Islamophobie und Überfremdungsangst
Man braucht nicht lange um den heißen Brei herumzureden: Der übergroßen Zahl der Menschen in Deutschland geht wie mir die nicht enden wollende Debatte über den Islam auf die Nerven, oder sie ist den Menschen schlicht und ergreifend völlig egal. Eigentlich ist das gar keine so schlechte Grundlage für eine friedliche Koexistenz. Wenn da nicht das Fernsehen und die anderen Medien wären. Jeden Tag bringen sie die Bilder kriegerischer Auseinandersetzungen, von Attentaten oder von irgendwelchem paranoiden Beleidigtsein in unsere Wohnzimmer. Die ständige Berieselung mit einem Thema, zumal wenn es mit Greueln, Not und Leid verbunden ist, verändert die Sichtweise von Menschen. Sie bekommen Angst. Der Islam ist derzeit ohne jeden Zweifel die Religion mit den fanatischsten Anhängern und Abzweigungen. Eine Religion, die anderen Menschen jeden Tag in Form von Gewalttaten begegnet, darf sich nicht wundern, wenn sie nicht spontan mit Frieden und Liebe gleichgesetzt wird.
Solange sich die Berichte auf Regionen der Welt beziehen, die weit entfernt sind, so weit, dass die Menschen das Gefühl haben, sie seien nicht persönlich davon betroffen, solange bleibt es bei einem hilflosen Schulterzucken. Empfinden die Menschen aber die Bedrohung für sich selbst, dann weckt es ihre Emotionalität. Die Steinigung von Menschen in Pakistan, weil sie unverheiratet miteinander Kaffee getrunken haben oder auch die Ehe brachen, führt in unseren Breitengraden zu Kopfschütteln über das wohl doch noch existente Mittelalter. Die Attentate des 11. September 2001 waren zwar auch weit weg, aber aufgrund der Nähe Deutschlands zu den USA seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs löste 9/11 doch schon eine sehr viel stärkere Anteilnahme aus. Die Frage, ob der Iran tatsächlich an der Atombombe bastelt, um das Existenzrecht Israels final zu beantworten, oder ob Israel dem durch einen Präventivschlag zuvorkommen sollte, wird dann schon eher zum Gesprächsstoff in den Wohnzimmern. So wie die Fernsehbilder mit den Särgen der Bundeswehrsoldaten aus Afghanistan oder die Nachrichten über Terroristengruppen und Anschlagsversuche bei uns im Land.
All diese Dinge begleiten uns seit Jahren. Anschläge auf Botschaften, die Ermordung von Theo van Gogh, das Bombenattentat auf die Passagiermaschine über Lockerbie oder inszenierte Massendemonstrationen und Krawalle in Afrika, weil in Dänemark Karikaturen in einer Zeitung abgedruckt wurden. (Ich wusste bis dahin gar nicht, welche Verbreitung dänische Medien auf der Welt haben – bis in die Orte, in denen man weder sie noch überhaupt etwas lesen kann.) Und über allem schweben dann noch die permanenten Botschaften eines Terrornetzwerkes al-Qaida, das die nicht-muslimische Welt mit Tod und Krieg bedroht.
Die genannten Beispiele spiegeln nur einen kleinen Ausschnitt wider. Ich will mich mit keiner der einzelnen Begebenheiten inhaltlich weiter befassen, sondern eigentlich nur die Frage aufwerfen, ob die fast täglichen Gewaltmeldungen nicht zwangsläufig bereits zur inneren Abwehr bei anderen Menschen führen müssen. Der Islam wirkt in der heutigen Zeit alles andere als vertrauenstiftend. Natürlich weiß ich, dass eine Religion missbraucht werden kann und nicht für alle Dinge verantwortlich zu machen ist, die in ihrem Namen geschehen. Aber die Reinwaschformel »der und der Attentäter war ein Verbrecher oder Geisteskranker, er kann gar kein Moslem gewesen sein, weil der Islam eine Religion des Friedens ist«, ist ein bisschen flach. Sie steht auch im Widerspruch zum Anwerben durch Repräsentanten oder in Moscheen sowie zur Ausbildung von Menschen als Mujahid und der Verheißung des ewigen Lebens im Paradies nach dem Tod als Märtyrer. Um angstbelastete Dinge macht man für gewöhnlich einen weiten Bogen. Deswegen wehren sich Bürger, wenn in ihrer Nähe eine Moschee gebaut werden soll. Ich bin ganz sicher, dass in den meisten Fällen die Menschen keine Angst vor der Moschee und dem Islam haben, sondern vor den Islamisten, die dann dort vielleicht ein- und ausgehen. Entscheidend ist nicht das Gotteshaus, sondern das, was in seinem Inneren im Namen der Religion geschieht oder wofür es missbraucht wird.
Der katholische Pfarrer Franz Meurer, »alternativer Ehrenbürger« der Stadt Köln, hat einmal zu mir gesagt: »Wenn du willst, dass ein guter Mensch Böses tut, so führe ihn zur Religion.« Auf meine erstaunte Nachfrage, wie ich diese Botschaft aus dem Mund eines katholischen Priesters zu verstehen habe, erklärte er mir, dass Religion ein schwerer Stoff sei. In falsche Hände gelegt, führe er nicht zu Frieden und Erlösung, sondern zu Fanatismus und Verirrung des Geistes.
Die Menschen suchen Abstand zu solchen Dingen. Sie fragen sich, warum man plötzlich von ihnen verlangt, den Islam zu verstehen, ihn zu akzeptieren und zu tolerieren. Sie sagen: Wir leben in Deutschland, was habe ich hier mit dem Islam zu tun? Warum muss ich mich mit ihm auseinandersetzen? Ich will das nicht, und er soll mir nicht zu nahe kommen. Nur so erklärt sich auch der Proteststurm auf die zitierte, semantisch eigentlich recht sorgfältig ausformulierte und dennoch emotional fehlleitende Bemerkung des ehemaligen Bundespräsidenten.
Die Menschen wehren sich gegen eine Vereinnahmung, die sie nicht wollen und die sie aus einem inneren Unbehagen heraus zurückweisen. Muslime müssen lernen, damit umzugehen und zu akzeptieren, dass andere Menschen ihren Glauben ablehnen und mit ihm nichts zu tun haben wollen. So ist die Ablehnung der Minarette in der Schweiz zu verstehen, die die stärkste Zustimmung in den Gebieten erhielt, in denen die wenigsten Muslime leben. Auch in Brandenburg gibt es ein sehr starkes Ablehnungsverhalten gegenüber Einwanderern, obwohl deren Anteil an der Gesamtbevölkerung dort nur bei 6 % liegt. Also, je ferner die vermeintliche Bedrohung ist, desto nachhaltiger ist der Wunsch, sie von sich fernzuhalten. Ich bin recht sicher, dass eine Umfrage in Neukölln unter Nichtmuslimen nun nicht unbedingt berauschende, begeisterte Zustimmungsraten zum Islam hervorbringen würde, aber durchaus eine abgewogene und von einer Portion Gelassenheit geprägte Resonanz hätte. Ich lese das auch aus den Wahlergebnissen bei uns ab. Dort, wo der Anteil der Einwanderer an der Gesamtbevölkerung sehr niedrig ist, sind die Stimmergebnisse für rechtsextremistische Parteien am höchsten. In Neukölln hatten die Rechtsextremen 1989 bei den Wahlen 16 000 Stimmen. 22 Jahre später entfielen trotz massiver Zunahme soziologischer und sozialer Problemlagen auf den rechten Rand noch 3500 Stimmen.
