Ein Gespräch, ein Thema,
zwei Sichtweisen

Natürlich kann man ein Buch über Einwanderung, Integration, Einheimische und Zugewanderte, bildungsferne wie bildungsaffine Bevölkerung schreiben und ihn dabei keines Blickes würdigen. Aber warum kneifen? Ich meine Thilo Sarrazin, den Aufreger der letzten Jahre in dieser Themenwelt. Wir alle erinnern uns an seine Thesen über den Nutzen von warmen Pullovern anstelle eines Heizkörpers, wenn es in der Wohnung kalt ist, oder auch seine klugen Ratschläge für Arme, wie sie ihr Mittagessen kochen sollten. Nach dem Vorlauf des Interviews in der Zeitschrift Lettre International sorgte er dann mit seinem Buch Deutschland schafft sich ab für Furore. Selbst der Regierende Bürgermeister von Berlin macht ihm in seinem Büchlein Mut zur Integration die Aufwartung. Zwar keine gute, aber immerhin. Gehört sich ja auch so, denn Thilo Sarrazin stand, von ihm gut behütet, von 2002 bis 2009 als Finanzsenator treu in seinen Diensten.

Egal, vor welchem Hintergrund und ob er als schlechtes oder gutes Beispiel Verwendung finden soll, irgendwann fällt bei Gesprächs- und Diskussionsrunden zur Bevölkerungsentwicklung, zur Einwanderung oder auch zur Frage der Vererbung menschlicher Eigenschaften sein Name. Meist gibt es dann keine Zwischentöne. Begeisterung und Beifall hier, Abscheu und Verdammnis dort. Dabei ist er aber irgendwie immer. Es ist erstaunlich, welchen Eindruck und welch tiefe Spuren Thilo Sarrazin bei Menschen unterschiedlichster Couleur und insbesondere unterschiedlichsten Alters hinterlassen hat. Er hat eindeutig Kultstatus. Im Positiven wie im Negativen. Das ist vielleicht auch der Grund, warum so viel in ihn und in sein Buch hineingeheimnist oder hineininterpretiert wird. Wenn ich Teil solcher Diskussionen bin, stelle ich häufig fest, dass viele Menschen, die sich breit und ausladend, emotional oder unterkühlt, fanstimuliert oder hasserfüllt über ihn äußern, das Buch gar nicht gelesen, geschweige denn verarbeitet haben können. Es werden Thesen, Aussagen oder angebliche Zitate wiedergegeben, für die es im Buch keinen Beleg gibt. Es werden Dinge durcheinandergeworfen, es entsteht ein Mix aus Interviews, Zeitungsveröffentlichungen, Vorabdrucken, Kommentaren und Fehlinformationen, der eigentlich nicht seriös ist. Aber so entstehen Mythen. Allerdings leben sie nach dem Gesetz der »stillen Post« davon, dass sie in der Überlieferung von Mund zu Mund auch einer Eigendynamik unterworfen sind.

So, wie Thilo Sarrazin sein Buch geschrieben, so, wie er einige Formulierungen gewählt und so, wie er Fakten in Beziehung gesetzt hat, hätte ich es nicht getan. Aber es ist ja auch sein Buch und nicht meines. Zugeben muss ich, dass er die ideologisierte Integrationsdebatte erfolgreich vitalisiert und aufgemischt hat. Was mir persönlich in seinem gesamten Buch fehlt, ist eine innere Teilnahme an dem Thema, eine Hinwendung zu den gesellschaftlichen Entwicklungen. Einfach ein Stück Leidenschaft und Emotionalität. Das Buch macht einen kalten Eindruck. Es signalisiert, dass der Autor mit großer innerlicher Distanz Daten zusammengetragen und hieraus synthetische Schlussfolgerungen gezogen hat. Die mangelnde Empathie führt wohl auch dazu, dass ihm der Blick zur Differenzierung an vielen Stellen gefehlt hat. Was nutzt mir die sorgfältigste Analyse, wenn mein Lösungsansatz nicht zur Behebung des Problems führt, sondern selbst zum Problem wird?

Bis zum Beginn seiner neuen Identität als Autor kannte ich Thilo Sarrazin nur aus seiner Funktion als Berliner Finanzsenator. Meine Rolle als Geld fordernder Bürgermeister eines Brennpunktbezirks und seine als beinharter Haushaltskonsolidierer führten uns schon von Hause aus in eine kritisch-solidarische Distanz. Bezirkspolitiker waren für Thilo Sarrazin »Gänse, die laut schnattern, aber keine Eier legen können«. Irgendwie fühle ich mich bis heute dadurch noch diskriminiert, obwohl ich ihm menschlich inzwischen verziehen habe.

