Der Schulalltag hat viele Gesichter

Bei der Abfassung eines Buches mit der Aufgabenstellung, die ich mir gesetzt habe, kommt man immer wieder an die Stelle, an der man sich selbst fragt, ist es nicht genug? Haben jetzt nicht alle begriffen, was du meinst? Oder ist es der Chronisten-Pflicht geschuldet, umfassend zu berichten? Mir fallen dann die schnellen, besänftigenden Kommentare ein, die bei irgendeinem unschönen Vorgang beteuern, dies sei ein absoluter Einzelfall, den man auf gar keinen Fall verallgemeinern dürfe. Das ist eben die Lebenslüge! Bestimmte Entwicklungen sind identisch und von einer Stelle oder von einem Ort auf den nächsten übertragbar. Deswegen helfen uns ja auch keine Projekte. Diese wirken regional und temporär. Aber schon an der nächsten Ecke helfen sie nicht mehr. Deshalb will ich die Beispiele weiter streuen, um zu zeigen, dass sich viele engagierte Leute an unterschiedlichen Orten mit immer den gleichen Problemen auseinandersetzen müssen.

Eines Tages schickt mir unaufgefordert eine Grundschule ihr neues pädagogisches Konzept mit der Bitte um Unterstützung. Auf den ersten Blick bin ich etwas verwundert, denn die Schule liegt, geographisch gesehen, in einem »befriedeten« Gebiet. Auch die statistischen Werte sind für Neukölln nicht wirklich eine Sensation. Der Anteil der Einwandererkinder beträgt 70 % und der Anteil der Schüler mit Lernmittelbefreiung 35 %. Eine Schule im Innenstadtbereich würde diese Verhältnisse als sehr entspannt bezeichnen. Trotzdem gibt es Probleme. In ihrem Konzept beschreibt die Schule die Situation so:

»Alle bisherigen Bemühungen, Eltern zur Zusammenarbeit mit unserer Schule zu bewegen, führen zu schmalen Ergebnissen. An unserer Schule existiert seit drei Jahren ein Eltern-Café. Seit einem Jahr kommen von 340 Eltern nun ca. zehn Mütter regelmäßig. Seit drei Jahren finden gemeinsame Konferenzen für Eltern, Lehrer und Hort-Erzieherinnen an unserer Schule statt, in denen wir mit den Eltern unsere Themen und unsere Arbeit besprechen wollen. Teilnahme 40 von 340 Eltern. Entwickelte Förderpläne für lernschwache Kinder werden von den Lehrerinnen zusammen mit den Kindern und Eltern besprochen und unterschrieben, denn zu Hause müssen die Eltern mit ihren Kindern üben, wenn sie nachhaltige Erfolge für ihre Kinder erleben wollen. Nachweislich üben die wenigsten Eltern mit ihren Kindern zu Hause.
Am Gesamtelterntreffen nimmt noch nicht einmal die Hälfte der Eltern teil. Elternabende sind zunehmend schlecht besucht. Die wöchentliche Sprechstunde der Lehrerinnen wird kaum von den Eltern genutzt. Von der Schule ins Leben gerufene Elternaktionen zur Verschönerung der Schule, die schließlich ihre Kinder besuchen, wurden nur von ca. 5 % der Eltern wahrgenommen. Andererseits sind die Eltern anspruchsvoll. Der Anspruch richtet sich gegen die Schule. Wir Lehrerinnen und Erzieherinnen sollten die Kinder rundum bilden und erziehen.
Die Kinder leben in Armut, aber darunter ist nicht die finanzielle Situation zu verstehen, sondern die Erziehungs- und Bildungsarmut. In der Schule werden von Organisationen der Einwanderer Seminare für arabisch- und türkischstämmige Menschen angeboten. Konkrete Aktionen kommen nicht zustande, weil die Mindestzahl von zehn Teilnehmern nicht erreicht wird.«

Diese sehr engagierte Schule hat einen Strich gezogen. Sie sagt, die Erfahrung der letzten Jahre zeige, dass unsere Eltern dringend Unterstützung benötigen. Wenn die freiwilligen Angebote jedoch nicht in Anspruch genommen würden, müssten sie künftig verpflichtend sein. Nur mit Verbindlichkeit lasse sich Nachhaltigkeit erreichen. Die Schule hat die Sorge: »Auch an unserer Schule lassen sich in den letzten Jahren vermehrt Bullying-Situationen, also körperliche, verbale und psychische Gewaltausübung unter den Schülern, beobachten. Zudem werden wir vermehrt Zeugen rassistischer Äußerungen.« Zu Recht bemängelt die Schule, dass sie mit ehrenamtlichen Mediatoren und nur dem Stammpersonal diesen Herausforderungen auf Dauer nicht gewachsen ist.

Die Erziehung und Bildung eines Kindes vollziehen sich in einem Dreieck, bestehend aus dem Elternhaus, der Schule und dem sozialen Umfeld. Dies ist unstrittig. Gelegentlich gibt es unterschiedliche Präferierungen für die einzelnen Mosaiksteine. Mal werden sie als gleichgewichtig angesehen, mal weist man dem Elternhaus die bestimmende Wirkung zu, mal der Schule, mal dem sozialen Umfeld. In einem sind sich alle Fachleute jedoch einig: Bricht einer der drei Bereiche weg, können die beiden anderen die Funktionsfähigkeit des Dreiecks kaum aufrechterhalten. »Wenn ein Elternhaus einem Lehrer, einer Lehrerin oder einer Schule ablehnend gegenübersteht, haben wir ganz, ganz schlechte Karten, weil das Kind in seinen negativen Sozialhandlungen gedeckt wird«, so formuliert es ein Schulpsychologe mit langjähriger Berufserfahrung.

Bei all meinen Kontakten mit Erziehern, Sozialarbeitern und Lehrern habe ich niemals gehört, dass von diesen Klage über die Kinder geführt worden wäre. Auch die Eltern wurden nur indirekt als Verursacher der kritischen Situation empfunden. Ansatzpunkt für die zum Teil ja doch recht heftigen Worte waren stets unser gesellschaftliches Versagen auf der einen Seite und auf der anderen die importierten Wertegerüste, die archaischen Verhaltensweisen und tradierten Rollenmuster, in denen die Familien verhaftet sind und die zu ihrer Unbeweglichkeit und mangelnden Anpassung führen. Religiöser Wahn, fundamentalistische Glaubensriten, aber auch Bequemlichkeit und Abzocke – das sind die Dinge, die die Helfer zur Verzweiflung treiben.

