künftig sollten »bis zur 4. Klasse alle Bildungsdefizite der Schüler behoben sein«. Es gelte, »sich vor allem auf die ersten Bildungsjahre zu konzentrieren«. Er hat völlig recht, und ich hoffe, dass der Masterplan für dieses Programm bald fertig ist und der Senat dann durchstarten kann.
Der Ihnen bereits bekannte Stadtsoziologe Prof. Dr. Häussermann brachte es 2010 auf die markante Formel: »Heterogene Schülerschaft entscheidet über den Lernerfolg der Kinder. Im Moment erleben wir meiner Meinung nach eine regelrechte Bildungskatastrophe. Statt beispielsweise für eine gute Mischung zu sorgen, sind bildungsbewusste Eltern gerade dabei, sich mehr und mehr abzusondern.«
Die Bandbreite, mit der die Fachwelt diese Fragen seit Jahren diskutiert, streitig diskutiert, kann kaum größer sein. Ja, es stimmt, viele Eltern in Neukölln nehmen Reißaus, wenn ihre Kinder in das Einschulungsalter kommen. Eigentlich fühlen sie sich im Kiez wohl, aber bei der Schulausbildung hört der Spaß auf. Die Kindergartenzeit kann man ja noch mit einer weltsolidarischen Elterninitiativkindertagesstätte überbrücken, die die Beiträge so gestaltet, dass ungewollter Zulauf ausbleibt. Bei der Einschulung der Kinder allerdings heißt es dann: »Mit dem eigenen Kind experimentiert man nicht.« Oder: »Mein Kind ist kein Integrations-Pionier.« So sind die Sprüche zur Selbstrechtfertigung. Gern auch der taz-Abonnenten. Kennen wir von früher. Links reden – rechts leben.
Das Kind soll nicht in einer Klasse mit verlangsamtem Fortschritt den Anschluss an ein normales Lernniveau verlieren. Deswegen tricksen sie mit Scheinadressen, mit dem Wohnsitz der Oma oder einem angeblichen Umzug. Natürlich wird die billige Gründerzeitwohnung in Nord-Neukölln nicht wirklich aufgegeben. Eine beinahe schon als professionell zu bezeichnende Aktion für die Schulflucht hat uns eine in einem überschaubaren Umkreis lebende Gruppe junger kreativer Eltern mit leichter Antipathie zum Spätkapitalismus vorgemacht. Man kauft sich gemeinsam einen VW-Bus und verpflichtet eine sich bereits im Rentenalter befindende Taxifahrerin. Diese fährt die lieben Kleinen täglich in die Wunschschule im Süden des Bezirks, in der man sich kollektiv angemeldet hat. Ansonsten ist Neukölln aber super, bunt, international und cool. Ein solcher Einfallsreichtum ist aber nicht die Regel, in den meisten Fällen reagieren die Eltern tatsächlich konsequent mit dem Fortzug. Das hört sich leidenschaftslos an, man liest über die zwei Zeilen auch flink hinweg. Für das Gemeinwesen ist diese Form der Segregation eine Katastrophe.
Aber die Situation ist so, wie sie ist. In einem Neuköllner Gymnasium ist im Jahre 2012 kein einziges Kind deutscher Herkunft für den Übergang aus der Grundschule in die 7. Klassen der Mittelstufe angemeldet worden. In einer 8. Klasse des Gymnasiums wurde der einzige deutsche Schüler solange drangsaliert und weggemobbt, bis seine Eltern ihn von der Schule nahmen. Diese Vorgänge führten dazu, dass seitens der Schulaufsicht die beachtliche Feststellung getätigt wurde: »Wir müssen uns langsam Gedanken machen, wie wir die deutschen Schüler schützen.«
Lesen Sie auch die beiden folgenden Elternbriefe. Sie sind echt und nicht für das Buch bestellt. Und einsame Ausreißer sind sie auch nicht.
Der erste Brief stammt von einem Vater:
»Ich war als Elternvertreter der XXX-Grundschule und des XXX-Gymnasiums tätig.
Der Kontakt zu den Eltern türkischstämmiger, aber auch der zu den Eltern von Kindern aus dem Balkan ist so gut wie unmöglich. Sie erscheinen nicht auf Elternversammlungen, beteiligen sich nicht an klasseninternen Projekten und lassen ihre Kinder nur schwer Kontakte zu deutschen Kindern aufbauen. Diese Erfahrungen hat unser Jüngster in seiner Kita gemacht. Unser Ältester ist in der XXX-Schule, und diese Erfahrungen macht der Mittlere momentan in der XXX-Schule in Schöneberg als einer der letzten drei deutschen Jungs in der Klasse. Die Gründe hierfür sind vielfältig und sollen nicht Thema sein. Aber ich möchte feststellen, dass dies fast ausschließlich Eltern aus bildungsfernen Schichten sind. Sie haben nicht mal eine Vorstellung davon, dass sie durch Förderung ihrer Kinder diesen eine Chance zu gesellschaftlichem Aufstieg geben können, da sie selbst noch, und das ist teilweise in der dritten Generation, in ihren alten Strukturen leben.
Überwiegend, so habe ich aus der Schule erfahren, sind es die Mädchen, die sich ihrer Chance bewusst sind und mit viel Ehrgeiz und Lernbereitschaft nach den Sternen greifen. So hatte das Mädchen, das vor einigen Jahren von einer Tätergemeinschaft aus Brüdern, Vater und Großvater ermordet wurde, an meinem Gymnasium Abitur gemacht. Auch Klassenfahrten, die der Integration förderlich sind, werden durch Mehrheiten von ndH-Eltern blockiert, wie wir es immer wieder in den Schulen erfahren haben und in der unseres Mittleren jetzt erfahren. Wir sind kurz davor, ihn aus der Schule zu nehmen. Allah sei Dank, haben wir doch für unseren Jüngsten außerhalb von Schöneberg mit der XXX-Schule eine gefunden, wo wir nicht mit einem Ausspucker und ndH-Rotten empfangen werden. (…)
Mit Freiwilligkeit geht hier gar nichts mehr, eine Integration muss auf gesetzlicher Ebene erzwungen werden. Fundamentale Voraussetzungen wie das Erlernen der deutschen Sprache müssen zur Pflicht werden, für Eltern und Kinder, die Vergabe unterstützender Mittel muss an die Integrationsbereitschaft gebunden werden. Höchstgrenzen für den Anteil an ndH-Kindern an Schulen müssen gesetzlich verankert werden. Die Leitung einer Schule muss die Möglichkeit haben, nach integrativen und pädagogischen Kriterien eine Höchstgrenze festzusetzen.«
Aber auch Mütter machen sich ihre Gedanken:
»Sehr geehrter Herr Rektor,
vor einem Jahr haben wir unseren Sohn an Ihrer Schule angemeldet, und er wurde abgelehnt. Wir dachten lange, dass wir wohl umziehen müssten, aber nachdem wir dann auch die Absage der anderen Schule bekamen, war es im Grunde schon zu spät, und aus einem Mix aus Sturheit (wir wollen aber hierbleiben und laufen doch davon, vor etwas, das wir gar nicht kennen) und Neugierde (das wird doch mal ein Abenteuer) haben wir also beschlossen, unseren Sohn in der XXX-Schule anzumelden.