Die Frage für mich war nun, wie nähere ich mich Thilo Sarrazin? Rein theoretisch, so, wie er es tun würde, also nur anhand seiner Veröffentlichungen, die alle in meinem Büro liegen? Oder sollte ich mit ihm die bereits im Dutzend billiger vorhandenen Interviews um ein weiteres bereichern und mich mit ihm über seine Thesen streiten? Sollte ich mich beckmesserisch an ihm abarbeiten, ohne ihm die Chance zu einer Gegenwehr zu geben? Letzteres ist nicht meine Welt. Also dachte ich mir, pack den Stier bei den Hörnern und setz dich bei ihm zu Hause auf die Couch. Mal sehen, was dabei herauskommt.

Gesagt, getan, ein Termin ist schnell vereinbart, und so fahre ich eines Morgens zu Thilo Sarrazin. Ein Platz auf der Couch ist für mich auch rasch gefunden, Thilo Sarrazin kocht uns einen Kaffee, und dann sind wir mit uns allein. Er, der Kater und ich.

Thilo Sarrazin macht auf mich einen zufriedenen, in sich ruhenden und entspannten Eindruck. Als ich auf sein Buch und seine Kritiker zu sprechen komme, kokettiert er erst ein bisschen. Er meint, dass die Verkaufszahlen und sein monatelanges Verharren in den Bestsellerlisten noch kein Indiz für Qualität seien. Die wirklich wichtigen Bücher schafften es nur selten auf die Bestsellerlisten, sagt er. Nicht ohne aber gleich nachzuschieben, dass die kleine Buchhandlung bei ihm an der Ecke 2500 Exemplare verkauft habe und somit jeder dritte Haushalt in seinem Wohngebiet über ein Exemplar verfüge. Noch heute sprächen ihn häufig Menschen in der Öffentlichkeit an, darunter viele junge Leute und integrierte Einwanderer. Den Schwall an schier schrankenlosen Emotionen, Schmähungen und genauso unsachlicher wie nicht verstehen wollender Kritik bezeichnet er als Wut der Pharisäer. Also von Menschen, die durchaus im Besitz von Erkenntnissen sind, aber ihre fest gefügten Strukturen nicht gefährden wollen. Sie stellen keine Fragen, weil sie ungewollte Forderungen fürchten.

Dass er jetzt als der Bösewicht der Nation gilt, steckt er mit einem Lächeln weg. Auch dass er zur Personifikation des Trennenden geworden ist, dass er der Generalschuldige für alle Erscheinungsformen des rechten Randes in unserer Gesellschaft zu sein scheint, dass die Menschen Dinge auf ihn projizieren, weil sie einfach einen Schuldigen suchen, ficht ihn offensichtlich nicht an. Unabhängig davon, dass es ihn als Person nicht erreicht, kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen, dass diese Projektionen reflexartig stattfinden. Im gesellschaftlichen Diskurs habe ich immer wieder erlebt, dass eine Bezugnahme auf seine Person ganz schnell zum Ausschlusskriterium für die eigene Position wird, falls man nicht eilig eine Distanzierung zu erkennen gibt. Wenn diese dann auch noch mit möglichst verächtlichen Formulierungen garniert ist, dann ist der eigene Ruf wiederhergestellt. Manchmal habe ich das Gefühl, dass man Thilo Sarrazin auch die Zwickauer Zelle anlasten würde, wenn sie nicht schon Mitte der 1990er Jahre entstanden wäre. Thilo Sarrazin ist der Beweis für auch heute noch mögliche Massenpsychosen.

In unserem Gespräch dreht Thilo Sarrazin den Spieß um. Er berichtet mir von Sitzungen des SPD-Landesvorstandes oder von Senatsvorgesprächen, in denen andere Teilnehmer über mich als verlachten Außenseiter herzogen. Ich war so eine Art Hofnarr auf Distanz. Wundersam fand er dann, wie ich mich in den Augen derselben Leute zum Integrationspapst von Berlin gewandelt habe. Und so erwartet er von mir nun keine Euphorie gegenüber seiner Person, aber ein klein wenig Dankbarkeit darüber, dass er mich nach dem Motto »Es gibt Schlimmeres als Buschkowsky« in die politische Mitte gerückt hat.