Im folgenden Kapitel werden Sie der Rütli-Schule erneut begegnen. An dieser Stelle nur ein kleiner Vorgeschmack, wie alles begann. Es war ein richtiges Medien-Festival. Als ob jemand den Spund aus dem Weinfass gezogen hätte. Ich hatte so etwas in meinem Leben noch nicht gesehen. Die ganze Rütlistraße glich einem Heerlager: Zelte waren aufgebaut, Wohnwagen, Dutzende von überdimensionierten Satellitenschüsseln aufgestellt. Ich glaube, die Redewendung »Hunderte von Journalisten« ist nicht übertrieben. Alles musste damals herhalten: Bilder der Gewalt, unflätige Äußerungen der Schüler, Kommentare, die das Blut in Wallung brachten. Die veröffentlichte Meinung brauchte ihren Horrortrip. Noch lange gab es Streit um die Anschuldigungen, dass Journalisten Schülern Geld dafür gezahlt hätten, dass sie vor laufenden Kameras randalieren.

Als einige Journalisten damals durch das Gebäude geführt wurden, waren sie arg enttäuscht. Es gab keine beschmierten Wände, keine herausgetretenen Türen, und nirgendwo waren Blutlachen auf der Erde zu sehen. Ich will die schwierige Situation seinerzeit nicht schönreden. Aber die Rütli-Schule war eine Hauptschule wie viele andere in Deutschland. Die, die da unterrichtet wurden, waren nicht selten sogenannte »Wanderpokale«. Also Schülerinnen und Schüler, die von Schule zu Schule durchgereicht worden waren, bis sie dann in der Rütli-Schule landeten.

Natürlich wussten die jungen Leute das. Ihnen war klar, dass die Rütli-Schule nicht der Start in ein glorreiches Leben, sondern eher das Ende einer vermasselten Schulkarriere war. Und so benahmen sie sich auch. Sie hatten bis zur Ankunft in dieser Schule nichts getan und nichts gelernt, und sie setzten diese Haltung routiniert fort. Unterricht im klassischen Sinne war an dieser Schule nicht möglich.

Das war die eine Seite der Medaille. Die andere Seite war ein Kollegium, das auf die Schülerschaft nicht vorbereitet war und ihrer auch nicht Herr wurde. Die kulturelle Kompetenz der Lehrkräfte war schnell ausgeschöpft. Das merkten die jungen Leute sehr flink. Rücksichtslos, wie Jugendliche nun einmal sind, nutzten sie jede Schwäche aus und feierten jeden Nervenzusammenbruch, jeden Tränenschwall einer Lehrerin als einen gigantischen Sieg über die verhasste Schule.

Aus dieser Situation heraus entstand die Erfolgsgeschichte vom Campus Rütli. Ein Vorzeigeprojekt, auf das wir stolz sind und an dem viele Menschen ihren Anteil haben. Es macht inzwischen richtig Spaß, die sich immer weiter steigernden Erfolge der Rütli-Schule mitzuerleben.

Das zweite Beispiel, dass Schule in Brennpunkten anders geht, ist das Albert-Schweitzer-Gymnasium. Es liegt in einem »kriminalitätsbelasteten Gebiet«, wie die Polizei sagt. Im Inneren war wohl auch nicht alles Gold, was glänzte. Jedenfalls war es 2006 so, dass es noch 385 Schülerinnen und Schüler auf 640 Plätzen gab. Die Schule starb. Wir hätten sie damals schließen können. Ja, eigentlich schließen müssen. Die öffentliche Reaktion hätte gelautet: »Die Doofen in Neukölln brauchen kein Gymnasium.« Der damalige Schuldezernent und ich wollten das nicht. Wir wollten eine erfolgreich funktionierende Schule. Und so wurde ein neuer Direktor geholt. Einer, der tschechische Schüler zum deutschen Abitur geführt hatte. Was mit Tschechen geht, muss mit Neuköllnern auch klappen, dachten wir uns. Und wir machten aus dem Normal-Gymnasium eine Modellschule – Berlins erstes Ganztagsgymnasium. Als Partner holten wir das Quartiersmanagement und das Türkisch-Deutsche Zentrum ins Boot. Sie übernahmen die Freizeitgestaltung und das Schülercoaching. Die Coaches sprechen die Sprache der jungen Leute, für die ein Oberstudiendirektor eine Anzeige bekommen würde. Wir führten Förderkurse ein. Förderkurse in Deutsch an einem deutschen Gymnasium! Der Skandal war perfekt. Im Probejahr fingen wir mit den Schülern an, die gerade die Grundschule beendet hatten und jetzt in die 7. Klasse kamen, und verlängerten mit Erfolg die Probezeit auf zwei Jahre. Der Anteil von Einwandererkindern beträgt nach wie vor 93 %. Überwiegend aus bildungsfernen Familien. Die Schule analysiert die Defizite und geht sie an.

Heute, sechs Jahre später, hat das Gymnasium 691 Schüler. Wir mussten die Räume erweitern. Es ist inzwischen eine sehr beliebte Schule. Die Zahl der Abiturienten wurde versechsfacht. Die Noten liegen im Berliner Durchschnitt, und heute hat jeder Berliner Bezirk ein Ganztagsgymnasium. Über die Kosten hatte ich bereits berichtet. Das Albert-Schweitzer-Gymnasium ist keine bildungspolitische Revolution. Aber es hat uns gezeigt, dass Schule und Bildung auch im sozialen Brennpunkt funktionieren können.

Das sind die Beispiele, die ich an anderer Stelle meinte. Das Albert-Schweitzer-Gymnasium und die Rütli-Schule sind zwei Leuchttürme Neuköllns. Trotzdem reicht ihre Kraft natürlich nicht, um die Gesamtsituation in einer Stadt von 313 000 Einwohnern zu verändern. Solange wir die Regelsysteme nicht den veränderten Anforderungen anpassen, solange werden die Probleme uns beherrschen und nicht wir sie. Auch in Neukölln haben wir noch immer Schulen mit starken Disziplinproblemen, mit Schulverweigerern, Rowdys, Gewalt und Vandalismus. Die ethnischen Komponenten wirken dabei im Tagesgeschäft unserer Kollegien erschwerend. Die Rütli-Schule war nur das Synonym für eine gescheiterte Bildungspolitik. Immer wieder gibt es solche Aufwallungen in anderen Bezirken Berlins oder auch bei uns. Die nachstehenden Auszüge eines Briefes der Lehrerschaft einer anderen Neuköllner Schule stammen von Mitte 2011. Also fünf Jahre nach Rütli. Hat sich grundlegend etwas geändert?

