Das kleine Finale

Zum großen Finale und Feuerwerk mit Krachbumm eignet sich das Thema dieses Buches wenig. Sie haben sich tapfer bis hierher durchgearbeitet und sind vielleicht, nachdem ich Ihnen von meinen Erfahrungen berichtet habe, von einer gewissen Ratlosigkeit befallen. »Ja, und nun?«, lautet die Frage. Ein Patentrezept gibt es nicht. Bei gesellschaftspolitischen Themen gibt es eigentlich so gut wie nie das Rundum-Sorglos-Paket für alle. Entscheidend ist, dass wir begreifen: Es ist reichlich zu tun, und wir müssen uns sputen.

Aus tiefer Überzeugung glaube ich, dass eine der krassesten Beschreibungen unserer integrationspolitischen Brennpunkte zutrifft und dass sie uns den Weg vorgibt. Sie stammt von dem bildungspolitischen Sprecher der Berliner GRÜNEN. Er sagte einmal zum Thema Segregation: »Ja, sie (Anm. d. Verf.: die Menschen) entscheiden mit den Füßen, und zwar längst nicht mehr nur deutsche Eltern. Aber gesamtgesellschaftlich gesehen ist das keine Lösung. Es bedeutet nämlich, sich mit Ghettos abzufinden und auch mit Parallelgesellschaften. Doch spätestens, wenn diese Ghettos explodieren, wird es zu unser aller Problem. Ich finde es ja auch die staatsbürgerliche Pflicht eines jeden, nicht den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen.« Das Zitat ist schon einige Jahre alt, aber es ist so aktuell wie damals.

Ich habe in diesem Buch versucht darzulegen, welchen Weg unsere Gesellschaft aus heutiger Sicht wird gehen müssen.

  1. Deutschland ist ein Einwanderungsland und aus demographischen Gründen nahezu gezwungen, eines zu bleiben und um die klugen Köpfe dieser Welt zu konkurrieren.
  2. Wir brauchen eine konzeptionell strukturierte Einwanderungspolitik. Zufall und Bildungsferne werden unsere Gesellschaft nicht stärken, sondern schwächen und die Sozialsysteme sprengen.
  3. Die Integration aller in unser Wertesystem und in die hier geltenden gesellschaftlichen Lebensregeln ist keine Wohlfahrtsveranstaltung, sondern die Voraussetzung zum Überleben unserer Gesellschaft nach heutigen Maßstäben.
  4. Die Integration in eine Leistungsgesellschaft ist ohne Bildung und ohne Bereitschaft zur Bildung nicht möglich. Das berechtigte Streben nach Wohlstand darf nie das Sozialsystem zur Grundlage haben.
  5. Der Wunsch des Einzelnen nach einem eigenen Lebensentwurf und einem emanzipierten Leben steht auf einer Stufe mit der Pflicht der Gesellschaft, die Wege dafür durch Chancengerechtigkeit zu öffnen.
  6. Unser Bildungssystem muss sich stärker auf die Ausbildung von Kindern und Jugendlichen aus Unterschichten und dem Milieu der Bildungsferne einstellen. Kindergartenpflicht und gebundene Ganztagsschulen werden hierfür die konsequenten Bausteine sein.
  7. Eine zwischen den gesellschaftlichen Schichten ausgewogene Geburtenrate ist langfristig von immenser Bedeutung. Aus diesem Grund dürfen familienpolitische Stimulanzen nicht ausschließlich auf die Unterschicht ausgelegt sein.
  8. Deutschland muss in die Zukunft des Landes und damit in die Infrastruktur für Kinder investieren und nicht reparieren und alimentieren.
  9. Die Würde jedes Einzelnen ist unantastbar. Unser demokratisches Staatsgefüge mit einem Gesellschaftsaufbau nach Maßgabe der Grundrechte und mit den Prinzipien der Toleranz und des Humanismus ist gegen jeden aktiv zu verteidigen. Es gibt keine Deckmäntel, wie immer sie auch heißen, die einen Kulturrelativismus akzeptabel machen.
  10. Die Ordnungsprinzipien des täglichen Lebens gelten auch für Einwanderer. Wer mit den Gesetzen dieses Landes nicht leben kann oder leben will, wem das Leben zu liberal und zu gottlos ist und wer sich nach feudalen Lebensverhältnissen sehnt, dem sei viel Erfolg bei der Suche nach einem Ort irgendwo auf der Welt gewünscht, der seinen Idealen besser entspricht.