Seine Miene verdüstert sich, wenn er über den Umgang der Medien mit ihm spricht. Er skizziert zwei Beispiele. Das eine ist der Mitschnitt des RBB und WDR bei einer Vortragsveranstaltung von ihm. Zwei Sequenzen seiner Rede, die etwa 15 Minuten auseinanderlagen, wurden so zusammengeschnitten, dass sie in der Sendung den Eindruck erweckten, er hätte gesagt, Muslime sind dümmere Menschen. Das zweite Beispiel befasst sich mit einem Film, den die Fernsehjournalistin Güner Balci mit ihm produzieren wollte. Es kam zu dem bereits erwähnten Vorfall, bei dem sich eine Gruppe von Straßenprotestlern vor einem Restaurant aufbaute, in dem er etwas essen und mit dem Restaurantinhaber reden wollte. Er musste das Lokal verlassen, weil dem Besitzer Konsequenzen für das Lokal angedroht wurden, falls er Thilo Sarrazin bedient. Das gleiche wiederholte sich bei einer geplanten Diskussionsrunde am selben Tag im alevitischen Cem-Haus. Auch hier eskalierte die Situation so, dass die Aleviten die Diskussion absagten. Infolge dieser Ereignisse wurde Güner Balci der Auftrag entzogen, und Thilo Sarrazin sperrte das gesamte bis dahin entstandene Material.

Thilo Sarrazin nimmt diese beiden Episoden zum Anlass, um sehr barsch seine Kritik darüber zu äußern, wie kleingeistig dieses Berlin wirklich sei. Obwohl es sich selbst ständig als offene und tolerante Weltstadt feiere und der Regierende Bürgermeister diese Formel gebetsmühlenartig wiederhole, bleibe die Stadt in der konkreten Situation den Beweis schuldig. Wenn Thilo Sarrazin so vom Leder zieht, fühlt man sich als Zuhörer nicht ganz wohl in seiner Haut. Auch ich konnte das Prädikat als Akt politischer Reife, dass dieser Aktion von Mandatsträgern der Linkspolitik in Berlin zugebilligt wurde, nicht nachempfinden. Für mich war es eher Psychoterror, Intoleranz verbunden mit der Botschaft: Demokratisch und pluralistisch ist nur das, was unserer Vorstellung entspricht. Von Freiheit des Geistes keine Spur.

Auf meine Frage, wie er denn nun vom Statistikfreak zum Integrationspolitiker mutiert sei, ist die Antwort erfrischend ehrlich. In den bürgerlichen Kreisen, in denen er sich mit seiner Frau privat vorwiegend bewegt, tauchen Migranten allenfalls in Gestalt der Putzfrau auf. Sonst wird dieses Phänomen nicht gesichtet. Man muss sich schon mit dem Fernglas auf die Reichsstraße stellen, um ein Kopftuch zu sehen. Das einzige, was er in seinem Alltag als Finanzsenator von Einwanderung und Migration mitbekam, waren die blauen Wolken über dem Tiergarten, wenn dort gegrillt wurde und der Dienstwagen ihn abends daran vorbei nach Hause fuhr.

Das hat ihn geprägt, auch wenn sich die Verhältnisse inzwischen in den bürgerlichen Wohnquartieren Berlins doch etwas verändert haben. Es ist aber nach wie vor so, dass die bürgerlichen Schichten alles auf ihre eigene konkrete Lebenserfahrung übertragen. Sie können sich überhaupt nicht vorstellen, dass sich an anderen Orten der Stadt inzwischen eine völlig neue Kultur und Lebensart mit divergierenden Wertestrukturen entwickelt hat. Das trifft auch auf Thilo Sarrazin zu. Nur seine Frau, die bereits in Köln und in Mainz als Grundschullehrerin mit migrantischen Schülerinnen und Schülern gearbeitet hatte, brachte ihm von Zeit zu Zeit derartige Veränderungsprozesse in der Gesellschaft nahe. Zum Beispiel, dass sie in Berlin inzwischen die Töchter von Müttern unterrichtet, denen sie früher als Schülerinnen das Einmaleins beibrachte. Der Unterschied bestehe allerdings darin, dass die heutigen Kinder weniger könnten als ihre Mütter. Hieraus lässt sich, so Thilo Sarrazin, nur der Schluss ziehen, dass sich eine ganze kulturell und lebensweltlich in Deutschland nur unzureichend integrierte Population entwickelt hat. Dramatisch ist aber, dass sie inzwischen auch das Gute aus der Kultur ihrer Eltern und Großeltern verloren hat.

Die dann immer intensivere Beschäftigung mit dem Thema der Integration führt er auf seinen Job als Finanzsenator zurück. Ihm ging es schlicht darum, die Geldforderungen der Bildungssenatoren Böger und Prof. Zöllner abzuwehren. Und so vertiefte er sich in die Ergebnisse der Pisa-Studie und begann alle Veröffentlichungen zu Bildungsfragen zu sammeln. Wenn er den Werdegang so schildert, fehlt es natürlich nicht an selbstbewussten Randbemerkungen. Dass er in den entsprechenden Senatssitzungen dann mehr von sozioökonomischen Strukturen der Schülerpopulation oder dem Schüler-Lehrer-Verhältnis in Berlin und anderen Bundesländern oder auch zum Leistungsstandard der Berliner Schulen verstanden habe als die sogenannten Fachsenatoren.