»Folgende Probleme sind in den höheren Jahrgangsstufen besonders gravierend und führen das Kollegium an die Grenze seiner Belastbarkeit:
  • geringe Lernbereitschaft
  • mangelnde Sprachkompetenz, sowohl bei Schülern nicht-deutscher Herkunftssprache als auch bei deutschen Schülern
  • fehlendes Arbeitsmaterial
  • vermehrte Verspätung und erhöhte Schuldistanz
  • massive Störung des Unterrichtsablaufs durch immer mehr verhaltensauffällige Schüler
  • gesteigerte Missachtung gegenüber der Institution Schule (Zerstören von Mobiliar, Müll auf den Boden werfen, Urinieren in Aufgängen, Spucken auf Boden, Treppengeländer und Türklinken usw.)
  • zunehmende Respektlosigkeit, Gewaltbereitschaft und Gewaltausübung gegenüber Mitschülerinnen und Mitschülern, Lehrerinnen und Lehrern und pädagogischem Personal
  • Im April 2011 wurde ein Lehrer von einem Schüler des 9. Jahrgangs mehrfach beleidigt und körperlich bedroht.
  • Innerhalb von sieben Monaten hat unsere Schule drei gewaltbereite, verhaltensauffällige Schüler aus anderen Schulen aufgenommen. Sie mussten Klassen zugewiesen werden, die ihrerseits als überdurchschnittlich schwierig gelten. Zwei dieser Schüler hatten an ihren vorherigen Schulen Lehrer verletzt, an unserer Schule bedrohte einer dieser Schüler eine Lehrerin und beabsichtigte außerdem, einen pädagogischen Mitarbeiter anzugreifen, was Mitschüler jedoch verhindern konnten.«

Wenn ich über diese Dinge berichte, sie aufschreibe und publiziere, dann will ich mich daran nicht ergötzen. Aber man kann es drehen und wenden, wie man will: Schule ist in einem Brennpunktgebiet schon der Kristallisationspunkt schlechthin. Dafür ist ein trauriger Beleg, dass in einer Neuköllner Schule niemand von den Eltern zum vorgesehenen Termin erschien, um sich in die Schulkonferenz wählen zu lassen. Es war den Eltern völlig egal, was an der Schule ihrer Kinder passierte. Mitmachen, warum denn? Ein Jahr später war es nicht viel besser. Auf ein erstes Einladungsschreiben zur Besetzung von 20 Plätzen in der Elternvertretung erschienen vier Eltern. Auf eine zweite Einladung kamen sieben. Auf die Einladung zum Elternsprechtag anlässlich des Jahrgangswechsels aus der 8. in die 9. Jahrgangsstufe und zur Durchführung eines Schülerpraktikums erschienen von 40 Eltern lediglich fünf.

Positivbeispiele sind Neuköllner Schulen, die immer wieder nationale und internationale Preise gewinnen. Teilweise zum zweiten oder dritten Mal. Das sind Schulen mit sehr starken Leitungen, hinter denen sich gerne Lehrer versammeln, die ihre eigenen hohen Maßstäbe in die Praxis umsetzen wollen. Es sind die, die sagen: Ich kann es, ich weiß, dass es geht, und ich werde Erfolg haben.

Hierunter fällt auch der von einer Deutschlehrerin in einer Sekundarschule mit schwieriger Schülerschaft gegründete Literaturzirkel. Der »Eintrittspreis« in den Arbeitskreis ist der auswendig gelernte Erlkönig. Zu den Programmpunkten gehören Exkursionen auf den Spuren berühmter Dichter und Schriftsteller. Der Schülerkreis ist inzwischen auf 40 Mitglieder angewachsen, so dass schon eine Warteliste eingerichtet werden musste – ein weiteres Beispiel dafür, dass es gelingen kann, extrem destruktive junge Menschen zu erreichen. Mit Engagement, und wenn man sie ernst nimmt und es ihnen auch zeigt.

Das eben geschilderte Desinteresse der Eltern hat im Übrigen nichts damit zu tun, dass sie keine klaren Vorstellungen zum gewünschten Arbeitsergebnis der Schulen haben. Das Meinungsforschungsinstitut TNS EMNID hat eine Untersuchung vorgelegt, für die 500 Eltern befragt wurden, die ihre grundschulpflichtigen Kinder zur Nachhilfe schicken. Von den Eltern mit Migrationshintergrund wollten 54 %, dass ihre Kinder einmal das Gymnasium besuchen. Von den deutschen Eltern waren es nur 25 %. Die Einwanderereltern beklagen sich auch nicht über Druck an der Schule. Das ist eher eine deutsche Domäne. In den Nachhilfefächern belegen Deutsch und Mathematik die ersten beiden Plätze. Diese Studie bestätigte eine Befragung türkischer Einwanderer des Instituts Allensbach. Auch hier stellte man einen auffallenden Bildungsehrgeiz fest. 71 % der türkischen Eltern stimmten der Aussage zu: »Meinen Kindern soll es einmal besser gehen als uns.« In der Gruppe aller Eltern waren es nur 41 %. Wenn man also das Verhalten der Eltern im Schulalltag in Beziehung zu ihren Bildungserwartungen stellt, ist eine Diskrepanz in vielen Fällen unübersehbar.

Wenn wir zur Kenntnis nehmen müssen, wie wenig sich im Alltag unserer Schulen in den letzten Jahren geändert hat, dass die Unterstützungsmaßnahmen stets nur halbherzig waren, dann erhalten die am Beginn des letzten Kapitels wiedergegebenen Zitate von Klaus Kinkel und Klaus Wowereit einen bitteren Beigeschmack. Die Auflösung der Hauptschulen in Berlin war richtig und wichtig, kam aber zu spät und ohne ausreichende materielle Unterfütterung. Dazu gesellen sich Wunderlichkeiten: Ich empfinde es noch heute als einen Treppenwitz, dass im Jahre 2008 der Berliner Senat die Klassenfrequenzen in den Grundschulen der Problembezirke – nein, nicht gesenkt, sondern aufgestockt hat, nämlich von 20 auf 24 Kinder. Hintergrund war, dass die Absenkung der Frequenz in den sozial schwierigen Gebieten auf die Missgunst der Parteifunktionäre in den bürgerlichen Bezirken fiel. Das war die berühmte Berliner Solidarität. Insbesondere in der SPD, versteht sich.