Die Schule erschien uns von denen, die wir zu Fuß bequem erreichen können, die attraktivste, da sie einen Blog hat, in dem sie ihre Lage und Probleme zu thematisieren schien, was für uns wichtig war, da sie schon seit ein paar Jahren eine Ganztagsschule ist und da wir wirklich nicht in die andere XXX-Schule wollten. Wir konnten im Unterricht hospitieren, waren begeistert von der Lehrerin und von der Art, wie sie JüL (Anm. d. Verf.: jahrgangsübergreifendes Lernen) in ihrer Klasse umsetzt. Also haben wir uns für die Schule entschieden.
Warum schreibe ich Ihnen das? In meinem Kopf hatte sich ein Satz festgesetzt, den Sie am Tag der offenen Tür in Ihrer Schule letztes Jahr sagten: Sie könnten uns beruhigen, die Schulen der Umgebung seien alle gut und unsere Kinder dort sehr gut aufgehoben. Das habe ich Ihnen geglaubt, und ich wollte es Ihnen auch glauben.
Seit sechs Wochen nun geht mein Sohn in diese Schule, und ich glaube, es könnte auch jede andere in der Gegend sein. Es gibt viele engagierte Lehrerinnen dort, und mein Sohn hat ohne Zweifel eine so wunderbare Lehrerin und ein so schön eingerichtetes Klassenzimmer, dass selbst ich am liebsten dort jeden Morgen zum Lernen bliebe. So weit so perfekte äußere Bedingungen. Ich versuche dennoch jeden Morgen auf dem Schulweg, wenn wir die vielen Kinder treffen, die aus allen Richtungen in ihre Schule laufen oder von den Eltern gebracht werden, die Bitterkeit runterzuschlucken, die ich dabei empfinde, dass mein Sohn nicht die Chance bekommen hat, mit wenigstens ein paar Kindern zusammen zu lernen, die in seiner Welt aufwachsen. Wir lassen ihn jeden Morgen sehenden Auges in eine Umgebung laufen, die ihm völlig fremd ist, wo niemand auch nur annähernd so ist wie er, wo alle Kinder ungewöhnliche Namen haben und er als eher dunkelblondes Kind schon als ›Der Junge mit den weißen Haaren‹ bezeichnet wurde. Mein Sohn sagt jetzt bereits immer öfter ›Isch‹ – nur als Zeichen dafür, wie schnell man eine Sprache lernen kann, leider falsch herum.
Ich glaube eigentlich sehr an die Integrationskraft von Kindern, die über viele Unterschiede ja leicht hinwegsehen können. Aber wenn die Schnittmenge der Lebenswelten so gering ist, wird es doch schwerer, als ich es selbst gedacht hätte. Zum Beispiel wollten wir unseren Sohn wenigstens in den Religionsunterricht schicken, aber den bieten die Kirchen in der Schule natürlich nicht an. Für wen auch?«
So weit der Auszug des Briefs einer Mutter. Sie hat übrigens danach eine Elterninitiative gegründet, die mit Flugblättern im Wohngebiet dafür wirbt, dass bildungsorientierte Eltern ihre Kinder nicht woanders anmelden, sondern sich zusammenschließen und ein anderes Klima in die Schule hineintragen. All diese Dinge habe ich täglich im Kopf, wenn ich an den Satz unserer Kanzlerin denke: »Wir müssen die Bildungsrepublik Deutschlands werden. Das ist es, was unsere Zukunft für die nächsten Jahrzehnte sichert.«
Recht hat sie mit dieser Aussage. Die Realität allerdings ist, dass ein Fünftel bis ein Viertel der Schülerinnen und Schüler in Deutschland die Schule lebensuntüchtig verlassen. Das ist die Ursache dafür, dass so viele junge Menschen, insbesondere Kinder der Einwanderer, es nicht zu einem Ausbildungsplatz und auch nicht zu einem Berufsabschluss bringen. Insgesamt beträgt der Anteil der Ungelernten bei den 20- bis 30-Jährigen 15 %. Davon sind knapp 50 % Frauen. Bei denjenigen mit Migrationshintergrund in dieser Altersgruppe liegt der Wert bei 30 %.
Aber zurück zu unseren Schulen in Neukölln. Auch an einer anderen Stelle kann man die Herausforderung des Alltags ablesen. Die Grundschulempfehlung zum Wechsel auf das Gymnasium erhalten in gutbürgerlichen Bezirken regelmäßig so um die 50 % der Schülerinnen und Schüler. In Neukölln erreichen keine 30 % der Kinder diese von ihren Eltern so begehrte Einstufung. Unsere Grundschulen schaffen es eben in der Masse selbst in sechs Jahren des gemeinsamen Lernens nicht, alle Handicaps, die die Kinder von zu Hause mitbringen, auszugleichen. Unsere Lehrerinnen und Lehrer sind halt keine Zauberer.
Lassen Sie mich an dieser Stelle verdeutlichen, warum die Rahmenbedingungen eine so große Rolle spielen. Die Leiterin einer Schule in Nord-Neukölln berichtet, dass sie trotz Ganztagsbetrieb nur bei jedem vierten Kind zu einer Gymnasialempfehlung kommt. Eine Grundschule im Süden mit einem relativ geringen Anteil von 30 % Einwandererkindern und großzügigstem Geländezuschnitt mit eigenem Schulzoo bringt es hingegen auf 63 % zum Gymnasium empfohlene Schülerinnen und Schüler. Veränderte Lernbedingungen durch eine andere Schülerzusammensetzung, räumliche Verhältnisse und der Umgang mit Tieren führen zu einem anderen Schulklima und damit zu einer stärkeren Wissensaufnahme durch die Kinder. Selbstverständlich gibt es auch in den Elternhäusern dieser Schule Auffälligkeiten. Sie schlagen nur nicht mehr 1:1 durch, haben also nicht die üblichen fatalen Folgen. So entstehen schon innerhalb des Bezirkes unterschiedliche Schulmilieus. Es gibt durchaus mehrere Grundschulen, von denen über 50 % der Kinder dem Gymnasium empfohlen werden. Allerdings ist die Zahl der Grundschulen größer, bei denen nur ungefähr 20 % der Schüler diese Empfehlung erhalten.
Auch als Laie nehme ich die Diskrepanz im Entwicklungsstand der Kinder leicht wahr. Mich besuchen häufig Schulklassen im Rathaus. Sie wollen mit mir reden, mich zu ihren Problemen befragen und schauen, wie ein Bürgermeister so regiert. Sitzt er auf einem Thron und hat er eine Krone auf? Die zwar goldfarbene, aber doch preußisch schlichte Amtskette ist dann eher eine Enttäuschung.