Ich will mit diesen Hinweisen weder etwas gutheißen noch pfeifend durch den Wald gehen, indem ich alle Schuld einer oft und gern zitierten hinterweltlicheren Landbevölkerung in die Schuhe schiebe. Weil sie es nicht besser verstehe, rückständig sei und Städter sowieso schlauer. Diese Erklärung geht flott von den Lippen, ist aus meiner Sicht aber zu einfach. Wie sagte schon Albert Einstein: »Für jedes noch so komplexe Problem gibt es eine ganz einfache Lösung. Und die ist meistens falsch.« Ich glaube, wenn es in Deutschland eine Volksabstimmung über Minarette gäbe, würde das Ergebnis ähnlich ausfallen wie in der Schweiz. Es ist gut, dass sie bei uns nicht möglich ist, denn würde uns eine solche Situation im Integrationsprozess weiterbringen? Das Verbot von Gotteshäusern war noch nie friedensstiftend. Es sitzt für immer wie ein Stachel im Fleisch der Gläubigen und fordert Vergeltung. Es gibt einfach Themen, die eignen sich nicht fürs Plebiszit. Wie zum Beispiel eine Abstimmung über die Wiedereinführung der Todesstrafe für Kindermörder nach einer gerade geschehenen brutalen Tat.
Wofür sich solche Fragen aber auch nicht eignen, ist zur Beschimpfung der Bürger, zum Wegtauchen und zum wirklichkeitsverweigernden Schönreden der Probleme. Doch genau in diese Richtung bewegt sich unsere Gesellschaft seit einiger Zeit. Wer öffentlich sagt, dass er mit dem Islam nichts am Hut hat, ist islamophob. Wenn er Pech hat und auf einen besonders engagierten Kämpfer der internationalen Solidarität stößt, avanciert er vielleicht sogar zum Rassisten oder Neonazi. Das Mundtotmachen in der Öffentlichkeit mag gelingen, es initiiert jedoch keinen Prozess des Verstehens oder der Annäherung. Wer die Ängste der Bevölkerung nicht mehr aufnimmt, wer das Gespür verloren hat, Sorgen und Gefühle zu verstehen, und wer Politik betreibt nach dem Motto »Es kann nicht sein, was nicht sein darf«, der wird irgendwann eine Überraschung erleben.
Nur anreißen will ich in diesem Zusammenhang, dass der Umgang mit Thilo Sarrazin und seinem Buch Deutschland schafft sich ab von mir als eine kaum zu überbietende, semiprofessionelle politische Fehlleistung bewertet wird. Die Kanzlerin, der Staatspräsident und sonst mit einem untadeligen Ruf versehene Journalisten hyperventilierten alle mit Schaum vor dem Mund. Meine Partei, die der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, hielt es sogar für angezeigt, ihn rausschmeißen zu wollen. Ich hätte da den Ratschlag gegeben, sich an die Regel des alten preußischen Generalstabs zu erinnern: Vor jeder wichtigen Entscheidung eine Nacht schlafen. Damit hätte sich die SPD diese jämmerliche Blamage des Einknickens im Ausschlussverfahren erspart. Statt sich mit ihm inhaltlich auseinanderzusetzen, hat man ihn zur Persona non grata erklärt und geglaubt, damit der Diskussion und dem Thema zu entgehen. Jeder einzelne Buchkauf war somit eine recht unerfreuliche Antwort auf diese Drückebergerei.
Damit wir uns nicht falsch verstehen. Ich will Thilo Sarrazin keinen Heiligenschein umhängen. Ich finde einen Großteil seiner Ableitungen falsch und daneben. Ich finde auch seine undifferenzierte Einseitigkeit und seine Perspektivlosigkeit kritisierenswert. Seine Wortwahl ist mitunter recht verletzend. Aber deshalb kann sich die etablierte Politik nicht einfach der Themen verweigern, die der Bevölkerung erkennbar wichtig sind. Damit treibt sie die Menschen in die Arme der Radikalen. Gerade Volksparteien müssen offen sein auch für einen schmerzhaften Diskurs. Ideologisierter Hinterzimmer-Seminarismus entfernt die Politik von den Menschen. Oder einfacher ausgedrückt: Volksparteien müssen aufpassen, dass ihnen nicht das Volk abhanden kommt.
Ein freies Land ist die Summe freier Bürger, und die Grundlage der Freiheit des Einzelnen ist die Freiheit seines Geistes. Das ist eigentlich ein Sprechblasensatz von der Metaebene. Und doch scheint er im praktischen Leben so schwer zu verwirklichen zu sein. Wenn man einen unbequemen Autor nicht über einen öffentlichen Wochenmarkt gehen lässt, wenn man einem Lokalinhaber für den Fall, dass er den Autor bedient, mit Gewalt gegen sein Lokal droht, und wenn die alevitische Gemeinde so eingeschüchtert wird, dass sie sich nicht mehr traut, ein Gespräch mit ihm zu führen, und wenn das dann auch noch durch Abgeordnete der GRÜNEN als Augenmaß und ein Akt der politischen Reife bezeichnet wird, dann ist es höchste Zeit, darüber nachzudenken, für wen der Freiheitsbegriff in diesem Land überhaupt noch gilt und wer das Zertifikat »freiheitsbefugt« ausstellt. Diese Frage stellt sich die renommierte Wissenschaftlerin und Autorin Necla Kelek seit ihrem Redeverbot in der Friedrich-Ebert-Stiftung genauso wie die Fernsehjournalistin Güner Balci.
Im SPD-Umfeld sind kritische Positionen zur Integrationspolitik oder zum Islam ebenfalls nicht wohlgelitten. Aber auch im Innern ist es gesünder, stromlinienförmig zu sein und nicht anzuecken. Ich habe meine Erfahrungen gemacht. Und auch der Politikwissenschaftler und Islamexperte Dr. Johannes Kandel kann ein Lied davon singen, wie man in der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung mit ihm verfuhr. Die Kritik an ihm zeigte sich – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nie offen. Er wurde verdächtigt, »antiislamische« Thesen zu vertreten. Man nahm ihm übel, dass er Hamas und Hisbollah als »terroristische Organisationen« bezeichnete. Auch war es nicht opportun, die Soziologin und populäre Autorin sowie Sophie-Scholl-Preisträgerin Necla Kelek gegen Angriffe aus Kreisen von »Migrationsforschern« in Schutz zu nehmen. Unverzeihlich scheint auch eine Einladung des streitbaren Henryk M. Broder (zusammen mit Hamed Abdel-Samad) in die Friedrich-Ebert-Stiftung gewesen zu sein, der offenbar für manche Sozialdemokraten ebenfalls eine Persona non grata ist. Kandels Positionen, die er auch in seinem Buch Islamismus in Deutschland formulierte, fanden gleichwohl in weiten Teilen der Sozialdemokratie positiven Widerhall.