JüL und VERA 3 sind Ihnen schon begegnet, aber ich denke, wir sollten diese Themen noch etwas vertiefen. Die Abschaffung der Vorklassen war meines Erachtens ein kapitaler Fehler. Gerade in den Brennpunktlagen waren die Vorklassen eine prima Einrichtung, um die Kinder aus bildungsfernen Familien ein Jahr lang zu trainieren und auf die Schule vorzubereiten. Man kann auch sagen: um sie schulfähig zu machen. Bis heute trauern die Schulen den Vorklassen nach. Ein Vorschulkind machte in diesen zwölf Monaten einen solchen Sprung im Kompetenzerwerb, dass sich der Start in die Schullaufbahn erheblich reibungsloser vollzog als mit der modernen Nachfolgelösung. Diese heißt »jahrgangsübergreifendes Lernen«: JüL. Man kann auch Schulanfangsphase in altersgemischten Klassengruppen dazu sagen. Das Einschulungsalter wurde auf 5½ Jahre herabgesetzt. Die Kombination aus Aufgabe der Vorklasse und gleichzeitigem Absenken des Einschulungsalters bezeichnen Praktiker als bildungspolitische Katastrophe. Insbesondere Kinder, die vor der Einschulung nicht mindestens zwei Jahre in einer Kindertagesstätte waren, haben sich zu einer ausgesprochenen Herausforderung für die Lehrer entwickelt. Diese Erstklässler sind teilweise noch sehr kleinkindlich, motorisch sehr stark zurück und nicht altersgemäß entwickelt, weil sie keinerlei Bewegungserfahrung haben, nie herumtoben konnten und immer nur im Auto oder Buggy hin- und hergekarrt wurden. Das ist einfacher und geht deutlich schneller, als mit einem kleinen Kind an der Hand zu laufen. Aus dem Wagen vor den Fernseher – das führt nun einmal nicht zu einer altersgemäßen Entwicklung. Aber dieses Thema hatten wir jetzt schon mehrfach.

Zunehmend treffe ich Lehrkräfte, die der Verzweiflung nahe sind. Sie sagen: »Ich habe nie gelernt, mit ›halben Babys‹ Schule zu machen.« JüL beruht auf dem Grundsatz, dass ältere, bereits fortgeschrittene Kinder die Verantwortung für jüngere übernehmen und sie an ihren Kompetenzen teilhaben lassen. Für die Jüngeren wiederum sind die Älteren ein Vorbild, sie ahmen sie nach. Das alles funktioniert aber nur, wenn die Älteren über Kompetenzen verfügen und diese auch verantwortungsbewusst einsetzen wollen und können. Dort, wo der Kleinere und Schwächere zum willkommenen Opfer wird, oder dort, wo der Ältere eher Vulgärsprache und körperliche Bedrohung sowie die Erfahrung der Überlegenheit vermittelt, bricht das System zusammen. Das gilt analog, wenn Kleinere nicht Sozialverhalten und Wissen vom Älteren aufnehmen, sondern den Beweis antreten wollen, dass kleiner nicht schwächer heißen muss.

Dieses JüL wurde zum jahrelangen Glaubenskampf in der Berliner Lehrerschaft. 1000 Lehrer aus Brennpunktschulen unterschrieben damals eine Resolution, in der sie darum baten, JüL an ihren Schulen nicht einführen zu müssen. Es hörte niemand hin. Heute sind wir einen Schritt weiter. Inzwischen wird den Schulen freigestellt, ob sie mit JüL die Schullaufbahn starten oder mit traditionell altersgetrennten Klassen. So, wie es zu jedem Kollegium und zu den Anforderungen des Einzugsgebiets passt. Man hätte in einem Rutsch auch die Vorschulklassen gleich wieder reanimieren können. So viel Revolution hat dann leider doch nicht geklappt. Schade.

Ein ähnlicher Zankapfel ist der bundesweite Leistungstest VERA 3. Auch hier weisen die Schulen in den sozialen Brennpunkten darauf hin, dass dieser Test den Kindern nicht hilft, sondern sie eher zurückwirft. Nach Meinung der Lehrer ergibt es keinen Sinn, Kindern Aufgaben vorzulegen, die sie nicht lösen können. Die sie schon deswegen nicht lösen können, weil sie sie gar nicht verstehen. »Kann man aus Seemannsgarn einen Pullover stricken?« Die Antwort auf diese Frage niederzuschreiben ist für viele Kinder nicht möglich. Sie wissen nicht, was Seemannsgarn ist, sie wissen unter Umständen nicht, was ein Pullover ist, und das Wechseln von einer abstrakten in eine reale Ebene überfordert sie völlig.

Ich könnte noch mehr Beispiele aus VERA 3 zum Besten geben, aber ich möchte nicht, dass Sie eventuell an einer Aufgabe scheitern und traurig werden. Ich habe für meine Person entschieden, mich den Lehrern anzuschließen. Wir produzieren damit nur Kinder, die sich schämen. Oder Kinder, denen wir quasi »staatliches Schummeln« beibringen, weil die Lehrer unerlaubterweise helfen. Um festzustellen, dass die Kinder das nicht können, von dem wir wissen, dass sie es nicht können, brauchen wir den Test nicht. Trotzdem kommt es immer, wie es kommen muss. 38 % der geprüften Drittklässler erfüllen bei uns nicht einmal die Mindestanforderungen im Bereich Leseverständnis (von den Drittklässlern aus Migrantenfamilien sind es über 60 %), beim Zahlenrechnen bleiben weit mehr als 40 % unter den Mindestanforderungen. Einzig positiv ist dabei vielleicht die Kontinuität der schlechten Ergebnisse, könnte man sarkastisch anfügen.

Das desaströse Ergebnis der Prüfung zum Mittleren Schulabschluss habe ich bereits angesprochen. In Neukölln fielen 2012 über 80 % der Realschulprüflinge in Mathematik durch. Im Jahr zuvor waren es »nur« etwas mehr als 70 %. Eine ähnliche Entwicklung ist in ganz Berlin zu beobachten: Es bestanden nur 52 % die Matheprüfung. 2011 waren es 53 %, 2010 noch 67 % und ein Jahr zuvor 69 %. Auf Deutsch: Das Leistungsniveau sackt von Jahr zu Jahr ab. Aber wie erwähnt, diskutieren wir jetzt über das Leistungsproblem mit den Schülern. Das verhilft zum Zertifikat. Das Schwadronieren ist in Berlin eine beliebte Methode, um schwierigen Situationen verbal zu begegnen.

Ein immer wieder gern genommenes Thema sind in Berlin die Schulschwänzer, korrekt bezeichnet als »schuldistanzierte Jugendliche«. Die Überschriften sind martialisch, jeder hat etwas dazu beizutragen, und verbal kann man alle Marterinstrumente mal richtig zähnefletschend zeigen. Zwar ist das wirklich ein wichtiges Thema. Aber in der Praxis bleibt es bei den Drohgebärden. Das geht so weit, dass man nach außen doppelt die Muskeln spielen lässt und im Dienstbetrieb Schulschwänzen gar nicht verfolgt.