Bei diesen Begegnungen wird sehr schnell deutlich, ob eine völlig normale Kommunikation mit den Kindern möglich ist oder ob sie nur in Einfach-Sprache gelingt, weil die Kinder über den erforderlichen Wortschatz nicht verfügen. Ob sie den Begriff »Flaschenöffner« für das Teil kennen, mit dem sie an ihre Brause kommen, was ein Kronkorken ist, wer ein eigenes Handy und einen eigenen Computer hat oder Sport in einem Verein betreibt. Ob sie zuhören, andere ausreden lassen, stillsitzen und sich konzentrieren können oder Zappelphilippe sind, wird in Minutenschnelle offenkundig. Es sind Kinder aus wirklich verschiedenen Welten, die mich besuchen. Diese Welten entscheiden über ihr weiteres Leben. So etwas darf es eigentlich nicht mehr geben.
Der Rektor einer Grundschule in schwerer See – also in einem »Gebiet mit Ausgrenzungstendenz«, wie Soziologen sagen würden – schrieb mir, dass seine Schüler bis etwa zur 2. Klasse mit ihren eigenen Kompetenzen im Schulalltag gut klarkommen. Ab der 3. Klasse benötigen sie Förderung und Motivationsschübe von außen. Erhalten sie diese Impulse nicht, beginnen sie, sich zurückzuziehen, weil sie nicht mehr mitkommen. Die Leistungen verschlechtern sich rapide, und es stellt sich Schulangst und Schulunlust ein. 20 % bis 30 % der Schüler kommen zwar noch täglich zur Schule, nehmen aber am Unterricht nicht mehr aktiv teil. Bereits zu diesem Zeitpunkt sind bis zu 10 % »schuldistanzgefährdet«, also auf dem Weg zum Schulschwänzer, teilte er mir mit. Von den Eltern komme keine Hilfe. Sie besitzen selbst keine Schulbildung, sind zum Teil sogar Analphabeten, oder es ist ihnen einfach nicht wichtig. Die Kinder werden oft sogar aktiv daran gehindert, rechtzeitig Deutsch zu lernen, und so ist es keine Seltenheit, dass in Berlin geborene Kinder bei der Einschulung kein Wort Deutsch beherrschen. Die Eltern sind nach Einschätzung des Rektors völlig überfordert und belasten ihre Kinder mit ihren Problemen. Konflikte in den Familien werden mit Gewalt gelöst, und den Kindern wird durch die Eltern immer wieder nahegebracht, dass Schule nicht wichtig sei. Auf die Frage, was Abhilfe schaffen könnte, antwortete er: »Wir müssen die Kinder individuell analysieren und versuchen, Verhaltensänderungen in den Familien zu erreichen.« Das gehe nur mit zusätzlichem Personal, weiteren Professionen wie Sozialarbeitern und Erziehungsberatern. »Die Schule allein schafft es nicht«, meinte er.
Ich mache hin und wieder eine kleine Tournee, wie ich es nenne. Ich besuche in einem kurzen Zeitraum verschiedene Grundschulen des Bezirks, immer die gleiche Klassenstufe, immer im selben Lehrfach. Ich beginne im Norden mit einer ganz normalen Schule. Also einer, die am frühen Nachmittag um halb zwei Schluss macht. Über eine gebundene Ganztagsschule ebenfalls im Norden lande ich wieder in einer »Mittags-Schluss-Schule« im Süden. In letzterer ist der Anteil der bildungsorientierten Eltern höher bis sehr hoch. Ich empfehle jedem, der sich für diese Materie interessiert, ein solches Experiment. Es ist ungemein lehrreich. Doch Vorsicht: Es ist ebenso romantikfeindlich. Wer einmal durch verschiedene Schulwelten unterschiedlicher sozialer Milieus gewandert ist, der wird aufhören davon zu fabulieren, es herrsche Chancengerechtigkeit oder die Kinder hätten auch nur annähernd gleiche Voraussetzungen.
Meist gehe ich in die 3. Klassen. Da sind die Kinder auch Fremden noch freundlich zugewandt, nett und nahezu lernwütig. Man könnte sie alle in den Arm nehmen. Egal, welchen Vornamen sie tragen. Aber sie sind eben nicht gleich lernfähig. Der Lehrstoff muss mühsamst immer wieder mit einfachen Worten an sie herangetragen werden, weil sie die Aufgaben oder die Geschichten wegen ihres sehr geringen Sprachstands überhaupt nicht verstehen. Ihnen fehlt der nötige Wortschatz, viele Begriffe haben sie noch nie gehört, können sie nicht deuten und damit keine Inhalte verknüpfen. Sie wissen nicht, was ein Springbrunnen ist, ein Kapitän oder eine Etage. »Finstere Gestalten« muss man ihnen erklären. Oft ist die 3. Klasse fast ein ganzes Jahr zurück. Die Lesekompetenz entspricht der einer 1. Klasse mit Kindern aus bildungsorientierten Schichten. Lesen lernt man nur durch Lesen. Aber zu Hause übt niemand mit den Kindern. Im Schrank steht oft kein Buch. Wozu auch?
Die Schülerinnen und Schüler aus einem fast identischen Wohngebiet, die aber eine Ganztagsschule besuchen, sind bereits weiter. Natürlich bestehen die gleichen Probleme mit dem fehlenden Wortschatz und den mangelnden sozialen Kompetenzen. Aber die Kinder verfügen über mehr Sicherheit, und sie wirken irgendwie selbstbewusster. Der Unterricht macht einen deutlich strukturierteren Eindruck, und die Übungsarbeitsschritte funktionieren reibungsloser. Das hat nichts mit der Lehrkraft zu tun. Und auch nichts mit den Kindern an sich, denn an Begeisterungsfähigkeit, an Liebesbedürftigkeit und Lernhunger unterscheiden sie sich von denen der ersten Schule nicht. Es ist der angehängte Nachmittag, der den Unterschied ausmacht, dieses »spielend Lernen«. Die Vertiefung des Stoffes nebenbei oder auch nur die längere Zeit der Gemeinsamkeit mit anderen Kindern oder die Aktivitäten unter Anleitung. Vielleicht ist es aber auch viel profaner: Sie sind einfach länger weg vom Fernseher.
Welche Erklärung auch immer die richtige ist: Fest steht, Kinder aus identischen Lebensverhältnissen lernen an einer Ganztagsschule effektiver als Kinder in einer Schule mit traditionellem Betrieb bis 13.30 Uhr.