Er kritisiert, dass Berlin – im Vergleich mit den anderen Bundesländern – seine Gymnasien personell schlechter ausstattet, und begründet damit den Leistungsverfall. So könne eine Stadt mit Eliten nicht umgehen. Natürlich bekommt auch die Unterschicht sofort ihr Fett weg. Er referiert die Ergebnisse der Schuleingangsuntersuchungen, indem er vorträgt, dass der Anteil unterversorgter Zähne bei Kindern osteuropäischer Herkunft dreimal so hoch ist wie bei Deutschen und dass die Mängel bei der Visuomotorik (das für die kognitive Entwicklung wichtige Vermögen, visuelle Wahrnehmung und Bewegungsapparat, zum Beispiel Auge und Hand, zu koordinieren), die häufig die Ursache späterer Lernstörungen sind, bei den arabischen Kindern zehnmal so häufig auftreten wie bei Kindern aus deutschen bürgerlichen Familien. »Mangelhafte Zahnpflege, Übergewicht und Bewegungsmangel der Kinder sind keine Fragen des Geldes und des materiellen Standards ihrer Familien«, doziert er. Nach wie vor scheint er Gefallen daran zu haben, gesellschaftlich Schwächere zu schulmeistern. Denn nahtlos schließt er an, dass sich eben die Berliner Unterschicht zu einem großen Teil aus Türken und Arabern zusammensetzt.

Schon im Mai 2009, als er zur Bundesbank wechselte, nahm er ein unfertiges Buchmanuskript mit dem Arbeitstitel Wir essen unser Saatgut auf mit in den neuen Job. Es ging darin um Fragen der Demographie, der Intelligenz, der Bildung, des Sozialstaats und der Migration in langfristiger Perspektive und in ihrem vernetzten Zusammenwirken auf die künftige Entwicklung Deutschlands. Dann sagt er, nicht ohne einen schon etwas verächtlichen Gesichtsausdruck, dass diese vernetzte Betrachtungsweise später wohl alle jene überfordert habe, die gerne mit linearen Gewissheiten leben.

Er blickt weiter auf das Jahr 2009 zurück und kommt auf das Interview in Lettre International zu sprechen. Ich frage nach. Und plötzlich sitzen der Kater und ich allein im Wohnzimmer. Thilo Sarrazin ist aufgesprungen, in ein oberes Stockwerk enteilt und kommt mit einer Ausgabe der Zeitschrift wieder. Ich muss mich in Geduld fassen. Etwa 15 Minuten referiert er, liest aus dem Text vor und bietet mir Belege dafür, dass er schon damals völlig missverstanden worden sei. Der Artikel stand unter dem Fokus »Berlin 20 Jahre nach dem Mauerfall mit den Augen des ehemaligen Finanzsenators«. Es sei überhaupt nicht um Integration gegangen, eher um Architektur, die Folgen der Teilung und in einem Randaspekt auch um die Verschiebungen in der Bevölkerungsstruktur. Darum, dass die Unterschicht in Berlin im Aufwuchs begriffen ist und dass sie es bei den Geburten bereits auf einen Anteil von 40 % bringt. Bis zu diesem Zeitpunkt, sagt Thilo Sarrazin entwaffnend, habe er sich mit dem Einfluss der islamischen Kultur auf das Bildungs- und Integrationsverhalten der muslimischen Migranten noch gar nicht intensiver befasst. Erst die Reaktionen auf das Lettre-Interview hätten ihn in diese Richtung gedrängt.

Natürlich frage ich nach den beiden berühmten Passagen, dass »er niemanden anerkennen muss, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert«, und dass »die große Zahl der Araber und Türken, die durch falsche Politik zugenommen hat, keine produktive Funktion außer für den Obst- und Gemüsehandel hat«. Diese Fragen lassen Thilo Sarrazin zu Höchstform auflaufen. Er zitiert aus dem Interview, er leitet ab, er demonstriert den Aufbau der Sätze und seiner Formulierungen, und er nennt es dann eine ins Anschauliche übersetzte, gründliche Analyse. Diese Floskel sollte mir im Gespräch noch öfter begegnen.

Ich hacke auf dem Begriff der »Kopftuchmädchen« herum. Ich frage Thilo Sarrazin, ob er sich als Agent Provocateur versteht oder ob die Formulierungen, die dann für einen Sturm der Entrüstung gesorgt haben, ein Versehen waren. Er bezeichnet seine Sätze als Formulierungen, für die er berühmt und berüchtigt sei, und erklärt, dass sie in der Sekunde des Sprechens geboren werden. Eigentlich sei es schade, dass es ein Lektorat für das Interview gegeben habe. Denn der unbereinigte Lettre-Text habe etwa das Zehnfache an Formulierungen enthalten, mit denen er »analytische Sachverhalte« anschaulich zusammengefasst hatte. Vielleicht ist es aber auch gut, dass wir von den berühmt-berüchtigten Formulierungen keine weiteren Kostproben erhielten. Auf den Punkt gefragt, gibt Thilo Sarrazin zu, dass es seine Entscheidung war, die Formulierung mit den »Kopftuchmädchen« im Text zu belassen.