Es ist ja auch schwierig. Aktive Schulschwänzer, die einfach keine Lust haben, zur Schule zu gehen, handeln vorsätzlich und sind durchaus gewieft darin, Eltern, Schule und Behörden hinters Licht zu führen. Eltern, die nicht am Schulbesuch ihrer Kinder interessiert sind und wichtige, andere Aufgaben in der Familie für sie haben, sind ein ganz anderes Kaliber. Einigkeit besteht sicher darüber, dass es überhaupt keinen Sinn macht, Schulschwänzer in Handschellen der Schule zuzuführen oder das SEK die Wohnung stürmen zu lassen. Die Verhältnismäßigkeit der Mittel verbietet derartige Gedankenspiele. Trotzdem bleibt die Tatsache, dass fast alle verpfuschten Leben mit dem Schulschwänzen angefangen haben. Nicht jeder Schulschwänzer wird Intensivtäter, aber jeder Intensivtäter war Schulschwänzer.

Ich habe schon angesprochen, dass es Berliner Bezirke gibt, die keine Schulverweigerer kennen. Also müssen sie sich auch keine Gedanken darüber machen, wie man mit ihnen umgeht. Die Glücklichen. Um die Dimension zu verdeutlichen: Als wir noch Hauptschulen hatten, lag dort die Schwänzerquote bei etwa 25 %. Das heißt, ein Viertel der Schüler blieb im Jahr länger als drei Wochen unentschuldigt der Schule fern. Seit der Auflösung der Hauptschulen können wir mit solchen Daten nicht mehr dienen. Der Vergleichswert bei den Gymnasien lag übrigens zwischen 3 % und 4 %.

Wir hatten uns in Neukölln auf eine Linie verständigt, die Maßnahmen und Möglichkeiten anzuwenden, die uns das Gesetz gab. Also, Schulversäumnisse anzeigen, Bußgeldbescheide und – soweit möglich – auch Zuführung zur Schule durch die Polizei. Letzteres war immer heftig umstritten. Die Polizei wollte es nicht, weil es ein undankbarer Job ist, und die Gutmenschen erklärten uns, dass dadurch die jungen Leute nicht besser werden, sondern nur noch verbockter. Das haben wir nie bestritten. Der damalige Schuldezernent und ich waren nicht so weit jenseits von Gut und Böse, dass wir glaubten, durch die Zuführung mit der Polizei würde aus dem »schuldistanzierten Jugendlichen« nun ein Messdiener werden. Wir wollten ihm aber den Vorbildcharakter nehmen. Wir wollten, dass alle anderen Schüler in der Schule sehen, dass es Ärger mit der Polizei gibt, wenn man nicht zur Schule geht. Die Ansprache: »Ey, Alter, Schule ist uncool, lass uns lieber Einkaufscenter gehen, abhängen, im Media-Markt ein bisschen gamen, und vielleicht finden wir einen zum Abziehen. Kannst du ruhig machen, passiert sowieso nichts«, sollte nicht auf fruchtbaren Boden fallen. Das war unser Ziel. Das funktionierte bis 2008 auch recht gut. Dann hatte sich – vermutlich dank einiger Reality-Shows – herumgesprochen, dass man nur die Tür nicht aufzumachen braucht, wenn die Polizei draußen steht, und schon ist diese ausgetrickst und abgewehrt. Das Schwert wurde stumpf. Wir sind nunmehr dazu übergegangen, die Bußgeldbescheide mit der Androhung der Erzwingungshaft zu versehen. Damit haben wir im Moment guten Erfolg. Leider ist uns damit aber die öffentliche Abschreckungswirkung verloren gegangen.

Bei den Bußgeldverfahren wegen Schulschwänzens litten wir in Berlin jahrelang darunter, dass diese von den Verkehrsrichtern mitbearbeitet wurden. Mit welchem Elan sich Verkehrsrichter einem Bußgeldbescheid von 75 Euro wegen fünf Tagen Schulschwänzens widmeten, kann sich jeder vorstellen. Die Verfahren wurden reihenweise eingestellt. Erst als es auf deutliches Drängen der Schulen zu einer Zuständigkeitsverlagerung von den Verkehrsrichtern zu den Jugendrichtern kam, änderte sich die Spruchpraxis.

Die vor ihrem Tod für Neukölln zuständige Jugendrichterin Kirsten Heisig war beim Thema Schulschwänzen gnadenlos. Einsprüche gegen Bußgeldbescheide waren zwecklos oder führten sogar noch zum Aufsatteln der Summe. Selbst sich im Schonbereich wähnende Hartz-IV-Eltern mussten Ratenzahlung vereinbaren; zahlten sie nicht, erließ Kirsten Heisig einen Haftbefehl. Die Geldscheine waren dann noch warm vom Drucken, so rasch gingen sie in der Gerichtskasse ein. Diese Praxis sprach sich schnell herum, genauso wie die Erfahrung, dass Kirsten Heisig durch Nachfragen in der Schule überprüfte, ob die von ihr erlassene Schulweisung befolgt wurde. Wer da schlampte, fing sich einen wunderbaren Nachschlag ein. Solche Dinge zeigten Wirkung. Nicht übermäßige, aber die Verhältnisse verschlimmerten sich auch nicht. Zartbesaitete können entspannen. Es musste nie ein Haftbefehl vollstreckt werden: Wir machten die gleichen Erfahrungen wie die Niederlande.

Ebenfalls der Abschreckung diente der Wachschutz. Die Zahl der Gewaltvorfälle an unseren Schulen, die von außen – also von Schulfremden – in die Einrichtungen hineingetragen wurden, hatte im Jahre 2007 eine beängstigende Höhe erreicht. In jedem Schulmonat kam es zu zwei zum Teil wirklich brachialen Gewalttaten in unseren Schulen. Lehrerinnen und Lehrer, Rektoren, Schülerinnen und Schüler wurden zusammengeschlagen oder gequält.

Eines Tages hatten sich vier arabischstämmige 16-jährige Gymnasiasten bei mir angemeldet. Im Gespräch fragten sie mich, was ich als Bürgermeister dagegen tue, dass Fremde auf ihr Schulgrundstück kämen und sie verprügelten? Ich saß ziemlich bedeppert da. Mangels einer wirklichen Antwort machte ich den vier jungen Leuten gegenüber lichtvolle Ausführungen, wie schwierig diese Frage sei, dass es sich oft um Beziehungstaten handle und dass man ja nicht in jeder großen Pause einen Polizeibeamten auf den Hof stellen könne. Ob sie mir mein Gerede abnahmen, es für glaubwürdig hielten oder nicht, haben sie nie verraten.