Den Kulturschock gibt es immer an der dritten Station. Die Kinder der gleichen Altersstufe sind in den Fächern deutlich weiter als die der beiden anderen Schulen. Sie lesen flüssiger, sie reden differenzierter, sie sind kreativer, selbstbewusster und beherrschen den Wechsel zwischen abstrakter und realer Ebene. Ein Unterschied wie Tag und Nacht. Das liegt nicht an schlechteren oder besseren Lehrern. In allen drei Schulen wird engagiert gearbeitet. Es liegt einfach am Elternhaus. In dem einen werden die Kinder inspiriert, sie erhalten Impulse, die Eltern kümmern sich um sie, hören ihnen zu und versuchen, an ihrer kindlichen Welt teilzuhaben. Sie führen die Kinder auch, sie kontrollieren die Schulleistungen, und sie üben, üben, üben. In den anderen Familien geschehen diese Dinge vielfach nicht. Mädchen müssen Hausarbeit verrichten. Die Hausaufgaben machen sie auf dem Boden liegend, weil sie keinen Schreibtisch haben. Die Jungen chatten, hocken vor dem Fernseher oder machen das Einkaufszentrum unsicher. Hauptsache, sie stören nicht. So sieht es aus, das Gefälle innerhalb Neuköllns. Und wie immer gilt das Gesetz der Bandbreite. Nicht alle im Süden sind bildungsorientiert und nicht alle im Norden bildungsfern.
Wenn ich einmal wieder eine Besuchstour durch die Schulen hinter mich gebracht habe, bin ich für eine Weile zu nichts zu gebrauchen. Ich habe dann Zorn im Bauch. Ich sehe diese unschuldigen Kinder, die auf der Suche nach ihrem Weg im Leben und auch bereit und willens sind, auf ihm voranzukommen, und die doch fast keine Chance haben. Ich stehe vor 9-Jährigen, die es mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht schaffen werden. Das kann einen nicht kalt lassen. Und es lässt mich auch nicht kalt. Ja, die Hauptverantwortung dafür tragen die Eltern. Aber wir als Gesellschaft sind auch nicht ganz unbeteiligt an dem Desaster. Es mag objektiv so sein, dass viele Eltern überhaupt nicht in der Lage sind, ihren Kindern den Weg ins Leben zu ebnen und sie zu begleiten. Aber es ist auch so, dass sich ganz viele gar nicht darum bemühen. Das ist eine schmerzhafte Wahrheit für Gutmenschen. Es sind eben nicht alle Menschen edel, verantwortungsbewusst und engagiert. Es gibt auch Vollpfosten. Und auch die in unterschiedlicher Farbe. Wegschauen und schwadronieren statt zu intervenieren ist wie das Händewaschen von Pontius Pilatus.
Wenn ich mich in den Schulen erkundige, wie stark angebotene Hilfe von Eltern angenommen wird, wie stark das Elternzentrum nachgefragt ist und wie die angebotenen Kurse ausgelastet werden, ernte ich nicht selten resignierende Blicke. Unter den Eltern ist eine gewisse Trägheit weit verbreitet, und sie ist bequem: Ich habe mein Kind in der Schule abgegeben, und die trägt jetzt die Verantwortung dafür, dass aus ihm etwas wird, dass das Kind alles lernt, was es lernen muss, um Doktor, Ingenieur oder Anwalt zu werden.
Eine andere Variante meiner regelmäßigen Schulbesuche sind Elternversammlungen. Um die Eltern gewissermaßen nach dem Prinzip »Mit Speck fängt man Mäuse« in die Schule zu locken, habe ich gemeinsam mit dem türkischen Generalkonsul Elternversammlungen besucht. Zwei Konsuln haben mit mir schon eine Rundreise durch Neuköllner Schulen gemacht. Der Hintergedanke war: Wenn der Generalkonsul kommt, haben viele etwas mit ihm auf völlig anderer Ebene zu regeln, die Gelegenheit ist günstig, ich gehe da einmal hin. Wenn der Bürgermeister kommt, gibt es vielleicht auch etwas mit ihm zu bereden über die Einbürgerung, über den Lärm im Nachbarhaus oder ähnliches. Also dachten wir uns, eine Elternversammlung, zu der wir einladen, müsste eigentlich erfolgreicher sein als die üblichen.
Tja, Pustekuchen. Bis auf ganz wenige Ausnahmen war das Resultat genauso niederschmetternd wie bei jeder Routineeinladung: Bei Schulen mit Schülerzahlen zwischen 450 und 650 saßen 25 bis 40 Personen im Raum. Die Atmosphäre war, von Ausnahmen abgesehen, stets zurückhaltend bis aggressiv und nicht sehr zugewandt. Die Eltern ergingen sich in endlosen Vorwürfen, wie schlecht die Lehrer und die Schule seien, die Kinder würden nichts lernen, und überhaupt sei vieles ausländerfeindlich. Die Schule bringe den Kindern kein Türkisch bei, und die Krönung war dann manchmal noch, dass die Eltern unterschiedlicher Ethnien sich gegenseitig beschimpften. Ich musste bei mehreren Elternabenden wirklich stark an meiner Zurückhaltung arbeiten, weil die Vorwürfe so absurd und teilweise so unverschämt waren, dass sie eigentlich einer sehr deutlichen Abfuhr bedurft hätten. Ich habe letztlich nicht zur Eskalation beigetragen, weil es keinen Zweck gehabt hätte. Nur in zwei Fällen wurde meine Höflichkeit zu stark auf die Probe gestellt.
Nachdem der türkische Generalkonsul und ich mehrfach auf die Bedeutung der deutschen Sprache hingewiesen hatten, wollten die nachdrücklich vorgetragenen Forderungen nach Türkischunterricht für die Kinder nicht enden. Eine Mutter beschwerte sich, dass sich ihr Sohn im Urlaub in der Türkei nicht mit anderen Kindern auf Türkisch habe verständigen können. Daran könne man die schlechte Qualität der Schule erkennen. Ich habe daraufhin in extrem leicht verständlichen Formulierungen die Position vertreten, dass es Aufgabe einer deutschen Schule in Neukölln sei, den Kindern die deutsche Sprache beizubringen, um sie auf ein Leben in Deutschland vorzubereiten. Wenn sie als Mutter das Kind auf ein Leben in der Türkei vorbereiten wolle, sei das ihr Job, bei dem sie bisher nach ihren eigenen Aussagen aber nicht sehr erfolgreich gewesen sei.
In einer anderen Schule habe ich mir mehrere Redebeiträge zum selben Thema anhören dürfen: dass Deutschland die Menschen aus dem Ausland holt, sie auspresst und dann noch nicht einmal dafür sorgt, dass die Kinder etwas lernen. Diese Weltsicht ermunterte mich zu Hinweisen, welche Anstrengungen andere Menschen unternehmen, um in das als so schrecklich dargestellte Land zu kommen, und welche Leistungen unsere Gesellschaft für jeden Menschen im Land für ein Leben in Würde und frei von Angst vor existentieller Verelendung bereithält. Mit großer Wahrscheinlichkeit sind diese Leistungen höher als jede Form des Gelderwerbs im Herkunftsland. Allerdings würde ich niemanden daran hindern wollen, die Probe aufs Exempel zu machen.