»Die Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden«, lautet wohl eins der berühmtesten Zitate in diesem Zusammenhang (R. Luxemburg). Irgendwie erinnert mich dieser Satz an das ständige Einfordern von Respekt für die eigene Person immer von denjenigen, die jedoch mitnichten bereit sind, anderen Respekt zu zollen.
Als ich zur Hochzeit der Sarrazin-Debatte bei der angesehenen Comenius-Gesellschaft in Darmstadt einen Vortrag vor 250 ehrwürdigen Geisteswissenschaftlern hielt, war dieses Thema unausweichlich. Der übereinstimmende Ratschlag, der mir mit auf den Weg gegeben wurde, war der, »es geht nicht darum, ob Thesen richtig sind, sondern es geht darum, ob man sie äußern darf«.
Von der Reaktion der Wähler als Folge von Lebenslügen in der Integration haben einige andere europäische Länder bereits eine Prise genommen. Von Finnland bis Ungarn, über Norwegen, Dänemark, die Niederlande, Frankreich und Österreich zieht sich der Gürtel der zweistelligen Wahlergebnisse der Rechtspopulisten. Heißt das denn, dass der Faschismus mit Riesenschritten in Europa hoffähig wird? Aus meiner Sicht keineswegs. Es handelt sich um eine Reaktion der Menschen auf Entwicklungen in ihrem Land, die sie als nicht positiv empfinden. Im Zusammenhang mit dem Thema »Zuwanderung« bezeichnet man dies wohl zu Recht als Überfremdungsangst. Fremdes macht Menschen immer Angst. Ungewohnte Bräuche, unverständliche Kulturen, anderes Aussehen, abweichendes Verhalten, all das wird mit Argwohn beobachtet. Überall. Manchmal ist das direkt unterhaltend. In der Schweiz betrachtet man die Deutschen mit Skepsis. Überfremdungsängste sind latent immer und überall da vorhanden, wo Bewegung in der Bevölkerungsstruktur herrscht. Auch wenn ein statistisch relevanter Anteil von Berlinern nach Baden oder Württemberg ziehen würde, würde dies dort mit Sicherheit zu Argwohn führen. Insofern halte ich es für völlig falsch, diesem Phänomen mit Nichtbeachtung zu begegnen. Im Gegenteil, Politik muss Überfremdungsängste offensiv bekämpfen. Dies gelingt nicht durch die derzeit verabreichten Placebos. Der eine lautet: Das ist alles nur gefühlt, deine Ängste sind völlig unberechtigt. Und der zweite kommt mit der Moralkeule: Du musst dich bemühen, ein besserer Mensch zu werden, du denkst rassistisch. Falls die beiden nicht gewirkt haben, kommt das Totschlagargument: Es ist alles eine kulturelle Bereicherung.
Diesen Politikrezepten ist eines gemein: Sie verleugnen die Realitäten. Sie verschweigen Erlebnisse, die die Haltung der Menschen prägen. Also das, was sich gestern in Bahn oder Bus ereignet hat, der Bericht der Tochter oder des Sohnes aus der Schule oder vom Schulweg, die Anpöbelei aus dem Autofenster, die ständige und permanente Bedrohung durch Gewalt im Alltag, Kriminalität und Verwahrlosung im Wohngebiet. All diese Dinge, die wir kleinreden oder deren Existenz wir leugnen, führen zu der Feststellung: Das muss ich nicht haben.
Woher kommt jene fast perfekte Verdrängung? Eine Ursache ist sicher, dass die, die über solche Ängste reden oder in den Entscheidungsebenen sitzen, noch nie in einem sozialen Brennpunkt gewohnt haben. Vielleicht haben sie dort einmal eine Wahlkampfveranstaltung besucht oder sind mit dem Bus durchgefahren. Den Alltag der vom Balkon fliegenden Mülltüten, der durchzechten Nächte und des schwindenden Wohlfühlfaktors, den kennen sie nicht. Sie würden ihn auch keine vier Wochen durchhalten. Meine Frau sagt immer, wenn jeder Politiker verpflichtet wäre, jeden Monat einmal mit der U-Bahn quer durch Berlin zu fahren, dann würde die Politik in der Stadt anders aussehen.
Fragt man einen Polizisten nach den Risikofaktoren der Kriminalität in Einwandererstadtteilen, so erhalten Sie stets die Antwort: Jung, männlich, Migrant. Was auf den ersten Blick als Vorurteil und pauschale Kriminalisierung bestimmter Bewohnergruppen aussieht, ist durchaus statistisch belegbar. Doch dazu später.
Es geht mir an dieser Stelle mehr um die alltägliche Ohnmacht in einer Welt, in der man durch den Supermarkt zieht, Waren nimmt, an der Kasse ohne zu bezahlen vorbeimarschiert und der Kassiererin klarmacht, was ihr droht, wenn sie die Polizei holt. Dort, wo man zu fünft nebeneinander über den Bürgersteig geht und alle anderen ausweichen müssen. Dort, wo an der roten Ampel möglichst alle stur geradeaus schauen, um nicht von den Streetfightern aus dem Wagen nebenan angepöbelt und gefragt zu werden: »Hast du Problem? Könn’ wir gleich lösen!« Da, wo kleineren Kindern von größeren Jugendlichen ein Wegezoll oder eine Benutzungsgebühr für das Klettergerüst abverlangt wird. Wo junge Frauen gefragt werden, ob sie einen Befruchtungsvorgang wünschen. Wo man dem Busfahrer die Cola über den Kopf schüttet, wenn er nach dem Fahrschein fragt. Wo man den Zeitungskiosk überfällt und anderen ihre Sachen wegnimmt. Das alles macht einfach nur schlechte Laune. Schon beim Lesen. Übrigens nicht nur in diesem Buch, sondern täglich in der Zeitung. Auch den Menschen, die noch nie selbst Opfer einer solchen Situation waren, suggeriert die tägliche Berichterstattung, dass es in ihrer Wohngegend jetzt so üblich ist.