Die von den jungen Schülern hinterlassene Frage ließ mich aber nicht los. So kamen ein wenig später der Schuldezernent und ich zu dem Ergebnis, dass wir unsere Schulen schützen müssen. Da die Polizei es mit ihrem Personalbestand nicht kann und wir kein eigenes Personal dafür zur Verfügung hatten, blieb nur die Beauftragung eines externen Wachschutzunternehmens. Das schlug in Berlin ein wie eine Bombe. Schwarze Sheriffs an staatlichen Schulen! Die linke SPD in Berlin stand Kopf. Der damalige Innensenator beschimpfte mich ob des Einsatzes von »paramilitärischen Einheiten« an Schulen. Damit würden wir das Gewaltmonopol des Staates untergraben. Das verstanden wir gar nicht. Hatte uns die Polizeiführung doch belehrt, dass der Schutz des Grundstücks Angelegenheit des Eigentümers sei. Auch das großherzige Angebot, wir sollten doch Kooperationsvereinbarungen mit der Polizei schließen, lief ins Leere. Erstens helfen Kooperationsvereinbarungen nicht gegen einen akuten Angriff, und zweitens gab es die längst. Mit 55 Vereinbarungen standen wir sogar an der Spitze der Berliner Bezirke.

Senatsjuristen prüften alle möglichen Gesetze, ob man Neukölln das nicht verbieten könne. Der Schuldezernent wurde mehrfach in die Gremien des Parlaments einbestellt, um den ketzerischen Plänen abzuschwören. Er hielt es aber mit Martin Luther: »Hier stehe ich und kann nicht anders.«

Wir schrieben damals also den Auftrag aus. Die Firma Dussmann gewann die Ausschreibung. Sie unterschrieb auch den Vertrag. Eine Woche vor Dienstbeginn trat sie überraschend von ihm zurück. Verhandlungen seien zwecklos, das sei eine Anweisung von oben, hieß es.

Wir fanden eine zweite Firma. Diese sagte plötzlich ab, weil sie Schaden von sich und ihren Mitarbeitern abwenden müsse. Sie war stark in die Bewachung der Polizeieinrichtungen in Hessen involviert. Der Verband der Wachschutzunternehmen gab seinen Mitgliedern die Empfehlung, sich nicht um den Auftrag in Neukölln zu bewerben. Es wurde damals an allen Strippen gezogen, um das Projekt zu torpedieren.

Aber wir fanden doch ein Unternehmen, und unter großer Beteiligung der Medienwelt nahm der Wachschutz an Neuköllner Schulen seinen Dienst auf. Nun begann man, die Mitarbeiter zu bespitzeln. Wühlte in ihrer Vergangenheit herum, hinterfragte ihre Ausbildung und suchte nach Schmutz. Es gelang jedoch nicht, die Aktion zu diskreditieren. Das war in meinem gesamten politischen Leben in Berlin der unappetitlichste und bis an den Rand des Strafgesetzbuches reichende Vorgang, den ich miterlebt habe. Durchgehalten haben wir damals nur, weil es auch uns wohlgesonnene »Maulwürfe« in anderen Ebenen gab.

Eine kleine Ergänzung aus der Sparte Unterhaltung gibt es noch dazu. Die Anzahl der Übergriffe in den Berliner Schulen – unter den Schülern oder von außen hereingetragen – war damals recht hoch. Insbesondere die Vorfälle, in denen die Lehrer zur Zielscheibe wurden. Was tat man, um das Thema zu entschärfen? Ganz einfach: Die Meldepflicht wurde so geändert, dass bestimmte Vorfälle nicht mehr unter sie fielen und so nicht mehr in der Statistik auftauchten. Und schon sah die Welt viel friedlicher aus.

Zum Jahresende 2011 mussten wir den Vertrag mit den Wachschützern kündigen. Wir hatten in Folge der Wahlen und des Regierungswechsels keinen beschlossenen Haushalt und somit kein Geld mehr, um einen neuen Vertrag abzuschließen. Es handelt sich um rund 750 000 Euro. Im Jahre 2011 hatten inzwischen 16 Schulen Wachschutz, wobei dieser immer nur auf Antrag der Schule zum Einsatz kam. Er wurde niemandem übergestülpt. Schon am zweiten Schultag ohne Wachschutz kam es in einem Gymnasium zu einem schweren Vorfall mit Drogensüchtigen. Kurze Zeit später folgte ein weiterer Übergriff: Der einzige deutsche Schüler einer Schule hatte außerhalb der Schule Ärger mit einigen arabischstämmigen Jugendlichen einer anderen Schule, und am Tag darauf kam eine Horde von mehreren Dutzend Jugendlichen in die Schule, stürmte in das Klassenzimmer, räumte die Lehrerin beiseite, zertrümmerte das Mobiliar und schlug den Schüler zusammen. Ein Polizist sagte später, er sei der klassische Opfertyp. Auf Nachfrage der Medien wurde der Vorfall als Folge einer Schneeballschlacht bagatellisiert, und einige Monate später konnte sich niemand mehr so recht an die Sache erinnern. Insgesamt hat sich die Zahl der Fälle von Störungen durch schulfremde Personen, Vandalismus, Beleidigungen und Tätlichkeiten an Neuköllner Schulen seit dem Ende des Wachschutzes nach Aussage der Schulen wieder deutlich erhöht. Deshalb wird es im neuen Schuljahr ab 2013 in Neukölln auch wieder Wachschutz geben.

Glücklich ist jede Stadt, die keinen Wachschutz wegen solcher Verhältnisse benötigt. Wir haben ihn gebraucht. In den vier Jahren des Wachschutzes gab es nicht einen einzigen Gewaltvorfall in einer Neuköllner Schule, der durch Außenstehende ausgelöst oder verursacht worden wäre. Darüber hinaus können die Wachschützer 400 Fälle belegen, bei denen sie durch ihre Anwesenheit und ihren Einsatz Eskalationen und Gewaltvorfälle verhindert haben. Wenn es Maßnahmen in den letzten Jahren in Neukölln gegeben hat, die nachweislich ihren Zweck erfüllt haben, dann gehört der Wachschutz definitiv dazu.