Die Erfahrung mit der Lettre-Diskussion habe dann im Ergebnis aber dazu geführt, dass er sich entschloss, in seinem Buch ein eigenes Integrationskapitel aufzunehmen. Die Formulierungen im Buch empfindet er keineswegs vergleichbar provokant wie die »Kopftuchmädchen« oder den »Obst- und Gemüsehandel«. Als ich ihm zwei Beispiele nenne, die aus meiner Sicht eigentlich noch lästerlicher, wenn nicht herabwürdigender für andere Menschen sind, ist er nicht besonders einsichtig. Kritik an seinem Buch oder an seinen Thesen erträgt er nur mühsam bis gar nicht. Er verweist immer wieder auf Fußnoten, auf den Stand der Wissenschaft und auf seinen Text, der »ungemein klar und analytisch ganz sauber herausgearbeitet« sei.

Er kann sich aber auch wie ein Kind freuen. Sein ganzes Gesicht strahlt, wenn er die Anekdote erzählt, dass die FPÖ im Wiener Kommunalwahlkampf »Sarrazin statt Muezzin« plakatiert hat.

Ich erinnere Thilo Sarrazin an eine Diskussionsveranstaltung, in der ich ihm die sozialen Verwerfungen in Neukölln ausführlich schilderte. Ich fragte ihn damals, wie er als Finanzsenator denn gedenke, darauf Einfluss zu nehmen, dass wir in den sozialen Brennpunkten der Verwahrlosung und der Bildungsferne zu Leibe rücken. Seine Antwort lautete: »Du musst lernen, dass Politik nicht alle Probleme lösen kann.« In seinem Buch nun kritisiert er massiv, dass der Staat und die Politik sich nicht um die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse kümmere und tatenlos zuschaue, wie sich negative Entwicklungen verfestigen. Und so frage ich ihn jetzt, ob er mir noch einmal dieselbe Antwort geben würde wie damals. Er weicht aus und gibt mir mit auf den Weg, dass es nicht schlecht sei, »Geld für eine gute Sache auszugeben«. Bei dieser Antwort muss ich nicht besonders schlau aus der Wäsche geschaut haben. Denn er legt nach: Der Kern der Probleme habe nichts mit Geld zu tun. Es war wohl doch etwas naiv von mir zu glauben, dass Thilo Sarrazin eventuell zugeben könnte, dass er damals aus Unkenntnis zu kurzsichtig geurteilt hat und er mit seinem Wissen von heute natürlich mehr Geld für die vorschulische Erziehung bewilligen würde. Dass Thilo Sarrazin zugibt, dass er irgendwann einmal nicht recht gehabt hätte, liegt sicherlich jenseits seiner Vorstellungskraft.

Egal, welche Ursachen sie hat: Für mich ist die Bildungsferne der Ursprung aller gesellschaftlichen Verwerfungen. Ich frage Thilo Sarrazin nach seinen Lösungsansätzen.

Er sagt, Bildungsferne wurzele in der mentalen Verfasstheit in großen Teilen unserer wachsenden Unterschicht. Sie müsse bei den Kindern bekämpft werden. Aber die wachsende Bildungsferne sei nur das Symptom, nicht die Ursache für das Anwachsen der Unterschicht. Dass die bildungsferne Unterschicht in Deutschland in absoluten Zahlen, aber auch als Anteil an der Bevölkerung so stark zugenommen habe, sei eine Folge falscher Einwanderung und falscher familienpolitischer Anreize unseres Sozialstaats. Daraus ergibt sich seine erste Kernthese, dass der weitere Zuzug nur noch auf qualifizierte Einwanderer beschränkt werden müsse. Als zweite These bezeichnet er den radikalen Stopp aller materiellen Anreize für überdurchschnittliche Geburtenraten in der Unterschicht.

Meinen Hinweis, dass wir gar keinen nennenswerten Zuzug, sondern eher ein Negativsaldo bei der Wanderung haben, wischt er vom Tisch. Er verweist auf die illegale Einwanderung muslimischer Migranten aus Afrika nach Spanien und Italien: Deutschland werde über die viel zu durchlässigen Grenzen des Schengenraumes durchschnittlich rund 100 000 Zuwanderer jährlich aus dem Nahen Osten und Afrika haben. Er findet es schlimm, dass wir bildungsfernen muslimischen Migranten hier ein warmes Plätzchen bieten, was sie bei sich zu Hause nicht hätten. »Wir ziehen so eine negative Auslese an und verstärken diese noch, wenn die Besten uns verlassen, die Übrigen aber bleiben und weiterhin große Familien auf Kosten des deutschen Sozialstaats haben. Dort liegt das Problem.« Das heißt für ihn, die bisherigen falschen Anreize streichen und an ihre Stelle die richtigen setzen. Er konkretisiert diese Forderung, indem er sagt, Einwanderer sollten für eine längere Übergangszeit keinen Anspruch auf deutsche Transferleistungen haben, und Geldleistungen für Kinder sollten diesen indirekt über das Bildungssystem zugute kommen.