Es ist die entscheidende Stelle, an der sich der Weg gabelt. Ob die Menschen Vertrauen in die verändernde Kraft der Politik setzen oder ob sie sich abwenden und ihrer Erfahrungswelt durch Wegzug entfliehen. Solange wir eine Politik des Alles-Verstehens und des Alles-Verzeihens betreiben und den Menschen signalisieren, dass wir gar nicht daran denken, die Verhältnisse zu ändern, weil diese Verwahrlosung der Sitten zur kulturellen Identität und zur Weltoffenheit gehören, solange werden wir für eine wirklich erfolgreiche Integrationspolitik nur verhalten Mitstreiter finden.
Wie indiskutabel und primitiv das Verhalten im Umgang miteinander sein kann, dokumentiert das Schreiben einer Pfarrerin an ihre Gemeindemitglieder in einem sozialen Brennpunkt. Ich bin ihr ausdrücklich dankbar, dass sie mir gestattet hat, ihren Brief hier abzudrucken. Es ist ein starker Beleg dafür, welchen Belastungen Menschen ausgesetzt sind und welche Stärke sie entwickeln müssen, um nicht alles hinzuschmeißen.
Herbst 2008
»Liebe Nachbarn,
ich will Euch von einem wahrhaft interkulturellen Sonntag erzählen:
Er begann mit einem Familiengottesdienst zum Beginn des Schuljahres. Motto: ›Du bist wie eine Schatzkiste – entdecke, was in dir ist.‹ Mit diesem Zuspruch bin ich zum Ganesha-Fest der Hindus in der Hasenheide gereist. Hier war mit allen Sinnen zu erleben, welche Schätze die Kulturen, die in Neukölln lebendig sind, enthalten: bunte Gaben, orientalische Düfte, ungewohnte Klänge, schmackhafte Speisen, schön gekleidete Menschen und respektvoller Umgang!
Welch ein Gegensatz, als ich nach einem Geburtstagsbesuch wieder nach Hause kam: Eine Gruppe vermutlich arabischer Jugendlicher treibt sich auf dem Gang an der Parkpalette am Gemeindehaus herum. Einer pinkelt gerade über die Brüstung ans Haus. Darauf angesprochen, ob er sich nicht schäme, streckt mir ein anderer das nackte Hinterteil entgegen. Ein dritter zeigt mir den ›Stinkefinger‹, nennt mich eine ›Schlampe‹.
Ich frage Euch, Jungs: Habt Ihr keine Würde? Wer hat Euch erzogen? Hat Euch nicht auch eine Frau zur Welt gebracht? Was würdet Ihr tun, wenn es jemand wagen würde, sie so zu behandeln? Was ist passiert, dass Ihr so widerlich geworden seid? Oder vielleicht besser: Was ist nicht passiert? Ihr müsst wissen, dass Euch so niemand haben will – niemand. Seid Ihr so dumm, dass Ihr das nicht begreift? Warum zerstört Ihr Euer eigenes Leben? Seid Ihr Muslime? Dann möchte ich Euren Imam bitten, seinen Einfluss geltend zu machen, um Euch die Schätze Eurer Religion aufzuschließen und Euch aus der Falle der totalen Kulturlosigkeit zu locken.
Es gibt ein Benehmen, das auch in Nord-Neukölln unter keinen Umständen zu dulden ist. Verständnis ist hier fehl am Platz. Ich bitte Euch, Nachbarn: Können wir gemeinsam etwas gegen den Verlust an gegenseitigem Respekt ausrichten, ganz gleich, von wem er ausgeht? Ich lebe noch nicht lange genug hier, um nicht immer wieder geschockt zu sein von Erlebnissen wie dem heutigen. Ich gestehe, dass ich oft vorbeigehe, Augen, Ohren, Nase und Türen einfach zumache und nichts sage. Aber das kann doch keine Lösung sein … Zu wissen, dass die heutige Begebenheit nur ein kleines Beispiel für ein viel größeres Problem ist, macht die Sache nicht leichter.
Es ist keine Frage der Herkunft – ich kenne viele Araber, die kultiviert, respektvoll und liebenswert sind, und Menschen anderer Nationalität – auch Deutsche –, die sich ebenso wenig zu benehmen wissen wie die Jungs von der Parkpalette. Was immer die Ursachen dafür sind – Erziehung, Geschlecht, Alter, sozialer Status –, wir sollten gemeinsam Wege suchen, unsere Ansprüche an ein kultiviertes Zusammenleben durchzusetzen.«
Nein, es ist nicht die Feindlichkeit gegenüber Fremden, die die Menschen in verharrender Distanz hält. Es ist oft nicht einmal eine konkrete Angstsituation. Es ist eigentlich mehr das Klima und die Atmosphäre, mit denen erkennbar einheimischen Menschen begegnet wird. Meist sind es die älteren, die unter diesem Revierverhalten leiden müssen, oder ganz junge, denen man zeigt, wer das Sagen hat. Dieses ständige demonstrative Nichtbeachten von Umgangsformen wie Höflichkeit oder Rücksichtnahme, der einfachsten Regeln, wie man sich in der Öffentlichkeit gegenüber anderen benimmt. Das ist es, was die Leute fragen lässt: Wo bin ich denn hier eigentlich? Ist das noch meine Stadt, meine Heimat? Gerade die Alten berichten mir immer wieder über Demütigungen, die sie erfahren. Wie sie verlacht, angebrüllt, ja sogar geschubst und bespuckt werden. Deswegen kommen viele irgendwann zu dem Schluss: Ich mag diese Menschen nicht. Sie wollen mit mir nicht leben, dann will ich es mit ihnen auch nicht.
Am deutlichsten wird dies beim Kontakt oder der Begegnung mit staatlichen Institutionen. Was mir die Mitarbeiter des Ordnungsamtes von ihrer Arbeit auf der Straße berichten, wie sie sich beschimpfen lassen müssen, wie ihnen Gewalt angedroht wird, ja, welcher konkreten Gewalt sie sich ausgesetzt fühlen und es mitunter auch sind, das ist nicht hinnehmbar. Und trotzdem nehmen wir es hin. Es sind auch keine Exzesse des Augenblicks, sondern es geht für die Platzhirsche immer wieder darum, wohlüberlegt zu demonstrieren, dass die Deutschen ihnen gar nichts zu sagen haben und dass die Regeln ihnen scheißegal sind. Ganz erfolglos sind sie damit auch nicht. Ich selbst habe immer wieder beobachtet, wie Streifenwagen an Situationen vorbeifahren, bei denen sie normalerweise anhalten würden. Eine Eskalation mit Widerstand ist wahrscheinlich, und die Polizisten sind zu wenige. Natürlich bestreiten die Polizeibehörden ein solches Verhalten. Würde ich an ihrer Stelle auch tun.