Wo genau wir heute mit unseren Schulen stehen, lässt sich pauschal nicht beantworten. Ich kenne auch nicht jede Schule von innen. Aber ich kenne eine erkleckliche Anzahl mehr, als in diesem Abschnitt zu Wort gekommen sind. Der Fokus lag auf den Bereichen, in denen wir unser Pflichtenheft noch nicht abgearbeitet haben. Dort, wo wir nach wie vor blind sind. Natürlich gibt es Schulen in Neukölln mit einem hervorragenden Profil, musisch, sprachlich, sportlich, naturwissenschaftlich. Es gibt Schulen, die besuche ich zur Erbauung, um die negativen Erfahrungen nicht zur Norm werden zu lassen, um mich selbst wieder aufzurichten und zum Weitermachen zu motivieren. Ich kenne auch viele Elternvertreter, die einen tollen Job machen. Das alles gibt es. Ich sagte ja bereits, wir haben immerhin 66 öffentliche Schulen.

Natürlich kenne ich auch nicht jeden unserer 3500 Lehrerinnen und Lehrer und nicht jedes Kollegium. Aber ich nehme wahr, dass die Stimmung nicht gut ist. Es hat sich irgendwie ein Duckmäusertum breitgemacht. Die Macht der Political Correctness, öffentliches Mobbing und Resignation haben bei vielen wohl ihren Tribut gefordert. Starke Schulleiterinnen und Schulleiter sind in Pension gegangen. Einige haben sich versetzen lassen. Anderen wurde der Schneid abgekauft. Ich vermisse inzwischen eine ganze Reihe von mutigen Gesprächspartnern. Zum Beispiel den Rektor, der die Äußerungen seiner Schüler nach dem Mord an Hatun Sürücü – Sie ist zu Recht gestorben, sie hat gelebt wie eine Deutsche – öffentlich machte und dafür »Prügel« bezog. Ich verneige mich vor denjenigen, die Tag für Tag die Werte unserer Gesellschaft verteidigen und sich nicht kleinkriegen lassen. Egal, wie stark die Hierarchie ihre Krallen unter der Decke zeigt. Ich hatte bereits angedeutet, dass mir Journalisten zunehmend sehr deutliche Hinweise geben, dass sich Aktive aus dem Berliner Schuldienst nicht mehr trauen, ihr Gesicht zu zeigen, ihren Namen zu nennen oder sich überhaupt öffentlich zu äußern.

Die Gesamtsituation hat sich in der Sache nicht viel verändert. Wir haben etliche Schulen ohne Leitung – zum Teil seit Jahren. Es gibt Lehrerinnen und Lehrer, die ausgebrannt sind, und Schulen, bei denen mir eigentlich die Kinder leid tun, weil sie dort hingehen müssen. Wir haben nach wie vor zwangsversetzte Lehrer, die mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in Neukölln überhaupt nicht klarkommen. Die auch unsere Einwandererkinder nicht mögen. Die sie hänseln und beschimpfen. Ja, es ist wahr, dass es Diskriminierung an unseren Schulen gibt. Auch in Neukölln. Ich schäme mich dafür. Aber wo Menschen sind, sind auch Unzulänglichkeiten, Schwächen und Entgleisungen.

Manchmal ist es zum Verzweifeln. Ich stehe eines Abends bei meinem Lieblings-Chinesen, die Inhaberin kennen Sie ja schon. Ein junger Mann spricht mich an, der mich offenkundig erkannt hat. Es stellt sich heraus, er ist 20 Jahre alt, türkischstämmig und hat zwei Jahre zuvor in Neukölln sein Abitur abgelegt. Er engagiert sich ehrenamtlich in einem Projekt, das sich in einer bekannt schwierigen Schule Schülern widmet, um als gutes Beispiel wegweisend zu wirken und Jugendlichen mit Migrationshintergrund politische Bildung nahezubringen. »Vor einem halben Jahr habe ich eine 7. Klasse zur Betreuung übernommen. Die Kinder kamen alle frisch von der Grundschule. Nach dem Neuköllner Weltbild waren sie völlig normal. Ich konnte gut mit ihnen arbeiten. Heute, ein dreiviertel Jahr später, sind fast alle völlig kaputt. Ich kann mit ihnen kaum noch etwas anfangen.« Ob er eine Erklärung für den Wandel habe, frage ich ihn. »Ja«, sagt er, »Alkohol und Drogen. Kiffen tun alle.« – »Und die Lehrer, was machen die?«, entgegne ich. »Gar nichts, die sind auch kaputt und kommen an die Kids noch weniger ran als ich«, war seine resignative Bemerkung.

Der junge Mann war sehr betroffen. Ich merkte, wie sehr die Situation ihm zusetzte. Zum einen, weil er sich die Frage stellte, ob nicht er versagt hätte, und zum anderen, weil ihm klar wurde: Sein Lebensweg und der seiner Schützlinge werden wohl nicht in die gleiche Richtung gehen. Nach einem solchen Erlebnis ist man bedient für den Abend. Nicht einmal Ente kross konnte mich da noch richtig erfreuen. Ich kenne die Schule, von der er mir erzählte. Sie bräuchte dringend unsere Hilfe. Auf 100 freie Schulplätze kamen dort zum letzten Schuljahreswechsel ganze 20 Anmeldungen.

Für die inneren Angelegenheiten einer Schule sind bei uns in Berlin nicht die Bezirke zuständig. Eigentlich haben wir in den Schulen gar nichts zu sagen. Wir dürfen nur die Toilettentüren reparieren oder in Brand gesteckte Teile wieder aufbauen lassen. Dass von den vollmundigen Versprechungen, die ich eingangs zitiert habe, irgendetwas in der Praxis umgesetzt worden wäre, habe ich noch nie erlebt. Im Gegenteil. Wir bleiben wohl die Abschiebestation für die, die man woanders nicht haben will. Aber man wird sie brauchen, diese unsere Kinder, wenn sie die Renten und Pensionen des Bürgertums sichern sollen.

Das wird aber nicht so gehen wie in amerikanischen Kinofilmen, in denen ein »Hero« in der von »Outlaws« beherrschten Schule erscheint und in 90 Minuten alle Probleme löst. Bei uns dauert das ein bisschen länger. Ich glaube, dass es ein guter Schritt war, in Berlin das viergliedrige Schulsystem abzuschaffen. Hauptschule, Realschule, Gymnasium und Gesamtschule. Heute haben wir nur noch zwei Schulformen, die Sekundarschule und das Gymnasium. An beiden Schultypen kann man das Abitur ablegen. Auch Spätstarter bekommen also eine Chance. Am Gymnasium geht es ein bisschen schneller, an der Sekundarschule hat man ein Jahr mehr Zeit. Es gibt keine »Ausländerresteschulen« mehr. Und auch keine Endstationen. Wir wissen, dass pädagogische Reformen ihre Ergebnisse nach etwa zehn Jahren zeigen. Auf das Hopp oder Topp müssen wir also warten.