Mit meinen Einwänden bin ich an dieser Stelle also nicht richtig durchgedrungen. Ich versuche es mit einem anderen Ansatz. Wenn wir das soziale Netz so einschränken, wie er vorschlägt, dann muss uns klar sein, dass wir auch den sozialen Frieden gefährden, der unter anderem durch das Sozialsystem garantiert wird. Unterschichten ohne materielle Lebensgrundlage bedeuten zwangsläufig eine immer mehr verarmende Bevölkerung. Reaktionen wie in den französischen Banlieues nach dem Motto »Was ich nicht kaufen kann, hole ich mir« oder das Entstehen einer von der Bevölkerung anerkannten organisierten Kriminalität wie zum Beispiel der Gegenstaat der Camorra in Italien. Auf diesen Einwand hin passiert etwas Erstaunliches. Thilo Sarrazin räumt ein, dass er für diesen Punkt noch keine Lösung hat. Er denke oft darüber nach. Aber als Ausweg für sich sieht er die Erklärung, dass man nicht die Bekämpfung der Ursachen gegen die Bekämpfung der Folgen ausspielen könne. Und deshalb bleibt er dabei, dass bei der Integration zuerst bei den Ursachen der Probleme anzusetzen sei. Für ihn sind dies: der Zuzug, der Sozialstaat und die Manifestierung radikaler Elemente.

Wir widmen noch einen großen Teil unseres Gesprächs der Bildungspolitik. Bei diesem Thema wird Thilo Sarrazin ausgesprochen leidenschaftlich. Gerade im Berliner Bildungswesen macht er die Folgen und »das unsägliche Erbe der 68er-Generation und des Westberliner Schlampfaktors« aus. Er berichtet von der Leistungsunfähigkeit des Berliner Bildungssystems und ist auch da mit geharnischten Formulierungen nicht kleinlich. Bei Leistungstests werde geschummelt, weil die Lehrer, die unterrichten, auch die Tests bewerten. Da Lehrer nicht daran gemessen werden, was die Kinder wissen und welche Leistungen sie erbringen, sondern daran, welchen Notenspiegel sie erreichen, ist für ihn das Ergebnis klar. Dass donnerstags und freitags keine Hausaufgaben als Leistungskontrolle mehr aufgegeben werden, ist für ihn ein Akt der Humanisierung der Arbeitswelt der Lehrer, aber keine Maßnahme zur Bekämpfung der Bildungsferne. Bequeme Eltern verlassen sich nur allzu gerne auf Schule und Hort. Man wird dort schon mit dem Kind geübt und die Hausaufgaben kontrolliert haben. Bildungsorientierte Eltern hingegen überprüfen das am Abend und erleben nicht selten eine Überraschung. Die Ganztagsbetreuung ersetze nicht die Verantwortung der Eltern und das Üben zu Hause. Thilo Sarrazin sagt, unser Schulsystem werde erst dann wieder richtig funktionieren, wenn jene Lehrer wieder das höchste Ansehen genießen, bei denen die Schüler am meisten lernen. Und nicht jene Lehrer, die die meisten Einsen geben und die sich Ruhe durch Niveauabsenkung erkaufen.

Als Beleg für diese Leistungsverweigerung berichtet Thilo Sarrazin aus dem Berufsleben seiner Frau. Weil sie ihren Unterricht auf Ergebnisse und Leistung ausrichtete, wurde sie von der Schulleitung immer damit »belohnt«, dass man ihr besonders viele türkische Kinder in die Klasse gab. Und ein ausgesprochenes Glücksgefühl erfüllte sie, als man sie dann anwies, dem übrigen Kollegium zu verschweigen, dass ihre Klasse beim ersten VERA-Test als beste der ganzen Schule abgeschnitten hatte. Die Rektorin befürchtete, es könnte das Klima im Kollegium beeinträchtigen.

Für Thilo Sarrazin herrscht im Berliner Bildungssystem die Mentalität, Leistung und Leistungsunterschiede nicht objektiv messen zu wollen und, wenn dann schon gemessen wird, wenigstens die Ergebnisse zu verschweigen. Für ihn steckt dahinter mangelnde Konfliktbereitschaft, die mit dem angeblichen Fürsorgegedanken bemäntelt werde, leistungsschwachen Lehrern oder Schülern einen psychischen Schaden zu ersparen. »Solange man diese Mentalitäten nicht ändert, wird auch das Berliner Bildungssystem nicht gesunden«, sagt er. Die Humanisierung des Arbeitslebens der Lehrer führe nicht automatisch zu einem Leistungsgewinn bei den Schülern.