In der Neuköllner Sonnenallee wird zum Beispiel häufig in drei Spuren geparkt. Der erste Wagen steht auf dem Bürgersteig, der zweite in der normalen Parkspur, der dritte in der zweiten Reihe, also der ersten Fahrspur. Wenn Sie als Autofahrer Pech haben, dann hält vor Ihnen in der zweiten Fahrspur jemand an und unterhält sich lautstark mit denjenigen, die dort vor dem Café sitzen und Tee oder Kaffee trinken. Machen Sie jetzt nicht den Fehler zu hupen oder auszusteigen, Sie könnten in eine unangenehme Situation geraten. Ein Problem, das Sie eventuell haben, könnte gleich »geklärt« werden, oder wenn Sie als Deutscher glauben, hier den Chef markieren zu können, würde man Ihnen zeigen, dass Sie gleich die Stiefel Ihres Gegenübers lecken. Anders ergeht es der Polizeistreife auch nicht. Das ist einfach nicht wie im Städtchen in der Heide oder dem Badischen Land. Dort hält die Streife an, zwei Polizeibeamte steigen aus, monieren die Situation, und alle sind bemüht, bloß keinen Stress zu haben und vor allem kein Geld bezahlen zu müssen. Ja, sagen sie, Herr Wachtmeister, wir regeln das gleich.
Bei uns passiert erstmal gar nichts. Dann achten die Polizeibeamten darauf, möglichst nicht unter Armeslänge an die Person heranzugehen. Es könnte sonst sein, dass – schwups – die Mütze oder noch andere Dinge weg sind. Es setzt dann ein lautes Palaver ein, worum es denn überhaupt gehe, keiner wisse, wem die Autos gehörten, und die Polizisten sollten weiterfahren und nicht stören. Das alles passiert meist in aggressiver Haltung und aggressivem Ton. Eskaliert die Situation, müssen die Streifenbeamten Verstärkung herbeirufen. Und es kommt zu einem richtigen Einsatz. Unter Umständen auch mit körperlicher Gewalt. Da kann es dann hinterher schon einmal passieren, dass die Streifenbeamten von ihrem Dienstgruppenleiter gefragt werden, ob sie schon mal was vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehört haben. Ob ihnen nicht klar gewesen ist, dass mit Widerstand zu rechnen war? Ob sie nicht wissen, wie solche Einsätze vom Gericht beurteilt werden?
Neuköllner Dienstgruppenleiter wie Polizeihauptkommissar Karlheinz Gaertner haben unzählige Stunden bei Gerichtsverhandlungen verbracht und dort sehr häufig erleben dürfen, dass hier der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hoch im Kurs steht. Diese Verhandlungen endeten meist mit einem Freispruch zugunsten der Verkehrsrüpel, wobei im Gegenzug der Polizist froh sein konnte, nicht selbst verurteilt zu werden. Eine Vielzahl von Richtern ist eben nicht bereit, den Polizisten bei deren staatlichem Auftrag, die Verkehrsüberwachung durchzuführen, zu unterstützen bzw. geltendes Recht anzuwenden. Sie sehen nur die Widerstandshandlungen im Verhältnis zur Ordnungswidrigkeit. Welche Aggressionen der Beamte bei seiner Ahndungspflicht über sich ergehen lassen muss und wie er das Recht in solchen Fällen überhaupt durchsetzen soll, interessiert diese praxisfremden »Gutmenschen-Urteiler« wenig. Wer eine solche Gerichtserfahrung einmal erlebt hat, der fährt eben auch vorbei, wenn er nur ansatzweise erkennt, welche »Krawallmacher« ihn dort erwarten.
Dass sie in bestimmten Situationen bei der Polizei anrufen, aber niemand kommt, tragen mir Bürger immer wieder vor. Angeblich wird ihnen sogar geraten wegzuziehen. Sie wüssten doch, wo sie leben. Natürlich sind es meist Bagatellfälle. Und ich kann die Beamten auch verstehen, dass sie keine Lust haben, wegen ein paar rauchender und lamentierender junger Männer einen Großeinsatz zu provozieren. Aber wer provoziert ihn eigentlich?
In den regelmäßigen Konsultationen mit der Polizeiführung werden die Ereignisse natürlich anders dargestellt. Menschlich kann ich das nachvollziehen. Ich wehre mich aber auch ein klein wenig dagegen, dass alle Bürger, die mir solche Berichte geben, nicht mehr richtig im Kopf sein sollen. Es gibt die normative Kraft des Faktischen, und es gibt Entscheidungen der Vernunft. Die Wirkung auf die Menschen ist allerdings negativ. Sie haben den Eindruck, die Straße habe die Macht übernommen.
Spinnen wir den konkreten Fall einfach weiter. Grundsatz bei uns ist, festgesetzte Personen so schnell wie möglich ins Fahrzeug zu verbringen, und dann ab durch die Mitte. Ist man nicht schnell genug weg, kann es passieren, dass das Polizeiauto sich unangenehmen Attacken ausgesetzt sieht, dass es umzingelt wird und gar nicht mehr wegfahren kann. Die Fälle der versuchten Gefangenenbefreiung erscheinen nur in den Medien, wenn sie eine bestimmte Dimension erreicht haben. Ich kenne die genauen Zahlen für die letzten Jahre in Neukölln nicht. Die von Berlin schon gar nicht. Fest steht aber, dass versuchte Gefangenenbefreiung ein nicht seltener Vorgang im Alltag unserer Polizeibeamten in Neukölln ist. »Wir haben gelernt, damit umzugehen«, sagte mir einer.
Derartige Beschreibungen lassen sich beliebig fortsetzen. Kontrollen und Überprüfungen in Grünanlagen zur Einhaltung des Grillverbotes sind nur mit Polizeischutz möglich. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ordnungsamtes würden schlicht und ergreifend verhauen werden. Den Polizeibeamten könnte das Gleiche passieren, wenn sie zu wenige sind. Kontrolle von nichtangeleinten Kampfhunden oder ähnlichen »Nettigkeiten« führen schon mal dazu, dass die Beamten des Ordnungsamtes bespuckt werden, dass man ihnen ein Messer an den Hals hält oder sie niederschlägt.
Das ist unser Revier, hier herrschen unsere Gesetze, verpisst euch! –, lautet die Botschaft. Sie ist es, die das Verhältnis der Menschen untereinander von Grund auf belastet. Der erwähnte, seit Jahrzehnten in Neukölln tätige Polizeihauptkommissar Gaertner sagte mir neulich, er könne sich nicht erinnern, während seiner gesamten Dienstzeit einen Handtaschenraub oder einen Überfall von Einwandererjugendlichen auf eine Frau mit Kopftuch bearbeitet zu haben. Das Feindbild sind die verhassten Deutschen, sie sind das Ziel ihrer Aggressionen, und sie haben dem Flashmob nichts entgegenzusetzen: Per SMS-Rundruf finden sich in wenigen Minuten zahlreiche Menschen ein, die sofort eine drohende Haltung einnehmen. Deutsche gelten als leichte Opfer. Hiermit kann jeder im Alltag in Berührung kommen. Es kann Ihnen passieren, dass Sie bei einem lapidaren Auffahrunfall eine Überraschung erleben. Nämlich dann, wenn Ihr Unfallpartner äußerlich eindeutig als Einwanderer zu erkennen ist. In diesem Fall werden Sie und Ihr Kontrahent in Blitzesschnelle von mehreren »Zeugen« umgeben sein, die alles genau gesehen haben. Nicht Ihr Hintermann ist auf Sie aufgefahren, sondern Sie sind ihm schneidig im Rückwärtsgang reingefahren. Im Zweifel gilt es, der ethnischen Schwester und dem ethnischen Bruder zu helfen. Was wahr ist und was nicht, hat bei einem »Ungläubigen« keine Bedeutung. Das sind so die kleinen Erlebnisse, die die Menschen hier mitunter so »fröhlich« stimmen.