Ich habe diese Form der Elternabende inzwischen eingestellt. Irgendwann muss man einsehen und begreifen, dass Zwangsbeglückung ein ganz schlechter Kampagnenansatz ist. Auch wenn’s schwer fällt.
Die zunehmende Islamisierung mit immer stärkeren fundamentalistischen Tendenzen macht auch vor unseren Schulen nicht halt. Es gehört inzwischen zum Alltag der Lehrer, sich mit Eltern über ihre Religionsvorstellungen auseinanderzusetzen. Da gibt es sehr konfliktbereite Kollegien, die nicht bereit sind, zu weichen. Das sind die mit der Haltung: Wir machen hier Schule und nicht Religion. Das schafft natürlich Konfliktpotential mit überreligiösen Eltern. Und diese inszenieren manchmal auch demonstrativ diese Konflikte, um sich lautstark in Szene zu setzen. Insofern fand ich die Idee nicht schlecht, in Berlin zum Themenkreis »Islam und Schule« eine Handreichung für Lehrerinnen und Lehrer herauszugeben. Man kann sich natürlich fragen, warum es keine Handreichung »Katholizismus und Schule«, »Protestantentum und Schule«, »Hinduismus und Schule« und so weiter gibt, aber das Thema der aggressiven Egozentrik des Islam hatten wir ja schon.
Seit einiger Zeit gibt es nun eine solche Broschüre. Ich finde, sie ist misslungen. Sie erklärt bestimmte Besonderheiten des islamischen Glaubens, bleibt aber im Ganzen eine klare Position schuldig. Es ist eine Schrift, die in wohlgesetzten Worten Rezepte dafür ausstellt, wie man ohne Gesichtsverlust zurückweicht und das Feld räumt. Beispiele hierfür sind die Feststellung, dass der Ramadan natürlich keinen Einfluss auf das Schreiben von Leistungstests haben dürfe, man aber den Leistungstest so legen könne, dass er nicht in den Zeitraum des Ramadan fällt. Selbstverständlich legen wir nach wie vor Wert auf Sportunterricht für Mädchen, aber bitte, während dieser Zeit darf der Hausmeister die Turnhalle nicht betreten. Bei der Frage des Nahost-Konfliktes sollten sich Lehrer nicht zu sehr aus dem Fenster lehnen, und bei der Diskussion um Gleichberechtigung empfehle es sich, Schüler »aus eher traditionell eingestellten Elternhäusern« nicht moralisch zu überwältigen. Auch sollten wir bei der Frage des Duschens oder des Schwimmens nicht zu rigide sein. Im Sexualkundeunterricht möge man auf naturalistische Darstellungen verzichten und stilisierte Graphiken verwenden. Es hätte nur noch gefehlt, dass das beliebte Beispiel mit den Bienen vorgeschlagen worden wäre. Insbesondere hierüber empörte sich eine Schulleiterin: »Diese Broschüre ist mit unseren gesellschaftlichen Werten nicht vereinbar. Wir fühlen uns der Aufklärung und Emanzipation verpflichtet. Es ist doch wichtig, dass Kinder aufgeklärt sind und über ihren Körper gut Bescheid wissen (hoffentlich so gut wie über die Bienen). Dazu brauchen sie realistische Bilder. Wenn ein kleines arabisches Mädchen beim Wickeln ihres kleinen Bruders nicht dabei sein darf, finde ich das unglaublich. Wir wissen auch, wie wichtig Aufklärung in Bezug auf sexuellen Missbrauch ist. Es kann doch nicht sein, dass Kinder nicht wissen dürfen, wie erwachsene Menschen nackt aussehen, aber heimlich in ihren Kinderzimmern Pornos im Fernseher anschauen.« Eine andere Schulleiterin sagte mir, als ich sie zu ihrer Meinung nach dieser Broschüre fragte, kurz und zackig: »So wie die Dinger gekommen sind, habe ich sie genommen und in den Müll geworfen.«
Ich will mich in den Schulalltag überhaupt nicht einmischen. Das ist nicht meine Baustelle. Aber ich akzeptiere nicht, dass hinterweltlerische, vordemokratische Denkstrukturen all jene Dinge in Frage stellen und sogar über sie obsiegen, die sich unsere Gesellschaft in über 100 Jahren auf dem Weg zur Modernität und zur Liberalität erarbeitet hat. Ich persönlich bin nicht bereit, mich diesem Quatsch zu beugen, dass das Anschauen eines anderen Menschen unzüchtig ist, eine Berührung an den Händen unrein macht und dass ein gottgefälliges Leben von der Verbreitung des Glaubens mit Blut und Tränen abhängt.
Natürlich habe ich mir auch zum Bereich der Schulen zwei Kronzeuginnen an meine Seite geholt. Beide leiten Grundschulen in abgegrenzten Wohnsiedlungen, beides gestandene Persönlichkeiten, die durchaus der Meinung sind, dass in ihrer Schule das geschieht, was sie sagen. Nicht das, was die Väter sagen, und nicht das, was der benachbarte Imam sagt.
Die eine führt ihre Schule seit 1992 und erinnert gern daran, dass der Anteil der Einwandererkinder einmal 23 % betrug und alle Eltern einer Erwerbstätigkeit nachgingen. Heute beträgt der Anteil der Einwandererkinder 83 % bei fast deckungsgleichem Anteil der Familien im Hartz-IV-Bezug.
Die Entwicklung in ihrem Einzugsgebiet hält sie für eine Folge der Heiratspolitik der Familien. Das Einfliegen von Importbräuten für die jungen Männer greift seit längerem um sich, und bei den jungen Frauen ist es zu 90 % der Cousin aus der Heimat, der urplötzlich die Liebe im Herzen entzündet hat. Die allermeisten ihrer Schüler kommen aus arabischen Familien, und die Mehrheit holt die Ehepartner jeweils neu ins Land. Zu diesem Themenkreis gehört aus Sicht dieser Schulleiterin auch die zunehmende Zahl der Konvertierten. Meist ungelernte, junge deutsche Mädchen, die ihren »Omar Sharif für Arme« gefunden haben. Allein an ihrer Schule sind 25 Mütter Konvertitinnen. Und 25 % der Schüler jedes Abschlussjahrgangs erhalten an ihrer Schule eine Gymnasialempfehlung mit der Note 2,2 oder besser. Das sind fast ausschließlich Kinder von den Eltern, die noch berufstätig sind. Dieselben, die sich an der Schulkonferenz beteiligen oder Elternsprecher sind.