Ich berichte über die beiden Neuköllner Modellprojekte Albert-Schweitzer-Schule und Rütli-Schule. Messbar können wir belegen, dass die Bildungserfolge mit einem anderen Schulalltag deutlich zunehmen. Auch hier ist Thilo Sarrazin mit dem Verriss schnell bei der Hand. Der Hinweis, dass die Albert-Schweitzer-Schule die Abiturientenzahl in vier Jahren versechsfacht hat, quittiert er mit der rhetorischen Frage: »Was werden das schon für Abiture sein?« Es gebe eine Noteninflation ohne Ende. Bald bekämen alle, die überhaupt bestehen, eine Eins. Das ist so ein Moment in dem Gespräch, bei dem ich massive Zweifel empfinde, ob es Thilo Sarrazin wirklich um eine Veränderung der Zustände geht. Oder ob er nicht doch einer von den beiden in der Loge im ersten Rang ist: Sie erinnern sich an Statler und Waldorf, die ewigen Nörgler aus der »Muppet Show«?

Zugegeben, ich bin etwas angefressen. Dieses Miesmachen von erfolgreichen Politikansätzen, ohne sie überhaupt näher zu kennen, empfinde ich nicht als professionell. Ich will Thilo Sarrazin aus der Reserve locken und konfrontiere ihn mit einer Aussage in der Süddeutschen Zeitung. Er wird dort mit dem Satz zitiert, es sei »eine Illusion zu glauben, man könne Menschen oder sogar soziale Schichtungen durch die Schule ändern«. Ich finde diesen Satz so falsch, wie etwas nur falsch sein kann. Frühere Generationen aus dem Stand der ungebildeten Leibeigenen und der malochenden Arbeiterklasse konnten nur deshalb zu Wohlstand gelangen und in der Gesellschaft aufsteigen, weil das Bildungssystem ihnen mit einem neuen Wertegerüst zu mehr Denken und Verstehen und damit auch zu mehr Chancen verholfen hat, das Leben in die eigene Hand zu nehmen. Ich selbst bin ein Beispiel dafür.

Thilo Sarrazin weist dieses Zitat weit von sich. Er sei falsch zitiert worden. Ich kann das nicht beurteilen und nehme das Dementi also so hin. Nun ja, vielleicht war das aber auch wieder eine solche Spontanschöpfung im Gespräch wie die »Kopftuchmädchen«. Dann würde es ihn zieren zu sagen, sorry, war nicht der klügste Spruch, wir lassen ihn morgen weg.

Zusammen mit seiner These, dass die falschen Anreize im Sozialsystem radikal abgeschnitten werden müssen, kommt Thilo Sarrazin auf das Thema der ungleichen Kompetenzen einzelner Ethnien im Integrationsprozess zu sprechen. Er nimmt Bezug auf die Eingliederung und die aktiven Integrationsleistungen von Vietnamesen, Russen, Indern und Polen im Vergleich zu muslimischen Einwanderern aus Südosteuropa, Nordafrika, Nah- und Mittelost. Er plädiert dafür, dass alle finanziellen Anreize abgeschafft werden müssen, die im Ergebnis dazu führen, dass die bildungsfernen Schichten sich stärker fortpflanzen als die bildungsorientierten. Als Vergleich zieht er die bekannte Veränderung der Geburtenrate der Welfare-Mothers in den USA an, die nach dem Fortfall der lebenslangen Alimentation massiv zurückging. Nachdem die Sozialleistungen in den USA auf fünf Jahre beschränkt wurden, verstärkte sich die Verhütungsbereitschaft mit gleichzeitigem Rückgang der Geburtenrate.

Bei uns haben akademische Frauen eine Geburtenrate von 1,0, in den USA 1,7 bis 1,8. Das ist für Thilo Sarrazin der Ausgangspunkt, an dem staatliche Förderung ansetzen muss. Er will das System ändern. Solange es so ist, dass unsere Gesellschaft jedes Kind erwerbsloser oder geringverdienender Eltern mit, alles zusammengerechnet, monatlich 320 Euro fördert, nur solange funktioniere eben auch das Modell der arabischen Großfamilie in Neukölln, sagt er. Er hält das »einkommensunabhängige Kindergeld, was übrigens eine Erfindung der Nazis ist, für eine grundsätzliche Fehlentwicklung«. Für ihn ist das französische System klüger. Dort können gut verdienende Franzosen durch viele Kinder viele Steuern sparen. Kinder sind in Frankreich das Steuersparmodell für die Reichen, sagt er. Deswegen gebe es dort mehr Kinder, und er findet es vernünftig, dass die, die wirtschaftlich leistungsfähig sind, sich für mehr Kinder entscheiden.