Wir erziehen unsere Kinder zur Gewaltlosigkeit. Wir ächten Gewalt in der Begegnung und bringen das unserem Nachwuchs bei. Andere bringen ihren Jungs bei, stark, tapfer und kampfesmutig zu sein. Die Ausgangssituation ist einfach ungleich. Wir sind in unseren Breiten auf solche Auseinandersetzungen der Selbstjustiz nicht mehr vorbereitet und auch nicht mehr eingerichtet. Ich finde, das ist auch gut so. Wir sind über dieses hirnlose Gesetz der Straße »Recht hat der Stärkere« hinaus. Insofern bedaure ich die Unterlegenheit der deutschen Jugendlichen nicht, sondern ich kritisiere, dass unsere Gesellschaft diese anarchistischen Zustände auf unseren Straßen kommentarlos hinnimmt. Ja, nicht nur das, sondern sie auch schönredet oder verschweigt.
Ein Beispiel hierfür war die Diskussion an einer Neuköllner Schule über Deutschen-Mobbing. Die Sache kam ans Licht der Öffentlichkeit, als die Lehrer in der Zeitung der GEW darüber berichteten. Die öffentliche Reaktion war klar, und alle bekamen Fracksausen. Es sei alles nur ein Missverständnis gewesen, natürlich gebe es kein Deutschen-Mobbing an der Schule. Wenn Sie in der Schule fragen, gibt es natürlich auch keine Religionswächter an der Tür zur Cafeteria, die darauf achten, wer während des Ramadan isst und wer Schinkenbrötchen kauft. Das Bedienungspersonal allerdings erzählt nahezu unglaubliche Storys. Auch die Schulleitung weiß nette Geschichten zu berichten, wenn sie sicher ist, dass niemand weiteres zuhört und Vertraulichkeit vereinbart wird. Der Alltag in unseren Schulen ist mitunter schon recht rustikal. Mehr dazu später.
Ich möchte an dieser Stelle eine Lanze für die ganz normalen Menschen brechen. Jene Menschen, die schweigen. Nicht, dass sie Angst vor persönlicher Bedrohung haben, nein, sie haben sich ergeben. Junge Familien, Einwanderer wie Deutsche, ziehen fort, und die Alten ziehen sich zurück. Was man für ein dickes Fell haben muss, merke ich auch immer wieder an der eigenen Person. Ich muss nur den leisesten Hauch von Kritik an Einwanderern äußern. Sofort kommen die Moralkeule und die Feststellung, dass ich ein Rassist und Volksverhetzer sei. Manchmal wird der Hauch auch konstruiert. Viele haben darauf keine Lust mehr und deswegen gelernt, den Mund zu halten. Daher finden Fernsehsendungen auch nur noch schwer aktive Pädagogen, die vor der Kamera die Realitäten an ihrer Schule ausbreiten. Sie werden anschließend derart mit Hass überzogen und geschnitten, dass sie sich nie wieder aus der Deckung wagen. Die Einschüchterung funktioniert. In Sachen Integration haben wir fast eine Wand des Schweigens wie in der ehemaligen DDR. Dort bildete die Staatssicherheit die Drohkulisse. Hier ist es ein Kartell aus ideologischen Linkspolitikern, Gutmenschen, Allesverstehern, vom Beschützersyndrom Geschädigten und Demokratieerfindern, das den Menschen das Recht abspricht zu sagen, was sie denken. Richtig stolz bin ich auf die Neuköllner Bevölkerung. Es gibt bei uns keine Gegenbewegung zu den etablierten Parteien und zu unserer demokratischen Gesellschaftsordnung. Die Rechtsradikalen haben, wie erwähnt, bei den letzten Wahlen 2011 nur noch ein Viertel ihres Wählerpotentials von 1989 erreicht.
Kennen Sie den Begriff der Opferrolle? Die Opferrolle kann Ihnen begegnen bei jemandem, der schwächer als andere ist und dadurch zum beliebigen Spielball der Stärkeren wird. Die Opferrolle kann aber auch darin bestehen, dass man nie etwas für das kann, was man getan hat, weil alle anderen schuld sind. Man ist somit das Opfer der Gesellschaft, von Diskriminierung, von Benachteiligung, Beleidigung oder auch einfach der Tatsache, dass man in Deutschland leben muss. Das Schlimmste, was einem Menschen auf dieser Welt passieren kann, ist, dass ihn die Winde des Lebens nach Deutschland verschlagen. Das führt zur sofortigen Traumatisierung. Ich habe bei Diskussionsveranstaltungen allen Ernstes leidenschaftliche Äußerungen zur Kenntnis nehmen müssen, dass die deutsche Gesellschaft so schlecht und verdorben ist, dass sie integrationsfeindlich ist, die Kinder der Einwanderer behindert und nicht vernünftig ausbildet und dass eigentlich alle Einwanderer nur schlecht behandelt und ausgebeutet werden. In solchen Momenten geht mir nur eine einzige Frage durch den Kopf: Warum belasten sich diese freien und engagierten Menschen mit einem Leben der so empfundenen modernen Sklaverei in Deutschland?
Wenn ich Menschen, die jahrzehntelang im Land leben, bei der Einbürgerung frage, warum sie kein Deutsch sprechen, obwohl es doch ihre Kinder fließend beherrschen und sie parallel hätten mitlernen können, lautet die Antwort meist: »Ich war viel krank.« Wenn Sie jemanden fragen, warum das Kind nicht in den Kindergarten geht, dann haben die Deutschen für Ausländerkinder keine Plätze, dann ist der Kindergarten zu weit von der Wohnung entfernt. Wenn das Kind schlechte Noten in der Schule hat, ist die Lehrerin oder der Lehrer schuld, weil sie das Kind nicht leiden können oder weil sie überhaupt Ausländer nicht leiden können. Am fehlenden Beruf ist der Ausbildungsplatzmangel und an der Straftat das Opfer schuld. Warum stand es da auch rum? Es gibt immer eine Ausrede, die dem anderen die Schuld zuschiebt. Ich möchte auf das Buch Schaut endlich hin von Margalith Kleijwegt hinweisen. Die Autorin hat die Schüler einer niederländischen Schulklasse ein Jahr lang begleitet. Sie hat alles aufgeschrieben, was sie erlebt hat. Sie erklärt, warum Verabredungen nicht eingehalten werden, warum man an Familien nicht herankommt und wieso ein gegebenes Wort im Zweifel nichts wert ist.