Ich glaube, dass es viele Menschen unterschiedlichster politischer Herkunft gibt, die sich hinter den vorstehenden Punkten versammeln können. Die Frage ist immer nur, wie wir solche Grundsätze im Alltag leben. Mit verklärtem oder mit klarem Blick?

Kurz vor dem Abschluss der Arbeiten zu diesem Buch nahm ich an einer der üblichen Tagungen teil. Ich war wie immer als Mann der klaren Sprache eingeladen, sollte den Konterpart zu den anwesenden Gutmenschen darstellen, auf Neudeutsch also den bad boy geben. Was bestellt wurde, habe ich geliefert. Ohne dramaturgische Übertreibungen und rhetorische Kunstkniffe. Ich habe einfach nur so aus meinem Alltag berichtet. Das reicht erfahrungsgemäß für Zuhörer aus dem gehobenen Bildungsbürgertum völlig aus. Viele können sich die Lebensverhältnisse in einem sozialen Brennpunkt noch nicht einmal im Traum vorstellen.

Ich bekam anschließend von dem Vorsitzenden einer großen deutschen Stiftung tüchtig Schimpfe. Er könne überhaupt nicht verstehen, warum ich so negativ und resignierend vor ihm gesprochen hätte. (Hatte ich gar nicht!) Es gebe doch viele gute Beispiele, die Mut machten. Er zitierte Frau Prof. Dr. Böhmer, dass wir in jüngster Vergangenheit bei der Integration einige große Schritte nach vorn gemacht hätten. Spontan erinnerte ich mich dabei an ihre Aussage, dass es nur noch eine Frage kurzer Zeit wäre, bis Kanada Deutschland um seine Integrationserfolge beneiden würde. Das ist nichts anderes als eine autosuggestive Scheinwelt, die den außenstehenden Betrachter sprachlos macht. Dazu passt die Abschiedsbotschaft des Berliner Integrationsbeauftragten Günter Piening im Sommer 2012: »Die (Bundes-)Länder haben ihre Bildungseinrichtungen von der Krippe bis zur Sekundarschule interkulturell fit gemacht.« Man kann sich aber auch alles schönreden.

Natürlich ist es so, dass es viele gute, Mut machende und vorbildliche Einzelschicksale, Projekte, Maßnahmen oder Vorhaben gibt. Darüber besteht nirgendwo Dissens. Ich fragte aber eingangs, woran man die Verkehrssicherheit einer Kreuzung misst: an der Zahl der Fahrzeuge, die sie reibungslos passieren, oder an den Unfällen, zu denen es dort kommt.

Wenn es so bleibt, dass die einen auf dem Berg stehen und auf ihre Erfolge verweisen und die anderen auf dem Nachbarberg auf die im Tal Verbliebenen zeigen, dann wird deutlich, was der Wissenschaftler und Autor Hamed Abdel-Samad meint, wenn er die deutsche Gesellschaft eine asymmetrische Gesellschaft nennt. Eine Gesellschaft, die auseinanderstrebt und in der die Kluft zwischen den gesellschaftlichen Schichten immer größer wird. Also eine, die Abiturienten in Berlin-Neukölln hervorbringt und sie dann nach Berlin-Steglitz segregieren lässt, während der Anteil der Ausgegrenzten in Neukölln unvermindert aufwächst. Das bedeutet, dass alle, die sich nur am partiellen Erfolg ihrer gelungenen Projekte berauschen, aber konsequent die Augen vor den Zurückgebliebenen verschließen, trotz allen Engagements und aller guten Taten zu Architekten der asymmetrischen Gesellschaft werden.

Es gibt viele asymmetrische Gesellschaften auf dieser Erde. Es gibt bei uns auch Parallelgesellschaften. Beide mag ich nicht. Ich bleibe beim Idealbild der integrierten Gesellschaft und habe mir dafür den Ansatzpunkt bei den Kindern ausgesucht.

Wir werden den Knick im Tunnel, hinter dem das Licht an seinem Ende zu sehen ist, erreichen. Das ist sicher. Neukölln ist überall. Aber vielleicht werden spätestens dann andere Städte froh sein, zum Kreis der Neuköllns zu gehören. Gemeinsam sind wir stark. Deshalb wird es für alle immer mehr zur Gewissheit:

Wo Neukölln ist, ist vorne.

Sollten wir einmal hinten sein, ist eben hinten vorne.