Ihre Schule liegt im Einzugsbereich der Al-Nur-Moschee, eines der beiden Salafiten-Zentren in Berlin. Daher rührt auch der ständige Nachzug von arabischen Familien in dieses Gebiet. Sie sagt: »Diese Familien leben in großen Gebinden, in Clans.« Die türkischen Familien leben dagegen fast wie die Deutschen. Ihre Kinderzahl ist europäisiert, und sie sind Einzelfamilien. In der Schule bekommen die Kinder das zu essen, was ihnen schmeckt. Niemand muss Schweinefleisch essen, aber es werden auch Gerichte mit Schweinefleisch angeboten, weil es Schüler gibt, die diese Gerichte essen wollen. Obst und Gemüse gibt es immer umsonst, und belegte Brötchen sind für 30 Cent zu haben.
Die Mitarbeit der Eltern in der Schule lässt sehr zu wünschen übrig. Bei den Vätern ist diese Erlebniswelt völlig unterbelichtet. Bleibt der Schulerfolg aus oder gibt es Unregelmäßigkeiten, so ist die Schule natürlich schuld, der Lehrer faul, die Lehrerin dumm. Gewalt erlebt sie weniger an ihrer Schule. Es ist mehr die emotionale Verwahrlosung der Kinder, die sie stört. Es ist auch anders als früher, sagt sie. »Da haben die Kinder noch von zu Hause erzählt. Heute tun sie das gar nicht mehr. Sie sind darauf gedrillt, ja nichts von daheim zu offenbaren.«
Das große Thema der Schulversäumnisse, des Schwänzens, und das Problem, dass immer wieder Kinder vor Ferienbeginn in die Heimat fliegen und erst einige Tage nach Ferienende wieder in die Schule kommen, weil die Flugtickets dann billiger sind, überspringt sie mit flotten Sätzen. Alles hat sich eingeschliffen. Die Familien sind professionalisiert, sie haben ihre Ärzte, die alles Erforderliche bestätigen. Die Krankenkassen, das Schulamt und das Jugendamt sind nicht in der Lage, Sachverhalte zu ermitteln oder Dingen wirklich auf den Grund zu gehen. In einem eindeutigen Betrugsfall mit einem vom Arzt falsch ausgestellten Attest unter Missbrauch der Krankenversicherungskarte hat sie sich einmal an die AOK gewandt. Die Antwort: »Das interessiert uns nicht. Wenn die Ärzte zu viel abrechnen, schaden sie sich nur selbst. Wir zahlen eine Pauschale. Die Aufteilung machen die Ärzte untereinander.« Ich weiß nicht, ob das so stimmt. Aber wenn dem so ist, dann wundert mich auch der bekannte »flexible« Einsatz der Krankenkassenkarte nicht mehr. Kannst du ruhig machen, passiert nix, ist zum System geworden. Die Rektorin wäre für die Nürnberger Gangart: In den letzten zehn Tagen vor den großen Ferien kontrolliert die Polizei auf dem Flughafen alle Familien mit schulpflichtigen Kindern darauf, ob sie eine Schulbefreiung vorweisen können. In Neukölln würden solche Schulversäumnisse noch im Rahmen des Möglichen geahndet. In anderen Bezirken geschieht ihrer Kenntnis nach gar nichts mehr.
An dieser Stelle passt der Hinweis, dass mich zu Beginn der Sommerferien 2012 ein Hilferuf eines Neuköllner Gymnasiums erreichte: Man wisse nicht mehr, wie man die eigenmächtige Verlängerung der Heimataufenthalte über die Ferienzeit hinaus abstellen könne. Ohne von der Kollegin aus der Grundschule zu wissen, regte die Schulleitung ebenfalls Kontrollen schulpflichtiger Kinder an den Flughäfen an. Apropos, beim Thema große Ferien fallen mir noch die im Jobcenter zu dieser Zeit immer sprunghaft ansteigenden Anträge ein, mit der zum Zwecke der Fahrt in die Heimat die Genehmigung für – wie es im Behördendeutsch so schön heißt – Ortsabwesenheit beantragt wird. Schenkt man den Begründungen Glauben, warum man sich momentan leider nicht dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen könne, sondern ein längerer Aufenthalt im Heimatland unbedingt erforderlich sei, so stehen wir jedes Jahr vor dem Phänomen, dass Vater, Mutter, Onkel, Tante oder andere nahe Verwandte gerade in den Sommerferien epidemieartig schwer erkranken. Doch zurück zu unserer Grundschulrektorin.
Auf die Frage, wie groß ihrer Einschätzung nach der Anteil der Familien ist, die sie als ihre Sorgenkinder bezeichnen würde, sagt sie 30 %. Die Hardcore-Fälle sind fünf bis sieben pro Klasse. An denen kann man sich trefflich abarbeiten. Es beginnt damit, dass mehr als die Hälfte aller Eltern morgens im Bett liegt, wenn die Kinder zur Schule müssen. Der Fernseher hatte abends halt zu lange Besitz von ihnen ergriffen. Für die Kinder gilt das manchmal gleich mit. Das merkt man daran, dass sie um 11:00 Uhr im Klassenraum einschlafen.
Befragt nach den Kopftüchern bei kleinen Mädchen, berichtet sie, dass dies eher eine Spezialität bei den Araberfamilien ist. Und zwar bei den Familien, die sich im Transferbezug befinden. Arbeitende Eltern, insbesondere türkische, treten in diesem Zusammenhang selten in Erscheinung.
Sie ist eine der engagiertesten Gegnerinnen der Einschulung bereits mit 5½ Jahren. Sie sagt: »Was soll ich hier mit diesen Schnullerkindern? Sie sind noch nicht gruppentauglich, dazu sind sie oft auch noch entwicklungsverzögert, viele können nicht richtig sprechen, und eigentlich bräuchten alle ein Jahr Vorklasse.« Sie sagt, dass die Familien, die bewusst neben der deutschen Gesellschaft her leben und diese auch ablehnen, in den letzten Jahren deutlich mehr geworden sind. Es passt auch alles gut zusammen. In der Siedlung gibt es schöne große Wohnungen, die Familien haben so viele Kinder, dass auch das Jobcenter die Wohnungen als angemessen akzeptiert, und die Moschee ist gleich um die Ecke. Der Anteil der Analphabeten nimmt zu, insbesondere durch den Zuzug von Roma-Familien, aber auch innerhalb der arabischstämmigen Community.
Ihr Steckenpferd sind der Schwimm- und Sportunterricht, das Duschen und die Körperhygiene. »Doch was soll ich machen?«, klagt sie. »Ich kriege Briefe von eigentlich funktionalen Analphabeten in perfektem Deutsch mit einem beigehefteten Attest vom arabischen Arzt, dass das Kind irgendwas am Öhrchen hat und nicht schwimmen darf.« Die Schulärztin ist überlastet, kann sich um den Fall nicht kümmern, und damit ist wieder alles geregelt.