Auch ich habe das bei meiner Tätigkeit immer wieder erlebt. Es gibt immer einen Dritten, der schuld ist. Natürlich im Zweifel ein Deutscher. Die Opferrolle beruht eigentlich auf dem, was die deutsche Politik jahrelang propagiert hat. Ich weiß nicht, ob sie die Erfinderin dieser Haltung war oder sie nur von anderen übernommen hat. Sie, damit meine ich Frau Prof. Barbara John, die erste und jahrelange Ausländerbeauftragte des Berliner Senats. Sie hat in Berlin eine Politik kreiert, nach der ein Ausländer per se ein guter Mensch ist, denn er stellt eine Bereicherung dar. Ein Deutscher ist per se ein schlechter Mensch, weil er die Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust niemals ablegen kann und immer latent ausländerfeindlich bleiben wird.
Mit dem rhetorischen Mittel der Übertreibung ist die Botschaft »Jeder Intensivtäter ist eine kulturelle Bereicherung« die Selbstbeerdigung der Integration.
Unterschichtverhalten ist eigentlich auf der Welt überall gleich, es hat keine oder kaum ethnische Ursachen. Auch die deutsche Suffski-Familie schüttet sich bis in den frühen Morgen zu, grölt und prügelt, schmeißt den Müll vom Balkon und kotzt ins Treppenhaus. Solches Verhalten führt genauso dazu, dass andere fortziehen, zum Beispiel integrierte Einwandererfamilien, und dass ein Wohngebiet zum Brennpunkt wird.
Jedes Volk hat seine Unterschicht. Das sind marginalisierte Gruppen von Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer, keinen Zugang in die Gesellschaft und in ein geordnetes, strukturiertes Leben gefunden haben. Wie hoch dieser Anteil für gewöhnlich ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Bestimmt gibt es dazu soziologische Kennziffern. Auf jeden Fall ist der Anteil jedoch so niedrig, dass er nicht ganze Stadtteile dominiert und zum Kippen bringt. Die Einwanderung von Menschen aus Entwicklungsländern oder Schwellenländern, ausgestattet mit dem (meist rückständigen) kulturellen und zivilisatorischen Normalstandard ihres Heimatlandes, bringt zwar Bildungsferne ins Land, aber noch lange nicht automatisch auch Unterschichtverhalten. Plötzlich werden Verhaltensweisen, die bei uns eigentlich mit entsozialisierter Bevölkerung in Verbindung gebracht werden, zur allgemeinen Übung. Das Weiterleben wie in der Heimat, die rustikale Benutzung des Sozialraumes ohne jede Schranke und Rücksichtnahme führt dann bei uns zur Flucht derjenigen, die sich ein Zusammenleben mit anderen Menschen kultivierter wünschen. Die Einwanderung bewirkt somit einen Aufwuchs von bei uns eigentlich nicht mehrheitsfähigen Lebensweisen über ein Randproblem hinaus. Wenn alle sich identisch verhalten, werden Subkulturen plötzlich zur Norm. Bei einer Mieterumfrage in einem sozial sehr stark belasteten Quartier bewerteten 82 % der Mieter ihre Lebensqualität und ihr Wohnumfeld mit »befriedigend« bis »sehr gut«. Das System des Rückzugs auf den kleinsten gemeinsamen Nenner funktioniert auch hier.
Ich hatte versprochen, auf die Kriminalitätsdaten zurückzukommen, auch wenn nur in sehr zurückhaltender und vereinfachter Form. Die Jugendkriminalität in Neukölln hat sich von 1600 Straftaten im Jahr 1990 auf 2660 im Jahr 2011 erhöht. Allerdings lagen dazwischen auch schon Jahre mit weit über 3000 Straftaten. Demographisch hat sich in diesen mehr als 20 Jahren natürlich auch die Zahl der jungen Leute in Neukölln verändert. Um einen korrekteren Vergleich ziehen zu können, habe ich die Zahl der Straftaten auf eine feste Bezugsgröße umgerechnet. 1990 entfielen 25 Straftaten auf je 1000 junge Menschen unter 21 Jahren. Im Jahre 2007 waren es 58 Straftaten, und bis zum Jahr 2011 sank diese Zahl wieder, auf 44. Trotz des Rückgangs in den letzten vier Jahren ist die Steigerung bezogen auf 1990 immer noch beträchtlich. Nicht übersehen darf man auch die Zunahme der Schwere und Brutalität sowie den inzwischen fast obligatorischen Einsatz von Waffen bei den Delikten.
Jugendkriminalität ist nichts Neues. In der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle ist es eine Episode in bestimmten Phasen des Heranwachsens. Auch ist Jugendkriminalität ähnlich wie ein Eisberg. Nur ein geringer Teil ist für die breite Öffentlichkeit sichtbar: Im Wesentlichen spielt sich der Hauptteil unter Jugendlichen ab, also ohne Aufmerksamkeitsfaktor für die älteren Generationen. Der direkte Kontakt ist auf die Jugendlichen selbst und auf ihre Angehörigen beschränkt.
Etwa 85 % aller jugendlichen Ersttäter erscheinen ein-, maximal zweimal vor Gericht und sind dann im Spektrum des allgemeinen Umgangskodexes eingenordet. Typische Delikte des Ausprobierens, wie denn das Leben so ist, sind Schwarzfahren, Ladendiebstahl oder Fahren ohne Führerschein. Also keine wirklichen Aufreger.
Bei den 192 jugendlichen Serienstraftätern sieht das schon anders aus. Diese setzen sich aus Intensivtätern ab zehn Straftaten von erheblicher Bedeutung, Schwellentätern mit fünf bis neun Straftaten und kiezorientierten Mehrfachtätern zusammen, die auf dem Weg zum Schwellen- und Intensivtäter sind. Die Zahl von rund 200 Serienstraftätern hält sich seit Jahren konstant. Bemerkenswert ist nur der rasante Anstieg der letzten Jahre. Aus 48 Serienstraftätern 2004 hat sich die genannte Zahl in einem relativ kurzen Zeitraum entwickelt.