Den Zeitraum des Wartens können wir aber nicht tatenlos verstreichen lassen. Unsere Schulen brauchen jetzt Hilfe und Unterstützung. Was ganz bestimmt nicht hilfreich ist, ist die Form von Bürokratie pur, wie sie uns immer wieder begegnet.

Ein junger, mit sechs Jahren aus der Ukraine eingewanderter Mann besteht sein Abitur mit der Traumnote 1. Er studiert Biochemie und erhält aufgrund seiner außerordentlichen Studienleistungen vom Fakultätsrat der Uni die Sondergenehmigung, den Masterabschluss zu überspringen und gleich in die Promotionsphase einzutreten. Unmittelbar vor Abschluss seiner Doktorarbeit stehend, arbeitet er als Vertretungslehrer an einer Neuköllner Schule. Die Schule bietet ihm eine Stelle an, die er auch gerne annehmen würde. Doch beide haben die Rechnung ohne den Wirt in Gestalt der Schulbehörde gemacht. Seine höherwertige Qualifikation wird nicht anerkannt, hingegen auf den Masterabschluss gepocht. »Ich verstehe nicht«, so der junge Mann, »wie es sein kann, dass bei dem herrschenden Lehrermangel in den naturwissenschaftlichen Fächern solch unflexible und irrationale Entscheidungen getroffen werden.«

Ich kann das auch überhaupt nicht nachvollziehen. Junge motivierte Nachwuchslehrer, die den höchstmöglichen Abschluss in Deutschland haben und motiviert sind, an einer Problemschule zu arbeiten, wo es keinen Lehrer lange hält, werden mit sinnlosen formalen Bestimmungen vor den Kopf gestoßen.

Das ist vor allem kein Einzelfall. In einer Neuköllner Oberschule ist eine ungarischstämmige Lehrerin mit einem Zeitvertrag tätig. Als Klassenlehrerin in der Brennpunktklasse macht sie einen tollen Job. Deswegen möchte die Schule sie fest anstellen. Der Schulrat ist einverstanden und der Personalrat auch. Doch die hohe Landesschulverwaltung will nicht. Sie hat in Ungarn studiert und einen Abschluss mit zwei Wahlfächern erreicht. In Deutsch und in ungarischer Literatur. Letzteres interessiert hier keinen. Also braucht sie ein neues zweites Wahlfach. Das will sie auch gerne nachholen. Leider geht das nur mit einer Festanstellung. Eine Festanstellung erhält sie aber nur, wenn sie ein zweites Wahlfach hat. Alles klar?

Die beiden vorstehenden Fälle zeigen deutlich, wo wir trotz allen Geredes wirklich stehen und weshalb wir an manchen Stellen nicht weiterkommen. Schade. Wie gut hat es da der Rektor in London.

Dabei wird es Zeit für uns. In Deutschland erlangen etwa 40 % der Schüler die Berechtigung zum Hochschulstudium. Mexiko und die Schweiz schaffen noch weniger, aber ansonsten schneidet kein OECD-Staat schlechter ab. An der Spitze stehen Irland, Israel, Finnland, Polen, Schweden, die alle 80 % bis 90 % auf die Waage bringen. Nun muss man davor nicht in Ehrfurcht erstarren. In anderen Ländern sind Berufe an eine Hochschulausbildung gebunden, die bei uns einen anderen Bildungsweg haben. Beispiele hierfür sind die Meisterausbildung, die man in anderen Ländern so gar nicht kennt, oder das Berufsbild der Erzieher, das in anderen Ländern den Lehrern gleichgestellt ist und eine Hochschulausbildung erfordert. Eine Grundbedingung aber bleibt bestehen. Ob Hochschulausbildung oder nicht, Lesen, Schreiben und Rechnen muss jeder beherrschen. Egal, ob er aus Neukölln kommt, aus Badenweiler oder von der Elbchaussee.

Ich möchte dieses Kapitel mit einer kleinen Geschichte beenden, die so irre ist, dass man sie gar nicht glauben mag. Sie stimmt aber, ich war dabei.

Zur Schlusskonferenz des »Forums demographischer Wandel« war ich beim Bundespräsidenten im Schloss Bellevue eingeladen. Zum Einstieg gab es ein Panel – man kann auch Gesprächsrunde sagen – mit vielen dekorierten und renommierten Wissenschaftlern. Plötzlich erklärte ein Teilnehmer, dass er auf dem Weg zur Veranstaltung eine wunderbare Geschichte in der Zeitung gelesen habe: Eltern aus einem Berliner Nobelviertel hätten sich zu einer Initiative zusammengeschlossen und Bildungspatenschaften für Neuköllner Schüler übernommen. Diese Patenschaften wollten sie beleben, indem sie die Kinder aus Neukölln mit dem Auto von zu Hause abholen und sie dann nach Zehlendorf in die Schule fahren. Die Initiative hatte 20 Köpfe, alle gut betucht, und gab sich den Namen »Lift-Power – Zehlendorf hilft«. Der Fahrdienst sollte die Kinder jeden Morgen holen, damit es nicht zu Schulversäumnissen kommt. Nach der Schule würden die Neuköllner Kinder noch für eine Stunde nach Hause geholt. Es würde Snacks geben, und die Schüler würden sich gegenseitig Harry Potter vorlesen. Danach würden die Neuköllner wieder nach Hause gebracht. Es gab in dem ganzseitigen Pressebericht noch viele weitere Schmankerl, die würden an dieser Stelle aber zu weit führen.

Das gesamte Auditorium hochgeistiger Menschen war beeindruckt. Alle schauten sich an, nickten sich zu, der Bundespräsident war gerührt, und viele drehten sich zu mir um, wohl mit dem Gedanken: Siehste, Buschkowsky, wird doch! Nicht immer alles mies machen. In der anschließenden Kaffeepause wurde ich von mehreren Teilnehmern gefragt, wie ich zu dem Projekt stehe. Leider war ich auf dem falschen Fuß erwischt worden und peinlich berührt. Ich kannte die Aktion überhaupt nicht. Hastig fragte ich per Handy im Rathaus und im Schulamt nach. Doch keiner wusste etwas. So konnte ich mich nur in Belanglosigkeiten des Smalltalks retten, um das Gesicht zu wahren.

Am nächsten Tag kam die Auflösung: Die Veranstaltung hatte am 2. April stattgefunden, und der Artikel war am Tag zuvor erschienen. Es war nichts weiter als der Aprilscherz einer Zeitung. Aber die Geschichte war so schön, und die Spitze der Republik wollte sie halt glauben.