Auf die Armut unter den Eltern angesprochen, reagiert sie gereizt. »Wenn elektronische Geräte ein Indiz für den Lebensstandard sind, dann geht es meinen Familien nicht schlecht. Wenn die Autos, die morgens vorfahren, ein Indiz für ihren Wohlstand sind, dann geht es meinen Familien sogar sehr gut.« Bildung und Teilhabe, ist das ein Thema bei Ihnen? »Ja, wir prüfen jetzt drei Berlin-Pässe, um 1,50 Euro erstattet zu bekommen. Noch einen Zettel und noch einen Zettel füllen wir aus. Außerdem gibt es 100 Euro für Schulmaterial, aber die landen natürlich wieder nicht beim Kind.«
Es ist alles ein bisschen düster, was die Rektorin mir erzählt. Wir gehen anschließend durch die Schule, treffen Kinder, scherzen und lachen mit ihnen, da sind die dunklen Wolken weg. Aber ich denke mir, so eine Schulleiterin wird wohl wissen, worüber sie redet.
Meine zweite Gesprächspartnerin ist in ihrer Wohnsiedlung ebenfalls nicht als Knutsche-Entchen bekannt. Seit 1972 ist sie hier. Sie kämpft für ihre Kinder, und dabei nimmt sie auf kaum etwas oder irgendjemanden Rücksicht. Als ich einmal mit dem Regierenden Bürgermeister ihre Schule besuchte, hat sie ihm unverblümt ihre Meinung gesagt. Ich fand es gut. Wie er es fand, weiß ich nicht.
Die kämpferische Frau hat die Widerstandsbewegung gegen das jahrgangsübergreifende Lernen (JüL) in Berlin angeführt und ist eine hartnäckige Gegnerin des Senats bei der Frage, ob Vergleichstests wie »VERA 3« wirklich überall Sinn machen. (Für die Nicht-Lehrer unter Ihnen sei darauf hingewiesen, dass dies die Bezeichnung für die Vergleichstests für Grundschüler der 3. Klassen ist.)
Meine Schulleiterin bekennt sich zum Widerstand, betont aber, dass sie weder etwas gegen Differenzierung noch gegen Tests habe. Nur müssten die Dinge auf die Kinder zugeschnitten sein. Und die meisten der Kinder in Neukölln haben einfach zu wenig Vorwissen. Sie haben kein Buch, keiner liest ihnen vor, und keiner spielt mit ihnen. Die Sozialkompetenz entspricht nicht ihrem Lebensalter. Kinder werden durch ihre Umwelt eben völlig unterschiedlich geprägt. Während die Kinder ihrer Schule noch an Dinge herangeführt werden, lesen Gleichaltrige an anderen Orten bereits selbständig. Deshalb hält sie weder von JüL noch von VERA 3 in ihrer Schule etwas: Weil die Grundvoraussetzungen der kommunizierenden Kompetenzröhren einfach nicht vorhanden sind. Weil Dinge von ihren Kindern gefordert werden, die sie nicht liefern können. Sie jedenfalls zieht Lernentwicklungsberichte solchen nicht aussagekräftigen Momentaufnahmen vor.
Ihre Klagen über die sich verweigernden oder nicht verstehenden Eltern sind die gleichen wie die von ihrer Kollegin. Papa und Mama nehmen wenig teil am Schulleben, die Resonanz bei Themenabenden ist gering, und allgemeine Elternabende haben eben keine Bedeutung, oder es ist schlicht zu mühselig hinzugehen. 87 % der Familien ihrer Schule sind nicht-deutscher Herkunftssprache, und 90 % sind von der Zuzahlung zu den Lernmitteln befreit. Aufgrund der Arbeitslosigkeit verharren die Eltern in Lethargie und Antriebslosigkeit. Die Menschen leben einfach in den Tag hinein. Ihr Aufstiegswille ist völlig verkümmert, und der Ehrgeiz, etwas aus ihrem Leben zu machen, ist, wenn er jemals da war, erlahmt. Somit erhalten die Menschen auch von außen keine Inspiration mehr. Erwerbstätige müssen sich immer auf Neues einstellen. Aber wer nur zu Hause sitzt oder es maximal bis ins Café schafft, stumpft ab. Das Kind ist in der Schule abgegeben, und jetzt sollen die Deutschen mal machen. Dass die Zensuren auch eine Benotung ihrer Mitarbeit sind, dass sie selbst etwas zum Erfolg ihrer Kinder beitragen müssen, das verstehen sie nicht, oder sie hören einfach nicht hin. Sprachmängel können zum Selbstschutz auch hilfreich sein.
Es sind keine Vorwürfe, die die Schulleiterin formuliert. Es ist eine nüchterne, ungeschminkte Bestandsaufnahme ihres täglichen Ringens. Viele Kinder sind überbehütet und unselbständig. Sie werden viel zu lange gefüttert und von der Mutter angezogen. Ein Junge kam in die Schule und konnte nicht alleine essen, weil er das zu Hause nicht lernen durfte. Viele Kinder werden jeden Morgen in die Schule gebracht, obwohl der Schulweg kurz ist und sie nicht mal eine Straße überqueren müssen. Manchmal muss man schon einen Moment tief durchatmen.
Die Rektorin hat eine enge Kooperation mit der benachbarten Kindertagesstätte geschlossen. Beide Leitungen sprechen sich ab, welche Schwerpunkte sie bilden, wie sie die Kinder zum Beispiel an ein gesundes Frühstück gewöhnen. Obst und Gemüse gibt es hier wie dort jederzeit umsonst. Einen wachsamen Blick haben sie auf die Entwicklung der Mädchen. Frauen und Mädchen werden in den Familien oft überfordert. Von früh an müssen sie im Haushalt helfen oder auf kleinere Geschwister aufpassen. Die Jungen haben sehr viel mehr Freiheiten. Sie sind die kleinen Prinzchen, denen oft keine Grenzen gesetzt werden und die sich in der Schule nicht an Regeln halten können. Viele sind schon bei Schuleintritt verhaltensauffällig. Die Anzahl dieser Jungen hat in den letzten Jahren leider zugenommen. Die Erziehung zum King führt dazu, dass sie irgendwann merken, dass sie nichts von dem beherrschen, was einen tatsächlichen King ausmacht. Dann bleibt ihnen meist nur die Gewalt.
Analphabetismus der Eltern ist nicht das Hauptproblem an dieser Schule. Verschuldung schon eher. Bis zu dem Punkt, dass die Mieten nicht gezahlt werden. Dann muss das Quartiersmanagement ran und versuchen, den Eltern mit einer Schuldnerberatung zu helfen und zwischen Mieter und Vermieter zu vermitteln. Auf das Thema Schwarzarbeit angesprochen, antwortet sie, dass sie aufgehört hat, darüber nachzudenken. Es ist nicht ihr Job und auch nicht ihr Gebiet. Es würde sie unnötig belasten. Für Statussymbole scheint immer Geld da zu sein. Die sind eben wichtig, wichtiger als die Miete. Mit den arabischstämmigen Familien zu arbeiten sei nicht einfach. Sie fühlten sich immer sofort als Opfer. Jeder kritisiert uns, jeder will was von uns, und ständig werden wir angegriffen. Früher waren wir weiter, so empfindet sie es.