Der Anteil der Einwandererkinder an diesen Serienstraftätern variiert von Jahr zu Jahr. Im Jahr 2012 beträgt er 93 %. Bei ihrem Gesamtanteil an jungen Leuten in ihrem Alter von 65 % ist dies ein deutliches Übergewicht. Das deckt sich auch mit der Kriminalitätsstatistik generell. Die Bevölkerung mit Migrationshintergrund ist deutlich stärker in das kriminelle Geschehen verwickelt als die bio-deutsche. An der Spitze stehen rumänische Staatsangehörige, die rund neunmal stärker als Tatverdächtige erfasst sind, als ihr Anteil an der Bevölkerung beträgt. Die zweite Stelle mit einer fünffach stärkeren Beteiligung nehmen vietnamesische Staatsangehörige gemeinsam mit libanesischen Staatsangehörigen ein. Polnische, russische und türkische Staatsangehörige sind ebenfalls überproportional registriert, allerdings im weiten Abstand zu den drei Spitzenreitern. Im Berliner öffentlichen Personennahverkehr geschehen täglich rund 100 Straftaten, davon 19 Gewaltdelikte. In unseren Schulen sind es fünf Straftaten, davon jeden Tag eine gegen einen Lehrer.
Die vorstehende Auflistung dient lediglich der Vervollständigung. Von Bedeutung ist im Prinzip nur, dass 3000 Intensivtäter mit einem Anteil von einem Promille an der Berliner Bevölkerung 20 % aller Straftaten begehen. Im Zusammenhang mit der Thematik unseres Buches ist die höhere Präsenz von Einwanderern im kriminellen Milieu ein Puzzleteil, das zu einer negativen Gesamteinstellung in der Bevölkerung führt.
Ich reise seit vielen Jahren durch die Bundesrepublik und halte Vorträge über Einwanderung, über die Probleme bei der Integration und über die Dinge, die ich an der deutschen Politik vermisse, um diese Integrationshemmnisse zu beseitigen. Mir ist dabei sehr, sehr selten wirkliche Aggressivität begegnet. Die Hauptreaktionen waren Betroffenheit und Hilflosigkeit. Betroffenheit über den von mir referierten gesellschaftlichen Prozess mit dem gegenwärtigen Stand, und Hilflosigkeit ob der Frage: Was können wir zur Abhilfe beitragen? Ich war immer wieder überrascht über die Anteilnahme. Meine Zuhörerinnen und Zuhörer verstanden sehr wohl die Botschaft, und es ging letztlich stets um die Frage, wie wir ein Fortschreiten der Fehlentwicklungen verhindern können. Ich kann mich nicht erinnern, auch nur ein einziges Mal den Satz Einfach alle rausschmeißen! gehört zu haben. Ein Satz, den ich allerdings häufig vernommen habe, lautet: Wir erwarten nichts weiter, als dass sich die Einwanderer, Zuwanderer, Migranten, Ausländer oder welche Bezeichnung jeder wählt, an die Regeln halten, die für uns alle in diesem Land gelten; wir erwarten, dass Menschen, die zu uns kommen, getragen sind von dem Wunsch, gemeinsam mit uns zu leben. Wenig bis kein Verständnis wurde der Aussage entgegengebracht, dass ein Einwanderungsland wie Deutschland konsequenterweise auch seine Regeln an die Einwanderer anpassen müsse. An dieser Stelle gab es immer eine klare Zäsur. Übrigens interessanterweise völlig unabhängig vom Lebensalter des Auditoriums. Das sahen 1000 Studenten in einem Hörsaal genauso wie 1000 Wirtschaftsfachleute bei der Tagung in einem Luxushotel. Es scheint zu dieser Frage einen ganz breiten Konsens zu geben, dass nun einmal der Schwanz nicht mit dem Hund wedelt. Übersetzt auf die Einwanderung, lautet die Botschaft: Integration hat etwas mit Anpassung zu tun und muss vom Willen und der Bereitschaft des Hinzukommenden ausgehen. Warum man die Mütze der Integration aber auf den Kopf von jemandem setzen muss, dessen Eltern oder Großeltern bereits im Land geboren sind, bleibt an dieser Stelle erst einmal offen.
In diesem Zusammenhang interessiert auch, wie denn die Bevölkerung insgesamt zur Einwanderung steht und ob sie sie positiv oder negativ beurteilt. Ich habe mit Erstaunen eine europäische Studie hierzu registriert, der zufolge lediglich 44 % der Bevölkerung bei uns in der Einwanderung eher ein Problem als eine Chance sehen. Also, mehr als die Hälfte der Bevölkerung empfindet die Einwanderung als überwiegend positiv. Wir stehen damit im Übrigen an drittbester Stelle nach Kanada und Frankreich. Das Schlusslicht bildet – man höre und staune – Großbritannien. Hier bewerten 66 % die Einwanderung eher als ein Problem. Und wie schätzen die Deutschen selbst ihre Integrationsbereitschaft ein? Auf die Frage, was das größte Hindernis für die Integration darstellt, lautete in 60 % der Fälle die Antwort: »Das Desinteresse der Einwanderer« und nur in 27 % »Eine ablehnende Haltung der Gesellschaft«. Eine negative Stimmung in ihrer Gesellschaft sehen im Übrigen am stärksten die Franzosen und die Italiener.
Zur Frage des vermuteten Desinteresses schließt sich eine andere Studie zum Thema »Leben und Arbeiten in Deutschland« an. Befragt wurden ausschließlich türkischstämmige Einwanderer. Hieraus möchte ich nur drei Aspekte vortragen. Den mit dem höchsten Unterhaltungswert zuerst. »Wenn ich in Deutschland im Falle der Arbeitslosigkeit keine Sozialleistungen bekommen würde, würde ich sofort in die Türkei gehen.« Dieser Aussage stimmen 31 % der Befragten zu. Aha, jetzt ist es ja raus, denken Sie? Keine Sozialknatter, also dann auch kein Deutschland mehr. Ich finde diesen Wert überhaupt nicht aufregend. Erstens sehen fast 70 % das anders, und zweitens halte ich die Antwort auch nicht für schlüssig. In der Türkei gibt es gar kein Sozialsystem. Also, welchen Vorteil außer dem Unterstützungspotential der Familie bringt die Rückreise? Dass man dort schneller einen neuen und besseren Job findet? Auch das halte ich bei einer Arbeitslosenrate von rund 10 % in der Türkei eher für schwierig. Ich glaube, da werden einige wohl doch noch einmal überlegen.
Zwei weitere Feststellungen wurden den Befragten ebenfalls vorgelegt: »Ich möchte unbedingt und ohne Abstriche zur deutschen Gesellschaft dazugehören«, sagten 59 %, und »Ich möchte mich unbedingt und ohne Abstriche in die deutsche Gesellschaft integrieren«, meinten 70 %. Stellt man alle drei Aspekte nebeneinander, dann sieht es gar nicht ganz so düster mit dem Integrationsbild aus. Und zum Schluss gibt es sogar noch ein ganz dickes Lob. 77 % stimmten der Aussage zu: »Deutschland ist ein weltoffenes Land, in dem es jeder unabhängig von der Herkunft zu etwas bringen kann.« Na also, geht doch, könnte man schmunzelnd murmeln. Aber gerade diese Studie war eine von denjenigen, die bei mir unter der Flagge segeln, »nett zu wissen, aber ein Haus würde ich auf diesem Fundament nicht bauen«.