Natürlich unterhalten wir uns auch über sein Steckenpferd. Die genetischen Grundlagen des Menschwerdens, seine Thesen zur Vererbung von Intelligenz und die daraus für ihn zwingenden Ableitungen der Auswirkungen auf die Demographie. Thilo Sarrazin beharrt auf seiner bekannten Feststellung, dass er den Stand der Wissenschaft wiedergegeben habe und wiedergebe, und dass diejenigen, die sich mit dieser Thematik nicht beschäftigen wollen, dies aus Bequemlichkeit tun. Bei flapsigen Formulierungen meinerseits zu diesem Thema bekomme ich noch einmal eingetrichtert, dass die Erblichkeit von Intelligenz und die unterschiedlichen Bildungsleistungen von Einwanderern je nach ethnischer und kultureller Herkunft heterogen zu betrachten seien. Da seien auch viele Kritiker an seinem Buch an ihre Grenzen gestoßen, hätten die Dinge vermengt und dann aus diesem Brei die Behauptung konstruiert, er hätte Muslime für genetisch dümmer erklärt. Was er nach seiner Überzeugung an keiner Stelle getan hat.

Der Grad der Intelligenz sei zwar nicht genetisch bedingt, aber sehr wohl mit der kulturellen Herkunft verknüpft, meint er, und verweist darauf, dass die Kinder von Migranten aus Fernost weltweit die besten Pisa-Ergebnisse erzielen und die Kinder von Migranten aus islamischen Ländern die schlechtesten. Zwischen Einwandererkindern aus Pakistan und aus Indien liege im Pisa-Test in Mathematik ein Unterschied von mehr als vier Schuljahren. Länder, die überwiegend Einwanderer aus Fernost hätten, würden durch diese Einwanderung ihre durchschnittliche Bildungsleistung erhöhen. Das gelte zum Beispiel für die USA, Kanada oder Australien. Länder, deren Einwanderer vorwiegend aus der Türkei, Afrika und Nah- und Mittelost kommen, müssten durch diese Einwanderung eine Absenkung der durchschnittlichen Bildungsleistung hinnehmen. Dies gelte zum Beispiel für Deutschland, Österreich und die Schweiz.

An dieser Stelle war der Kaffee alle. Obwohl sich der Kater inzwischen an mich gewöhnt hatte, beendeten wir unser Gespräch.

Auf dem Weg zurück ins Rathaus sortierte ich meine Gedanken. Hat Thilo Sarrazin nun die Erleuchtung gebracht und endlich ausgesprochen, was viele denken? Oder ist er doch der Demagoge, ja fast ein Volksverhetzer, für den ihn die anderen halten? Ich vermag die Frage an dieser Stelle nicht zu beantworten. Jeder muss selbst sein Verhältnis zu Thilo Sarrazin finden. Man kann, ja, ich finde, man muss sich an ihm reiben. Er liebt es, Widerspruch zu erzeugen, aber er liebt den Widerspruch nicht. Er ist sicher egozentrisch. Ein bisschen selbstherrlich verliebt in die eigene, nicht zur Disposition stehende Intelligenz und die daraus resultierende Erkenntniswelt ist er nach meinem Empfinden schon. Ein Neonazi und Volksverhetzer ist er aber nicht. Man mag ihn als unbequem und als Zumutung empfinden, ihn zum Teufel wünschen, weil man seine Thesen nicht teilt, und man kann – wie geschehen – dem streitbaren Dialog mit ihm ausweichen. Das ist bequem, aber feige. Wenn wir eine freie, liberale und pluralistische Gesellschaft sein wollen, dann müssen wir auch schmerzliche Prozesse zulassen und durchstehen. Denn erst daran zeigen wir die Belastbarkeit hochtrabender Worthülsen. Diese Worte richte ich gerade an die, die immer glauben, die Weisheit mit Löffeln gefressen und die Wahrheit gepachtet zu haben. Ich respektiere Thilo Sarrazin, auch wenn ich nicht alles an ihm und von ihm mag.

Der »schlaue Det« hat mir ein bisschen die große, weite Welt erklärt. Trotzdem sitze ich im Auto und finde auf die Frage, ob ich nun für meinen Job in Neukölln besser gerüstet bin als vorher, keine schlüssige Antwort. Für heute verabschiede ich mich von der Metaebene und den globalen Philosophien und kümmere mich wieder darum, dass in Neukölln Kinder lesen, schreiben und rechnen lernen und sie zu der Erkenntnis gelangen, dass es ein Leben außerhalb von Hartz IV gibt.