Besondere Bedeutung misst sie dem Kopftuch bei. An ihrer Schule gebe es keine kopftuchtragenden kleinen Mädchen. Sie lasse nicht zu, dass Kinder schon im jüngsten Alter auf eine bestimmte Rolle festgelegt werden, dass sie nicht Fahrrad fahren oder schwimmen dürfen. In diesen Dingen sei sie knallhart. Ob das denn ohne Konflikte abgehe, will ich wissen. Nein, beileibe nicht, sie habe schon viele böse schimpfende arabische und türkische Väter er- und überlebt.
Von einem Vater wurde sie als »General« betitelt, weil sie jeden Morgen im Foyer der Schule Aufsicht macht und darauf achtet, dass die Kinder ihre Mappen und Turnbeutel selber tragen. Sie sollen auch ohne Eltern in die Klasse gehen, um die schulischen Angelegenheiten allein mit der Lehrerin oder dem Lehrer zu klären. Auf diese Weise sollen sie Selbständigkeit und Eigenverantwortung lernen. »Da steht wieder die Rote«, musste sie sich von Eltern anhören, die diese Erziehungsmaßnahmen nicht richtig finden.
Sie versucht, die Eltern zur Mitarbeit zu gewinnen. Mit den Kompetenzen, die sie haben. Väter sollen ihre Jungen zur Fußball-AG begleiten, gemeinsam spielen und hinterher zusammen grillen. Weil zu wenige Väter kamen, wurde das Projekt eingestellt. Väter sollten auch bei der Gestaltung des Schulhofs helfen und Pflastersteine mit Schubkarren transportieren. Leider kamen die Väter nicht. Sie achtet darauf, dass ihre Kinder während des Ramadan nicht fasten, und rückt, wenn nötig, den Eltern auf die Pelle. Die Klassenlehrerin, der Klassenlehrer oder sie selbst ruft die Eltern an. Sie will nicht warten, bis unter 10-Jährige Kreislaufprobleme bekommen, nur weil die Alten nicht vernünftig denken können.
Ja, sie ist auch autoritär. Zum Beispiel, wenn es um Pünktlichkeit geht. Bei ihr gibt es keinen flexiblen Schulbeginn, bei dem die Kinder zwischen 7:45 und 8:15 Uhr kommen können. Angeblich sind sie dann entspannt, wenn der Unterricht beginnt, kommen nicht gehetzt mit rotem Kopf und müssen sich in der ersten Stunde erst einmal beruhigen. So sehen es jedenfalls die Schulen, die sich für jenes Modell entschieden haben. Sie habe damit keine guten Erfahrungen gemacht. Schulbeginn ist Schulbeginn, und da muss man pünktlich sein. Gerade bei den arabischen Familien ist es wichtig, dass sie Verlässlichkeit und Zuverlässigkeit lernen. In den weiterführenden Schulen und am Arbeitsplatz werden diese Tugenden und Pünktlichkeit erwartet.
Viele der Lehrerkollegien stehen immer wieder vor der Frage, auf wen sie sich konzentrieren sollen oder wollen. Auf die Eltern oder auf die Kinder. Das macht sich an ganz praktischen Dingen fest. Viele Eltern geben ihren Kindern keine Schulbrote mit. Soll man in einer Cafeteria gespendete und von ehrenamtlich tätigen Menschen aus der Nachbarschaft belegte Brötchen, Süßwaren und Obst kostenlos oder zu minimalem Preis bereitstellen oder nicht? Braucht man eine Notfallkasse, um Kindern Schuhe und Jacken gegen die schlechte Witterung kaufen zu können? Soll man in der Klasse Ersatzschulmaterialien für Kinder bereithalten, die sie nicht mithaben – weil vergessen, von anderen Geschwistern verbummelt oder zerstört oder aber im elterlichen Chaos untergegangen?
Die eine Schule entscheidet alle diese Fragen mit Ja. Sie legt den Fokus auf das Wohl des Kindes. Es braucht Nahrung, es braucht Kleidung, und es muss dem Unterricht folgen können. Das Kind kann schließlich nichts für seine Eltern.
Die andere Schule entscheidet mit Nein. Sie sagt, auch wir sehen das Kind. Wir möchten, dass es lernt, sich um seine Sachen zu kümmern und zu Hause auch seine Bedürfnisse einzufordern. Treten wir an die Stelle des Elternhauses, fördern wir die Vollkasko-Mentalität und Faulheit nach dem Motto »Klappt doch, irgendjemand kümmert sich und löst mein Problem«.
Ich werde an dieser Stelle kein Votum abgeben. Jede Schule muss ihren eigenen Weg finden.
Der Mensch ist so, wie er ist. Ich erinnere mich an eine Geschichte aus meiner Zeit als Jugenddezernent. Gegenüber einer Kindertagesstätte befand sich ein Kinder-Clubhaus. Also ein freiwilliges Angebot der Freizeitgestaltung. Ich ordnete an, dass in der Kita nicht verbrauchtes Mittagessen nicht weggeworfen, sondern dem Kinder-Clubhaus zur kostenlosen Verteilung überlassen wird. Nach einem halben Jahr habe ich diese Anweisung widerrufen. Ein Teil der Eltern hatte seine Kinder im Hort abgemeldet, weil es nunmehr kostenloses Essen gegenüber im Kinder-Clubhaus gab. Ich habe das auf dem Konto Lebenserfahrung verbucht. Übrigens: Die Frage von Einwanderung war hier nicht tangiert.
Es ist immer dasselbe, was ich zu hören bekomme. Es geht um den Fernseher, der zu einem ausgesprochenen Hassobjekt für alle Außenstehenden geworden ist. Die Familie sitzt davor, und er erschlägt jeglichen Alltag. Ein Schulleiter sagte einmal: »Bei unseren Schülern läuft der Fernseher als optisch-akustische Tapete permanent mit. Er ist ein Familienmitglied.« Besonders dann, wenn es draußen dunkel, kalt oder nass ist. Outdoor-Leben findet nicht statt. Den Plänterwald – eine große Grünanlage an der Spree –, nur wenige Minuten entfernt, kennen viele Kinder nicht.
Aktiv werden viele Eltern immer nur dann, wenn ihre persönlichen Erwartungen nicht erfüllt werden. Die Schulleiterin berichtet mir von den Auftritten der Eltern, wenn das Kind beim Übertritt in die Mittelstufe keine Gymnasialempfehlung erhalten hat. Sie erinnert dann an ihre ständigen Ermahnungen, mit dem Kind zu üben. Doch gerade die Eltern, die sich am lautesten beschweren, haben damals nicht auf sie gehört. Jetzt ist sie schuld, und manchmal wird auch gern noch die Rassismuskarte gezogen.